Grundzüge der Israelischen Gesellschaft


Referat / Aufsatz (Schule), 2001

35 Seiten


Leseprobe


Grundzüge der israelischen Gesellschaft

Israels Bevölkerung - ungefähr 5,46 Millionen Einwohner, die aus etwa 80 Ländern stammen - zeigt sich ethnisch, religiös, kulturell und sozial äußerst vielfältig. 81,1 Prozent sind Juden, von diesen sind 62 Prozent Sabras (Zabarim, Plural von hebr. Zabra: wildwachsende Kaktusfrucht, deren süße Frucht von einer stacheligen Schale umgeben ist; im übertragenen Sinn Bezeichnung für im Lande geborene Juden, deren Charakter, dem Volksmund nach, äußerlich zäh, innerlich aber zart ist). 18,9 Prozent sind Nichtjuden, das heißt 14,2 Prozent moslemische Araber, 3 Prozent Christen, 1,7 Prozent Drusen. Einen sehr kleinen Prozentsatz stellen andere Minderheiten, wie z.B. Tscherkessen und Angehörige der jüdischen Sekte der Karäer (12000) und Samaritaner (600).

90,4 Prozent der jüdischen und arabischen Bevölkerung leben in Städten, 5,8 Prozent in Gemeinschaftssiedlungen (Kibbuzim und Moschawim) und 3,8 Prozent in Dörfern.

Von der Staatsgründung 1948 bis zum Jahre 1992 kamen 55 Prozent der Immigranten aus Europa, 20 Prozent aus Afrika, 16 Prozent aus Asien, 8 Prozent aus Amerika und Ozeanien und 1 Prozent aus anderen Ländern. Das ursprüngliche Anliegen der jüdischen Gemeinden in der Diaspora (Zerstreuung) war die Bewahrung des Judentums, der jüdischen Kultur und Religion. Die Sammlung der "Zerstreuten", also die Rückkehr aus der Fremde in das Land Israel, als der Heimstätte für alle Juden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Hebräische Bibel und die rabbinische Literatur; sie erfüllte Juden aus aller Welt mit der Hoffnung auf ein freies und unbedrohtes Leben, auf Erlösung in ihrem angestammten Heimatland. Dies war das Ideal des Zionismus und ist auch Ziel des Staates Israel bis heute. Das Rückkehrgesetz vom 5. Juli 1949, von der Ersten Knesset verabschiedet, öffnet das Land für jeden Juden, der bei seiner Einwanderung sofort die israelische Staatsbürgerschaft erhält.

Das Gesetz legt nicht fest, ob der Begriff Jude im Sinne der Abstammung von einer jüdischen Mutter oder im Sinne des religiösen Bekenntnisses zu verstehen ist. Diese ungeklärte Situation führt immer wieder zu Komplikationen und politischen Auseinandersetzungen.

Bevölkerungsstruktur

Während bis zur Staatsgründung am 14. Mai 1948 und in den Jahren der Aufbauphase die jüdische Gesellschaft durch Immigranten primär europäischer und zum kleinen Teil amerikanischer Herkunft geprägt war, ist sie inzwischen durch die Einwanderung und hohe Geburtenrate von Bevölkerungsgruppen vorwiegend afro-asiatischer Herkunft zunehmend orientalisiert.

Mit dem quantitativen Anstieg vollzog sich auch eine qualitative Veränderung der Gesellschaft, die vielfältige Probleme der Integration mit sich brachte. Die kulturell weithin homogene Gesellschaft der Juden Palästinas und der ersten Jahre des neuen Staates Israel, die sogenannte Jischuw- Gesellschaft(hebr.: besiedeltes Land), die geprägt war durch einen starken Gemeinschaftssinn und Pioniergeist, entwickelte sich nach der Staatsgründung allmählich zu einer Vielvölkergesellschaft sehr unterschiedlicher politischer und kultureller Einflüsse, was zu ernsthaften Spannungen zwischen den multikulturellen Tendenzen und den traditionellen Werten des Judentums führt. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die Umwandlung einer Agrargesellschaft mit egalitären Zügen hin zu einer modernen Industriegesellschaft mit einem stärker individualistischen und konsumorientierten Leitbild.

Von 1948 bis 1992 haben etwa 560000 Israelis (die "Vereinigung zur Verhinderung der Auswanderung" gibt sogar die Zahl 700000 an) ihrem Staat den Rücken gekehrt. Gründe dafür waren die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt, ein niedriger Lebensstandard und vor allem die Sicherheitslage. Obwohl Auswanderung (hebr.: Jerida bedeutet Abstieg) als negativ und tadelnswürdig galt und gilt, bringen seit Mitte der 80er Jahre immer mehr Israelis Verständnis dafür auf. Vor allem jüngere, gut ausgebildete Israelis sehen sich als "mögliche Auswanderer" (1988 27 Prozent der Gymnasiasten). Insbesondere denken die überzeugten Einwanderer und jene, die sich eine gesicherte wirtschaftliche Existenz aufbauen können, nicht an Auswanderung.

Beim Überblick über die Bevölkerungsentwicklung und -struktur zeichnen sich folgende Gruppierungen ab:

"Erstes Israel"

Als "erstes Israel" werden die Juden bezeichnet, die erfüllt waren vom zionistischen Ideal einer neuen, klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft und hauptsächlich aus Mittel- und Osteuropa stammten, manche aus Nordund Südamerika, wenige aus Südafrika und Australien.

Diese sogenannten aschkenasischen Juden (siehe Glossar) waren weitgehend westlich emanzipiert, gebildet, vielfach Akademiker und wanderten im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in das damalige Palästina ein. Als überzeugte Zionisten formten und bearbeiteten sie das Land, bauten es auf und prägten das Gesicht des späteren Israel. Viele von ihnen mußten sich von geistiger Arbeit auf Handarbeit umstellen. Sie stellten die erste Generation bedeutender israelischer Politiker (David Ben Gurion, Golda Meir, Chaim Weizmann).

Zu dieser Gruppe gehörten auch deutsche und europäische Juden, die vor dem Terror der Nationalsozialisten fliehen konnten bzw. die Überlebenden des Holocaust. 1990 war nur noch etwa ein Drittel d jüdischen Israelis aschkenasischer Herkunft. Durch die Vielzahl jüdischer Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion hat sich ihr Anteil allerdings wieder erheblich vergrößert.

"Zweites Israel"

Die zweite Bevölkerungsgruppe sind die sephardischen Juden (sepharad: Spanien). Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien und Portugal vertrieben, siedelten sie sich zunächst vorwiegend in Südosteuropa, Nordafrika, Asien, aber auch in Holland, England, Nordwestdeutschland und später in Amerika an. Viele wanderten in diesem Jahrhundert nach Israel ein. Zu dieser Gruppe werden auch die weitaus zahlreicheren orientalischen Juden (irrtümlich mit den sephardischen gleichgesetzt) gezählt, die aus Nordafrika, vor allem Marokko und den arabischen Staaten des Nahen Ostens (Irak, Jemen) kamen. Diese orientalischen Juden waren in erster Linie Bauern, Handwerker und Einzelhändler. Unter ihnen waren auch viele Analphabeten.

Die intellektuelle und wirtschaftliche Oberschicht der marokkanischen Juden ging vielfach nach Frankreich. Dies verschärfte noch die sozialen Gegensätze zwischen orientalischen und aschkenasischen Juden. Viele der orientalischen Juden verharrten - zum Teil bis heute - in einem eher traditionellen Judentum. Dabei wurden Werte und Sitten der Herkunftsländer beibehalten. Zunächst waren den orientalischen Juden demokratische Prozesse und die Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft weitgehend unbekannt. Ein wenig generalisierend läßt sich formulieren, die orientalischen Israelis sind "religiöser, proletarischer und nationalistischer als die Israelis euro- amerikanischer Herkunft" (Wolffsohn). Die Versuche, die sephardischen Juden zu fördern und zu integrieren, zeitigten bis Anfang der siebziger Jahre nur geringe Erfolge. Wirkliche soziale Fortschritte machte ein Großteil der orientalischen Juden erst in den siebziger und achtziger Jahren durch die Sozial- und Gesellschaftspolitik des Likud, den sie deswegen bei Wahlen in ihrer großen Mehrheit konstant unterstützten. Während 1978 noch über 50 Prozent der orientalischen Einwanderer Industriearbeiter waren, sank ihr Anteil bis 1992 auf 31 Prozent. Der Anteil ihrer Söhne an der Industriearbeiterschaft ist heute noch erheblich geringer. Im gleichen Zeitraum stieg der Akademikeranteil unter den orientalischen Juden um ein mehrfaches, während er sich bei den Aschkenasim nur etwa verdoppelte; dennoch bleiben diese vorherrschend.

Lange galt im politischen Bereich die Formel: "Je niedriger der politische Rang, desto besser die Repräsentation der orientalischen Israelis" (Wolffsohn). Auch hier haben sich erhebliche Veränderungen ergeben, wenngleich nach den Wahlen von 1992 nur 41 der 120 Knesset- Abgeordneten orientalischer Herkunft sind. Problematisch ist hingegen, dass die zweite und dritte Generation der sephardischen Juden in geringerem Prozentsatz in den Führungsetagen der Wirtschaft vertreten ist als ihre Väter. Die Mehrzahl der orientalischen Israelis ist heute in untergeordneten Positionen als Verwaltungs-, Bank- und Büroangestellte sowie als Industriearbeiter tätig.

Auch wenn die Israelis orientalischer Herkunft nationalistischer und in weit höherem Prozentsatz als die aschkenasischen Juden auf eine schärfere Abgrenzung gegenüber den Arabern bedacht sind, haben viele von ihnen wohl primär aus wirtschaftlichen Gründen bei den Wahlen 1992 dem Likud- Block ihr Vertrauen entzogen, da sie weit stärker von der Wirtschaftskrise Ende der achtziger Jahre und der durch sie verursachten Arbeitslosigkeit betroffen waren als die Juden euro-amerikanischer Herkunft. Dieser Stimmenanteil kam aber nicht etwa der Arbeitspartei, sondern in erster Linie den religiösen Parteien, vor allem der Schass-Partei zugute.

Gerade bei jungen orientalischen Juden kann eine Bevorzugung der "rechten" Parteien beobachtet werden. Angesichts des beginnenden Friedensprozesses zeigten und zeigen sie sich weniger kompromißbereit. Auch 70 Prozent der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion waren bei einer Umfrage 1991 gegen einen Verzicht auf die besetzten Gebiete.

"Drittes Israel"

Als "drittes Israel" werden die israelischen Araber bezeichnet. Die Muslime, in der Mehrheit Sunniten, umfassen heute 77 Prozent der nicht-jüdischen Bevölkerung Israels. Seit der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert schwankte ihre Zahl in Palästina. Dies hing unter anderem mit der jeweiligen aktuellen wirtschaftlichen Lage zusammen. Wegen des beginnenden jüdischen Aufbaus und den damit verbundenen besseren Lebensbedingungen, kamen schon im späten 19. Jahrhundert zusätzlich zahlreiche Araber aus den Nachbarländern und Provinzen in das damals noch vom Osmanischen Reich beherrschte Palästina. Fast 900000 der heutigen Bevölkerung Israels (ohne die besetzten Gebiete) von 5,46 Millionen sind Araber und kleinere Minderheitsgruppen wie Drusen und Beduinen. Diese Gruppen besitzen ihre eigene Tradition, einen eigenen Lebensstil, eine eigene Geschichte und Sprache.

Die Wohngebiete der israelischen Araber liegen in erster Linie in Galiläa; aber auch in der Region zwischen Hadera und Petach Tikva, im Negev und im Ostteil von Jerusalem (160000). Ihr wichtigstes Zentrum ist Nazareth. Kleinere Gruppen israelischer Araber leben in Großstädten mit gemischter Bevölkerung wie Akko, Haifa, Lod, Ramleh und Jaffo.

Lebensstandard und Einkommen der arabischen Israelis liegen deutlich unter dem der jüdischen Bevölkerung. Obwohl die Lücke verringert werden konnte, betragen die Durchschnittseinkommen der arabischen Israelis 66 Prozent der Einkommen der Aschkenasim, während die orientalischen Juden 87 Prozent erreichen (Wolffsohn).

Der arabische Bevölkerungsteil ist heute in Israel politisch präsent und aktiv. Dies gilt vor allem auf kommunaler aber auch auf nationaler Ebene. In jeder Knesset fanden sich einige arabische Abgeordnete. Die jeweilige Zahl der Abgeordneten wird jedoch durch die auf Splitterparteien entfallenden Wählerstimmen beschränkt, da sie meist den erforderlichen Prozentsatz (1,5 Prozent) nicht erreichen. Eine größere Zahl israelischer Araber wählen auch israelischjüdische Parteien; sogar die Nationalreligiöse Partei und der Likud bekamen einige tausend arabische Stimmen.

Arabische Parteien sind zugelassen, allerdings nach einem Spruch des Obersten Gerichtshofes nicht solche, die den Staat selbst bekämpfen. Eine jüdisch-arabische Gruppierung, die in den achtziger Jahren aus der Friedensbewegung entstand, ist in der Knesset nicht mehr vertreten. Das Dilemma der arabischen Bürger Israels besteht darin, daß sie als Minderheit auf der ständigen Suche nach ihrer Identität sind. Einerseits sind sie Bürger Israels; andererseits verstehen sie sich als Teil des palästinensischen Volks und der großen arabischen Mehrheit jener Staaten im Nahen Osten, die Israel umgibt. Die arabischen Länder jedoch betrachten die israelischen Araber eher reserviert, weil sie Bürger eines Staates sind, mit dem sie sich noch im Kriegszustand oder in einem gespannten Verhältnis befinden. Seit dem Abkommen zwischen Israel und der PLO im September 1993 hat sich ihre Lage positiv gewandelt und viele der israelischen Araber streben eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Israel und der PLO an. Bei einer repräsentativen Umfrage nach der Vereinbarung von Washington gaben 78 Prozent der israelischen Araber an, sie wollten auch nach Gründung eines palästinensischen Staates in Israel bleiben. Das Verständnis und eine Kooperation zwischen Arabern und Juden in Israel wird durch sprachliche, religiöse und kulturelle Unterschiede, aber auch durch erhebliche Vorurteile charakterisiert und behindert. Hinzu kommen die Spannungen des andauernden arabisch-israelischen Konflikts und Auseinandersetzungen, die sich vor allem auf die Einkommensunterschiede, auf den jüdischen Charakter des Staates, auf Bodenbesitz und Bodenrecht beziehen. Die jüdische Mehrheit und die arabische Minderheit im Staat Israel leben weitgehend nebeneinander her. Sie haben zwar wirtschaftliche, kommunale und politische Kontakte, aber kaum persönliche und gesellschaftliche. Viele jüdische Jugendliche wachsen ohne direkte Verbindung zu ihren arabischen Altersgenossen auf und umgekehrt. Gemischte Schulen und Kindergärten gibt es nur in einigen Städten wie Akko, Ramleh und Haifa. Zwar wird arabisch, das Israels zweite Amtssprache ist, als gängige Fremdsprache an den jüdischen Schulen angeboten, doch kann man die jüdischen Jugendlichen nit als zweisprachig bezeichnen.

Zweitsprache für die jüdisch-israelische Jugend ist Englisch. Bei der arabischen Minderheit jedoch ist eine gute Beherrschung des Hebräischen häufig anzutreffen.

Weitere Minderheiten

Eine interessante Außenseiterrolle in der Bevölkerung Israels nehmen die Beduinen ein. Sie machen fast 10 Prozent der arabischen Israelis aus. Der größte Teil der Beduinen gehört zu etwa 30 Stämmen, die verstreut meistens im Süden des Landes, im Negev, aber zum Teil auch noch in Galiläa leben. Traditionell Nomaden, stehen sie derzeit im Umbruch von der alten Stammesgesellschaft zur Seßhaftigkeit. Dies zeigt sich äußerlich in Wohnung, Kleidung, im Gesundheitswesen, in der Erziehung, im Status der Frau und in ihren Berufen. Heute wohnen 40 Prozent der im Süden und 85 Prozent der im Norden lebenden Beduinen in Siedlungen mit festen kommunalen Infrastrukturen. Die Beduinen nehmen immer stärker am Erwerbsleben des Landes teil. Viele von ihnen arbeiten inzwischen in der Industrie, in der Bauwirtschaft, im Transport- und Dienstleistungsgewerbe. Eine spezialisierte Schul- und Berufsausbildung nimmt bei den Beduinen weiter zu.

Obwohl alle israelischen Bürger, unabhängig von ihrer Herkunft und Religion, die gleichen Rechte und Pflichten haben, sind die nicht-jüdischen und arabischen Bürger Israels mit Rücksicht auf ihre familiären, religiösen und kulturellen Bindungen zu Ländern, mit denen Israel im Kriegs- bzw. Spannungszustand lebte und lebt, von der Wehrpflicht ausgenommen. Sie können jedoch als Freiwillige in Zahal dienen. Besonders die Beduinen machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, und die Zahl beduinischer Berufssoldaten wächst.

Zu den Minderheiten in Israel zählt auch die kleine Gruppe der Tscherkessen. Sie sind sunnitische Moslems, die in zwei Dörfern in Galiläa wohnen, und als Hirten ihre Identität bewahrt haben. Sie sind Nachkommen jener im 18. Jahrhundert islamisierten Zirkassier, die in der Gegend des Schwarzen Meeres der russischen Eroberung am längsten widerstanden und später in das Osmanische Reich auswanderten.

Drusen

Die Drusen, Angehörige einer im 11. Jahrhundert aus dem Islam entstandenen eigenständigen Religion, deren Geheimnisse selbst die Mitglieder nur zu einem kleinen Teil kennen, leben in Dörfern des Karmelgebirges und Galiläas sowie auf den Golanhöhen. Größere Drusen- Gemeinden liegen verstreut in Syrien und im Libanon. Ungeachtet der Spannungen zwischen ihren Heimatstaaten und Israel, fühlen sie sich miteinander verbunden. Andererseits kämpfen syrische Drusen in der syrischen, israelische in der israelischen Armee und damit auch gegeneinander. Die Drusen in Israel sind voll in den Staat integriert und betrachten sich als die engsten Verbündeten der Juden. Männliche Angehörige der drusischen und tscherkessischen Minderheit in Israel sind auf Wunsch ihrer ethnischen Gemeinschaft bereits seit 1956/57 wehrpflichtig. Beide Bevölkerungsgruppen sind besonders stark in den Reihen der paramilitärischen Grenzpolizei vertreten.

Kleinere Religionsgemeinschaften

Als Minderheit unter den Juden gelten die Karäer. Sie sind eine jüdische Sekte, entstanden im 8. Jahrhundert nach Christus. Sie lehnen den Talmud (hebr.: Lernen, Lehre; Sammlung rabbinischer Kommentare) ab und bemühen sich um die Ableitung der Halacha (hebr.: Gehen, Wandeln; die Gesamtheit der Ge- und Verbote der mündlichen und schriftlichen Überlieferung) allein aus der Hebräischen Bibel. Das Arbeitsverbot zum Schabbat ist gegenüber dem der rabbinischen Auslegung verschärft, ebenso bestehen Unterschiede in der rituellen Schlachtung und in den Speisegesetzen.

Eine weitere, ganz kleine religiöse jüdische Gemeinschaft sind die Samaritaner. Sie wohnen vorwiegend in Nablus (dem biblischen Sichem), im Westjordanland und in Holon bei Tel Aviv. Sie bezeichnen sich selbst als "Hüter der Wahrheit". Sie erkennen die Thora (hebr.: Weisung, Offenbarung Gottes an Moses, die fünf Bücher Moses; der Pentateuch) an, nicht jedoch die mündliche Überlieferung (Halacha, Talmud). Sie feiern die biblischen Feste. Sie beachten auch die religiösen Speisegesetze und feiern die Aufnahme in ihre Religionsgemeinschaft schon im Alter von sechs Jahren.

Die stärkste Gruppe unter den Nicht-Juden sind nach den Moslems sunnitischer Glaubensrichtung die Christen, zumeist christliche Araber. Sie wohnen in Haifa, Nazareth, Bethlehem und Ostjerusalem.

Das Christentum der Araber des Heiligen Landes stammt aus einer fast 2000 Jahre währenden Tradition. Die meisten christlichen Araber verfolgen dieselben politischen Ziele wie die moslemischen Araber. Ihre christlichen Wortführer unterstützen die Etablierung eines freien Palästinenserstaates. Sie beteiligen sich an anti-israelischen Demonstrationen und prangern das mangelnde Verständnis der israelischen Regierung für die sensible Situation der Minderheit der arabischen Christen an. Auch wenn die arabischen Christen einen Palästinenserstaat unter Führung der PLO befürworten, zeigen sie dennoch offen ihre Angst vor dem Status einer Minderheit in einem moslemisch dominierten Staat. So haben zum Beispiel viele Christen Bethlehem verlassen und sind nach Übersee ausgewandert, vor allem nach Südamerika und Australien. Die christlichen Bewohner Bethlehems, deren Mehrheit in der Stadt recht knapp ist, befürchten angesichts der latenten Abwanderung und der geringeren Geburtenrate christlicher Araber das Entstehen einer moslemischen Majorität. Aber der gemeinsame Kampf gegen die israelische Besatzung sorgt immer wieder dafür, daß die beiden Religionsgemeinschaften sich arrangieren.

Die Gemeinschaft der arabischen Christen ist stark zersplittert. Unter ihnen stellen die römischen Katholiken den größten Anteil dar; es folgen griechisch- orthodoxe, griechischkatholische, maronitische, armenische, syrische, melkitische, koptische und äthiopische Christen. Die weitaus größte Anzahl von Klöstern verschiedener Orden, Schulen, Hospizen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen wird von römisch-katholischen Christen geführt. Die deutschen Katholiken werden von den Benediktinern vertreten. Daneben ist auch die Protestantische Kirche mit mehreren Gemeinschaften präsent ebenso wie die Russisch-Orthodoxe und die Anglikanische Kirche. Das Verhältnis der christlichen Konfessionen untereinander ist nicht frei von Spannungen. Das zeigt sich vor allem im Umgang mit dem Besitz von Heiligen Stätten, besonders in dem sehr komplizierten Kompetenzgeflecht über den Anteil an Privilegien und Plätzen in der Grabeskirche in Jerusalem. Seit sieben Jahrhunderten ist der Schlüssel zur Grabeskirche traditionell in den Händen einer moslemischen Familie aus Ost-Jerusalem. Trotz der Fülle zum Teil rivalisierender Religionsgemeinschaften, die sich vor allem in Jerusalem konzentrieren, gibt es intensive Bemühungen um eine Ökumene. Interkonfessionelle Zusammenarbeit wird auf theologischem und wissenschaftlichem Gebiet ebenso gepflegt wie in den Bereichen Kultur, Archäologie, Wirtschaft und soziale Einrichtungen. Interkonfessionelle Siedlungen bestehen in Nes Amim und Neve Schalom.

Im Januar 1994 wurde der Staat Israel offiziell durch den Vatikan anerkannt. Mit diesem historischen Schritt wurde der Weg zur Versöhnung zwischen der römischkatholischen Kirche und dem Judentum offiziell geebnet. Mit der Ernennung des Apostolischen Nuntius erfolgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan.

Eine weitere noch zu erwähnende Religionsgemeinschaft in Israel bilden die Anhänger der Bahai-Religion. Diese entstand 1844 in der persischen Stadt Täbris als Abspaltung des schiitischen Islam. Der geistige Mittelpunkt und das Welt-Verwaltungszentrum dieser Religion befindet sich in Haifa.

Religion und weltlicher Staat

Die zionistischen Gründerväter haben Israel als modernen weltlichen Staat gegründet. Selbst der jüdischen Religion oft fernstehend, haben sie ihn dennoch in die Tradition des Judentums eingebettet gesehen. Etwa 15 Prozent der jüdischen Israelis kann als streng religiös, das heißt als orthodox, bezeichnet werden, 15 Prozent als eher religiös, 70 Prozent betrachten sich als eher nicht religiös (Lexikon des Judentums, 1992). Die ultra-orthodoxe Minderheit lehnt den modernen weltlichen Staat Israel ab, da seine Gründung durch die Zionisten ein Eingriff in Gottes Plan sei. Gott allein werde für die Rückkehr der Juden aus der Zerstreuung in das "Gelobte Land" sorgen.

Sie beteiligen sich daher nicht am Staatsleben, leisten keinen Wehrdienst; viele weigern sich sogar Steuern zu bezahlen. Die Ultra-Orthodoxen befolgen streng die Halacha, die Gesamtheit der Geund Verbote, wie sie in den jüdischen Schriftensammlungen festgelegt sind. Sie legen zum Beispiel besonderen Wert auf eine koschere (reine) Zubereitung der Speisen, die vom Rabbinat nach den Vorschriften der Bibel streng überwacht werden.

Unter dem Druck orthodox-religiöser Parteien werden schon seit der Staatsgründung bei den staatlichen Luft- und Schifffahrtslinien, in allen öffentlichen Einrichtungen und in der Armee die religiösen Speisegesetze strengstens eingehalten. Israels Luftfahrtsgesellschaft El Al darf nicht am Schabbat fliegen. Die Obduktion soll grundsätzlich verboten, archäologische Ausgrabungen nur mit Billigung durch das Religionsministerium zugelassen werden, da nach orthodoxer Auffassung die Ruhe ehemaliger jüdischer Ansiedlungen dadurch gestört wird.

Die Ultra-Orthodoxen leben stets in der Erwartung des Messias und der Verwirklichung eines Gottesstaates in Israel. Die meisten von ihnen wohnen in Meah Schearim, einem eigenen Stadtviertel von Jerusalem, und tragen die traditionelle Kleidung des osteuropäischen Judentums.

Die jüngeren Kinder besuchen Talmud- und Tora-Schulen, ältere lernen in den Jeschiwot-Schulen.

Die ultra-orthodoxen Juden halten die religiösen Speisegesetze, die Kaschrut, sehr streng ein.

Nationalrelig ö se

Die nationalreligiösen Juden halten sich ebenfalls streng an die Halacha, sie betrachten aber den modernen jüdischen Staat als ersten Schritt zum Kommen des Messias. Für sie ist die Schoa der apokalyptische Höhepunkt der Diasporageschichte. Mit der Staatsgründung 1948 habe in de wiedergewonnenen Freiheit und Souveränität die Erlösung begonnen. Die nationalreligiösen Juden nehmen deshalb aktiv am politischen Leben teil und kämpfen für die Verwirklichung der religiösen Inhalte in der Politik und für eine intensive Teilnahme an der politischen Willensbildung. Sie sind in Regierung und Verwaltung vertreten, vor allem aber in nationalen und sozialen Bereichen, die der Jugend, der Erziehung und der Integration der Einwanderer gewidmet sind. Die Nationalreligiösen, seit 1948 in der gemäßigt religiösen Nationalreligiösen Partei tätig (NRP), beteiligten sich an fast allen Regierungen und waren Koalitionspartner sowohl der Mapai (Arbeitspartei), der Mapam (linkssozialistische Partei) wie des konservativen Likud. Ihreungen Männer dienen im Militär. Seit 1981 wurde ihr Einfluß durch die neuen orthodox-religiösen Parteien, die sich als wenig kompromißbereit erwiesen haben, geschwächt.

Die extremsten Nationalisten sehen im Staat Israel ein politisches Werkzeug, um ein militärisch starkes jüdisches Reich zu errichten nach dem Vorbild König Davids. Zu ihnen gehören zum Beispiel die Gusch Emunim. Ihre Vorstellungen und Ziele werden wiederum von den antizionistischen Ultraorthodoxen als eine Verfälschung des Messianismus angesehen. Neben der Orthodoxie und den Nationalreligiösen gibt es die Traditionalisten. Sie befolgen einen mehr oder weniger großen Teil der religiösen Gesetze, sind jedoch im allgemeinen liberaler eingestellt als die Nationalreligiösen.

Ende der alten Zeiten

Israel ist sechsundvierzig Jahre alt und steckt in der Midlife-crisis. Vieles, was das bisherige Leben geprägt hat, wird für veraltet oder reformbedürftig erklärt: die Beziehungen zu den arabischen Nachbarn, der Umgang mit der Vergangenheit, das Verhältnis zur Diaspora, die Einwanderungspolitik der Jewish Agency, das Rückkehrrecht aller Juden, die Kibbuzbewegung, die einst allmächtige Histadrut-Gewerkschaft und selbst der Massada-Mythos. Nichts sei mehr heilig in diesem Land, lautet die Klage jener, die sich in der neuen Ära des ”Postzionismus” nicht mehr zurechtfinden. […]

Das Abkommen mit den Palästinensern vom September 1993 hat die alten Gewissheiten erschüttert. Der Friedensprozeß konfrontiert Israel mit der Frage nach seiner nationalen Identität, die sich bisher durch Bedrohung und Krieg erübrigt hatte. […] ”Israel hat eine Zukunft bekommen”, sagt der Schriftsteller David Grossmann. ”Zum ersten Mal werden wir uns den Fragen des Lebens stellen, wer wir sind, wie jüdisch wir wirklich leben wollen und wie unsere Kinder aufwachsen sollen. Sind wir nun Israelis oder Juden, und was bedeutet die israelische Demokratie für diejenigen, die als nichtjüdische Minderheit in unserer Mitte leben?” Israels erster Präsident Chaim Weizmann hatte es einmal so formuliert: ”Der Staat ist nur ein Behälter, der mit Inhalt gefüllt werden muß. Worauf es ankommt, ist zu entscheiden, was der Inhalt sein wird.” Krieg stiftet Identität, Frieden auch. Was eint die Israelis, wenn die Feinde sich in Nachbarn verwandeln? Was für ein Land wollen sie? […]

Jossi Beilin (der stellvertretende Außenminister) rüttelt gern an Tabus. Allerdings ist er nicht der einzige, der das Rückkehrrecht überdenken möchte. Es wurde als erstes Gesetz nach der Staatsgründung verabschiedet und garantiert jedem Juden automatisch die israelische Staatsbürgerschaft. Israel wird immer ein Hort für verfolgte Juden sein, doch mit inzwischen 5,5 Millionen Einwohnern - davon 1 Million israelische Palestinenser - gilt die ursprüngliche zionistische Idee, daß alle Juden ins Gelobte Land zurückkehren sollten, als überholt. Von der Gefahr einer Überbevölkerung ist die Rede. Die Zeit sei gekommen, sagt Jossi Beilin, ”das Recht abzuändern, denn Israel ist ein sehr attraktives Land” […]

Aus dem sozialistisch-kollektiven Traum ist ein amerikanischer geworden; weniger durch McDonald’s und Jeans als durch individualistisches Denken. Die heutige Jugend sagt lieber ”ich” statt ”wir”, fährt ins Ausland und meidet jene Kollektiveinheiten, die den Staat immer noch symbolisieren, etwa die Kibbuzim. […]

Die Skeptiker fürchten, daß der Verteidigungswille allmählich von Erschöpfung und Wohlstand untergraben wird, daß viele die Friedensdividende einkassieren wollen - ohne wirklichen Frieden. […] Der Militärdienst soll 1997 von 36 Monaten auf 32 Monate verkürzt werden. Zwar gibt es noch immer genügend Bewerber für die Eliteeinheiten der Armee, doch sehen viele junge Leute heute einen Beruf in der Wirtschaft als ebenso wichtigen Beitrag zum Zionismus an. ”Die Zivilgesellschaft zahlt besser als wir, auf Idealismus allein kann man heute nicht mehr setzen”, gibt ein Armeesprecher zu. ”Der militärische Typus in der Gesellschaft, der keine Gefühle zeigen darf, verschwindet allmählich”, sagt Mosche Halberthal, der an der Hebräischen Universität Philosophie und jüdisches Denken unterrichtet.

Zeitungen und Talk-Shows breiten heute die Alltagssorgen der kleinen Leute aus. Die Zeiten der heldenhaften Pioniere scheinen vorbei. Wenn erst einmal Frieden herrscht, wenn die Klammer des gemeinsamen äußeren Feindes wegfällt, prophezeien die Pessimisten, dann werden bestehende Konflikte innerhalb der Gesellschaft erst richtig aufbrechen: zwischen Reich und Arm, zwischen den Israelis orientalischer und europäischer Abstammung und vor allem zwischen gläubigen und nichtreligiösen Juden. Vom Kulturkampf ist die Rede.

Mehr als 75 Prozent der jüdischen Israelis haben mit Religion wenig im Sinn. ”Wie verhalte ich mich in einer Synagoge?” lautet eine Lektion, die den Teilnehmern im Kadettenkurs des Auswärtigen Amts erteilt wird. Zur Ausbildung gehört auch ein Wochenende bei einer religiösen Familie - damit israelische Diplomaten nicht unangenehm auffallen, wenn sie im Ausland mit jüdischen Gemeinden zu tun haben. Die ”Substanz des Israelischen”, so beschreibt es Akiva Orr in seinem Buch ”Politics, Myths and Identity crises”, sei der ”Gebrauch des Hebräischen als Muttersprache zu Hause plus Atheismus, Modernität, das Fehlen von Minderheitskomplexen und das Durchlaufen einer nichtreligiösen Erziehung in Israel zwischen dem sechsten und dem sechzehnten Lebensjahr”. […]

Nach der Beilegung des existentiellen Konflikts mit den Palästinensern muß Israel sich entscheiden, ob es ein Judenstaat oder ein jüdischer Staat sein will. Ist Judentum eine Nationalität, die religiös definiert ist, oder eine Religion, die sich einen nationalen Rahmen gibt? In der Knesset wird das Thema ”Wer ist Jude?” bereits seit der Staatsgründung diskutiert. Im Personalausweis steht unter Nationalität nicht ”israelisch”, sondern ”jüdisch” - in Abgrenzung zu den israelischen Palästinensern.

Gisela Dachs, Abschied von der Jugend, in: DIE ZEIT, Nr. 50 vom 9. Dezember 1994, S. 56.

Reformjudentum

Eine moderne Strömung stellt das Reformjudentum dar. Zuerst in den jüdischen Gemeinden Deutschlands unter dem Einfluß der Aufklärung entstanden, breitete es sich vorwiegend im Bereich der aschkenasischen Juden, in Mittel- und Westeuropa, dann aber besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika aus. Derzeit hat das Reformjudentum mehr als 1,2 Millionen Anhänger, davon in Israel etwa 10000. Im Reformjudentum ist die strenge Trennung von Mann und Frau in der Synagoge aufgelöst, der Gottesdienst ist stark gekürzt, zum Teil fehlt die Kopfbedeckung, die Liturgie wird in der jeweiligen Landessprache gefeiert, oft mit Chor und Orgel.

Reformrabbiner schließen auch Ehen von Juden mit Nicht-Juden und erkennen Kinder als jüdisch an, wenn nur deren Vater Jude ist. Nach der Halacha ist die mütterliche Linie entscheidend. Seit 1972 werden im Reformjudentum auch Frauen als Rabbinerinnen ordiniert. In Israel gibt es momentan vier Rabbinerinnen.

Erbitterte Differenzen zwischen der Orthodoxie und dem Reformjudentum gibt es bei der Frage der israelischen Staatsbürgerschaft und der fundamentalen Frage nach der Identität der jüdischen Israelis. Jüdische Religion und israelische Nationalität gehören im tiefsten Sinne untrennbar zusammen. So geriet das Rückkehrergesetz in jüngster Zeit wieder in die Diskussion. Die Auseinandersetzung entzündete sich, als aus einem moslemischen Staat rund 1000 Neueinwanderer ins Land kamen, deren Mütter gezwungen worden waren, vom Judentum zum Islam überzutreten. Diese Familienclans kamen wohl aus wirtschaftlichen Gründen nach Israel, wo sie sich weder zum Judentum bekennen, noch ihren moslemischen Glauben aufgeben wollten.

Ähnliche Probleme traten auch bei den Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion auf. Die zweite und dritte Generation der Israelis, vor allem die in Israel Geborenen, haben, nicht zuletzt durch ihren Dienst in der Armee und die enormen Aufbauleistungen geprägt, eher ein säkularisiertes Wir- Gefühl entwkelt. Denn die Geschichte des Staates seit seiner Gründung ist die Geschichte einer ständigen Bedrohung und Verteidigung seiner Existenz. Die daraus erwachsende Identität wurde zudem gefestigt durch den Holocaust. So ist es für Israelis von heute weniger die jüdische Religion, die identitätsstiftend wirkt, als vielmehr die Geschichte von Verfolgung, Neubeginn und aktueller Bedrohung.

Chronologie der Entwicklung des modernen Israel

1882 bis 1903

Erste Einwanderungswelle (Alija) als Reaktion auf ihre Unterdrückung in Osteuropa kommen etwa 30000 Juden nach Palästina.

Theodor Herzl veröffentlicht ”Der Judenstaat”.

29. bis 31. August 1897

Erster Zionistenkongreß in Basel, der die Schaffung einer gesicherten

Heimstätte für das jüdische Volk in dem damals unter osmanischer Herrschaft stehenden Palästina fordert.

2. November 1917

Die Britische Regierung sichert den politischen Zionisten ihre Unterstützung bei der Schaffung einer ”jüdischen Heimstätte” in Palästina zu (Balfour- Deklaration).

24. April 1920

Konferenz der Alliierten in San Remo überträgt Großbritannien das Mandat für Palästina.

Dezember 1920

Dritter Palästinensischer Nationalkongreß, der in Haifa stattfindet, verlangt für Palästina eine einheimische Regierung.

1932 bis 1938

Im Zuge der fünften Alija kommen als Reaktion auf Verfolgung in Europa mehr als 250000 jüdische Einwanderer nach Palästina.

1936 bis 1939

Widerstand der Palästinenser gegen die britische Mandatspolitik und die zionistische Kolonisation erreicht einen Höhepunkt.

29. November 1947

UN-Vollversammlung beschließt mit der Resolution 181/II die Teilung

Palästinas und die Gründung eines jüdischen und eines arabisch- palästinensischen Staates sowie die Internationalisierung des Gebietes von Jerusalem.

14. Mai 1948

Proklamation des Staates Israel.

14./15. Mai 1948

Arabische Armeen beginnen mit einem Angriff auf Israel den ersten arabischisraelischen Krieg (Unabhängigkeitskrieg).

11. Dezember 1948

UN-Resolution mit Bekräftigung des Rechts auf Rückkehr oder Wiedergutmachung für Palästinenser.

29. Oktober bis 5. November 1956 Suez-Krise.

1958/59

Palästinenser, darunter Yassir Arafat, gründen in Kuwait die Bewegung zur Befreiung Palästinas, Fatah.

28. Mai bis 2. Juni 1964

Tagung des Ersten Palästinensischen Nationalkongresses, Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).

5. bis 10. Juni 1967 Sechs-Tage-Krieg.

In Jordanien entbrennen zwischen Jordaniern und Palästinensern

Bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen, die mit einer Niederlage der Palästinenser enden (Schwarzer September).

6. bis 26. Oktober 1973

Jom-Kippur-Krieg.

13. November 1974

Erstmals Rede Yassir Arafats vor UNO-Vollversammlung.

5. bis 17. September 1978

In Camp David zwischen Jimmy Carter, Anwar al Sadat und Menachem Begin getätigte Verhandlungen sehen unter anderem für die Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten eine Autonomie vor.

26. März 1979

Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten.

6. Juni 1982

Israelische Truppen dringen in den Libanon ein, um dort die Palästinenser zu bekämpfen.

21. August bis 4. September 1982

13000 palästinensische Kämpfer ziehen, nachdem sie Wochen hindurch dort eingekesselt waren, aus Westbeirut ab.

8. Dezember 1987

In den israelisch besetzten Gebieten beginnen Palästinenser, vor allem Jugendliche, eine Rebellion gegen das Besatzungsregime (Intifada).

15. Dezember 1988

Die PLO proklamiert auf dem XIX. Nationalkongreß den Staat Palästina bei Anerkennung der Existenz Israels.

30. Oktober 1991

In Madrid beginnt unter der Schirmherrschaft der USA und der Sowjetunion eine Nahostkonferenz, an der alle am Konflikt beteiligten Parteien teilnehmen (14 palästinensische Vertreter als Teil der jordanischen Delegation).

13. September 1993

Vertreter der PLO und Israels unterzeichnen in Washington eine gemeinsame Prinzipienerklärung, die unter anderem für die Palästinenser im Gazastreifen und im Jericho-Gebiet für eine Übergangsperiode,

eine Selbstverwaltung vorsieht.

4. Mai 1994

Gaza-Jericho-Abkommen.

14. Oktober 1994

Yassir Arafat, Schimon Peres und Jitzchak Rabin erhalten in Oslo den Friedensnobelpreis.

Politischer Einfluß der Orthodoxie

Die Trennung zwischen Religion und Staat ist in Israel nicht eindeutig. Der Einfluß der Orthodoxie auf weltliche Bereiche ist sehr groß. Viele religiös eher gleichgültige Israelis betrachten dies als unvereinbar mit einem modernen demokratischen Industriestaat sowie mit der in den Grundgesetzen verankerten Gewissens- und Religionsfreiheit. So kommt es immer wieder zu geistigen und politischen Auseinandersetzungen über den richtigen Weg zwischen orthodoxen und liberalen Ansprüchen.

Religionspolitischer Streit war seit der Staatsgründung eine der häufigsten Ursachen für Regierungskrisen. Der religiöse Einfluß der Orthodoxie zeigt sich in vielen Bereichen. Israel kennt weder eine Zivilehe noch eine Zivilscheidung. Über das gesamte Personenstands- und Erbwesen entscheiden die religiösen Gerichtshöfe, deren religiöse Richter Staatsbeamte sind. Gesetzlicher Ruhetag und Mittelpunkt des jüdischen Lebens ist der Schabbat (vgl. Kap. Jüd. Feste). Züge und öffentliche Verkehrsmittel liegen am Schabbat still, die nationale Fluglinie El Al startet und landet am Schabbat nicht (Ausnahmegenehmigungen im Verteidigungsfall). Zu den vom Oberrabbinat vorgeschriebenen Gesetzen gehört auch die Einhaltung der Kaschrut, der religiösen Speisevorschriften. Zu Demonstrationen und Auseinandersetzungen kommt es, auch in der Knesset, immer wieder wegen der zum Beispiel von einer kleinen Gruppe von ultraorthodoxen Juden vorgeschlagenen Ausweitung des Verbots der Speisegesetze, der Obduktion und von Ausgrabungen.

Feste und Gedenktage

Die meisten Israelis messen den vielen jüdischen Gedenk- und Feiertagen in stärkerem Maße eine nationale und identitätstiftende als eine religiöse Bedeutung zu. Deshalb werden die Feiertage auch von vielen nicht-religiösen Juden eingehalten.

Nach biblischem Verständnis hat ein Fest, wörtlich verstanden als festgesetzter Tag, die Bedeutung einer festlichen Zusammenkunft, die gleichzeitig einen symbolischen Sinn bekommt.

An einem Fest kehrt man zu einem Ereignis zurück, wie es in der biblischen Vergangenheit gefeiert wurde. Die Daten der Festtage werden im Jüdischen Kalender jeweils neu berechnet. Das jüdische Jahr beginnt meistens im September und zählt momentan das Jahr 5755. (Im Jahr 3761 vor Chr. soll - nach orthodox-jüdischem Weltverständnis - Gott die Welt erschaffen haben.) Der Jüdische Kalender existiert in Israel neben dem Gregorianischen. Im internationalen Geschäfts- und Wirtschaftsleben richtet man sich jedoch nach dem Gregorianischen Kalender.

Ihrer ursprünglichen Bedeutung nach waren die biblischen Feste einerseits Ausdruck der engen Verbundenheit der Juden mit der Natur (Aussaat, Ernte). Aber sie erinnern auch an wichtige historische Ereignisse zum Beispiel den Auszug aus Ägypten (Pessach) - mit dem Ostern zusammenfällt, - oder den Empfang der Thora (Schawuot), mit dem Pfingsten parallel verläuft. Bestimmte Festtage hängen mit den Mondphasen zusammen. Dazu gehören das Neujahrsfest (Rosch Ha-Schana). Das ist der Tag des Gerichtes, zugleich aber auch ein Freudentag. Zu seinen Zeremonien gehört das Blasen des Schofar, eines alten Instrumentes, das aus dem Horn eines Widders hergestellt ist. Das Blasen des Horns erinnert an den Widder, der an Stelle Isaaks von Abraham geopfert wurde. Der Tag soll auch zur Einkehr und zum Gedenken ermahnen.

Zum Tag des Posaunenschalls gehört das Verteilen von in Honig getauchten Apfelscheiben, ein Zeichen der Hoffnung auf ein "süßes" Jahr. Auf das Neujahrsfest folgt der Fast- und Versöhnungstag (Jom-Kippur), der Tag r Umkehr und Buße. Er ist ein ernster Tag, der gläubige Jude fastet streng, viele beten fast 24 Stunden.

Ein Fest anderen Ursprungs stellt das Chanukka-Fest ("Einweihung") dar, das Lichterfest, zur Erinnerung an die Neuweihe des Tempels nach seiner Entweihung durch hellenistische Feinde 165 v. Chr. Es ist ein frohes Fest, bei dem in einer bestimmten Reihenfolge die acht Kerzen des Chanukkaleuchters acht Tage lang angezündet werden.

Das Purim-Fest erinnert an die Errettung der Juden durch Esther vor der Verfolgung durch Haman, einen Günstling des persischen Königs Ahasver (480 v. Chr.). Beeinflußt vom Karneval, entwickelte sich der Brauch des Verkleidens am Purim-Fest. Vor allem die Kinder ziehen durch die Straßen, man liest aus dem Buch Esther, und beim Nennen des Namens Haman stampft man unter lautem Geschrei auf den Boden.

Neueren Datums sind der Holocaust-Tag, der am Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto begangen wird, und der Unabhängigkeitstag, nach dem hebräischen Datum der Staatsgründung. Da zwischen beiden Gedenktagen nur eine Woche liegt, wird der inhaltliche Zusammenhang zwischen Vernichtung und Neubeginn deutlich. Seit 1967 wird auch der Tag der Vereinigung Jerusalems als "Jerusalem Tag" gefeiert. Die Feste zeigen anschaulich, wie intensiv die Israelis mit ihrer Vergangenheit leben, und wie die biblische Tradition bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Feier- und Gedenktage festigen in ganz besonderer Weise das Gemeinschaftsgefühl der Juden, denn sie verbinden Juden aller Strömungen ob in Israel oder in der Diaspora.

Biblische Traditionen

Das Pessach-Fest kann als das Hauptfest bezeichnet werden. Es ist das eigentliche Befreiungsfest. Der biblischen Tradition nach ist es ein Frühlingsfest, an dem Hirten den Dank für die Lämmer ihrer Herden ausdrückten. Eine neue Bedeutung erlangte das Fest durch den Auszug der Israeliten aus Ägypten. An diesem Tage ließ Gott alle erstgeborenen Söhne der Ägypter töten, was zur Freilassung des israelitischen Volkes führte. Sieben Tage lang wird Pessach gefeiert als Fest der Befreiung und Verschonung der israelitischen Erstgeborenen in Ägypten.

Das biblische bäuerliche Mazzot-Fest (Fest der ungesäuerten Brote) verband sich mit dem Fest des Auszugs zum Pessach-Fest. Das Lamm wurde verzehrt, ebenso die ungesäuerten Brote als "Brot der Bedrängnis" (5. Mose 16,3), da offensichtlich die Befreiung so eilig stattfand, daß das übliche, gesäuerte Brot in der Kürze nicht mehr gebacken werden konnte. Das Pessach-Fest wird auch heute noch in allen jüdischen Familien in Anlehnung an die Tradition wie auch im Hinblick auf die symbolische Kraft der Befreiung gefeiert. An diesem Fest fühlt sich Israel mit den Juden der Diaspora verbunden.

Schon Tage vor Pessach beginnt man mit der Reinigung des Hauses und dem Beseitigen der Reste gesäuerten Brotes. An Stelle von Brot werden sieben Tage lang Mazzot gegessen. Zur festen rituellen Ordnung gehört auch am Seder-Abend das Lesen der Haggada, der Erzählung von der Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens.

Das Schavuot, das Wochenfest, wird sieben Wochen bzw. 50 Tage nach Pessach als Tag der Kornernte begangen. An diesem Tage erinnern sich die Juden auch an die Offenbarung Gottes am Sinai.

Sukkot, das Laubhüttenfest, wird anläßlich der Obst- und Weinernte gefeiert. Man wohnt in einer Sukka, einer Laubhütte, sie muß im Freien stehen, und ihr Laubdach muß so beschaffen sein, dass man Sonne und Himmel sehen kann. Sie erinnert an das Leben in den Hütten während der Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten. Pessach, Schavuot und Sukkot waren die drei großen Wallfahrtfeste, an denen man zum Tempel nach Jerusalem pilgerte. Auch heute noch stellt Jerusalem die religiöse Mitte und das geistige Zentrum der großen Feste dar.

Der Schabbat (hebr.: Ruhetag) ist der siebte Tag der Woche, der von den Juden in ihrer gesamten Geschichte als der Tag der Ruhe und des Gottesdienstes gefeiert und heilig gehalten wird. Das Gebot, den Schabbat zu heiligen, steht in den zehn Geboten und gilt als feste Säule des jüdischen

Glaubens. Die Begründung für die Heiligung des Schabbats liegt in der Schöpfungsgeschichte, und das Feiern des Schabbat ist immer ein Gedenken an die Schöpfung der Welt durch Gott. Der Schabbat reicht von der Abenddämmerung am Freitag (ausgerichtet nach dem jeweiligen Sonnenuntergang) bis zum Sichtbarwerden von drei Sternen am Samstagabend.

Eingeleitet und verabschiedet wird er mit häuslichen und synagogalen Gesängen. Er ist für streng religiöse Juden ein ganz auf geistige Werte ausgerichteter Tag,. Er dient dem Tora-Studium, dem Gebet, dem Gottesdienst, der Freude und dem Frieden.

Der Schabbat hat zudem eine wichtige soziale Funktion, denn am Schabbat trifft sich die Familie zum Schabbatmahl. Die Forderungen des Schabbatgebotes, ausgerichtet an den biblischen und rabbinischen Vorschriften, geraten in der Gegenwart häufig in Konflikt mit den Bedürfnissen der Juden in einer sich wandelnden modernen Industriegesellschaft. Dies betrifft insbesondere das Arbeitsverbot, verbunden mit der Vorschrift, Neues zu produzieren.

So wird vielfach nach Kompromissen gesucht, damit trotz der Arbeit noch möglichst viel vom ursprünglichen Schabbat-Gedanken gerettet werden kann. Das Autofahren am Schabbat gilt für orthodoxe Juden als verbotene Arbeit. Konservative Juden halten den Besuch des Gottesdienstes in der Synagoge für wichtiger und übergehen daher das Fahrverbot; religiös Liberale benutzen das Auto auch zu Zwecken, die ihm mit dem Gebot des Schabbat als vereinbar gelten, wie zum Beispiel Ausflüge mit der Familie am Ruhetag.

Histadrut

Wladimir Struminski

Lange galt die 1920 gegründete Arbeitnehmer-Organisation Histadrut (hebr.: Verband) als die letzte große Bastion des "alten", von sozialistischer Ideologie beherrschten Israel. 1994 erlebte die Histadrut indessen eine politische Wende. Nach 74 Jahren ungebrochener Mehrheitsherrschaft der Arbeiterbewegung, brachten die Wahlen zu dem Führungsgremium der Histadrut im Mai 1994 eine grundlegende Änderung der Mehrheitsverhältnisse. Bei dem Urnengang, bei dem alle Mitglieder wahlberechtigt waren, wurde die neugebildete "Ram"-Liste, die eine radikale Reform der Histadrut auf ihre Fahnen geschrieben hatte, mit 46 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Anhieb die größte Fraktion. Die bis dahin in der Histadrut dominante Arbeitspartei - die bei den vorhergegangenen Wahlen 55 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhalten hatte, konnte 1994 nur noch 33 Prozent gewinnen. Der Likud-Block erhielt 17 Prozent und die am linken Rand des politischen Spektrums stehende gemeinsame "JüdischArabische Liste" vier Prozent der Stimmen.

Da Ram die absolute Mehrheit verfehlte, war sie auf einen Koalitionspartner angewiesen, wobei sie sich für die Arbeitspartei entschied. Damit konnte sich die Arbeitspartei zwar einen gewissen Einfluß auf die weiteren Geschicke der traditionsreichen Arbeitnehmerorganisation sichern, doch scheint es, daß sich die Histadrut des Jahres 2000 erheblich von derjenigen des Jahres 1994 unterscheiden wird.

Damit wäre auch für die israelische Gesellschaft als Ganze eine sozialpolitische Änderung verbunden, denn die Hauptrichtung des von den neuen Entscheidungsträgern angestrebten Wandels ist eine Reduzierung der Rolle der Histadrut in Bereichen, die nicht der Gewerkschaftsarbeit im engeren Sinne zuzuordnen sind, sondern die Ausübung allgemeiner gesellschaftlicher und quasi-staatlicher Aufgaben bedeuten.

Wegbereiter des Staates

Die Rolle, die der "Allgemeine Verband der Arbeiter im Lande Israel", die Histadrut, im Laufe mehrerer Jahrzehnte gespielt hatte, war weitaus größer als die der Gewerkschaften in anderen westlichen Ländern. Zu Beginn der neunziger Jahre waren in der Histadrut 1,7 Millionen Mitglieder und somit mehr als 70 Prozent aller Beschäftigten organisiert. Sie fungierte als Tarifpartner und war auch als Dachorganisation der israelischen

Gemeinwirtschaft ein wichtiger, weitgehend eigenständiger

Wirtschaftssektor. Darüber hinaus unterhielt sie die größte Krankenkasse des Landes und ein eigenes Netz von Kliniken, Krankenhäusern und Altersheimen sowie Pensionskassen, ein Erziehungs- und Ausbildungswesen, eine Frauenund eine Jugendorganisation, eine Verbraucherschutzstelle, und war auf kulturellem und sozialem Gebiet tätig.

Diesen breitgefächerten Aufgabenbereich verdankte die Histadrut nicht zuletzt dem Umstand, dass sie fast drei Jahrzehnte vor der Staatsgründung Israels - 1920 - und damit in einem frühen Stadium der Entwicklung des jüdischen Gemeinwesens im Lande gegründet worden war. Dadurch wurde sie in mancher Hinsicht zu einem Wegbereiter des Staates und nahm wichtige Aufgaben beim Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft wahr.

Auch nach der Staatsgründung kümmerte sich die Histadrut um Ziele wie die Gründung von Unternehmen, die Schaffung von Arbeitsplätzen oder die Ansiedlung von Neueinwanderern, um Aufgaben also, die über den Aktivitätsbereich einer reinen Gewerkschaftsorganisation hinausgingen. Zudem war die Histadrut von einer sozialistisch orientierten Ideologie geprägt, die die Schaffung einer neuen Gesellschaft nicht dem Zufall überlassen wollte, sondern aktives Vorgehen forderte.

Allerdings erzeugte die Mannigfaltigkeit der Ziele, die die Histadrut sich gesetzt hatte, von Anbeginn auch Interessenkonflikte, vor allem zwischen den sozialen und politischen Aufgaben auf der einen und den wirtschaftlichen Anforderungen an die Histadrut-eigenen Unternehmen auf der anderen Seite.

Bereits in den zwanziger Jahren rang der Verband um eine Lösung dieses Konfliktes, den sie allerdings zu keinem Zeitpunkt lösen konnte.

Gemeinwirtschaft

Alle Mitglieder des "Allgemeinen Arbeiterverbandes" wurden zugleich Teilhaber der Dachgesellschaft der Histadrut-eigenen Unternehmen, der "Allgemeinen gemeinschaftlichen Arbeitergesellschaft im Lande Israel", kurz Arbeitergesellschaft genannt. Der Generalsekretär des Arbeiterverbandes war gleichzeitig der Vorsitzende der Arbeitergesellschaft. Die Hauptbereiche der Dachgesellschaft waren von jeher mehrere Großkonzerne. Zu Beginn der neunziger Jahre war der größte von ihnen der Industriekonzern Koor, der rund sechs Prozent der israelischen Industrieproduktion herstellte. Ein weiterer Stützpfeiler der Arbeitergesellschaft war von Anfang an die gegenwärtig größte Bank des Landes, die Bank Hapoalim (hebr.: Arbeiterbank) gewesen.

Auch wenn sie infolge des Bankenkollaps von 1983 ebenso wie die anderen führenden Banken formal in Regierungsbesitz übergegangen war, wurde diese praktisch auch weiterhin von der Histadrut geführt.

Neben den in direktem - vollständigem oder mehrheitlichem - Eigentum der Arbeitergesellschaft befindlichen Unternehmen wurden auch die kommunalen und genossenschaftlich ländlichen Siedlungen (Kibbuzim beziehungsweise Moschawim) sowie deren - vor allem im Dienstleistungssektor tätige - Unternehmen der Gemeinwirtschaft zugerechnet.

Allerdings war der Einfluß der Histadrut auf die Wirtschaftsaktivität der Kibbuzim und Moschawim stets eher indirekter Natur. Von der Entwicklung der Gemeinwirtschaft nach der Staatsgründung vermittelt die Tabelle einen Eindruck.

Krisen

Ab Mitte der achtziger Jahre wurden in der Gemeinwirtschaft Krisenerscheinungen deutlich. Zum Teil war dies eine Folge der schwierigen Sanierungsperiode, die die gesamte Wirtschaft durchmachte. Hinzu kam, daß zahlreiche Histadrut-Unternehmen in besonders hohem Maße von Aufträgen der öffentlichen Hand abhängig waren, die angesichts der Sparpolitik der Regierung nunmehr zumTeil ausblieben.

Gleichzeitig mußte die Histadrut jedoch erkennen, daß die Krise der Gemeinwirtschaft auch hausgemacht war. Die Management-Methoden vieler Histadrut-Unternehmen erwiesen sich als den Anforderungen nicht gewachsen. Die mitunter praktizierte Politik der Erhaltung von unrentablen Arbeitsplätzen oder eines Lohnniveaus, das ökonomisch nicht tragbar war, führte bei schwieriger Auftragslage zur Offenlegung struktureller Schwächen mancher Betriebe.

Zudem erwies sich der hohe Konzentrationsgrad der Gemeinwirtschaft als ein ökonomisches Handikap. Ein Teil der Unternehmen, die in Konzernen zusammengefaßt waren, hatte jahrelang von einem internen Finanzausgleich profitiert, in dessen Rahmen die Konzernzentralen ineffiziente Unternehmen auf Kosten der besser geführten subventioniert hatten. Dadurch war der wahre Zustand der gefährdeten Bereiche dem Dachverband der Arbeitergesellschaft nicht bewusst gewesen.

Die Folge der Krise war eine rasche Schrumpfung der Gemeinwirtschaft, vor allem im Industriesektor, durch Schließungen und Verkauf von Unternehmen. Allein im Jahre 1990 sank der Anteil der Gemeinwirtschaft an der Industrieerzeugung von 22 Prozent 1989 auf 17 Prozent. In demselben Jahr ging die Zahl der Beschäftigten in der gemeinwirtschaftlichen Industrie von 46000 auf 40500 Mitarbeiter zurück.

Nach diesem Zeitpunkt begann sich die Situation der Gemeinwirtschaft zu stabilisieren, wobei die Schrumpfungsprozesse jedoch zum Teil anhielten.So sank der Anteil der Gemeinwirtschaft an der Industrie im Jahre 1992 auf 15 Prozent und in der Bauwirtschaft auf acht Prozent.

Das Jahr 1993 forderte ein weiteres Opfer: Trotz der Ende der achtziger Jahre eingeleiteten Sanierungsversuche mußte die schwer angeschlagene Histadrut-eigene Versicherungsgesellschaft Hasneh, eine der größten des Landes, Konkurs anmelden.

Die Krise löste eine öffentliche Debatte über die Zukunft der Gemeinwirtschaft aus. Während viele Kritiker bezweifelten, daß die Histadrut den Widerspruch zwischen ihren Interessen als eine Arbeitnehmervertretung und sozialpolitische Organisation auf der einen und als Arbeitgeber auf der anderen Seite auf Dauer lösen könne, hielt die damalige Histadrut-Führung am Grundgedanken der Gemeinwirtschaft fest.

Wendepunkt: Gesundheitsreform

Die Gemeinwirtschaft war nicht der einzige Bereich, in dem es Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Histadrut in der israelischen Gesellschaft gab. Die Debatte schloß vielmehr auch die sozialen Aufgaben der Histadrut mit ein.

Letztendlich wurde der Streit über die Rolle der Histadrut im Gesundheitswesen zum auslösenden Moment der Wende des Jahres 1994. Bis dahin war die Krankenversicherung freiwillig und wurde von vier Krankenkassen getragen. Die bei weitem größte von ihnen war die in den zwanziger Jahren gegründete, gewerkschaftseigene "Allgemeine Krankenkasse" (Klalit), die noch zu Beginn der neunziger Jahre fast drei Viertel aller Versicherten auf sich vereinigte.

Dabei war jedes Histadrut-Mitglied automatisch bei der Klalit versichert. Gleichzeitig setzte eine Krankenversicherung bei der Klalit die HistadrutMitgliedschaft voraus.

Die Versicherungsprämie war mit dem Mitgliedsbeitrag an die Histadrut abgegolten. Zwar wurde der größte Teil des Mitgliedsbeitrags (1994: 75 Prozent) an die Krankenkasse abgeführt, doch diente der Rest der Beitragsaufkommen der Finanzierung anderer Aktivitäten der Histadrut. Von Kritikern dieses Systems wurde bemängelt, durch die Verknüpfung der Krankenkasse und der Mutterorganisation hindere die Histadrut ihre Mitglieder an der freien Wahl der für sie besten Krankenkasse und finanziere ihre sonstigen Aktivitäten auf Kosten der medizinischen Versorgung.

Aus der Sicht der Histadrut-Führung dagegen war die gleichzeitige Mitgliedschaft und deren Krankenkasse der natürliche Zustand einer Organisation, die sich einem breiten Spektrum von Aufgaben verschrieben hatte.

1993 brachte die Regierung in der Knesset eine Gesetzesvorlage zur Reform des Gesundheitswesens ein. Nach dieser Vorlage sollten die Versicherten unter den Krankenkassen frei wählen dürfen, wobei die Histadrut-Mitglieder nicht mehr automatisch Mitglieder der organisationseigenen Krankenkasse wären. Die Prämien würden alle Versicherten als eine "Gesundheitssteuer" an die Sozialversicherungsanstalt entrichten. Damit war eine finanzielle Trennung zwischen der Histadrut und ihrer Krankenkasse geplant, was die damalige Histadrut-Führung als eine existentielle Bedrohung der bestehenden Organisationen scharf ablehnte. Auf Druck der Gewerkschaftsführung zog die von der Arbeitspartei angeführte Regierung das Gesundheitsreformgesetz, das zunächst breite überparteiliche Unterstützung gefunden hatte, Anfang 1994 zurück.

Dadurch handelte die Regierung jedoch gegen den Wunsch eines großen Teils der Histadrut-Mitglieder selbst, denn zahlreiche Versicherte der Klalit waren mit den angebotenen Dienstleistungen unzufrieden. Diese Unzufriedenheit hatte bereits in den Jahren zuvor zahlreiche Mitglieder zum Austritt aus der Histadrut bewogen. Zwar konnte die Organisation ihren Mitgliederstand angesichts des allgemeinen Bevölkerungswachstums in absoluten Zahlen ausbauen, doch waren die Austritte als eine Massenerscheinung nicht zu übersehen, und in relativen Zahlen hatte die Histadrut seit den achtziger Jahren eine deutliche Schwächung hinnehmen müssen.

Die Zahl der Histadrut-Mitglieder war bis dahin nicht nur absolut, sondern auch als Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung gestiegen - von 27 Prozent im Jahre 1950 auf 38 Prozent 1980. Dann aber zeichnete sich eine Trendwende ab: 1993 waren nur noch rund 32 Prozent aller Israelis gewerkschaftlich organisiert.

Umbruch

Angesichts der öffentlichen Meinung erwies sich das Abrücken der Arbeitspartei von der Gesundheitsreform in der ursprünglich geplanten Form als ein schwerwiegender politischer Fehler.

Nach dem Reform-Aufschub durch das Kabinett trat der damalige Gesundheitsminister - und Mitglied der Arbeitspartei-, Chaim Ramon, aus Protest gegen die Nachgiebigkeit der Regierung gegenüber der Histadrut zurück. Nur wenige Wochen vor der Histadrut-Wahl wurde die Ram-Liste unter seiner Führung aufgestellt.

Zwar schlossen sich nur relativ wenige Politiker und Aktivisten der Arbeitspartei Ramon an, doch konnte dieser, ein prominenter Politiker der Nachwuchsgeneration, die im linksliberalen Bündnis Meretz vereinten Parteien Ratz, Mapam und Schinui zur Teilnahme an seiner Liste bewegen. Damit entstand eine Situation, in der die beiden Hauptgegner bei der Histadrut-Wahl - die Arbeitspartei und die politischen Kräfte auf Ramons Ram-Liste - zugleich Partner in der Regierungskoalition in der Knesset waren und auch blieben.

Die fortgesetzte parlamentarische Zusammenarbeit war denn auch ein ausschlaggebender Grund für den Beschluß von Ram und der Arbeitspartei, trotz der tiefen sozialpolitischen Differenzen zwischen Teilen der "alten Garde" der Arbeiterpartei auf der einen und Ram auf der anderen Seite auch in der Histadrut eine Koalition zu bilden. Hinzu kam der Wunsch der Arbeitspartei, nicht gänzlich in die Opposition der Histadrut zu geraten, während Ram die Stimmen der Arbeitspartei in den Histadrut-Gremien brauchte, um Reformen durchzuführen, die einer Zwei-Drittel- Mehrheit bedurften. Im Juli 1994 wurde Ramon zum neuen Vorsitzenden der Histadrut gewählt.

Hatte sich ursprünglich die Histadrut zum Ziel gesetzt, alle Arbeiter zu vereinigen, um sich den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten der Arbeiter zu widmen, wird die Histadrut der ausgehenden neunziger Jahre von dieser Vorstellung voraussichtlich weitgehend abgerückt sein und sich zukünftig vor allem gewerkschaftlichen Aufgaben zuwenden.

Zu den erklärten Zielen der neuen Führung gehört eine weitgehende Trennung von den nichtgewerkschaftlichen Aufgaben, nicht zuletzt im Bereich der Gemeinwirtschaft, ein radikaler Abbau des Apparates und eine Senkung der Zahl der Einzelgewerkschaften. Ein deutliches Zeichen der Schrumpfungstendenzen war der Rückgang des Jahreshaushaltes der Histadrut 1995 um fast die Hälfte gegenüber 1994.

Allerdings muß erst abgewartet werden, in welchem Umfang und mit welchen Folgen die angestrebten Reformen in die Praxis umgesetzt werden. Von symbolischen Aktionen abgesehen, die das Selbstverständnis der neuen Histadrut-Führung widerspiegeln - 1994 wurde der Name der Organisation in "Neuer Allgemeiner Arbeiterverband" geändert und statt des Titels "Generalsekretär" wurde die Amtsbezeichnung "Vorsitzender" eingeführt -, berührt der neue Kurs das Schicksal eines großen Teils der israelischen Bevölkerung nicht unwesentlich.

Folgen

Das gilt in hohem Maße für die Bestrebungen der Reform-Anhänger, die Verbindung zwischen der Histadrut und der Gemeinwirtschaft zu lockern.Eine Beschränkung des wirtschaftlichen Engagements der Histadrut in diesem Bereich setzt eine erfolgreiche Fortsetzung der Sanierung der betriebswirtschaftlichen schwächeren Bereiche der Arbeitergesellschaft voraus; diese jedoch wird ohne umfangreiche Investitionen nicht zu bewältigen sein. Somit stellt sich die Frage, ob es der Histadrut gelingt, dafür Finanzierungsquellen zu erschließen, sei es durch eine Privatisierung gemeinwirtschaftlicher Unternehmen, sei es durch staatlich gestützte Programme.

Beides wird nicht leicht sein, erst recht nicht ohne eine ausreichende Kooperationsbereitschaft der betroffenen Belegschaften. Daß viele Probleme, gegen die die Histadrut ankämpfen muß, Altlasten der Vergangenheit sind, macht ihre Lösung nicht notwendigerweise leichter. Ein Beispiel sind die

gewerkschaftseigenen Pensionskassen, die wegen langjähriger Unterfinanzierung Gefahr laufen, schon bald ihre Verpflichtungen gegenüber den Versicherten, die das Rentenalter erreichen, nicht in vollem Umfang erfüllen zu können. Ob Abhilfe durch eine Senkung der ausgezahlten Renten, eine Erhöhung der Versicherungsprämien oder durch staatlich gestützte Sanierung geleistet wird - stets stehen gewichtige ökonomische Interessen großer Bevölkerungsgruppen auf dem Spiel, die sich gegen einschneidende Schritte zur Wehr setzen werden.

Hinzu kommt, daß Reformprozesse auch unerwartete Nebenwirkungen auslösen können. Das erste Beispiel ist gerade die Gesundheitsreform. Sie wurde einige Wochen nach den Histadrut-Wahlen von der Knesset verabschiedet. Durch die Abkoppelung von der "Allgemeinen Krankenkasse" aber wurde die Histadrut von ihrer bisherigen Finanzierungsquelle abgeschnitten. Aus Furcht vor einer Lahmlegung ihrer Aktivitäten mochte sich die Histadrut unter ihrer neuen Führung nicht ausschließlich auf Mitgliedsbeiträge verlassen, auch wenn die Trennung von der Krankenkasse ein erklärtes Ziel der Ram-Liste gewesen war.

Deshalb beschlossen die Histadrut, die Arbeitgeber und die Regierung ein neues System zur Finanzierung der Gewerkschaftsarbeit mit Hilfe einer sogenannten Organisationsabgabe. Diese sollte nicht nur von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern (in Höhe von 0,9 Prozent des Gehalts), sondern auch von den meisten nichtorganisierten (in Höhe von 0,7 Prozent des Gehalts) zugunsten der Histadrut erhoben werden. Begründet wurde dies mit dem Hinweis, auch nichtorganisierte Arbeitnehmer kämen in den Genuß der Gewerkschaftsarbeit, in Form von Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung.

Dies führte bei zwei der anderen Krankenkassen im Lande zu dem Beschluß, ihrerseits eigene Gewerkschaften für ihre Versicherten zu gründen, die wiederum ihren Anteil am Gesamtaufkommen der neuen Steuer fordern würden. Die Entstehung neuer Gewerkschaften aber könnte ein Konkurrenzverhältnis unter den einzelnen Arbeitnehmerorganisationen auslösen und damit Folgen für das Tarifklima im Lande haben.

Kibbuzim und Moschawim

Für die zionistische Bewegung war die Rückkehr ins Land nicht zuletzt auch die Rückkehr zur Bestellung des Landes. In den Augen der frühen Pioniere symbolisierte der Ackerbau die Erneuerung des jüdischen Volkes in der Heimat der Vorväter. Aus der Verbindung des jüdischen Geschichtsbewußtseins und der sozialistischen Zukunftsvision von Gleichheit entstand die bekannteste israelische Siedlungsform, der Kibbuz: eine ländliche Kommune, in der die Produktionsmittel der Gemeinschaft gehören und auch die Bedürfnisse der Mitglieder von der Gemeinschaft gedeckt werden.

Die Kibbuzim spielten eine entscheidende Rolle bei der Besiedlung des Landes ebenso wie bei der politischen Entwicklung des jüdischen Gemeinwesens und späteren Staates. So wurde das Kibbuzmitglied - Ackerbauer und Idealist zugleich, der eine Utopie konkret vorlebte - für viele Menschen weltweit zum Sinnbild des Israelis schlechthin. Bis heute spielen die Kibbuzim in der israelischen Gesellschaft eine wichtige Rolle.

Das aber ändert wenig an der Tatsache, daß das Israel von heute weder ein Land der Kibbuzim noch ein Land der Landwirtschaft ist. Der Durchschnittsisraeli ist längst ein Städter geworden, der im Dienstleistungssektor oder in der Industrie sein Brot verdient. Der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt ist ähnlich gering wie in den meisten anderen entwickelten Volkswirtschaften: Er liegt bei weniger als drei Prozent.

Zudem leben bei weitem nicht alle Landwirte in Kibbuzim. Seit der Staatsgründung wurde der Ausbau der Landwirtschaft besonders intensiv von einer anderen Siedlungsform getragen: dem Moschaw, einer Genossenschaftssiedlung, in der jede Familie weitgehend für sich wirtschaftet.

Einwanderer aus Osteuropa und aus den arabischen Ländern, die nach 1948 ins Land kamen und im Gegensatz zu den ersten Pionieren nicht von der sozialistischen Ideologie beseelt waren, zogen meistens diese Form der Arbeitsteilung dem Kibbuz vor.

Gab es im Jahre 1922 19 Kibbuzim und nur vier Moschawim, so stehen heute rund 280 Kibbuzim mit knapp 130000 Einwohnern mehr als 400 Moschawim mit 160000 Einwohnern gegenüber. Weitere 14000 Menschen leben in den sogenannten Gemeinschafts-Moschawim, einer Mischform zwischen dem Kibbuz und dem Moschaw.

Der Kibbuz als Vorreiter zionistischer Siedlungsarbeit

Seit im Jahre 1909 - vor nunmehr 80 Jahren - am Südende des See Genezareth der erste Kibbuz ”Degania” gegründet wurde, haben die seither entstandenen rund 270 Kibbuzsiedlungen nicht nur die Siedlungsgeographie des heutigen Israel mitgestaltet; sie haben vor allem als Wegbereiter des Staates Israel Ideologie und Politik der zionistischen Bewegung sowie die sich entwickelnden institutionellen und sozialen Strukturen des jüdischen Gemeinwesens in Palästina/Israel wesentlich mitgeprägt. […] Historisch ist die Kibbuzbewegung untrennbar verbunden mit der nationalen Bewegung zur Errichtung einer Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina/Israel; eine Geschichte der jüdischen Staatswerdung ohne Berücksichtigung der kolonisatorischen Leistung der Kibbuzim ist schlechterdings unmöglich. Es ist aber umgekehrt auch darauf hinzuweisen, daß ohne die Unterstützung dieser ”kommunistischen Experimente” durch die organisatorische und finanzielle Kraft der zionistischen Bewegung die Kibbuzim aller Wahrscheinlichkeit nach ein recht peripheres Phänomen geblieben wären.

Die Aufgabe einer Avantgarde zionistischer Siedlungsarbeit erfüllten die Kibbuzim insbesondere während der Zeit der englischen Mandatsverwaltung (1920-1948). Sie verkörperten den Widerstand gegen die Beschränkungen, die die englische Regierung in jener Zeit der zionistischen Bewegung bei Bodenkauf und Einwanderung auferlegte, und errangen damit besonders hohes Ansehen in der jüdischen Bevölkerung sowie Respekt auch in den arabischen Nachbardörfern. Im Gefolge der Staatsgründung 1948 verloren die Kibbuzim an Gewicht und Einfluß: nicht nur weil ein Teil ihrer Aufgaben nun von staatlichen Institutionen übernommen wurde - zum Beispiel im militärischen, kulturellen und erzieherischen Bereich -, sondern auch aus ideologischen Gründen. Während die Mehrzahl der jüdischen Einwanderer vor 1948 aus ideologischen Motiven ins Land gekommen waren, fehlte den in den Jahren danach in Massen vorwiegend aus afrikanischen und asiatischen Ländern einwandernden Juden eine solche Orientierung fast völlig; sie favorisierten andere Siedlungsformen, wie etwa die im herkömmlichen Sinn genossenschaftlich strukturierten ”Moshavim”, die die familiäre Haushaltsgemeinschaft und Eigentumssphäre nicht kollektivieren. […]

Konstitutiv für den Kibbuz ist ein dreidimensionales Wertsystem; in ihm verbindet sich die Zielsetzung der nationalen Wiedergeburt (Zionismus) und einer radikalen Erneuerung gemeinschaftlichen Lebens und Wirtschaftens (Sozialismus) mit humanistischen Idealen einer breiten individuellen Selbstverwirklichung. […] Der Gedanke der ”Eroberung der Arbeit” stand am Anfang aller jüdischen Siedlungstätigkeit in Palästina im Sinne einer friedlichen Okkupierung aller Berufszweige im Land durch jüdische Arbeit: Reaktion auf Jahrhunderte des Ausschlusses der Juden von jeder landwirtschaftlichen und gewerblichen Betätigung in der europäischen Diaspora. […]

Die Rolle der Arbeit als zentraler Wert und Medium der nationalen Befreiung und Selbstfindung des jüdischen Volkes schloß für die jüdischen Siedlungspioniere zugleich ein ganzheitliches Arbeitsideal und eine strenge Betonung der Gleichberechtigung ein. Dabei wurde gerade die manuelle Arbeit nicht nur als notwendiges Übel angesehen, sondern als ethischer Wert an sich. […]

”Der Kibbuz stellt eine Kommune auf der Grundlage freiwilliger und kündbarer Mitgliedschaft dar.” Diese Kennzeichnung des Kibbuz muß vorweg ganz besonders herausgestellt werden - gerade im Gegensatz zum ”realsozialistischen” Kommunetyp, etwa der sowjetrussischen Kolchose. […]

” Die Ziele der Kibbuzim sind folgende:

a) Eine Siedlung zu errichten und zu unterhalten, die sich auf Landwirtschaft, Industrie und Handwerk sowie jede andere Arbeit stützt und zum ständigen Wohnort ausschließlich von Kibbuzniks und ihren Angehörigen bestimmt ist; […]

c) für die ökonomischen, sozialen, kulturellen, individuellen und die Ausbildung betreffenden Bedürfnisse der Kibbuzniks und ihrer Angehörigen zu sorgen, Gesundheitsvorsorge zu betreiben und die dafür notwendigen Dienstleistungen, Institutionen und Unternehmen einzurichten […]

f) die Persönlichkeit sowie die individuellen und die für die Allgemeinheit einzusetzenden Fähigkeiten der Mitglieder sowohl im sozialen als auch im ökonomischen, kulturellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich zu fördern;

g) die weiblichen Kibbuzmitglieder zu fördern, so daß tatsächliche Gleichheit auf ökonomischem und sozialem Gebiet wie auf dem Gebiet der Bildung, bei öffentlichen Tätigkeiten und solchen im Rahmen der Bewegung erreicht wird;

h) die Kinder des Kibbuz zu erziehen, das Niveau ihrer Erziehung und ihren Wissensstand zu entwickeln und zu erweitern; […]

i) Neueinwanderer und -siedler zu integrieren; […]

m) Aufgaben zu erfüllen, die die Position, die Wirtschaft und die Sicherheit des Staates Israel stärken, ebenso Aufgaben, die die Sache der Arbeiterklasse und der Kibbuzbewegung als ganze stärken, so wie sie von der Bewegung beschlossen und vom Kibbuz übernommen wurden.” Bei allen politisch-ideologischen Nuancierungen […] ist es besonders bemerkenswert, in welchem Maße die Kibbuzim ihren ursprünglichen prinzipiellen Orientierungen bis heute treu geblieben sind, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:

1. Das gesamte Kibbuz-Eigentum gehört der Gemeinschaft als Kollektiveigentum; dies betrifft nicht nur alle Produktionsmittel, sondern auch viele Konsumgüter, soweit sie sich in gemeinschaftlicher Verfügung befinden (zum Beispiel Autos, Freizeitgüter und ähnlichem). Teile der Konsumgüter des persönlichen Bedarfs werden aber auf die Mitglieder verteilt (vom Teekessel in den fünfziger Jahren bis zum Farbfernseher und Videogerät heute). Es herrscht das Prinzip der ”Gemeinschaftlichen Produktion, Konsumtion und Erziehung”.

2. Der Kibbuz stellt mit seinen Mitgliedern einen geschlossenen Arbeitsmarkt dar: Er beruht auf dem Prinzip der ”Selbstarbeit” seiner Mitglieder; […]

3. Die Arbeitskräfte des Kibbuz stehen der Gemeinschaft zur Verfügung. Diese bestimmt durch ihre gewählten Organe die Zeiteinteilung zwischen Arbeit, Ausbildung, Studium und Freizeit sowie über die Verteilung auf die verschiedenen Beschäftigungen in den Produktions- und DienstleistungsBranchen des Kibbuz; dabei werden individuelle Wünsche und Neigungen aber nach Möglichkeit berücksichtigt.

Der vollen Arbeitstätigkeit der Frau entspricht im Kibbuz ihre Befreiung von den Pflichten des privaten Haushalts und von der Pflege und Erziehung der Kinder. Alle Haushalts- und Erziehungsfunktionen werden grundsätzlich von kollektiven Institutionen erfüllt, gehören also zum Dienstleistungsbereich des Kibbuz.

4. Der Kibbuz praktiziert das Prinzip der Gleichheit der realen Pro-Kopf- Einkommen; das bedeutet die konsequente Aufhebung des Zusammenhangs zwischen individueller Arbeitsleistung, persönlichem Beitrag zur Produktion und realer Einkommenssituation des einzelnen. Es herrscht also - ohne jedes materielle Anreizsystem - das Prinzip: ”Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” - im Rahmen der Möglichkeiten der Gemeinschaft.

5. Der Kibbuz ist als selbstverwaltetes Kollektiv nach basisdemokratischen Ordnungsprinzipien verfaßt; diese Selbstverwaltung wird getragen von zeitweiligen Amtsträgern ohne jede materielle Vergünstigung, die nach einem im ganzen eingehaltenen Rotationssystem nach zwei bis drei Jahren ausgetauscht werden.

Christiane Busch-L ü ty, Leben und Arbeiten im Kibbuz, Bund-Verlag, K ö ln 1989, S. 31-48.

Siedlungsformen

Neben den Kibbuzim und Moschawim sind vor allem Dörfer der nichtjüdischen Bevölkerung (rund 90000 Einwohner) und als "Gemeinschaftsortschaften" bezeichnete kleinere Siedlungen (40000 Einwohner) als ländliche Siedlungsformen zu nennen. Insgesamt leben auf dem Land etwa 530000 Menschen. Das sind rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Israels.

Allerdings ist die ländliche Bevölkerung längst nicht mehr nur mit der Landwirtschaft beschäftigt. Vor allem in den "Gemeinschaftsortschaften" leben großenteils Menschen, die einem "städtischen" Beruf nachgehen, dabei aber dem Großstadtrummel zu entkommen suchen. Auch in den Kibbuzim wird inzwischen ein Großteil der Produktion in Industrie- und Dienstleistungsbetrieben erwirtschaftet.

Frauen-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen Irmgard Tophoven

Im streng religiösen und orthodoxen Judentum ist die Rolle der Frau auf die Sorge für Haus und Familie beschränkt. Ehen werden meistens von den Eltern vermittelt und oft sieht der Bräutigam die Braut erst bei der Hochzeit. Die Geschichte des Judentums zeigt eine traditionelle Achtung der Frau als "Krone des Mannes" und "Priesterin des Hauses" auf (Sprüche Salomos 12,4). Ihr kam und kommt bei der Vorbereitung und Gestaltung des Schabbat und der anderen Festtage, bei der Einhaltung der Speisevorschriften in traditionell religiösen Familien eine besondere Rolle zu. In orthodoxen jüdischen Familien singen zum Beispiel der Mann und die Kinder das Frauenlob (Sprüche Salomos 31, 10-31). Nicht nur die Verantwortung für das Wohl der Familie, sondern auch der Gemeinde, die Sorge um ihre Kranken und Alten, die Leitung von Altenheimen, Waisen- und Krankenhäusern lag in den Händen von Frauen. In leitenden Positionen einer Synagogengemeinde waren die Frauen tätig; allerdings nur bei Konservativen und Reformern - nicht beorthodoxen Juden. Beachtenswert ist, daß Frauen als Setzerinnen hebräischer Bücher arbeiten. Das moderne hebräische Verlagswesen in Israel wurde weitgehend von Frauen aufgebaut. Für die feministische Aufbruchsbewegung heute in Israel spielen diese frühen Vorbilder eine große Rolle. Auch die Orthodoxie verschließt sich nicht generell dieser Aufbruchsstimmung. Schon der Chassidismus, eine jüdisch- mystische Bewegung des Ostjudentums, kennt vereinzelt weibliche Rabbinerinnen. Im 20. Jahrhundert übernahmen auch Frauen in Amerika, England und Deutschland nach dem Tod ihrer Männer rabbinische Aufgaben. Im Reformjudentum und bei den Liberalen, vorwiegend in den USA und England, erfolgt die Ordination von Rabinerinnen seit 1972, seit 1984 auch bei den konservativen Juden.

Auch wenn in Politik und Wissenschaft Frauen Spitzenpositionen erreichen können, wie zum Beispiel die langjährige Ministerpräsidentin Golda Meir, läßt auch in Israel die Emanzipation und die gesellschaftliche Rolle der Frauen noch viel zu wünschen übrig. Daher gründete Marcia Friedmann 1977 eine reine Frauenpartei, die jedoch bei den Knesset-Wahlen nur 0,3 Prozent der Stimmen bekam.

Schulamit Aloni gründete 1973 eine Partei für Bürgerrechte, die sich besonders der Frauenpolitik und dem Kampf für religiöse Freiheit widmet. Sie arbeitet eng mit der Peace-Now- Bewegung zusammen und gehört zu den Befürwortern eines Kompromisses mit den palästinensischen Arabern. Bei den Wahlen 1992 führte Schulamit Aloni ihre Partei zusammen mit Mapam und Schinui in den Meretz-Block, der zehn Prozent (12 Mandate) der Stimmen erhielt und der Hauptkoalitionspartner der Arbeitspartei ist.

Es gibt in Israel ein breites Spektrum von Frauenorganisationen, zum Teil feministischer Ausprägung. Dazu zählen:

Israeli Women's Network (Israelisches Frauen-Netzwerk). Diese Organisation

Von Vereinigungen unabhängiger Frauen und Vertreterinnen von Bürgerinitiativen setzt sich für die Verbesserung des Status der Frau durch Unterstützung von Gesetzesreformen und durch Veränderung des öffentlichen Bewußtseins ein.

Naamat (Pionierinnen). Diese Frauengewerkschaft geht in ihren Anfängen auf das Jahr 1911 zurück. Der Name ist eine Abkürzung von "Arbeitende und freiwillig hilfsbereite Frauen", den sich der Frauenverband 1976 gab. Die Bewegung kämpft für die Gleichheit von Frauen in Familie und Gesellschaft, insbesondere am Arbeitsplatz.

The Israeli Feminist Movement (Israelische feministische Bewegung). Sie setzt sich durch Unterstützung von Gesetzesreformen, durch Publikationen und Schulungen dafür ein, dass die Öffentlichkeit auf feministische Themen aufmerksam wird.

Neben diesen Gruppen gibt es eine Vielzahl von Frauengruppen, die sich der Friedensarbeit widmen. Auffallend ist, daß sie sich seit Beginn der Intifada 1987/88 verstärkt gebildet haben und sowohl in der Friedensbewegung als auch in Menschenrechtsorganisationen sowie für die arabisch-jüdische Verständigung tätig sind.

Die bekannteste der Friedensgruppen ist "Frauen in Schwarz". Bis zum Friedensabkommen mit der PLO nahmen sie jeden Freitagnachmittag in schwarzer Trauerkleidung eine Stunde lang mit ihren Schildern "Stoppt die Besatzung" überall im Lande an Mahnwachen teil. Dieser stumme Protest der etwa 300 Frauen gegen die Besatzungsmacht machte deutlich, daß sie nicht weiter gewillt waren, ihre Söhne und Männer als Soldaten in die besetztenGebiete schicken zu lassen. Dieser Bewegung haben sich religiöse, nicht-religiöse, arabische und israelische Frauen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern angeschlossen.

Auch auf pädagogischer Ebene arbeiten Frauenorganisationen und Friedensgruppen zusammen. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür ist die seit 1972 bestehende Begegnungsstätte Neve Schalom bzw. Wahat al Salam ("Oase des Friedens") zwischen Jerusalem und Tel Aviv . Hier leben Israelis und Palästinenser zusammen. In dieser Siedlung gibt es die einzige funktionierende gemeinsame Schule von Israelis und Palästinensern.

Menschenrechts- und Friedensbewegungen

Neben den Frauengruppen gibt es eine beachtliche Zahl von Bewegungen in Israel, die sich der Wahrung der Menschenrechte widmen. Im folgenden können nur einige der wichtigsten genannt werden:

Association for Civil Rights in Israel (ACRI). 1972 wurde diese älteste der

Menschenrechts- und Friedensgruppen unter dem Namen "Vereinigung für

Bürgerrechte in Israel" gegründet. Sie vertritt Juden und Araber. Heute zählt sie etwa 1000 Mitglieder und beschäftigt neun Rechtsanwälte und acht Erzieher. 21 Gruppen versuchen von Jerusalem, Haifa, Tel Aviv und Beersheva aus alle Menschenrechtsverletzungen in Israel oder in den besetzten Gebieten zu registrieren. Ziel der Arbeit ist, die Rechte der Palästinenser zu wahren sowie im Falle einer eventuellen Verhaftung für einen fairen Prozeß zu sorgen.

Hotline for Victims of Violence (Ha Moked). Mit Beginn der Intifada verschlechterte sich die Menschenrechtssituation in den besetzten Gebieten. 1988 wurde Ha Moked ("Hotline" für Opfer der Gewalt) gegründet. Ihre Vorsitzende ist Lotte Salzberger, die ehemalige Stellvertretende Bürgermeisterin von Jerusalem. Die Gruppe hat etwa 4000 Fälle bearbeitet.

40 ehrenamtliche Mitarbeiter, Juden und Araber, helfen Opfern beim Abfassen ihrer Eingaben oder bei rechtlichen Schritten.

Rabbis for Human Rights (RHR). Dieser 1988 gegründeten Organisation "Rabbis Für Menschenrechte" gehören derzeit 120 Rabbiner (vom orthodoxen bis zum Reformrabbiner) an. Sie ist die einzige Gruppierung - neben "Clergy for Peace" (Geistliche für Frieden) - in Israel, die Persönlichkeiten der verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen zusammenbringt. Clergy for Peace (Geistlichkeit für den Frieden). Diese 1988 gegründete Friedensinitiative jüdischer, christlicher und moslemischer Geistlicher versucht durch ständige Demonstrationen vor dem Oberrabinat, dem

Ministerium für Religionsangelegenheiten und dem Amt des

Ministerpräsidenten Verstöße gegen jüdische Prinzipien und die jüdische Tradition der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit anzuprangern. B'Tselem (Im Bilde von ...). Diese Gruppe, deren Namen auf 1. Mose 1, 27 ("Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde") anspielt, wurde 1989 von 63 Rechtsanwälten, Medizinern, Journalisten und Knesset-Abgeordneten gegründet. Ihr Ziel ist es, den humanitären Charakter des demokratischen Staates Israel zu wahren und zu fördern sowie die Fragen der Menschenrechtsverletzungen auch im Parlament zu diskutieren. The Association of Israeli and Palestinian Physicians for Human Rights (PHR), (Vereinigung israelisch-palästinensischer Mediziner für Menschenrechte). Dieser Zusammenschluß von Ärzten stellt seit 1988 in den besetzten Gebieten medizinisches Gerät zur Verfügung. Er will darüber hinaus die Verständigung zwischen israelischen und palästinensischen Ärzten fördern und beteiligt sich an der medizinischen Versorgung der Flüchtlingslager. Kav ha 'Oved ("Hotline" für den Schutz der Arbeiterrechte). Diese Organisation wurde 1990 von Israelis und Palästinensern aus den besetzten Gebieten in Tel Aviv gegründet. Sie setzt sich für die Rechte der Arbeiter vor allem aus den besetzten Gebieten ein, da diese vielfach zu den am meisten Diskriminierten gehören. Bei Lohn- und Arbeitsstreitigkeiten bietet sie ihnen Rechtsbeistand, zumal sich ihre Situation nach Immigration von 500 000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion eher noch verschlechtert hat. Ein noch breiteres Spektrum als bei der Menschenrechts- und Frauenbewegung bieten die Friedensgruppen in Israel. So unterschiedlich im einzelnen Zielsetzungen und jeweilige Aktionsformen auch sein mögen - alle diese Gruppierungen verbindet, vor allem seit Ausbruch der Intifada, die Forderung nach Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten, dem Westjordanland und Gaza, die Anerkennung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechtes und Verhandlungen mit der PLO. Dazu zählen:

Der Israelische Rat für einen israelisch-palästinensischen Frieden, der bereits 1976 gegründet wurde, war die erste zionistische Organisation, die bereit war, mit offiziellen Vertretern der PLO zu sprechen. Ihr bekanntester Sprecher, Uri Avnery, propagierte dies nicht nur, sondern traf sich auch heimlich mit verschiedenen PLO-Mitgliedern, als dies noch, vor 1993, bei Strafandrohung verboten war. Der Rat trat seit langem für die Gründung eines palästinensischen Staates in der Westbank und im Gaza-Streifen ein. Oz ve Schalom (Kraft und Frieden). Diese religiöse Friedensgruppe, 1976 gegründet, versteht sich als Reaktion auf die Siedlungsbewegung Gusch Emunim, für die die Westbank (Westjordanland) als Judäa und Samaria Bestandteil von Eretz Israel (Groß- Israel) ist. Sie begegnet dem Gebietsanspruch bewußt mit dem Friedensgebot aus der jüdischen Religion. Peace-Now (Frieden Jetzt). Die Gruppe wurde als Antwort auf den Einmarsch Israelischer Truppen in den Libanon 1978 und zur Unterstützung der Friedensinitiative des ägyptischen Präsidenten, Anwar al Sadat, gegründet. Sie versteht sich als Bewegung ohne feste Büros und Mitgliedschaft, reagiert spontan auf Ereignisse. Sie forderte zum Beispiel 1982 zur sofortigen Beendigung des Libanonkrieges auf, zum Rücktritt Menachem Begins und des umstrittenen Verteidigungsministers Ariel Scharon. Die Peace-Now- Bewegung war die Organisatorin der größten Demonstration, die Israel bisher erlebt hat, am 25. September 1982, bei der etwa 350000 Menschen in Tel Aviv gegen das Massaker in den Palästinenserlagern Sabra und Schatila bei Beirut protestierten. Der bekannteste Sprecher dieser Bewegung ist der Schriftsteller Amos Oz, der 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Einige seiner Romane und ein Essayband, die ins Deutsche übersetzt wurden, erreichten hohe Auflagen.

Jesh Gvul (Es gibt eine Grenze). Diese Gruppierung ist aus einer Protestaktion von Reservisten der israelischen Armee während des Libanonkrieges 1982 entstanden. Die Mitglieder lehnen den Reservedienst in den besetzten Gebieten ab.

Bildung, Kultur und Wissenschaft

Bildung und Erziehung haben einen hohen Stellenwert in Israel. Für das Judentum ist "lernen" von zentraler, identitätsstiftender Bedeutung. Die Lerninhalte gründen einerseits auf den Werten und Normen des Judentums und der traditionell hohen Wertschätzung des Buches, andererseits orientieren sie sich an den Erfordernissen eines hochtechnisierten modernen Industriestaates.

Das israelische Erziehungssystem muß sich immer wieder der enormen Bildungs- und Integrationsaufgaben stellen, die durch die ständig wachsende

Zahl von Immigranten aus den unterschiedlichen Kulturen und Sprachen erwächst. Einen Integrationsfaktor ganz besonderer Art stellt dabei neben der jüdischen Religion und Kultur die hebräische Sprache dar. Seit den biblischen Zeiten war das biblische Hebräisch (Althebräisch) die Sprache der Liturgie, Theologie und Dichtung. Die in Palästina lebenden Juden sprachen im Alltag meistens Hebräisch, unter sich auch Jiddisch und Arabisch. In der Mandatszeit wurde auch Englisch gesprochen. Jiddisch war die Sprache der osteuropäischen Juden.

Gegen den heftigen Widerstand der religiös-orthodoxen Juden, die sich gegen den Alltagsgebrauch der heiligen Sprache wehrten, wurde das biblische Hebräisch den Erfordernissen der Moderne angepaßt und 1922 als Neuhebräisch (Ivrit) neben Arabisch, Jiddisch und Englisch eingeführt. Der Wortschatz des Althebräischen (7704 Wörter) wurde übernommen, assimiliert und ergänzt durch eine Fülle von Neuschöpfungen. Ivrit umfaßt circa 300000 Wörter. Elieser Ben- Yehuda (1858-1922) hatte entscheidenden Anteil an der Wiedergeburt des Hebräischen.

Ebenso kommt

dem Nationaldichter Chaim Nachman Bialik (1873-1934) und dem Nobelpreisträger für Literatur Samuel Josef Agnon (1888-1970) große Bedeutung bei der Verbreitung des Neuhebräisch zu.

Seit 1948 ist Ivrit Staatssprache, Arabisch ist zweite Amtssprache. Das moderne Hebräisch trug in einem Land, dessen Einwanderer aus über 80 verschiedenen Ländern stammen, wesentlich dazu bei, ein starkes identitätsförderndes und nationales Einigungsband für eine israelische Nation zu schaff. Jeder Neueinwanderer sollte innerhalb kürzester Zeit Ivrit lernen, was in den staatlichen Sprachkursen (Ulpan) geschieht.

Israels Bildungssystem umfaßt Vorschule, Grundschule, Oberschule, Fachhochschule, Universität und Erwachsenenbildung. Der Schulbesuch ist obligatorisch von 6 bis 16 Jahren und freiwillig bis 18 Jahre. Die Schulausbildung beginnt in der Grundschule (1.-6. Schuljahr) und wird in der "Zwischenschule", Mittelschule (7.-9. Schuljahr) - vor allem für orientalische Juden zur Integration und Angleichung an das allgemeine Bildungsniveau gedacht - und Oberschule (10.-12. Schuljahr) mit dem Abschluß der Allgemeinen Hochschulreife, berufsbildender, landwirtschaftlicher und religiöser Ausrichtung fortgeführt.

Die pluralistische Struktur der israelischen Gesellschaft spiegelt sich im Schulsystem in der gleichzeitigen Existenz von staatlichen, staatlichreligiösen, verschiedenster Religionsgemeinschaften sowie vom Staat unabhängigen Konfessionsschulen wider.

70 Prozent der Schulen sind nicht religiös ausgerichtet, 24 Prozent staatlichreligiös und 6 Prozent streng orthodox. Die staatlich-religiösen Schulen legen besonderes Gewicht auf die jüdische Religion und Kultur, die arabischen und drusischen Schulen (arabisch und hebräisch als Unterrichtssprache) auf die islamische, die christliche bzw. die drusische Religion, Geschichte und Kultur. Das Schulsystem ist allerdings in organisatorischer und institutioneller Hinsicht gleich. Die unabhängigen Schulen, etwa die Jeschiwot, Thora- und Talmud-Schulen, von verschiedenen religiös-orthodoxen Gruppen getragen, bieten noch viel intensivere religiöse Unterweisung als die staatlich-religiösen Schulen. Die Anziehungskraft der Jeschiwot ist im Laufe der Jahre beachtlich gestiegen. Die Attraktivität der Jeschiwot hängt unter anderem damit zusammen, dass viele der aus sozial schwächeren Familien kommenden Schüler hier soziale Geborgenheit und Sicherheit erfahren. Darüber hinaus ist in Teilen der israelischen Gesellschaft eine wachsende Tendenz zur Rückbesinnung auf die Wurzeln des Judentums erkennbar.

Auf kulturellem Sektor, im Bereich der Literatur, der klassischen Musik wie der Volksmusik, des Tanzes, Theaters, der Malerei, der Bildenden Kunst, der Archäologie, der Fotografie und des Films gehören Israelis oft zu den Spitzenkräften in der Welt. In jedem Frühjahr verwandelt die "Woche des Hebräischen Buches" Plätze und Parks in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa in lebhafte Büchermärkte.

Israel hat 20 Hochschulen mit insgesamt 90000 Studenten. Es gibt sieben klassische Universitäten:

Haifa

- Technion (gegründet 1912),
- Haifa - Universität (gegründet 1963), Jerusalem
- Hebräische Universität (gegründet 1925), Tel Aviv
- Universität (gegründet 1956), Tel Aviv
- Bar Ilan-Universität (gegründet 1955, nationalreligiöser Einfluß), Beer Sheva
- Ben- Gurion-Universität (gegründet 1967), Rehovot
- Weizmann-Institut (gegründet 1934).

Das Ansehen der Universitäten

in Israel ist außerordentlich hoch. 1989 erhielten sie bei Umfragen 70 von

möglichen 100 Punkten bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit. Nur das Militär und das Rechtswesen wurden damals höher bewertet.

Der prozentuale Anteil an Forschern im Bereich der Naturwissenschaft und Technologie an der Gesamtbevölkerung sowie der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsaufgaben am Bruttoinlandsprodukt gehören zu den höchsten in der Welt. Gemessen an der Zahl seiner Erwerbstätigen, hat Israel mit Abstand den größten Anteil von publizierenden Autoren in den Bereichen Naturwissenschaft, Ingenieurwissenschaft, Landwirtschaft und Medizin.

Die Zahl wird sich durch weitere Neueinwanderer aus der GUS wohl noch erhöhen.

Israel ist in der Welt führend in der Elektronik, der Optik, im Computerwesen, in der Aeronautik, der Medizin, der Energietechnologie (Solar-Wärme, Wind), der Robotertechnik und der Landwirtschaft. Es besitzt den größten Pro-Kopf-Einsatz von Solarhaushaltswarmwasseranlagen und einige der größten Solarkraftwerke der Welt.

Der Wille zur Selbstbehauptung der Israelis in einer feindlichen Umwelt spiegelt sich auch in den wissenschaftlichen Leistungen wider, die zuerst Grundlage der Erschließung des Landes und der Selbstverteidigung waren. Im Laufe der Zeit wurden sie auch Basis für den wirtschaftlichen Aufstieg und eine erfolgreiche Exportwirtschaft.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Grundzüge der Israelischen Gesellschaft
Autor
Jahr
2001
Seiten
35
Katalognummer
V99919
ISBN (eBook)
9783638983525
Dateigröße
450 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundzüge, Israelischen, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Anna Selder (Autor:in), 2001, Grundzüge der Israelischen Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99919

Kommentare

  • Dominik Schreiner am 28.5.2007

    Bahá'í in Israel.

    Nach dem Lesen der Arbeit "Grundzüge der Israelischen Gesellschaft" möchte ich eine Tatsache richtigstellen, die in der Arbeit erwähnt wurde.
    Die Bahá'í sind schon seit ca. 1868 in der Region Haifa/Akká. Es ist richtig, dass dort das administrative und geistige Weltzentrum der Bahá'í ist und zwar in Haifa auf dem Berg Carmel.
    Allerdings ist die Bahá'í Religion keine Sekte, sondern eine eigenständige Religion. Sie wird oft als Sekte bezeichnet, weil sie noch sehr jung ist und aus einem islamischen Hintergrund entstanden ist. Dies ist jedoch vergleichbar mit dem Christentum, welches aus einem jüdischen Hintergrund heraus entstanden ist. Die Bahá'í Religion hat seinen eigenen Offenbarer (oder Propheten wenn man so will) sowie alle Merkmale einer eigenständigen Religion.

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Titel: Grundzüge der Israelischen Gesellschaft



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