Kulturgenetische Stadttypen


Hausarbeit, 2001

15 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis / Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Überblick und Einführung in die Thematik
2.1. Begriffe
a) Kulturgenetische Stadttypen
b) Kulturerdteil
c) Stadtgliederung
2.2. Der kulturgenetische Ansatz
2.3. Die Stadt im Wandel der Zeit
2.4. Die Entwicklung einer Stadtgliederung

3. Fallbeispiel 1: Der Angloamerikanische Stadttyp
3.1. Grundsätzliche Merkmale
3.2. Bebauung
3.3. Der Werdegang der Innenstädte in den USA
3.4. Industriegebiete und Vorortszonen der USA
3.5. Die Unterschiede der Kanadischen Städte zu den Amerikanischen Städten

4. Fallbeispiel 2: Der Lateinamerikanische Stadttyp
4.1. Von den Anfängen Lateinamerikanischer Städte
4.2. Zwei Städte des nördlichen Andenraums: Valencia und Puerto Cabello
4.3. Die Städte der zentralen Andenstaaten: Lima und Callao
4.4. Die Lateinamerikanische Stadt der Neuzeit: Rio de Janeiro

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Titelbild: Modell einer Angloamerikanischen Stadt (Hofmeister 1991: 205)

Abb. 2: Der zentrale Teil von Madison, Wisconsin

Abb. 3: Die Zentralregion von Venezuela

Tabellenverzeichnis

Tab.1: Kulturerdteile bzw. kulturgenetische Stadttypen

1. Einleitung

Diese Arbeit soll einen begrenzten Einblick in die Problematik der kulturgenetischen Stadttypen geben. Sie behandelt nebst den kulturgenetischen Stadttypen an und für sich aber auch deren unterschiedliche Gliederung sowie auch deren Entwicklung. Ebenfalls sollen die Einflüsse der jeweiligen Kulturerdteile auf die vorkommenden Stadttypen betrachtet werden.

Zu Beginn werden ein paar grundsätzliche Bereiche angeschnitten. Nebst der Klärung einiger relevanter Begriffe sollen auch theoretische Ansätze und verschiedene Möglichkeiten der Unterteilung kulturgenetischer Stadttypen betrachtet werden. Ein weiterer Teil beinhaltet zwei Fallbeispiele; zum einen den Angloamerikanischen Stadttyp und zum anderen den Lateinamerikanischen Stadttyp. Diese bewusst sehr eng gefasste Auswahl soll möglichst detailliert behandelt werden, um auf diese Weise auch die zum Teil sehr feinen Unterschiede deutlich zu machen. Die Abhandlung der beiden Stadttypen soll allerdings nicht zwingend analog zueinander geschehen, was zwar einen direkten Vergleich erschwert, es sollen aber statt dessen die spezifischen Eigenheiten hervorgehoben werden.

2. Überblick und Einführung in die Thematik

2.1. Begriffe

a) Kulturgenetische Stadttypen: Die Kulturgenetik eines Stadttyps beinhaltet die von der jeweilig vorherrschenden Kultur geprägten Besonderheiten. Dies führt dazu, dass oft in einem Kulturerdteil auch jeweils nur ein kulturgenetischer Stadttyp vorkommt. Die Stadttypen entwickeln sich also in den einzelnen Kulturerdteilen sehr unterschiedlich, sie passen sich der kulturellen Umwelt an und sie werden in ihrer Entwicklung jeweils von sehr typischen Einflüssen geprägt.

b) Kulturerdteil: Erdteile, welche nicht durch physisch-geographische Kriterien von einander abgegrenzt werden, sondern die sich durch eine ähnliche kulturlandschaftliche Entwicklung stark unterscheiden, werden als verschiedene Kulturerdteile verstanden. Die heutigen Kulturerdteile lassen sich oft mit den frühen Hochkulturen in Verbindung bringen, aus welchen sie sich auch entwickelt haben. (Leser [Hrsg.] 1997: 423)

c) Stadtgliederung: Die Gliederung einer Stadt meint die Unterteilung in Teilräume, wobei besonders die Stadtviertel zu nennen sind. Die Abgrenzung der einzelnen Teilräume erfolgt auf Grund unterschiedlicher Kriterien; relevant sein können zum Beispiel Homogenität, Funktionalität, Genese oder auch die Physiognomie eines Stadtteils. Oft werden Gebiete von gleicher Nutzung zu einem Stadtteil erklärt, so werden zum Beispiel Wohnquartiere von Industriegebieten unterteilt. (Leser [Hrsg.] 1997: 812)

2.2. Der kulturgenetische Ansatz

Jede Kultur stellt an ihre Städte spezifische Ansprüche, die sich in Form von Vorstellungen äussern. Und eben diese Vorstellungen haben dann wiederum prägenden Charakter, da sie kosmologischer, religiöser, ökonomischer, politischer und planerischer Natur sind. Diese Ebene der Betrachtung wird als Mesoebene eines mittleren Betrachtungsmassstabes bezeichnet. Auf der gleichen Skala wäre auch die Mikroebene einer idiographischen Betrachtung zu finden, welche jede einzelne Stadt als einmalig in ihrer geschichtlichen Entwicklung und damit auch als abgesetzt gegen alle anderen Städte auf der Erde betrachtet. Dem gegenüber steht die Makroebene der nomothetischen Betrachtung, welche das Phänomen Stadt als eine weltweit verbreitete und oft vorkommende Art der menschlichen Ansiedelung sieht, wobei alle Städte mit den gleichen Eigenschaften und ohne spezifische Unterschiede zu sehen sind. Zwischen diesen beiden ist also unser mittlerer Betrachtungsmassstab angesiedelt, der auf jene Eigenschaften abzielt, die den Städten eines Teilraumes der Erde gemeinsam sind und durch die sie sich gleichzeitig gegenüber den Städten aller anderen Teilräume der Erde abheben.

Der Versuch, die Verbreitungsgebiete von Städten gleichartiger Gestalt und Struktur und damit regionale Stadttypen aufzufinden, ist jedoch eine Frage des Abstraktionsgrades. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Zuordnung von kulturgenetischen Stadttypen zu den jeweiligen Kulturerdteilen nicht einheitlich gelöst ist. Auch die vier bekanntesten Autoren, die mit KOLB (1962), BEAUJEU-GARNIER/CHABOT (1963), HOLZNER (1967) und HOFMEISTER (1980) genannt sein dürften, konnten sich in Abstraktionsgrad und Betrachtungsebene nicht finden, so dass es zu vier recht verschiedenen Auffassungen gekommen ist. (Hofmeister 1993: 216-218)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.1: Kulturerdteile bzw. kulturgenetischeStadttypen. Aus: Hofmeister 1993: 217

2.3. Die Stadt im Wandel der Zeit

Betrachtet man den Hintergrund des jeweiligen Kulturraumes etwas genauer, so kommt auch die unterschiedliche historische Tiefe der Städte zum Ausdruck. Einerseits beinhaltet dies die traditionellen Faktoren orientalischer, chinesischer und europäischer Städte, die erst im 19. Jh. tiefgreifenden Wandlungen unterworfen worden sind, andererseits stehen die jüngeren Städtegründungen in den früheren Kolonialräumen gegenüber. Die Kerne der Städte der Altkulturräume werden oft als mehr „gewachsen“ und weniger „geplant“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu haben sich die Städte in den Kolonialräumen durch ihre Grossflächigkeit und das schematische Vorgehen der Kolonisatoren dahingehend entwickelt, dass sich manche städtische Formenelemente bis zu äusserster Monotonie wiederholen.

Physiognomie, Funktionen und Gefüge der Städte haben sich im Laufe der Zeit in allen Kulturräumen verändert, dies führte teilweise zu Konvergenzen bzw. Divergenzen zweier oder gar mehrerer kulturgenetischer Stadttypen. Diese sollen daher in die zeitliche Perspektive ihrer Entwicklung von der vorindustriellen Stadt über die industrielle Stadt zur postindustriellen bzw. postkapitalistischen Stadt gestellt werden. Man darf aber nicht den gesamten Entwicklungszeitraum vor der Industriellen Revolution undifferenziert als vorindustriell betrachten, vielmehr müsste man für Mitteleuropa zumindest eine zeitliche Gliederung mit der feudalen Stadt des Mittelalters beginnen, und mit der merkantilen Stadt der frühen Neuzeit und der vorindustriellen Stadt des 18. Jh. fortsetzen. Für die Neuzeit ist eine Gliederung in vorindustriell, industriell und postindustriell sicher nützlich. (Hofmeister 1993: 218-220)

2.4. Die Entwicklung einer Stadtgliederung

Grundsätzlich folgt in ihren Anfängen die Struktur der Städte entweder dem sozioökonomischen oder dem ethnischen Prinzip. Die Städte Europas und die von Europa her besiedelten Erdräume pflegten nach dem sozioökonomischen Prinzip gegliedert zu sein; was zur Folge hatte, dass diese Gebiete einen zunächst von innen nach aussen gerichteten Sozialgradienten aufwiesen. Die Städte des Orients hingegen waren in ihrer inneren Differenzierung in Wohnquartiere von Bevölkerungsgruppen verschiedener Herkunft, Sprache und Religion gegliedert. Die einzelnen Viertel waren mit ihren eigenen religiösen und kulturellen Zentren verhältnismässig autark. Die Klammer für diese verschiedenartigen Viertel, deren Bewohner unterschiedlicher nicht hätten sein können, da sie nahezu alle Völker und Religionen der alten Welt enthielten, bildeten die Stadtmauern, sowie auch die zentral gelegene Freitagsmoschee, das Bazarviertel und das öffentliche Bad.

Viele Städte im Orient und in anderen Ländern der Dritten Welt haben dann während einer längeren Zeitspanne, vor allem aber im 19. und beginnenden 20. Jh., eine Epoche als Kolonialstadt durchgemacht. Die Siedlungen der Franzosen und der Spanier in Nordafrika, die britischen cantonments in Indien und die Siedlungen in China mit gitterförmigem Strassennetz und grossen Platzanlagen führten eigentlich ein Eigendasein, waren die Viertel der Europäer doch oftmals mittels einem kontrollierten und bewachten Streifen von Rest der Stadt abgetrennt. Die Kolonialstadt fällt zwar zeitlich grossenteils in die Entwicklungsperiode der industriellen Stadt, ist aber in den betroffenen Ländern durchaus keine blosse Weiterentwicklung, sondern entwickelte sich weitgehend unabhängig von der Stadt der einheimischen Bevölkerung. Erst mit der Entkolonialisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurden die Europäerviertel in die Städte der betreffenden Länder integriert. Doch die Kolonialzeit zog nicht spurlos an Städten der Dritten Welt vorüber; bereits während der Mandatszeit und noch verstärkt während der späteren Epoche der Eigenstaatlichkeit haben diese Städte viele westliche Elemente, zum Beispiel der Architektur, des Lebensstils und der Wirtschaftsorganisation, übernommen. Dieser Wandel der Städte mit westlichen Zielen vor Augen führte in den betroffenen Ländern zu einer Annäherung an das sozioökonomische Prinzip der Viertelsbildung und damit eine gewisse Konvergenz zum europäischen Stadttyp.

Eine entgegengesetzte Entwicklung hat die angloamerikanische Stadt genommen. Der Sozialgradient war von innen nach aussen gerichtet. Nach Beendigung des Bürgerkrieges 1865 setzte in den USA die grosse Industrialisierungswelle ein, was einen nahezu nicht zu befriedigenden Bedarf an Arbeitskräften zur Folge hatte. Während bis dahin vorwiegend Menschen aus West-, Nord- und Mitteleuropa eingewandert waren, folgten nun vor allem nach 1880 mehrheitlich Süd- und Osteuropäer. Und während die ersten Einwanderer nur teilweise isoliert in eigenen Stadtteilen lebten, bildeten sich nun ständig wachsende Minoritätenviertel in der Innenstadt um das Stadtzentrum herum. Als weitere Folge der Industrialisierung kam der einsetzende Zustrom von Schwarzen aus den Südstaaten in die grossen Städte des Nordens nach 1865 hinzu. Zugleich begann eine Umsiedelung von wohlhabenderen Schichten aus der Innenstadt in die Vorortzone, was zur Folge hatte, dass sich der Sozialgradient umkehrte und sich jetzt im wesentlichen von aussen nach innen zu richten begann. Da nun für die angloamerikanische Stadt das ethnische Prinzip der Viertelsbildung zum Durchbruch kam, zeichnete sich eine Konvergenz zum orientalischen Stadttyp ab.

Was die europäische Stadt betrifft, so wird auch hier die Entstehung von Minoritäten durch die zugewanderten Gastarbeiter beobachtet, vor allem im mittel- und westeuropäischen Raum. Obwohl sich das Phänomen im Vergleich mit den USA mit einer zeitlichen Verzögerung von ca. einem Jahrhundert abspielt, liegt das eigentliche Problem hier ebenfalls nicht in der absoluten Zahl der Zuwanderer, sondern in ihrer räumlichen Konzentration auf die Innenstadtviertel. Hier wird nun auch das sozioökonomische von dem ethnischen Prinzip der Viertelsbildung überlagert. (Hofmeister 1993: 218-224)

3. Fallbeispiel 1: Der Angloamerikanische Stadttyp

3.1. Grundsätzliche Merkmale

Die Städte der kolonialzeitlichen Siedlungsgebiete blicken auf eine lange Tradition zurück, und sie belegen dies auch heute noch durch markante Elemente wie die Plaza der spanischen und den Common der englischen Stadtgründungen. Im spanischen Bereich wurde ausschliesslich, im französischen und englischen gelegentlich der Schachbrettgrundriss angewendet, so dass die Idee der im Jahre 1785 durchgeführten rechtwinkligen Landvermessung bereits geboren war. Der neuenglische Common konnte sich vielfach dank seiner Aufgabe als Allmendeweide und später auch als Truppenübungsplatz vor der Überbauung retten. Ihm benachbart entstanden meetinghouse und Schulhaus, denen eine allgemeine gesellschaftliche Bedeutung zukam. Dasselbe gilt für die in der amerikanischen Zeit meist an zentraler Lage angelegten Gerichtsorte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Der zentrale Teil von Madison, Wisconsin. Aus: Hofmeister 1970: 245

In dem weiten Raum westlich von Appalachen und dem St. Lorenz Strom fielen viele Städtegründungen mit dem Eisenbahnbau zeitlich zusammen. Oft waren die Bahngesellschaften sogar selbst die Gründer, was zur Folge hatte, dass die Städte nach einheitlichem Gitternetzplan alle völlig gleichartig angelegt wurden. Zwei Überbleibsel dieses Siedlungsprozesses kennzeichnen daher bis heute diese Städte: Erstens zerschneidet oft die Bahn den Stadtkörper an zentraler Stelle, und zweitens siedelte sich an der Bahn die Industrie an, so dass die Fabrikviertel oft direkt an den Stadtkern stossen, was wiederum die Stadt in ihrer Ausdehnung einschränken kann. (Hofmeister 1991: 131-141)

3.2. Bebauung

Die bauliche Begrenzung wurde unterstrichen durch den über lange Zeit bevorzugt verwendeten Wolkenkratzerbau, mit dem die typische "skyline" der amerikanischen Stadt entstanden ist. Durch die neue Stahlskelettbauweise und den Einbau von elektrischen Aufzügen waren die baulichen Voraussetzungen überhaupt erst geschaffen worden, um dem rasch wachsenden Binnenmarkt den nötigen Raum an zentraler Lage bieten zu können. Der Wolkenkratzer wurde 1916 aufgrund von Vorschriften über das Zurückweichen der Aussenwände mit zunehmender Höhe in der Gestalt verändert. Dies geschah zwecks besserer Belichtung und Durchlüftung von Gebäuden und Strassen. In neuerer Zeit wird er aber unter Verwendung von viel Glas wieder gerade hochgezogen. Die Wolkenkratzerkonzentration brachte eine Massierung von Arbeitsplätzen auf engstem Raum und als Folge davon auch Parkraumnot und Verkehrsstauungen mit sich. Dies trug in der Nachkriegszeit auch zu einem gewissen Zerfall der Citygebiete bei. (Hofmeister 1991: 131-141)

3.3. Der Werdegang der Innenstädte in den USA

Viele Innenstadtviertel waren jahrzehnte lang dem Verfall preisgegeben. Als Ursachen werden sowohl die Leichtbauweise der Häuser als auch das unbefriedigende Steuersystem angegeben. Denn als Grundlage zur Steuererhebung wurde nicht das Grundstück selbst betrachtet, sondern der Zeitwert des darauf stehenden Gebäudes, was zu bedeuten hat, dass mit zunehmendem Verfall der Häuser die Steuerlast sinkt. Viele Hausbesitzer stellten daher mit der Zeit die Steuerzahlung ganz ein, was zur Folge hatte, dass die meist unbewohnbaren Objekte in den Besitz der Gemeinden übergingen, woraus wiederum ein grosser Leerstand resultierte. Ebenfalls nicht gerade förderlich für die Innenstädte war der Umstand, dass sanierungswillige Hausbewohner oft als nicht kreditwürdig angesehen wurden, und dass in diese Gebiete von Seiten der Banken prinzipiell keine Gelder investiert wurden.

So kam es in weiten Bereichen der inneren Wohnviertel zu Verslumung: Einerseits wurden frühere Einfamilienhäuser in mehrere Wohnungen unterteilt und somit überbelegt, andererseits gab es einen erheblichen Leerstand zu verzeichnen. Zur Anhebung der Wohnqualität wurden verschiedene Massnahmen ergriffen: In einigen Städten kam es zu umfangreichen Flächensanierungen, dies vor allem durch den bundesstaatlich geförderten Wohnungsbau, wodurch manchen Vierteln ein völlig neues Aussehen verschafft wurde. Manche Stadtverwaltungen griffen zu einem sehr pragmatischen Mittel, dem »urban homesteading«. Und das funktionierte so, dass die der Gemeinde zugefallenen und leerstehenden Häuser gegen eine minimale Anerkennungsgebühr an renovierungswillige Familien, die sorgfältig aus den Bewerbern ausgewählt wurden, übergeben wurden. Sie erhielten eine geringe finanzielle Hilfe für die Beschaffung von Baumaterial, mussten aber ansonsten Renovierung und Modernisierung in Eigenarbeit durchführen. Das System hatte Erfolg, denn auf diese Weise wurden ganze Strassenzüge aufgewertet, was sich wiederum positiv auf die nähere Umgebung ausgewirkt hat.

Jüngere zahlungskräftige Angehörige der Mittelschicht erwarben zum Teil Wohnungen oder Häuser in Innenstadtvierteln, die sie in Eigenfinanzierung renovierten und modernisierten. Diese Aufwertung von baulich und sozial abgefallenen Innenstadtvierteln durch Besserverdienende wird »gentrification« genannt. Beispiele der »gentrification« sind die Innenstadtviertel von Canton und Poppleton in Baltimore oder Inman Park in Atlanta. In solchen Vierteln haben sich die Veränderungen der Bevölkerungsstruktur statistisch niedergeschlagen. Die wichtigsten Veränderungen lagen wohl in einem überdurchschnittlichen Familieneinkommen, in der Zunahme von Doppelverdienern, in der Verjüngung der Wohnbevölkerung, in einem höheren Bildungsstand und nicht zuletzt auch in einer Abnahme der Haushaltsgrösse. (Hofmeister 1992: 94-97)

3.4. Industriegebiete und Vorortszonen der USA

Im Gegensatz zum europäischen Stadtgefüge entstanden in den USA kompakte Fabrikviertel in unmittelbarer Nachbarschaft zur Downtown. Diese Industriesektoren sind auch zu Leitlinien der Verslumung geworden. An die inneren Wohnviertel schliesst sich die Suburbia an, eine unendlich erscheinende Vorortzone, die immer weiter ins Umland hinausgreift. In der Suburbia lösen sich bebaute und unbebaute Flächen ab. Dieses Überspringen der freien Flächen, die aus Gründen der Spekulation von den Besitzern zurückgehalten werden, werden von den Amerikanern als „leapfrogging“ bezeichnet, analog dem Hüpfen des Laubfroschs. Die bebauten Grundstücke werden oft in sehr kleine Parzellen aufgeteilt, so dass die Eigenheime sehr geometrisch angeordnet und dicht gedrängt nebeneinander stehen. Oft werden ganze Gebiete mit dem selben Haustyp bebaut, was die Gebiete sehr homogen erscheinen lässt.

In die Vorortzone sind vor allem die besser verdienenden weissen Familien mit heranwachsenden Kindern gezogen. Nicht nur die kinderfreundlichen halbländlichen Gebiete spielen eine Rolle, sondern auch die Schulqualität. Sie ist in den Vororten meistens besser als in der Innenstadt, wo in den schlechter ausgestatteten Schulen grosse Klassen vorherrschen. Häufig besteht auch der Wunsch nach Nachbarschaft zu gesellschaftlich Gleichgestellten, so dass die Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet grössten Teils aus der gleichen sozialen Bevölkerungsschicht kommt. Diese sozial homogenen Vororte werden „lifestyle suburbs“ genannt. Teilweise wurde eine solche Differenzierung sogar durch „exclusionary zoning“ bewusst unterstütz; das heisst, es wurde durch Vorschriften, wie zum Beispiel die der Mindestabmessungen von Parzellen, die Bebauung verteuert. Dies geschah vor allem um unerwünschte Bevölkerungsgruppen, vor allem Schwarze, die sich die jeweilige Grundstücksgrösse nicht leisten konnten, von der Ansiedelung abzuhalten.

3.5. Die Unterschiede der Kanadischen Städte zu den Amerikanischen Städten

Bei aller Ähnlichkeit weisen die Städte Kanadas einige bemerkenswerte Unterschiede auf. Ihre City hat sich als lebensfähiger erwiesen als die vieler US-amerikanischer Städte. Sowohl in den Innenstadtvierteln als auch in Teilen der Randzone ist die Einwohnerdichte grösser und somit die Voraussetzung für ein rentables U-Bahn-Netz günstiger. Hauptsächlicher Grund hierfür dürfte sein, dass die Industrialisierung erst später einsetzte, und der damit verbundene

Zustrom von Einwanderern nach der Jahrhundertwende weitgehend in mehrgeschossigen Mietwohnhäusern aufgefangen wurde. Kanadische Städte haben deshalb eine Vielzahl von 3- 4 geschossigen Miethäusern und ebenfalls einen hohen Mietwohnanteil der Wohnbevölkerung zu verzeichnen. Ebenfalls typisch sind eine verhältnismässig hohe Bevölkerungsdichte mit einem kräftigen Dichtegefälle nach aussen.

Während die Einwanderung in Kanada ohnehin weit hinter der der USA zurück blieb, kamen auch kaum Schwarze in nennenswerten Mengen über die kanadische Grenze. Das Minoritätenproblem trat hier deshalb immer nur in abgeschwächter Form auf. Dagegen macht der bedeutende frankophone Bevölkerungsanteil besonders die Städte der Provinz Quebec zu einem etwas speziellen Siedlungsraum. (Hofmeister 1991: 140-141)

4. Fallbeispiel 2: Der Lateinamerikanische Stadttyp

4.1. Von den Anfängen Lateinamerikanischer Städte

Verglichen mit Angloamerika führte die frühere Besitzergreifung von Teilen Mittel- und Südamerikas durch Portugiesen und Spanier dazu, dass im spanischen Amerika bereits um 1600 über 200 Städte existierten. Als Ursachen dafür gelten vor allem das kleinere Interesse der europäischen Einwanderer an der Landwirtschaft, die Zuteilung von Land und Indianern an jeden spanischen Bürger bei einer Stadtgründung und nicht zuletzt auch das EncomiendaSystem, ein Lehnsverhältnis zwischen spanischem Grundbesitzer und indianischen Landarbeitern, die für die Ernährung der Stadtbevölkerung sorgten.

Die Portugiesen, die im Gegensatz zu den Spaniern als Kaufleute und Pflanzer in die Neue Welt kamen, legten Städte an der Küste an, die sie vor allem für die Aufrechterhaltung der Verbindung zum Mutterland benötigten. Die Spanier gründeten militärische und religiöse Stützpunkte, welche sie zum Teil in die Schwerpunktregionen der von ihnen eroberten Indianerreiche bauten. In vielen Städten des Binnenlandes spielten Klöster und Klosterländereien eine stadtbildprägende Rolle. Später wurden häufig die einstigen Gebiete der Audiencias zu selbständigen Staaten, und ihre Mittelpunkte zu deren Hauptstädten erklärt. Für den überseeischen Kontakt benötigten sie ebenfalls der Küstenstädte, und so wurden die Städte an der Küste oft als Hafenstadt und gleichzeitig auch als Hauptstadt genutzt.

Die meisten dieser Städte waren aber eine Art Fremdkörper in Bezug auf das sie umgebende Land, denn sie kommunizierten in erster Linie mit dem fernen Mutterland und mit den übrigen Städten, deshalb bestand auch keine nennenswerte Grundlage für Binnenhandel und Handwerk. Bei der Betrachtung der Bevölkerungsstruktur spielen sowohl die heimische Bevölkerung als auch die Mischlinge von Indios und Weissen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Gegensatz dazu stehen zum Beispiel Angloamerika oder Australien, wo die Ureinwohner lange Zeit viel stärker dezimiert und auf Reservationen verwiesen wurden. (Hofmeister 1991: 124-131)

4.2. Zwei Städte des nördlichen Andenraums: Valencia und Puerto Cabello

Die in 480 m Höhe gelegene Stadt Valencia ist nur 53 km vom Meer entfernt. Über einen leichten Höhenunterschied von 100 m ist und war schon seit den Anfängen der Kolonialisierung Puerto Cabello, einer der besten Naturhäfen Venezuelas, zu erreichen. Er wurde schon 1589 zu einer starken Festung ausgebaut. Nach Süden führten durch die Täler von Aragua bequeme Wege in die sich entwickelnden Viehzuchtgebiete an den Nebenflüssen des Orinoco. Dass der Stadt Valencia dennoch die Übernahme zentraler Funktionen für das Generalkapitanat versagt blieb, beruhte vor allem auf ihrer Lage im heissen Klima. Mit einer mittleren Jahrestemperatur von 24,6° C war sie gegenüber Caracas (20,4° C) erheblich benachteiligt. Die Spanier lebten lieber in der offiziellen, klimatisch angenehmeren Hauptstadt als in einem noch so zukunftsreichen Provinzort von kaum 7.000 Einwohnern (1800). Die vorübergehende Verlegung hauptstädtischer Behörden nach Valencia in politisch unruhigen Zeiten, 1830 und 1858, hat die Entwicklung der Stadt nur wenig vorangebracht. 1920 zählte sie erst 30.000 Einwohner. Dann beschleunigte sich ihr Wachstum aber: 1937:50.000, 1951: 90.000, 1959: 100.000 Einwohner. Zu diesem Zeitpunkt hatte die junge Grosstadt ihre Lebensgrundlage bereits in der schnell wachsenden Industrie gefunden. Es machte sich vor allem die Zement- und Baustoffindustrie, die Lebensmittel-, Holz- und Möbelindustrie, die Spinnereien und Webereien, die Kleiderkonfektion, sowie auch die Schuh- und Lederwarenindustrie in Valencia breit. Hinzu kamen die laufend an Boden gewinnenden Metallindustrien sowie die chemischen und pharmazeutischen Fabriken.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Die Zentralregion von Venezuela. Aus: Wilhelmy & Borsdorf 1985: 13

Für die kolonialspanische Schachbrettstadt begann durch den Ausbau dreier grosser Durchgangsstrassen und die Schaffung von Umgehungsstrassen eine neue Phase städtebaulicher Entwicklung. Die im Südosten der Stadt gelegene Industriezone wurde mit allen erforderlichen Versorgungseinrichtungen systematisch erschlossen. Drei Automontagewerke nahmen ihren Betrieb auf, daneben zahlreiche Fabriken, die von Textilien und Autoreifen bis zu Farben, Plastikwaren und Futtermitteln nahezu alle Produkte herstellen, die auf dem venezolanischen Markt gefragt waren. Viele Unternehmen sind Tochtergesellschaften nordamerikanischer und europäischer Firmen, die meisten arbeiten jedoch, soweit dies möglich ist, mit einheimischem Kapital.

Von den rund 35.000 in der Industrie beschäftigten Menschen des Jahres 1975 waren über die Hälfte in der Industriezone San Blas am südöstlichen Stadtrand von Valencia tätig. Auch auf die benachbarten Vororte hat der Industrialisierungsprozess übergegriffen. Die moderne industrielle Entwicklung ist durch die Standortvorteile Valencias sehr begünstigt. Dies gilt vor allem für den Absatz, aber auch für die Zulieferung von Rohstoffen. Die Lebensmittelversorgung der in die Stadt strömenden Menschen sichert das reiche Agrarland der Umgebung. Landwirtschaftliche Überschüsse können sogar nach Caracas geliefert werden. So stellt Valencia nicht nur ein betriebsames Lokalzentrum dar, sondern ist durch seine weitreichenden Verkehrsverbindungen zu einem Handels- und Dienstleistungszentrum von überörtlicher Bedeutung geworden. (Wilhelmy & Borsdorf: 1-69)

4.3. Die Städte der zentralen Andenstaaten: Lima und Callao

An der langgestreckten peruanischen Küste bietet sich für die Entwicklung einer Millionenstadt kein günstigerer Platz als der breite, flache Schuttfächer des Rimac-Flusses. Ausser weiten Flächen trockenen Baugrundes sprachen weitere Vorteile für die 1535 von Pizarro getroffene Ortswahl. Der Fluss lieferte der kolonialzeitlichen Bevölkerung ausreichend Trinkwasser, und das bis in das Herz des Hochlandes hinaufführende Rimactal sicherte den Spaniern den Zugang zu den Silberminen des Altiplano. Ein vierter Lagevorteil war schliesslich die nur 12 km betragende Entfernung zur Küste, wo sich südlich der Rimacmündung an einer durch die vorgelagerte San Lorenzo-Insel vor Süd- und Südwestwinden geschützten Bucht ausgezeichnete Möglichkeiten für die Anlage eines Hafens boten.

Auf seiner Bedeutung als administrativer und kirchlicher Mittelpunkt, seinem Handelsmonopol und als Sitz der Münze beruhte die überragende Stellung Limas vom 16. bis zum 18. Jh. Lima war eine der reichsten Städte der Welt. Der allgemeine Wohlstand begünstigte die Entwicklung eines blühenden Gewerbes und einer für ihre Zeit bedeutsamen Industrie. Seidenweber und Handschuhmacher, Steinschleifer und Goldschmiede, Uhrmacher und Waffenschmiede bekamen ihre Arbeit nirgends besser bezahlt als in Lima. Was nicht aus Europa oder aus Ecuador eingeführt wurde, entstand in den Werkstätten der Hauptstadt des südamerikanischen Kolonialreichs. In Lima entwickelte sich ein Luxus, wie ihn sich in Spanien nicht einmal die Reichsten leisten konnten. Patrizier, Bürger und selbst freigelassene Negersklaven trugen Kleider, die im Mutterland als zu kostbar galten und verboten waren. Ihr schnell erworbener Reichtum verführte die Limener zu einer Lebensführung, die in ihrer Verschwendungssucht nirgends in der Geschichte Südamerikas eine Parallele findet.

Die vielen Erdbeben haben, noch ehe das Kolonialzeitalter zu Ende ging, den einstigen Wohlstand des „goldenen Lima" vernichtet. Viele Privatleute büssten mit dem Verlust ihrer kostbar eingerichteten Häuser den grössten Teil ihrer Vermögen ein. Klöster und Kirchen verloren ihre Renten, da mit der Zerstörung der Häuser der Erbzins erlosch, der auf ihnen geruht hatte. Bevölkerungsverluste in Katastrophenjahren wechselten mit Anstiegen der Einwohnerzahlen in guten Zeiten. Die erste zuverlässige Zählung im Jahre 1614 ergab 25.000, eine andere für 1700 ergab 37.000 Einwohner. 1745, kurz vor dem grossen Beben, lebten in Lima 60.000 Menschen, eine Zahl die unter den Nachwirkungen der Katastrophe bis 1757 auf 54.000 zurückging. 1810 wurde mit 87.000 Einwohnern ein erstes Maximum erreicht. Dann sank die Einwohnerzahl infolge der durch die Unabhängigkeitskriege ausgelösten wirtschaftlichen Schwierigkeiten bis 1842 auf 52.000 ab, stieg bis 1850 wieder auf 70.000 an und erreichte im Jahre 1875 die Hunderttausendergrenze. Diese Verdoppelung der Einwohnerzahl im Zeitraum von 33 Jahren erfolgte ohne eine gleichzeitige Vergrösserung der bebauten Fläche. Die Ausdehnung der alten Kolonialstadt war also im Vergleich zur früheren Zahl der Einwohner sehr beträchtlich. Dies hatte seinen Grund in der üblichen Bebauung mit einstöckigen Häusern, deren Innenhöfe viel Raum beanspruchten und die, besonders in den am Rande gelegenen Stadtteilen, oft durch Gärten voneinander getrennt waren. Viele Solares waren im 17. und 18. Jh. noch unbebaut geblieben oder nur mit Mauern umgeben, hinter denen sich die Schilfhütten der Sklaven verbargen. Aufschlussreich ist der Strukturwandel, den die Bevölkerung Limas bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfahren hat. Im Gründungsjahr 1535 siedelten sich 70 Spanier in Lima an; die Masse der neuen städtischen Bevölkerung stellten die Indianer. 1614, als Lima 25.000 Einwohner zählte, entfielen bereits 10.000 auf die spanischblütigen Kreolen. Von den 56.168 Bürgern des Jahres 1791 waren 24.557 Spanier, 13.747 Mestizen und 17.864 Schwarze und Mulatten. Dazu kamen 29.763 Sklaven und 85.931 Indianer. Im Verlauf der nächsten 140 Jahre ging der Anteil der Indianer stark zurück und derjenige der Mestizen wuchs. Er erreichte 1931 über 50%. Die Zahl der Schwarzen verringerte sich bis zu diesem Zeitpunkt auf 3%. Umgekehrt hat die weisse Bevölkerung immer mehr von der Stadt Besitz ergriffen. Von ca. 8% im Jahre 1570 stieg ihr Anteil 1931 auf nahezu 35%. Chinesen und Japaner, die seit 1849, besonders aber nach 1860 ins Land kamen, waren 1931 mit 4,5% vertreten.

Ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung Limas zu einer modernen Metropole war die Möglichkeit ihrer Ausdehnung zur Küste hin. Der grosse, durch Feld- und Gartenbau genutzte Leerraum zwischen Lima und Callao füllte sich mit Fabriken und Wohnvierteln unterschiedlichster Sozialschichten auf, während südlich des Zentrums und des bürgerlichen Stadtteils Lince der elegante Villenvorort San Isidro entstand. Sozialer Aufstieg war gleichbedeutend mit einer Verlegung des Wohnsitzes in dieser Richtung. Absetzbewegungen aus der Innenstadt begannen in Lima bereits zu Beginn des 20. Jh. und sind eines der frühesten Beispiele für diesen Prozess in Südamerika. Der Oberschicht folgten mit einer Phasenverschiebung von mehreren Jahrzehnten auch in bescheideneren Einkommensverhältnissen lebende Bürger. So entstanden in unmittelbarer Nähe der mit Luxusvillen besetzten Strassen auf zunächst unbebaut gebliebenen Cuadras auch Wohnblöcke der unteren und gehobenen Mittelklasse. (Wilhelmy & Borsdorf: 70-88)

4.4. Die Lateinamerikanische Stadt der Neuzeit: Rio de Janeiro

Um 1900 galt Paris mit seinen von Haussmann geschaffenen Boulevards als das grosse Vorbild für alle baulichen Veränderungen in Rio de Janeiro, wo um diese Zeit der französische Stadtbaumeister und Architekt Alfredo Agache wirkte. Alles, was dort in den ersten dreissig Jahren unseres Jahrhunderts gebaut wurde, wird jedoch weit in den Schatten gestellt durch das, was in der Folgezeit an der Guanabarabucht geschehen ist. Die Konjunktur des II. Weltkrieges führte in Rio zu einer Bautätigkeit fast unvorstellbaren Ausmasses. Mitte der 50er Jahre glich die Stadt einer einzigen riesigen Baustelle. Die Bauwut führte zum Abbruch ganzer Viertel, so dass Bilder entstanden, die an die bombenzerstörten deutschen Städte erinnerten. Alte Strassenzüge mit zwei oder dreistöckigen Häusern wurden in wenigen Tagen niedergerissen, und an ihre Stelle traten moderne Hochhäuser. An der von 1937-1944 mit einem Kostenaufwand von über 10 Mill. US-Dollar durchgebrochenen, 90 m breiten Avemda Presidente Vargas, die über 4 km lang ist und vom Manguekanal schnurgerade ins Stadtzentrum führt, dürfen laut Gesetz nur Hochhäuser mit mindestens 22 Stockwerken errichtet werden. Eine ihrer Seitenstrassen ist der Schauplatz der alljährlichen Karnevalsumzüge, die die Volksmassen ebenso mobilisieren wie die Fussballspiele in dem 250.000 Zuschauer fassenden Riesenstadion. Seit 1984 hat der Karneval der Cariocas ein neues Wahrzeichen: die von O. Niemeyer geschaffene Passarela do Samba. Auf einer Strecke von 700 m reihen sich 10 Tribünenblöcke beiderseits der Avemda Marques de Sapucai, die auf einem grossen Platz mit Karnevalsmuseum und kirchturmhohem Ovalbogen endet. An den vier Karnevalstagen oder bei Fussballspielen mit den gefeierten Stars wird der mühselige Alltag vergessen und kommt die ganze Lebensfreude der Cariocas voll zum Durchbruch. An der Av. Presidente Vargas schliesst sich ein moderner Glas-Stahlbetonbau an den anderen. Der cityfernere Abschnitt der Strasse wirkt noch unfertig. Eine Champs Elysees Rios ist die Av. Presidente Vargas bisher nicht geworden, da sich die privaten Bauaktivitäten seit Jahren stärker auf die an der Küste gelegenen Stadtteile konzentrieren. Das letzte Stück der Avemda, das durch den in der Mitte verlaufenden Manguekanal geteilt wird, erhielt früher eine besondere Note durch zwei Reihen hochaufragender Königspalmen, von denen leider nur noch Reste erhalten sind.

In ihren Konturen zeigen die Hochhäuser Rios nicht die Unruhe der getreppten Hochhäuser nordamerikanischer Grosstädte, wie sie anfänglich auch für Buenos Aires und São Paulo charakteristisch waren. Die Silhouette der mächtigen modernen Bauwürfel in Rio ist klar und ruhig. Rio de Janeiro wurde zum Ausgangspunkt des „neuen Bauens" in Brasilien.

Mit der Ausrufung der Republik (1889) fielen die an England gewährten Handelsvergünstigungen, und Schutzzölle traten an ihre Stelle. Die junge brasilianische Industrie entfaltete sich von nun an stetig bis 1914 und erfuhr während des I. Weltkrieges einen ersten sprunghaften Aufstieg. Zu ihrem Hauptstandort wurde Rio de Janeiro, das bis 1940 diese Führungsrolle halten konnte. Der II. Weltkrieg brachte São Paulo an den ersten Platz, aber mit einer Viertelmillion Industriearbeitern, bzw. 10% aller brasilianischen Industriebeschäftigten, und ebenfalls 10% der Produktion ist die Metropole Rio unangefochten der zweitwichtigste Industriestandort des Landes. Rio de Janeiro ist jedoch stärker in den traditionellen Industrien verhaftet als das allen Neuerungen stärker aufgeschlossene São Paulo, das den Hauptgewinn aus der jungen Entwicklung zog und nicht nur zum industriellen Zentrum Brasiliens, sondern ganz Südamerikas geworden ist. Das industrielle Spektrum Rios reicht von der Nahrungs- und Genussmittelindustrie über Leder- und Schuhindustrie, Textil- und Gummifabriken, die Erzeugung von Keramikwaren, von Papier, chemischen und pharmazeutischen Produkten bis zum Schiffsbau, der Maschinen- und elektronischen Industrie. Die Industrieviertel Rios - sofern man von solchen sprechen kann - erstrecken sich westlich der Altstadt vom Hafen bis zum Fuss der Tijuca-Berge. Sie nehmen das Gebiet der „Neustadt" ein und werden vom Manguekanal durchzogen. Kleiderkonfektion und Druckereien haben ihren traditionellen Sitz noch in der City. Die Haute Couture bevorzugt die Copacabana. Eine Reihe von Vorstadtbetrieben säumt die Eisenbahnlinien und Ausfallstrassen nach Nordwesten und Norden, besonders die Avemda Brasil, aber ohne festes Ordnungsprinzip sind wichtige Werke doch vom einen Ende der Stadt bis zum anderen verstreut. Sie liegen vereinzelt selbst innerhalb guter Wohngebiete. Pharmazeutische Betriebe haben sich in dem ganz im Westen der Metropolitanregion gelegenen jacarepagua angesiedelt. Schiffswerften, Stahl-, Zement-, Glas- und Konservenfabriken entstanden auch östlich der Guanabarabucht in Niterõi und São Gonçales, andere Betriebe liegen in den Randstädten. Die Verwirklichung des Planes, ein modernes Industriegebiet auf der Küstenebene von Santa Cruz an der neuen Küstenstrasse aufzubauen, wurde mit der Errichtung eines Stahlwerks und einigen weiteren Fabriken in Angriff genommen. (Wilhelmy & Borsdorf: 324-350)

Literaturverzeichnis

Hofmeister, B. (1970): Nordamerika. - In: Puls, W. W. (Hrsg): Fischer Länderkunde Bd. 6, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Hofmeister, B. (1991): Die Stadtstruktur. - = Erträge der Forschung 132, Darmstadt: 1-203.

Hofmeister, B. (1992): USA. - = Länder der Welt, Dortmund: 1-509.

Hofmeister, B. (1993): Stadtgeographie. - In: Leser, H. & K. Rother (Hrsg.): Das geographische Seminar, Braunschweig: 1-258.

Leser, H. (Hrsg.) (1997): Diercke-Wörterbuch. Allgemeine Geographie. München und Braunschweig: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Wilhelmy, H. & A. Borsdorf (1985): Die Städte Südamerikas. Die urbanen Zentren und ihre Regionen. - = Urbanisierung der Erde Band 3 Teil 2, Berlin, Stuttgart: 1-486.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Kulturgenetische Stadttypen
Hochschule
Universität Basel
Autor
Jahr
2001
Seiten
15
Katalognummer
V99778
ISBN (eBook)
9783638982153
Dateigröße
669 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kulturgenetische, Stadttypen
Arbeit zitieren
Fabian Vögtli (Autor:in), 2001, Kulturgenetische Stadttypen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99778

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