Sprachentwicklung im Kindesalter


Seminararbeit, 2000

37 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Komponenten der menschlichen Sprache

3. Können Tiere die menschliche Sprache erlernen ?

4. Die kindliche Sprachentwicklung
4.1. Hören – Voraussetzung für das Lernen von Sprache ?
4.2. Die Sprachentwicklung in drei Schritten
4.2.1. Schritt 1: Die phonologische Entwicklung
4.2.2. Schritt 2: Die lexikalische Entwicklung
4.2.3. Schritt 3: Von den Wörtern zur Satzproduktion
4.3. Das Kind als kompetenter Sprecher

5. Sprachentwicklung – Veranlagung oder Umwelteinfluß ? Gedanken zur Anlage-Umwelt-Diskussion

6. Erfolgreicher Spracherwerb – Voraussetzungen und Bedingungen
6.1. Sprachunspezifische kognitive Voraussetzungen
6.2. Sprachspezifische Voraussetzungen
6.3. Soziale Voraussetzungen

7. Unterschiede interindividueller Art

8. Fazit

Literatur

1. Einleitung

„Die Sprache ist die bedeutendste Errungenschaft im Leben eines Menschenkindes und unter seinen großen Gaben vielleicht diejenige, die am gleichmäßigsten und ge- rechtesten verteilt ist. Sie ist unser wichtigstes Organ zur Aneignung der Welt.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 7)

Die kindliche Sprachentwicklung ist sicherlich eine der faszinierendsten Fragen der Ent- wicklungspsychologie. Die Rasanz, mit der die Kinder das hoch komplexe System Sprache erlernen, zeigt, wie sehr der Mensch darauf angewiesen ist, die Welt zu verstehen und mehr noch, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren.

Die Entwicklung der Sprache beginnt nicht erst mit dem ersten Wort des Kindes, auf das vor allem seine Eltern stets mit großer Spannung warten. Schon im Mutterleib scheint das Kind auf sprachliche Äußerungen der Mutter fixiert zu sein. Dies scheinen Experimente mit Neugeborenen zu beweisen, wie später gezeigt wird.

Überhaupt stellt die Sprache für das Kind einen offensichtlich sehr attraktiven und promi- nenten Bereich dar. Vor allem so ist das große Interesse von Säuglingen an sprachlichen Äußerungen zu erklären. So ist auch die Freude zu erklären, die der Säugling empfindet, wenn es mit seiner Stimmmuskulatur spielt und die kreative Experimentierlust mit der Kinder sich zur Grammatik der „Erwachsenensprache“ aufmachen. Wenn die Kinder wüß- ten, welche komplexen kognitiven Leistungen sie beim Lernen ihrer Muttersprache voll- bringen, würde ihre Euphorie wohl Schaden nehmen.

Aber das Lernen der Muttersprache ist eben nicht ein qualvolles Lernen in Lektionen, wie es mancher Lateinschüler in der Schule erlebt haben mag. Die Muttersprache ist eine le- bendige Sprache und dementsprechend ist ihr Erwerb die natürlichste Sache für jedes Kind und nur schwer vom Leben zu trennen.

Das Kind wächst in eine sprechende Welt hinein und möchte sprechend an ihr teilhaben.

Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, daß nur der Mensch die genetische Veranla- gung für Sprache besitzt. Darin unterscheidet er sich wesentlich von allen anderen Lebe- wesen.

2. Die Komponenten der menschlichen Sprache

Die menschliche Sprache unterscheidet sich von tierischen Kommunikationssystemen we- sentlich darin, daß sie eben mehr als nur ein solches auf Dialog ausgerichtetes Kommuni- kationssystem ist. Die Fragen aber, die sich mit dem Wesen und mehr noch der Funktion und dem Sinn der menschlichen Sprache beschäftigen, betreffen nicht nur die Entwick- lungspsychologie, sondern ebenso die Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft. Darum können sie hier nur kurz angerissen werden.

Bevor nun auf die kindliche Sprachentwicklung eingegangen wird, soll zuvor der Aufbau der menschlichen Sprache dargestellt werden. Bis heute kann nicht exakt gesagt werden, wie Sprache funktioniert. Die Komplexität unserer Sprache ist von der Forschung noch nicht voll erfasst. Doch es besteht Einigkeit darüber, daß bei „der Produktion und dem Verstehen sprachlicher Ausdrücke mindestens sieben unterschiedliche Komponenten betei- ligt [...] sind: die suprasegmentale Komponente, die Phonologie, die Morphologie, die Syn- tax, das Lexikon, die Sprechakte sowie die Konversations- oder Diskurskomponente [...] Diese Komponenten können als eigenständige Wissenssysteme betrachtet werden, die je- doch stets assoziiert sind und parallel verarbeitet werden müssen.“ (Grimm, 1998, S. 705) Die suprasegmentale Komponente bezeichnet die Kompetenz, sprachliche Äußerungen richtig zu intonieren und zu betonen, so z.B. Fragesätze mit einer ansteigenden Tonhöhe zu beenden. Die Phonologie und Morphologie betreffen die Lautstruktur der Sprache und die Bedeutung, die einzelne Laute und Lautkombinationen tragen bzw. tragen können. Unter Syntax wird hier die Fähigkeit verstanden, Worte regelgerecht zu sinnvollen Sätzen kom- binieren zu können. Die lexikalische Komponente bezeichnet dagegen die Eigenschaft der menschlichen Sprache, daß jedem Wort mindestens eine mehr oder weniger eindeutige Bedeutung zugrunde liegt. Die Sprechakte sowie die Diskurs- oder Konversationskompo- nente schließlich umfassen die Fähigkeit Sprache in die Tat umzusetzen, z.B. die Kommu- nikationsregeln zu beherrschen.

Daß diese Komponenten eigenständige Wissenssysteme darstellen, wird deutlich, wenn man „gestörte“ Sprachentwicklungen beobachtet. So haben manche Autisten zwar keine Probleme damit, syntaktisch einwandfreie und logisch richtige Äußerungen zu formulie- ren, doch vor allem die Fähigkeit zu ungestörter Konversation und Kontaktaufnahme ha- ben sie nicht entwickeln können. Auch haben sie große Schwierigkeiten damit, ironische

Äußerungen herauszuhören. Das Phänomen des Autismus ist allerdings noch nicht hinrei- chend erforscht und tritt individuell sehr verschieden auf.

Generell darf gesagt werden, daß gerade Menschen mit nicht „normal“ verlaufender Spra- chentwicklung aufgrund geistiger oder physischer Behinderungen der Forschung viele Aufschlüsse über die menschliche Sprache gegeben haben und weiterhin geben. Sie haben u.a. gezeigt, daß die Sprachlichkeit des Menschen nicht allein an den artikulierten Laut gebunden ist. Denn eine ganz wesentliche Komponente für die menschliche Sprache ist das

„Vermögen zur grammatischen Zeichenverwendung. Auch taube Kinder, taubblinde und Kinder mit angeborener Sprechlähmung können zur Sprache kommen.“ (Butz- kamm/Butzkamm, 1999, S. 1) Eine weitere Bestätigung des Komponentenmodells von Sprache liefern „Schizophrene, die phonologisch einwandfreien Wortsalat produzieren.“ (Grimm, 1998, S. 705)

Aber auch der „normal“ verlaufende kindliche Spracherwerb stützt die These, daß Sprache als Zusammenspiel verschiedener separater Fähigkeiten erworben wird. „So steigen man- che über das Lexikon ein, erwerben einzelne Wörter, deren Verbindungen sie dann nach Art eines syntaktischen ,Bausatzverfahrens’ [...] konstruieren, während andere zuerst pro- sodisch abgegrenzte Phasen ganzheitlich imitieren, um diese dann später analytisch aufzu- lösen.“ (Grimm, 1998, S. 706)

Das Kind, das nicht als kompetenter Sprecher auf die Welt kommt, muß diese Komponen- ten aus dem sprachlichen Angebot seiner Umwelt heraushören und richtig anwenden und kombinieren lernen. Der Spracherwerb ist somit eine Aufgabe von höchster geistiger Komplexität. Für die Entwicklungspsychologie steht bei seiner Erklärung „immer die eine große Frage im Hintergrund:

Wie ist es möglich, daß Kinder die komplexe Aufgabe des Spracherwerbs in einem Alter lösen, in dem sie zu vergleichbar komplexen Leistungen in anderen kogniti- ven Bereichen noch nicht in der Lage sind ?“ (Grimm, 1998, S. 713)

3. Können Tiere die menschliche Sprache erlernen?

Zu Beginn möchten wir zwei wichtige Diskussionspunkte in den Raum stellen, die sich auf diese Frage beziehen:

- Zwischen der menschlichen Sprache und tierischen Kommunikationssystemen besteht ein grundsätzlicher Unterschied. - Nicht-menschliche Primaten sindnichtin der Lage, die menschliche Sprache zu erler- nen.

Da der zweite Punkt häufiger diskutiert wird als der erste, möchten wir auf diesen vorerst eingehen.

Wie wir alle wissen, haben auch Tiere sehr komplexe Kommunikationssysteme. Dazu können wir einige Beispiele nennen, die wahrscheinlich einem jeden von uns bekannt sein werden:

- Bienenverwenden Tänze, die über den Ort einer Futterquelle, ihre Distanz zum Bie- nenstock sowie über ihre Qualität Auskunft geben. - Vögelkommunizieren über bestimmte Rufe miteinander. Männliche Vögel singen zu bestimmten Zeiten, um ein Gebiet einzugrenzen oder um ein Weibchen anzulocken. - Dienächsten Verwandten des Menschen(nicht-menschliche Primaten, wie zum Bei- spiel einige Affenarten) kommunizieren über Gesten, Körperhaltungen, Blickverhalten und Vokalisationen, wie Warnrufe oder Kontaktlaute, miteinander. Dieses Kommuni- kationssystem weist jedoch keine linguistischen Merkmale auf, die kennzeichnend für die menschliche Sprache sind. Ausdruckseinheiten können sie nicht wie der Mensch zu immer wieder neuen Inhalten zusammenfassen. Ebenso weisen sie keine hierarchische Organisation auf.

Der Mensch hingegen kann sehr elementare Einheiten, wie zum Beispiel Phoneme (kleins- te bedeutungsunterscheidende, aber nicht selbst bedeutungstragende Einheiten, u.a. Voka- le) wieder zu neuen, unterschiedlichen, bedeutungsvolleren und größeren Einheiten, wie den Morphemen (kleinste bedeutungstragende Gestalteinheitin der Sprache, z.B. gibt das „e“in dem Wort„Fische“die Mehrzahl des Wortes„Fisch“an) zusammenfügen.

Jetzt können wir uns folgende Frage stellen: Warum haben Primaten kein umfangreicheres Kommunikationssystem entwickelt?

Primatologen und Evolutionstheoretiker sind oft der Ansicht, daß Primaten in ihren Le- benssituationen kein komplexeres Kommunikationssystem benötigen, um zu überleben. Ihr System ist auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt.

Zu diesem Gesichtspunkt sind die ÜberlegungenGehlensaus dem Jahre 1961 sehr auf- schlußreich. Für ihn ist die „menschliche Sprache eine Zwischenwelt aktiv gesetzter Sym- bolik“ (Grimm, 1998, S. 710). Der Mensch als „Mängelwesen“ (ebd.), soGehlen, wäre ohne diese Symbolik lebensunfähig. Das heißt, daß wir als Menschen Sprache benötigen, um in der Welt überleben zu können. Wir sind gezwungen, alles namentlich zu ordnen. Jedes Wort repräsentiert etwas. Primaten hingegen sind keine „Mängelwesen“ und bedür- fen daher nicht der Sprache als symbolische Ersatzwelt.

Für den Evolutionstheoretiker ist dadurch jedoch nicht bewiesen, daß die genetische Aus- stattung für den Erwerb des menschlichen Sprachsystems fehlt. Er sucht sogar die Wurzeln des Systems der Menschen bei den nicht-menschlichen Primaten.

Das ist der Kernpunkt des wissenschaftlichen Streits. Um diesen Streitpunkt zu klären, wurden mehrere Versuche durchgeführt. Mit drei Methoden wurde versucht, vor allem Schimpansen die menschliche Sprache näherzubringen. Bei allen Versuchen wurde aller- dings darauf verzichtet, den Schimpansen die gesprochene Sprache zu vermitteln, da weder Kehlkopf noch Zunge oder Gaumen der Tiere zur deutlichen Artikulierung in der Lage sind.

Diese Methoden möchten wir nun kurz erläutern:

Versuch vonPremack(1986)

Premackbrachte seiner Schimpansin Sarah bei, ‚Wörter‘ mit Plastikformen verschie- dener Größe und Farbe darzustellen. Sie ‚las‘ und ‚schrieb‘ von oben nach unten. Auf diesem Wege konnte sie beispielsweise an der Tafel ‚Mary give banana Sarah‘ ausdrü- cken oder verschiedene Dinge unterscheiden. (Vgl. Grimm, 1998, S. 711)

Versuch vonRumbaugh & Gill(1975)

Sie verwendeten eine computerähnliche Sprachmaschine, auf der ihre Schimpansin La- na, um Wörter repräsentieren zu können, auf Tasten drücken mußte. Sie bildete auf diese Weise korrekte Sätze und antwortete auf Fragen des Computers. (Vgl. Grimm, 1998, S. 711)

Versuch des Ehepaars Gardner & Gardner

Das EhepaarGardner & Gardnerversuchte, ihrem Schimpansenmädchen die Zeichen- sprache beizubringen. Nach knapp vier Jahren kannte es ca. 130 Zeichen der Gehörlo- sensprache. Sie konnte ihrem Pfleger unter anderem ‚bitte süß trinken‘ mitteilen. Eben- so war sie dazu befähigt, Sprache abstrakt und kreativ zu verwenden. Das Wort „offen“hatte sie im Zusammenhang mit einer geöffneten Tür kennengelernt und konnte es auf den geöffneten Kühlschrank oder Ähnliches übertragen. (Vgl. Grimm, 1998, S. 711)

Haben diese Tiere nun wirklich sprechen gelernt?

Diese Frage kann heute mit einem deutlichen ‚Nein!‘ beantwortet werden. Reanalysen zeigten, daß vergleichsweise die Schimpansin Washoe (Gardner & Gardner) wenige Zei- chen der Zeichensprache sehr oft und andere, seltener gebrauchte Zeichen falsch verwen- dete. Somit kann man keine syntaktische Struktur vorweisen.

Affen sind zwar sehr intelligent und können Probleme lösen, allerdings können sie keine dem Menschen vergleichbare Sprachintelligenz erwerben.

Die Evolution legt vielmehr folgende Vermutung nahe: Tiersprachen „beziehen sich allein auf das biologisch Bedeutsame, d.h. auf Bedürfnisspannungen und Wahrnehmungen, die mit Triebregungen in Verbindung stehen. Nur der Mensch hat das Bedürfnis einerallge- meinenWeltorientierung. Sie ist die ,allein menschliche Aufgabe, die aus dem Fehlenauf Schienen gelegter Instinktefolgt.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 126)

Die Untersuchung tierischer Kommunikationssysteme, die bei weitem noch nicht abge- schlossen ist, und der allerdings gescheiterte Versuch, Primaten die menschliche Sprache zu lehren, haben nicht nur gezeigt, daß ausschließlich der Mensch eine genetische Veran- lagung für Sprache besitzt. Es wurde auch deutlich, daß Sprache mehr ist „als die einfache Fortsetzung instrumentellen Handelns.“ (Grimm, 1998, S. 712)

4. Die kindliche Sprachentwicklung

Die Frage, wie Kinder sprechen lernen, ist noch lange nicht umfassend beantwortet. Das hängt nicht, wie vermutet werden könnte, in erster Linie damit zusammen, daß die Sprach- entwicklung bei jedem Kind letztlich individuell unterschiedlich verläuft. Denn bei allen Unterschieden gibt es doch auch wichtige Gemeinsamkeiten, die - während eines „norma- len“ Entwicklungsverlaufs - bei allen Kindern festzustellen sind. Weitaus erschwerender für die Forschung ist die Tatsache, daß die kognitiven Prozesse, die im Kind bei der Auf- gabe des Sprachlernens ablaufen, nicht oder nur zum Teil ermittelt werden können. Zwar können - als Resultat dieser Prozesse - die Äußerungen der Säuglinge und Kinder fest- gehalten und miteinander verglichen werden. Doch es bleibt nach wie vor bei Vermutun- gen und Hypothesen darüber, wie das Kind beispielsweise zu Bedeutungszuweisungen kommt oder aus den eigenen Fehlern lernt und wie es schließlich die enorme Aufgabe des Grammatikerwerbs bewältigt. Auf jeden Fall muß der Anreiz, die Dinge zu benennen, sich mitzuteilen und damit Mitglied der sprechenden Gesellschaft zu werden, für das Kleinkind sehr hoch sein. Bevor das Kind aber seine erste sprachliche Äußerung macht, hat es bereits über sein Gehör viele Erfahrungen vor allem mit seiner Muttersprache gemacht.

4.1. Hören – Voraussetzung für das Lernen von Sprache ?

„Das Abenteuer des Hörens, Zuhörens und Hinhörens beginnt drei Monate vor der Geburt. Damit setzt auch das Abenteuer Sprache ein, lange bevor das Kind auf die Welt kommt, den Mund auftut und zu babbeln anfängt.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 5)

Es ist medizinisch erwiesen, daß der Fötus mit sechs Monaten über sein - zu diesem Zeit- punkt bereits entwickeltes - Innenohr auf Laute reagiert. „Was das Ungeborene hört, ist vor allem die Stimme seiner Mutter, die es einmal über das Mitschwingen des Knochenskeletts vernimmt, zum anderen - abgeschwächt, wie auch die Stimme des Vaters und aller anderen - über die Bauchdecke und die Flüssigkeitsleitung des Fruchtwassers.“ (Ebd.) Zwar ver- steht das Ungeborene nichtwasdie Mutter sagt, aber der Klang ihrer Stimme (selbst wenn sie im Uterus anders klingen wird als draußen, so bleibt es doch „ihre“ Stimme) und der Rhythmus ihrer Sprache wird bereits von ihm wahrgenommen. So ist es wohl auch zu er- klären, daß bereits vier Tage alte Säuglinge die Muttersprache von Fremdsprachen unter-

scheiden können. Dies hat eine französische Studie gezeigt: Selbst wenn es nicht die Mut- ter ist, die spricht, zogen bei diesem Versuch die Säuglinge das Französische dem Russi- schen vor. Gemessen wurde dieses Interesse durch die „Messung der Saugrate im Rahmen des Habituierungs-Dishabituierungs-Paradigmas.“ (Grimm, 1998, S. 717) Das heißt, daß die Säuglinge durch eine erhöhte Saugaktivität an einem zu Meßzwecken präparierten Schnuller ihr Interesse an der Muttersprache anzeigten. Bei der Darbietung des Russischen ließ die Saugrate deutlich nach, egal in welcher Reihenfolge die Sprachen den Kindern präsentiert wurden. Mit derselben Teilnahmslosigkeit reagierten die „kleinen Franzosen“ auf englische und italienische Texte. Auch amerikanische Babys zeigten dieselben Reakti- onen, wenn sie russische und französische Texte zu hören bekamen (vgl. Mehler u.a., 1988)

Weitere Hinweise auf vorgeburtliches Hören gibt folgender Versuch: Während der letzten Schwangerschaftswochen sollten Mütter ihrer Kindern täglich ein bestimmtes Gedicht vor- lesen. Nach der Geburt zogen die Kinder dieses Gedicht anderen Gedichten vor (vgl. Butz- kamm/Butzkamm, 1999, S. 7).

Wichtig für den Spracherwerb ist an dieser Stelle das Interesse, das das Neugeborene schon kurz nach der Geburt (bzw. bereits im Mutterleib) für die Muttersprache zeigt. Es ist allerdings noch nicht gesichert, an welchen Merkmalen das Kind seine Muttersprache er- kennt, d.h. „welche Rolle die einzelnen prosodischen Merkmale der Tonhöhe, der Beto- nung, der Lautheit, der Schnelligkeit und der Pausengebung genau spielen.“ (Grimm, 1998, S. 716)

Die Literatur zeigt eine Vielzahl von weiteren sehr aufschlußreichen Experimenten, die mit Säuglingen und ihrem Verhältnis zur Sprache in den ersten Lebensmonaten durchgeführt wurden. Alle scheinen Folgendes zu zeigen: „Von Geburt an stellt die gesprochene Spra- che für den Säugling einen besonders prominenten Bereich dar.“ (Grimm, 1998, S. 715) Schon kurz nach der Geburt kann er sprachliche von nicht-sprachlichen Lauten unterschei- den, wie „für die Sprachentwicklung insgesamt gilt [...], daß die Kinder zunächst mehr Unterscheidungen verstehen können als sie selbst zu produzieren in der Lage sind.“ (Ebd.) Das Hören scheint also ein wesentlicher Grundstein für den Spracherwerb zu sein. Durch das Hören wird das Interesse an Sprache und damit am Kontakt zur Außenwelt geweckt. Wenn zuvor gesagt wurde, daß Sprache nicht an Lautsprache festzumachen ist, da auch taubstumme Menschen sprechen können, widerspricht das nicht der enormen Bedeutung des Hörens für die Sprache. Gehörlose Menschen „hören“ eben nur nicht mit den Ohren, sondern mit den Augen. Denn wichtiger noch als das Hören ist das Verstehen von Sprache. Das zeigt sich dann bei den ersten sprachlichen Äußerungen des Kindes.

4.2. Die Sprachentwicklung in drei Schritten

4.2.1. Schritt 1: Die phonologische Entwicklung

„Ein Orchester wird gestimmt. So umschreibt Desmond Morris die Zeit, bis die ersten Wörter auftauchen.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 54)

Schon kurz nach der Geburt können vor allem Mütter die lautlichen Äußerungen ihres Kindes dahingehend interpretieren, ob es sich wohl fühlt, hungrig oder kontaktbedürftig ist usw.. Zwischen Eltern und Kind entsteht offensichtlich von Anfang an ein großes Bedürf- nis nach Kommunikation. Doch daneben gibt es auch das kommunikativ absichtslose Aus- probieren der stimmlichen Möglichkeiten des Kindes. „Es dauert seine Zeit, bis es über- haupt wohlgeformte Sprachlaute hervorbringen kann. Dazu muß sich beim Neugeborenen auch noch anatomisch etwas verändern: zwischen dem dritten und sechsten Monat wird sich sein Kehlkopf absenken und der obere Stimmtrakt so ausgestalten, daß allmählich die notwendigen Resonanzbedingungen für die Bildung von Vokalen und Konsonanten entste- hen. Ein Säugling kann gleichzeitig saugen und atmen, ohne sich zu verschlucken. Nach dem Umbau zugunsten der Sprache muß er in Kauf nehmen, auch einmal Nahrung in die Luftröhre zu bekommen.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 55)

Neben dem Spiel mit der Stimmmuskulatur lassen sich auf dem Weg zu den ersten Wör- tern verschiedene Stadien festmachen, die alle Kinder normalerweise durchlaufen. „Im Alter zwischen 6 und 8 Wochen beginnt der Säugling zu gurren; zwischen dem 2. und 4. Lebensmonat setzt das Lachen ein und es werden zunehmend mehr Laute produziert.“ (Grimm, 1998, S. 714) In dieser Zeit ist der Säugling auch schon in der Lage, Vokale - vor allem /a/ und /i/ - nachzuahmen. Dagegen weigert sich das Kleinkind in dieser Phase nicht- sprachliche Laute nachzuahmen. Sie erscheinen ihm offensichtlich nicht besonders attrak- tiv.

Ungefähr ab dem 6. Lebensmonat beginnt das Lallstadium. Es gelingt dem Baby nun echte Sprachsilben zu formen. Diese Silben bestehen aus Vokal-Konsonanten-Verbindungen und werden mit „satzähnlicher Intonation“ (Grimm, 1998, S. 714) ständig wiederholt (z.B. „babababa“oder„mamamama“). Gehörlose Kinder produzieren diese Silbenketten nicht, so daß sie schon relativ früh von hörenden Kindern unterschieden werden können.

„In den Plappermonologen (ab 8. Lebensmonat) beginnt das Baby, artikulatorisch auf die besondere Klanggestalt der Muttersprache zu zielen, die es ja schon bei der Geburt hörend wiedererkennen konnte. Es hat sich nicht nur die Melodie der Muttersprache gemerkt, son- dern inzwischen auch in die der Muttersprache eigenen Lautkontraste eingehört und lernt sie schließlich stimmlich zu bewältigen.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 57) Das Kind gibt in dieser Phase keine Laute mehr von sich, die nicht zum Repertoire der Mutterspra- che gehören. Das Kind ist also fortan stimmlich in der Lage, die ersten Wörter zu bilden.

Dementsprechend stellt Grimm fest, daß zwischen dem 10. und 14. Lebensmonat „die phonologische Entwicklung in die Produktion der ersten Wörter“ (Grimm, 1998, S. 714) übergeht. Das bedeutet aber nicht, daß die Kinder schlagartig mit dem Lallen aufhörten und nur noch in Worten sprechen. „Wenn etwas Neues beginnt, heißt das nicht, daß damit das Alte abgelegt ist. So führt Lindners Sohn noch Selbstgespräche mit sinnlosen Silben im Alter von 1 ½, als er schon sein erstes selbständiges Wort gesprochen hat.“ (Butz- kamm/Butzkamm, 1999, S. 58)

Neben dem Lallen werden aber auch neue Wörter produziert. Eine wichtige Grenze wird dann um den 18. Lebensmonat erreicht. Die Kinder „erreichen die magische 50-Wörter- Marke. Von jetzt an lernen sie neue Wörter sehr viel schneller als zuvor, so daß nur wenige Monate später ihr Wortschatz schon um die 200 produktive Wörter umfaßt.“ (Grimm, 1998, S. 715)

Im Alter von ungefähr sechs Jahren ist das Kind normalerweise stimmlich in der Lage, alle Worte der Muttersprache korrekt auszusprechen. Damit ist eine wichtige Voraussetzung für das schulische Lernen gegeben.

4.2.2. Schritt 2: Die lexikalische Entwicklung

„Die Bühne ist frei für den Auftritt der ersten Wörter, wenn Eltern charakteristische Dop- pelsilben aus den Lallprodukten aufgreifen und sie als Wortkerne benutzen, mit denen man auf etwas verweist.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 66)

Aus dem Verweisen, bzw. dem gemeinsamen Zeigen auf ein Drittes hin erwächst das Be- nennen der Dinge, so daß die Welt Wort werden kann. Es ist bezeichnend, daß sich die Zeigegeste nur beim Menschen findet. Das deutet darauf hin, daß das Zeigen komplizierter ist als zunächst vermutet werden könnte. „Ein drei Monate altes Baby lächelt uns an; ein sechs Monate altes greift nach einem Spielzeug. Erst einem neun Monate alten Baby ge- lingt es, beide Reaktionen miteinander zu koordinieren. Zwei sind einverstanden im Hin- blick auf ein Drittes - für viele Forscher der zweite Meilenstein der Entwicklung neben dem Silbenplappern.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 66 f.) Spracherwerb oder Sprach- lernen scheint also noch wesentlich mehr als ein ausschließlich kognitiver Prozess zu sein. In dem Alter, in dem der Sprechapparat des Kindes soweit entwickelt ist, daß Laute bzw. Silben der Muttersprache gebildet werden können, ist das Kind auch in der Lage, mit dem Blick der Zeigegeste der Mutter oder einer anderen Person zu folgen. Demzufolge benötigt der Sprachtrieb des Kindes auch dieses - meist elterliche - Hinweisen und Benennen. „Erst die Konvergenz - das Zusammenspiel - ermöglicht den Erwerb der Sprache.“ (Butz- kamm/Butzkamm, 1999, S. 70)

Die ersten Wörter des Kindes können also verstanden werden als Zuordnungen von Laut- sequenzen zu Dingen oder auch Handlungen. Nicht immer entstammen diese Wörter der Erwachsenensprache. „Wauwau“ist als Doppelsilbe für das Kind leichter zu bilden als das Wort „Hund“. Auch kann ein Wort zunächst die Funktion eines ganzen Satzes überneh- men - in diesem Zusammenhang wird dann von Einwortsätzen gesprochen. „Die ersten Wörter des Kindes sind jeweils Einwortäußerungen, die man in Kenntnis der Situation in vollständige Sätze verwandeln kann: „Ba“ist einmal ein Wunschsatz: Ich möchte meinen Ball haben, und ein anderes Mal ein eine zufriedene Feststellung: Jetzt hab ich meinen Ball.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 77) Das Kind ist also auch hier wieder auf seinen Ansprechpartner verwiesen, der aus der kindlichen Einwortäußerung den vom Kind ge- meinten Satz bildet. Eltern können der Intonation der kindlichen Äußerung sehr schnell entnehmen, ob es sich um einen Wunsch, eine Frage, eine Feststellung o.ä. handelt. Auch werden die ersten Wörter anfangs unüblich verwendet. So kann auch ein Luftballon oder ein Globus zunächst als „Ba“bezeichnet werden. Wenn ein Kind alle Vierbeiner zunächst mit „Wauwau“bzw. „Hund“oder alle Farben mit „rot“benennt, wird von Übergenerali- sierung gesprochen. In diesem Fall „wenden sie ein einziges Wort auf Objekte und Ereig- nisse an, für die wir jeweils eigene Bezeichnungen haben.“ (Grimm, 1998, S. 719)

Seltener ist der entgegengesetzte Fall der Überdiskriminierung. Auch hier liegt eine Bedeu- tungszuweisung vor, die nicht der Muttersprache entspricht. So wird beispielsweise das Wort „Ente“nur mit der Plastikente in der Badewanne in Zusammenhang gebracht und nicht mit der lebenden Ente draußen auf dem Teich. Der Bedeutungsumfang des Wortes „Ente“wird in diesem Beispiel eingeengt. „Übergeneralisierungen und Überdiskriminatio- nen werden dann nicht mehr vorgenommen, wenn das Kind die hierarchische Organisation des jeweiligen semantischen Wortfeldes und damit verbunden erkannt hat, daß die gleiche Sache mit unterschiedlichen Wörtern bezeichnet werden kann.“ (Grimm, 1998, S. 720) Je mehr Worte das Kind also lernt, um so mehr gleicht sich die kindliche Wortbedeutung der allgemeinen Bedeutungszuweisung an.

Es wurde bereits gesagt, daß das Kind, wenn es die 50-Wort-Grenze erreicht hat, sehr schnell neue Wörter dazu lernt. In der Regel wird diese Grenze zwischen dem 18. und dem 24. Lebensmonat erreicht. Das rasche Wortlernen ab dieser Phase ist auch mit der erhöhten Mobilität des Kindes zu erklären. Normalerweise kann es in diesem Alter laufen und somit die Welt deutlich aktiver und umfassender erfahren als z.B. im Bett liegend. Eine weitere Erklärung ist die „Fragewut“, die die Kinder ab dem zweiten Lebensjahr zeigen. „Kinder lernen aber nur fragen, weil ihre Eltern, sie zuvor gefragt haben, zuerst mit Blicken, dann mit Blicken und Wörtern, und schließlich mit Wörtern allein. Die ersten Fragen waren kei- ne echten Fragen, sondern Fragespiele, von den Eltern initiiert. Am Ende verfügen deut- sche Schulanfänger - nach Messungen aus den siebziger Jahren - über einen Aktivwort- schatz von 5.000 Wörtern, können aber fünfmal so viele Wörter verstehen.“ (Butz- kamm/Butzkamm, 1999, S. 86)

Im Alter zwischen zwei und sechs Jahren lernt das Kind nach diesen Zahlen also täglich ungefähr elf neue Wörter hinzu. „Eine intensiv belehrende Umwelt kann dafür nicht ver- antwortlich sein, da die Benennungsspiele in der Eltern-Kind-Interaktion gewöhnlich stark abnehmen, wenn das Kind sein 2. Lebensjahr überschritten hat. Die primäre „Ursache liegt vielmehr im Kind selbst, das in der Lage ist, auf der Grundlage nur geringer Erfahrungen mit einem Wort eine schnelle Zuordnung zwischen diesem und einer, wenn auch unvoll- ständigen Bedeutung vorzunehmen.“ (Grimm, 1998, S. 720)

Das bedeutet, daß Kinder über Lernmechanismen verfügen müssen, die ihnen beim Wort- erwerb helfen. Denn mit einem Wort ist immer ein zugrunde liegendes Konzept verbun- den, solange es kein Kunstwort ist. Dieses Konzept, der Bedeutungsgehalt des Wortes, muß beim Wortlernen wenigstens ansatzweise erkannt werden. Wenn z.B. Mutter und Kind eine Katze laufen sehen und die Mutter hinweisend das Wort „Katze“ausspricht, muß das Kind nicht nur wissen, daß die Katze gemeint ist und nicht etwa die Maus im Maul der Katze oder gar die Farbe ihres Fells usw.. Das Kind muß zudem noch das Kon- zept Katze begreifen, das ungefähr so aussehen könnte: vierbeinig, ca. 30cm groß, ein kleiner Kopf, schleichender Gang usw.. Es ist das Konzept, das die Katze einzigartig macht, so daß der Mensch sie mit einem eigenen Wort benennt. Das schnelle Wortlernen des Kindes widerspricht der Vermutung, daß das Kind das Wort erst dann verwendet, wenn es das Konzept vollständig beherrscht.

„Das Problem, daß zahlreiche unterschiedliche Bedeutungen mit einem Wort verbunden sein können, wird in der Literatur als Induktionsproblem bezeichnet. Markman und ihre Mitarbeiter [...] lösen dieses Problem so, daß sie annehmen, daß die Kinder beim Wortler- nen von ,Constraints’ (Beschränkungen) geleitet werden, durch die die zahlreichen Bedeu- tungsmöglichkeiten auf ganz wenige beschränkt werden.“ (Grimm, 1998, S. 721)

Die wichtigsten Constraints sind die Ganzheits-, die Taxonomie- und die Disjunktionsan- nahme. Die Ganzheitsannahme besagt, daß das Kind das neu präsentierte Wort auf ein ganzes Objekt bezieht und nicht auf Teile oder Eigenschaften dieses Objekts. Im Beispiel mit der Katze hieße das, daß das Wort Katze nicht auf den Schwanz der Katze, ihre Fell- farbe usw. bezogen wird, sondern eben auf die Katze.

Die Taxonomieannahme vermutet, daß vom Kind zwischen zwei Objekten zunächst kate- goriale und nicht thematische Beziehungen gesucht werden. Im Beispiel bedeutete dies, daß Kinder, wenn sie in einem Versuch aufgefordert würden, einem Katzenbild aus der Auswahl dreier namentlich unbekannter Bildern (z.B. Bär, Dose Katzenfutter, Hammer) ein verwandtes zuzuordnen, den Bären wählen würden und nicht das thematisch enger mit der Katze zusammenhängende Bild mit der Dose Katzenfutter.

„Da in nachfolgenden Untersuchungen gezeigt werden konnte, daß schon 18-24 Monate alte Kinder vergleichbare Ergebnisse erzielen, ist es gerechtfertigt, davon auszugehen, daß die Ganzheits- und Taxonomie-Annahme als Ausgangsconstraints für das schnelle Wort- lernen entwicklungswirksam sind.“ (Grimm, 1998, S. 722)

Wenn das Kind aber ausschließlich mit diesen beiden Constraints Wörter lernen würde, dann wären für das Kind Objekteigenschaften und -teile nur sehr schwer zu erwerben. An dieser Stelle greift die Disjunktionsannahme. Sie geht davon aus, daß das Kind sehr schnell erfaßt, daß jedes Objekt in der Regel nur eine Bezeichnung hat. Wenn die Kinder dann einen unbekannten Namen im Zusammenhang mit einem bekannten Objekt hören, so wis- sen sie, daß dieser Name sich nicht auf das ganze Objekt bezieht.

Anhand dieser Constraints läßt sich durchaus plausibel die schnelle Zuordnung von Name (Nomen) zu einem Objekt und auch die von Eigenschaftswörten (Adjektiven) zu Objektei- genschaften erklären. Es ist bislang jedoch noch nicht geklärt, woher die Constraints kom- men: „Stellen sie das Ergebnis von Spracherfahrungen das oder sind sie angeboren und Teil eines biologisch determinierten Spracherwerbsmechanis-mus?“ (Grimm, 1998, S. 724) Auch läßt sich mit ihnen nicht der schnelle Erwerb von Verben und Adverbien erklä- ren. Eine Schwierigkeit beim Lernen von Verben liegt sicher darin, daß zu einem Ereignis oftmals zwei mögliche Annahmen geben kann. „Jagen“kann vom Kind im situativen Kontext auch als „fliehen“verstanden. Insofern drängt sich die Vermutung auf, daß die inhaltliche Bedeutung vieler Verben über den Satzrahmen erlernt wird: „Die Katze jagt die Maus“, macht im Gegensatz zur Einwortäußerung „Jagen“die unterschiedliche Bedeu- tung beider Verben deutlich. So darf man „die Wirksamkeit eines syntaktischen Constraints in dem Sinne annehmen, daß die Kinder für die Unterscheidung von Verbbedeutungen Satzrahmen benutzen, in denen diese Verben vorkommen können. Dabei spielt die sog. Wertigkeit von Verben eine wichtige Rolle, d.h. die Anzahl der Argumente, die ein Verb verlangt.“ (Grimm, 1998, S. 724) „Jagen“benötigt z.B. zwei Argumente, Jäger und Gejagtes, während „schenken“drei Argumente, Geber, Empfänger und Geschenk, verlangt.

Die Annahme dieses syntaktischen Constraints für das schnelle Lernen von Verben deutet daraufhin, daß viele Verben erst im Anschluß an die Einwortäußerungen gelernt werden. Es gibt aber auch Verben wie z.B. „trinken“, die das Kind in einem Einwortsatz als Wunsch äußern kann und somit auch ohne den helfenden Satzrahmen erlernen kann.

4.2.3. Schritt 3: Von den Wörtern zur Satzproduktion

Der Beginn einer produktiven Grammatik ist dann anzusetzen, wenn Kinder erstmals Wortkombinationen bilden. Dies fällt mit dem Wortschatzspurt ab etwa dem 18. Lebens- monat zusammen, womit das Erreichen der 50-Wörter-Grenze gemeint ist. Bereits vor die- sem Zeitpunkt können Kinder grundlegende Aspekte der Grammatik verstehen und zum Beispiel die Wortordnung für die Interpretation von Sätzen nutzen. Es stellt sich also die Frage, wie die Grammatik eines 2-jährigen Kindes aussieht.

Als allgemein gültige Beobachtung läßt sich festhalten, daß die kindlichen Äußerungen zwar regelhaft strukturiert sind, die Kinder sich aber der Regeln, denen sie folgen, nicht bewußt sind. Zwei- und Dreiwort-Äußerungen stellen dabei die ersten Wortkombinationen dar. Beispiele für Zwei- und Dreiwort-Äußerungen sind„Wauwau bellt, Tür auf, Balla Schoß, Papa Hut, Mama Arm, da ein Schönes, Meike Bank auch, mehr Saft, ...“

An der frühen Grammatik der Kinder lassen sich drei Hauptcharakteristika festmachen:

- Telegraphische Sprache (nach Brown, 1973)

Kinder lassen bei ihren ersten Wortkombinationen systematisch bestimmte Satzele- mente aus (zum Beispiel Artikel, Hilfsverben, Konjunktionen, Präpositionen,... ). Eine eindeutige Interpretation der Äußerungen ist nur vor dem Hintergrund der Gesamtsitua- tion möglich. Kontextlos sind die Äußerungen immer mehrdeutig. Die Mutter nimmt ständige Interpretationen vor, indem sie die Äußerungen des Kindes in grammatisch vollständiger Form wiederholt (vgl. Grimm, 1998, S. 726 f.).

Beispiel 1:(bei geöffneter Tür)

Kind:„Tür auf!“

Mutter:„Ja, die Tür ist auf.“

Beispiel 2:(bei geöffneter Tür)

Kind:„Tür zu!“

Mutter:„Soll ich die Tür schließen?“

- Bedeutungsrelationen

Kinder weisen bestimmten Sachverhalten mit ihren Äußerungen unterschiedliche Be- deutungen zu.

Beispiele: Wauwau bellt“(Handelnder- Handlung)

„Tür auf“(Handlung- Objekt)

„Papa Hut“(Besitzer- Besitz)

Kinder sprechen über Dinge, die in ihrem unmittelbaren Interesse liegen und wozu sie kognitiv in der Lage sind. Mit der beginnende Lösung der Sprache von der aktuellen Handlungssituation beziehen sich die kindlichen Äußerungen berichtend auf Vergan- genes (vgl. Grimm, 1998, S. 727).

- Wortordnung

Bereits bei den ersten produktiven Zwei- und Dreiwort-Äußerungen halten Kinder ganz bestimmte Wortordnungen ein.

Beispiele: „Mama Tür auf (machen)“

„Papa Auto fahren“

Unflektierte Verbformen stehen zunächst am Satzende. Sobald Kinder jedoch die ers- ten Regelmäßigkeiten in der Veränderbarkeit der Wortformen erworben haben, wird das Verb in die zweite Position gerückt, so daß die Subjekt-Verb-Objekt - Ordnung be- folgt wird.

Beispiele: „Mama macht Tür auf“

„Papa fährt Auto“

Schnell erlernen Kinder dann auch variable Wortordnungen die es ihnen ermöglichen, Fragen und Aufforderungen korrekt zu äußern (vgl. Grimm, 1998, S. 727 f.).

- Weitere schnelle Entwicklungsschritte
- Im Alter von etwa 2,5 Jahren produzieren Kinder bereits Sätze mit mehreren Phra- sen (Zwei- und Dreiwort-Äußerungen).
- Etwa 4-jährige Kinder bewältigen bereits die hauptsächlichen Satzkonstruktionen ihrer Muttersprache.
- Nach dem 5. Lebensjahr tritt ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt ein: Die sprachliche Darbietung bereits eingeführter sprachlicher Formen Sprachwissen zu einem Wissen einher, das Sprachprozesse be verändert sich, d.h. die Gebrauchsmöglichkeiten der Wörter verändern sich. Damit geht eine Ent- wicklung von einem eher intuitivenwußt regelt.

- Etwa zwischen dem 5. und 8. Lebensjahr erwerben Kinder eine „metalinguistische Bewußtheit von Sprachkategorien und –regularitäten“, d.h. die Kinder werden sich der Regeln bewußt, nach denen sie ihre Sprachprozesse gestalten. Dies stellt eine wichtige Voraussetzung für die Prozesse des Lesens und Schreibens dar. Die Erfah- rungen, die zu diesem Bewußtsein führen, sind für das schulische Lernen von be- sonderer Bedeutung (vgl. Grimm, 1998, S. 728 ff.).

4.3. Das Kind als kompetenter Sprecher

Bei der Betrachtung der Sprachentwicklung ist die Frage von großer Bedeutung, wie das Kind zu einem kompetenten Kommunikationspartner wird? Aufschlüsse darüber lassen sich u.a. aus der Fähigkeit zu konkreten Sprechhandlungen sowie zu anaphorischen Aus- drücken ziehen.

Hoff-Ginsberg(1993) unterteilt die Entwicklung, die das Kind vom Zeitpunkt erster Kommunikation bis zum Sprachgebrauch durchläuft, in 3 Hauptphasen:

- Zwischen dem 8. und 10. Lebensmonat beginnt das Kind mittels Gesten, Blicken, Ge- räuschen u.ä. zu kommunizieren. Ab dem 11. Lebensmonat beginnt es, die Zeige-Geste systematisch für Kommunikationszwecke einzusetzen.
- Etwa zwischen dem 16. und 22. Lebensmonat verleiht das Kind jenen Absichten sprachlichen Ausdruck, die sich direkt auf die jeweilige Kommunikationssituation be- ziehen, d.h. es ist in der Lage, die „Gegenstände“ der Kommunikation sprachlich zu benennen (zum Beispiel „da, Mama, Papa, Wauwau, Ball,...“).
- Ab dem 2. Lebensjahr nimmt die Länge der Konversationseinheiten zu. Etwa 30 Mona- te alte Kinder können dann ca. 20 zusammenhängende Äußerungen produzieren (vgl. Grimm, 1998, S. 732).

Sprechhandlungen

Mit Hilfe spezieller Untersuchungsmethoden lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die Auf- schluß über die bei Kindern vorhandene Fähigkeit konkreter Sprechhandlungen (vgl. Grimm, 1975) geben. Dazu soll untersucht werden, inwieweit es 5- bzw. 7-jährigen Kin- dern gelingt, einen Kommunikationspartner um etwas zu bitten oder ihm etwas zu befeh- len, ihm etwas zu erlauben oder zu untersagen und ihm etwas zu versprechen.

Den Kindern wurden kurze Geschichten erzählt, die sie zu den oben unterschiedenen Sprechhandlungen veranlassen sollten. Ihr Kommunikationspartner war Felix, eine große Puppe, die – mit der Stimme des Versuchsleiters – den Kindern in immer gleicher Weise ablehnend antwortete. Die ablehnende Haltung steigerte sich systematisch von der ersten bis zur dritten Reaktion. Auf diese Weise wurden die Kinder dazu gebracht, jeweils vier Versionen derselben Sprechhandlung zu produzieren.

Um die Kinder dazu zu bringen, Felix zu etwas aufzufordern (Bitte, Befehl), wurden ihnen u.a. die folgende Geschichte vorgegeben: „Du bist mit Felix auf einem großen Spielplatz. Er sitzt auf der Schaukel, und du bist auf der Rutschbahn. Jetzt möchtest du, daß der Felix dich auch mal schaukeln läßt. Was sagst du zu Felix?“

Eine Geschichte, die ein Verbot hervorrufen sollte, lautete: „Du willst einen Besuch ma- chen und hast deine besten Sachen angezogen. Felix schmiert gerade überall mit Farbe ´rum und versucht, dich auch zu bemalen. Du willst nicht, daß er dich anmalt. Was sagst du zu Felix?“ (vgl. Grimm, 1975)

Als Beispiel für einen typischen Aufforderungs-Ablehnungs-Dialog steht folgendes Ge- spräch:

Kind: „Felix, läßt du mich auch einmal schaukeln, bitte?“

Felix: „Ich laß´ dich nicht schaukeln.“

Kind: „Dann kannst du doch von der Rutschbahn rutschen.“

Felix: „Ich laß´ dich doch nicht schaukeln.“

Kind:„Ich möchte auch mal schaukeln, nicht nur immer du!“Felix: „Ich laß´ dich doch noch immer nicht schaukeln.“Kind: „Aber du mußt!“

(Grimm, 1998, S. 733)

Die Ergebnisse dieser Untersuchungsmethode weisen Unterschiede zwischen direktiven Sprechhandlungen und Sprechhandlungen des Versprechens auf. So fällt es 5-jährigen Kindern besonders schwer, eine Erlaubnis sprachlich auszudrücken, während sie bereits recht gut befehlen können. Ein Versprechen zu äußern fällt allen Kindern dieser Altersstu- fe (5 – 7 Jahre) äußerst schwer. Von den 7-Jährigen wurden lediglich 57% der Äußerungen (55% bei den 5-Jährigen) deutlich als Versprechen formuliert.

Die Gründe für diese Ergebnisse können in den grundsätzlichen Unterschieden der ver- schiedenen Sprechhandlungen gesehen werden.

So kann ein Sprecher vom Hörer erwarten, daß dieser seiner Aufforderung (Bitte, Befehl, Erlaubnis oder Verbot) nachkommt. Umgekehrt geht der Sprecher mit der Äußerung eines Versprechens eine Verpflichtung ein, die er selbst erfüllen muß. Dies fällt offensichtlich schwieriger, als von einem anderen etwas zu verlangen oder ihm etwas zuzugestehen. In Bezug auf diese Untersuchungsmethode stellen Clark & Clark (1977) fest, daß die Fähig- keit, Sprechhandlungen zu äußern, bei denen der Sprecher eine Verpflichtung eingeht, im allgemeinen später erworben wird als jene, bei denen der Zuhörer in die Pflicht genommen wird.

Die Ergebnisse der Untersuchungsmethode geben Aufschluß über die unterschiedliche Verwendung direkter und indirekter Sprechhandlungen in Abhängigkeit von der jeweiligen sprachlichen Absicht. Dabei lassen sich wiederum Unterschiede zwischen den 5- und 7- jährigen Kindern feststellen.

5- Jährige neigen dazu, eine Bitte eher indirekt zu formulieren, z.B. „Warum läßt du mich nicht schaukeln?“ Zur Formulierung eines Verbots oder einer Erlaubnis bedienen sie sich jedoch eher der direkten Form, z.B. „Du mußt mich nicht bemalen!“

Im Gegensatz dazu verwenden 7-Jährige häufig auch für diese Sprechhandlung die indi- rekte Formulierungsweise, wie z.B. „Es wäre mir lieber, wenn du mich nicht bemalen würdest.“ (Vgl. Grimm, 1998, S. 733 f.)

Anaphorische (rückverweisende) Ausdrücke

Etwa zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr erwerben Kinder die Fähigkeit, alte und neue Informationen sprachlich voneinander abzugrenzen sowie anaphorische, d.h. rückverwei- sende Bezüge herzustellen.

Diese Erkenntnis stützt sich im wesentlichen auf das Verstehensexperiment (nachTyler u.a., 1983), das an dieser Stelle in seiner sinngemäßen Übersetzung ins Deutsche darge- stellt ist (vgl. Grimm, 1998, S. 734).

Beispiel 1:

„Mutter sah den Briefträger schon von ferne kommen.“(Satz 1)

„Mutter brachte einen Brief von Onkel Charles, der ...“(Satz 2)

Beispiel 2:

„Seit Jahren kam die Prinzessin den alten Hirten besuchen.“(Satz 1)

„Sie bewachte die Schafe sehr genau und ...“(Satz 2)

Beispiel 1 und Beispiel 2 nennen im ersten Satz jeweils mögliche Empfänger für ein in Satz 2 folgendes Pronomen. Beiden Beispielen fehlt eine klare Markierung eines thema- tisch eindeutigen Subjekts.

Sowohl Beispiel 1 als auch Beispiel 2 sind im rückverweisenden Bezug unlogisch, d.h. der Bezug von Satz 2 zu Satz 1 ergibt keinen Sinn.

Während in Beispiel 1 das Subjekt („Mutter“) in beiden Sätzen wiederholt wird, wird es in Beispiel 2 im zweiten Satz durch ein Personalpronomen („Sie“) ersetzt.

Bei der Durchführung des Verstehensexperimentes stellte sich heraus, daß Beispiel 1 von 5- wie von 7-jährigen Kindern gleichermaßen als unlogisch angesehen wurde. Beispiel 2 jedoch, in dem das Subjekt durch ein entsprechendes Personalpronomen ersetzt wurde, konnte von 5-Jährigen nicht als unlogisch identifiziert werden.

Als Ergebnis dieses Experimentes läßt sich festhalten, daß Kinder im Alter von 5 Jahren noch keine Rückbezüge herstellen können und aus diesem Grund auch noch nicht über eine entsprechende produktive Kompetenz verfügen.

5. Sprachentwicklung – Veranlagung oder Umwelteinfluß ? Gedanken zur Anlage-Umwelt-Diskussion

Die Frage, ob die Sprache angeboren ist oder ob der Mensch sie von Grund auf lernen muß, wird in der Forschung heute mit einem „Sowohl-als-auch“ beantwortet. Beide Fakto- ren, die genetische Veranlagung des Menschen für Sprache wie auch das sprachliche An- gebot der Umwelt, müssen für einen erfolgreichen Spracherwerbsprozeß gegeben sein.

„Die inneren Voraussetzungen des Kindes und die äußeren Umweltfaktoren müssen in optimaler Weise im Sinne einer gelungenen Passung zusammenwirken.“ (Grimm, 1998, S. 735)

Darüber, wie diese optimale Passung auszusehen hat, gibt es in der Entwicklungspsycho- logie allerdings noch Uneinigkeit. Ernsthaft werden zwar wohl kaum mehr Extrempositio- nen vertreten, dennoch kann man den Forschungsstand in zwei große Theoriefamilien zu- sammenfassen. „Bei den ,outside-in’-Theorien werden angeborene sprachspezifische Vor- aussetzungen nicht angenommen (z.B. Piaget, 1972, orig. 1923), oder minimiert (z.B. Ba- tes et al., 1988), wohingegen bei den ,inside-out’-Theorien angeborenes Sprachwissen in jedem Fall eine Rolle spielt (z.B. Chomsky, 1982; Felix 1984; Karmiloff-Smith, 1992).“ (Grimm, 1998, S. 736)

Wie an späterer Stelle auch derFall des Mädchens Genie(Kapitel 6.3.) verdeutlichen wird, sind wir also offensichtlich genetisch auf den Spracherwerb vorbereitet. Darauf weisen auch die - bereits genannten - zeitlich parallel verlaufenden Entwicklungen im Menschen hin, die nicht vorrangig sprachspezifisch sind. Kurz nachdem das Kind die Zeigegeste be- herrscht, ist es in der Lage zu benennen. Und auch der Zusammenhang zwischen der Be- nenungsexplosion und der Fähigkeit zu laufen ist offensichtlich. Piaget neigte daher sogar zu der Ansicht, „daß die Sprachentwicklung direkt aus dem Handlungswissen der durch- laufenen sechsstufigen senso-motorischen Entwicklung resultiert.“ (Piaget, 1972) Nicht nur derFall Geniehat aber gezeigt, daß es primär sprachspezifische genetische Vorausset- zungen geben muß, die dem Kind das Sprechenlernen erst ermöglichen.

„Die gesellschaftspolitisch relevante Frage ist die nach den genetischen und organischen Einschränkungen der Lehrbarkeit.“ (Butzkamm/Butzkamm, 1999, S. 299) Diese Frage ist gerade auch für Eltern und Erzieher von größtem Interesse. Zwar sprechen gerade Eltern intuitiv wohl zumeist richtig mit ihren Kindern. Wie Kinder geborene Sprachlerner sind,

sind Eltern die geborenen Lehrer. Dennoch kann die Sprachentwicklungsforschung den Prozeß des kindlichen Sprachlernens hilfreich unterstützen, indem sie z.B. unterstützende und gezielte Lernangebote bereitstellt und empfiehlt. Sie kann und sollte helfen, die sprachliche Entwicklung des Kindes bestmöglich zu unterstützen, gerade auch wenn das Kind erblich oder organisch bedingt nur zu Minderleistungen in der Lage ist.

6. Erfolgreicher Spracherwerb – Voraussetzungen und Bedingungen

Vorab sollte man sich bei diesem Thema mit folgenden Teilfragen auseinandersetzen:

- In welcher Weise ist das Kind kognitiv für den Spracherwerb vorbereitet?

- Welche Rolle wird der sozialen Umwelt zugeschrieben?

Stellt diese über die Herstellung kommunikativer Muster im Prozeß der sozialen Inter- aktion lediglich den Motor für die Sprachaneignung durch das Kind dar? Erläuternd gesagt, lernt das Kind sprechen, weil es kommunizieren will? Oder nimmt die soziale Umwelt auch eine spezifisch Sprachdaten.-liefernde und Sprach-lehrende Funktion wahr? Also, vermittelt die soziale Umwelt Sprache?

- Beruht die Möglichkeit zu dieser Nutzung auf generellen Lernprinzipien, wie zum Bei- spiel der Konditionierung, oder sind auch bereichsspezifische Erwerbsmechanismen (genetische Veranlagungen) anzunehmen?

6.1. Sprachunspezifische kognitive Voraussetzungen

Die sprachunspezifischen kognitiven Voraussetzungen beziehen sich nicht ausschließlich auf die Sprache des Kindes, sondern gehen über diese hinaus. Es handelt sich hierbei dar- um, wozu ein gesundes Kind generell in der Lage ist.

Drei kognitive Voraussetzungen für den Spracherwerb

- Senso-motorische Entwicklung:

Beispiel:ein normales Kind kann mit zwölf Monaten laufen, greifen, etc.. Damit ver- bunden ist es auf einem bestimmten sprachlichen Stand.

- Strukturen, die sprachunspezifisch und damit allgemeiner Natur sind, das heißt, der kognitive Wissensstand, entwickeln sich mit dem Kind.
- Der Erwerb und Gebrauch von Wörtern ist durch vorsprachliche Gesten vorbereitet.

Die Kognitionshypothese Piagets

PiagetsAnsicht sagt aus, daß die Sprachentwicklung aus dem Handlungswissen der durch- laufenen sechsstufigen senso-motorischen Entwicklung resultiert. Damit meint er, daß sprachliche Entwicklungen und andere Entwicklungen parallel ablaufen.

Der Säugling ist ausgestattet mit wenigen Reflexen und Wahrnehmungsfähigkeiten sowie den drei bereichsspezifischen Prozessen der

- Assimilation = Umwelt an das eigene Wissen anpassen (Beispiel: Das Kind kennt das Wort „Kuh“. Es verbindet mit diesem Wort vier Beine. Aus diesem Grund bezeichnet es den Hund auch mit dem Wort „Kuh“).
- Akkomodation = das Wissen an die Umwelterfahrungen anpassen (Beispiel: Für den Hund ein neues Wort suchen. Dazu gehören auch Kunstwörter wie „Wauwau“).
- Äquilibration = Ziel der Assimilation oder der Akkomodation. Das Kind versucht durch Assimilation oder Akkomodation eine Lösung zu finden.

In den ersten achtzehn Monaten bildet das Kind perzeptuell (aufnahmefähig)-motorische Schemata, wie zum Beispiel das Greifen, die in sprachliche Strukturen übergehen. Dem- nach entstehen im Spiel mit Objekten fürPiagetsprachliche Strukturen.

Dazu möchten wir folgende zwei Beispiele aufführen:

- Einen Gegenstand und eine Handlung zu unterscheiden, sind Vorläufer der Unterschei- dung von Gegenstand und Prädikat.
- Das Ineinanderschachteln von Kistchen ist die Voraussetzung für die Bildung von Ne- bensätzen.
Mit dieser Hypothese ist natürlich nicht jedermann einverstanden gewesen, so daß einige Argumente gegen die KognitionshypothesePiagetsgenannt wurden:
- Im Gegensatz zur KognitionshypothesePiagetsbeherrschen Kinder zuerst ein Struk- turwissen in der Sprache. Hinzu kommt dann später das Denken.
- Man kann die Begründung nicht auf die allgemeine senso-motorische Aktivität setzen. Wäre dem so, so müßte unverständlich bleiben, warum Schimpansen unsere Sprache nicht einmal ein wenig erlernen können. Andererseits könnte man auch nicht erklären, wie gelähmte Kinder ohne die Beherrschung von Handlungsschemata zur Sprache ge- langen.
- BeiPiagetwird überhaupt nicht erwähnt, warum Kinder auf die Idee kommen, Sprache zu erwerben. Auch der Gesichtspunkt bleibt im Sprachlernprozeß offen.

Sprachunspezifische Wissensstrukturen anderer Entwicklungstheoretiker

Anders alsPiagetgehen viele Entwicklungspsychologen davon aus, daß Säuglinge mit abstrakten Informationsverarbeitungsfähigkeiten ausgestattet sind, die ihnen zur Sprache verhelfen. Diese Fähigkeiten gehen über die Sprache hinaus und helfen unter anderem auch beim Regelerwerb.

Bruner(1985) sagt aus, daß Säuglinge von Beginn an aktiv Informationen verarbeiten und versuchen, diese Informationen zu ordnen. Dabei spielen die vier kognitiven Ausstattungen eine große Rolle. Diese möchten wir kurz vorstellen.

- Mittel-Ziel-Verknüpfung

Beispiel:Das Kind weint und die Mutter kommt demzufolge zum Kind.

- Transaktionalität: Die Mittel-Ziel-Verknüpfung wird vom Kind auf andere Situationen übertragen.

Beispiel: Das Kind weint im Bett und die Mutter geht zum Kind, um es in den Arm zu nehmen und zu trösten. Dieses nimmt das Kind wahr und weint auch in einer ande- ren Situation, wie zum Beispiel, wenn es auf dem Sofa liegt.

- Systematik: Das Kind wendet ‚weinen‘ systematisch an, wenn es seine Mutter in der Nähe wissen will.

- Abstraktheit: Das Kindweiß, wenn es weint, kommt die Mutter. Es setzt seine Hand- lung bewußt ein.

Mandler(1992) gibt Auskunft darüber, daß dem Säugling die Fähigkeit zur perzeptuellen Analyse (analysiert alles, was es an Informationen bekommt; nicht nur Sprachliches) ange- boren ist. Dies steht im Gegensatz zuPiagetsHypothese, in der der senso-motorische Zwi- schenschritt dazu notwendig ist.Mandlerdagegen ist der Meinung, daß dieser Zwischen- schritt nicht benötigt wird.

Von der Geste zur Sprache

Es gibt drei Arten von Gesten:

- Deiktische Gesten
- Referentielle Gesten
- Konventionalisierte Gesten
- Deiktische Gesten

Deiktische Gesten sind Gesten des Zeigens, Gebens und Hinweisens. Es handelt sich hierbei umProtoimperative(das Kind zeigt auf etwas, und der Erwachsene holt es dem Kind), wenn das Kind den Erwachsenen benutzt, um etwas zu erhalten. UmProto- deklarative(das Kind zeigt auf etwas, weil es den Namen wissen will, doch die Mutter weiß nicht, was genau das Kind will) handelt es sich, wenn das Kind ein Objekt be- nutzt, um die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen zu erlangen.

Diese Geste ist vorsymbolisch, was bedeutet, daß man nur aus dem Kontext erschlie- ßen kann, was gemeint ist,

- Referentielle Gesten

Diese Art von Gesten zeigen einen präzisen Referenten an (das Kind zeigt auf ein be- stimmtes Objekt und die erwachsene Person weiß sofort, was gemeint ist).

Diese Art von Gesten sind von symbolischer Qualität.

- Konventionalisierte Gesten

Konventionalisierte Gesten bestehen aus festgefügten Bedeutungs- Handlungszusammen-hängen wie das Ausdrücken des ‚Nein‘ durch Kopfschütteln oder das ‚Ja‘ durch nicken.

Erwähnenswert ist noch, daß davon ausgegangen werden kann, wenn ein Kind mehrere Gesten beherrscht, es auch später ein kompetenter Sprecher sein wird.

6.2. Sprachspezifische Voraussetzungen

Diese Voraussetzungen beziehen sich im Gegensatz zu den sprachspezifisch kognitiven Voraussetzungen ausschließlich auf Sprache. Sie werden in fünf wesentliche Punkte unter- teilt, die da wären:

- Das Zeitargument

Jedes normale Kind beginnt ungefähr zum gleichen Zeitpunkt mit dem Spracherwerb und benötigt etwa auch die gleiche Zeit, um die Sprache zu beherrschen.

- Der kompetente Säugling

Das Kind ist mit spezifisch linguistischen Veranlagungen ausgestattet, die es ihm er- lauben, die ‚Input-Sprache‘, also das, was von der sozialen Umwelt auf das Kind ein- prasselt, in besonders sprachspezifischer Weise zu verarbeiten und zu repräsentieren.

Außerdem stehen den Kindern bereits im vorsprachlichen Stadium rhythmisch- prosodische (Quantität der Silben) Gliederungshinweise zur Verfügung.

Nachgewiesen wurde jedoch nicht, ob der Prosodie eine spezifische Funktion beim Erwerb grammatischer Regeln zukommt. Es ist demnach nicht geklärt, ob das Kind durch Betonung (Intonation) die grammatische Struktur des Satzes zu erkennen lernt.

- Lateralisation

Dieser Punkt der sprachspezifischen Voraussetzungen bezieht sich auf die Entwicklung psychischer Funktionen der beiden Gehirnhemisphären. Dazu ist die weitverbreitete TheorieLennebergs(1967) zu erwähnen, die drei Kernannahmen enthält:

1. Die laterale Funktionsgliederung beginnt ab dem 20. Lebensmonat. Hier wird strukturiert, welche Teile des Gehirns welche Aufgaben übernehmen.
2. Die Lateralisation ist erst mit der Pubertät abgeschlossen.
3. In der Kindheit kann die rechte Hemisphäre bei aphasischer Schädigung, daß heißt bei Erkrankung des Sprechzentrum im Gehirn, der linken Hemisphäre die Sprach- funktion vollständig übernehmen.

Dies wird natürlich von einigen Forschern in Frage gestellt, worauf wir jedoch nicht weiter eingehen werden, da das zu weit führen würde.

- Spracherwerb gehörloser Kinder

Als weiteres Argument für die Annahme angeborener sprachspezifischer Vorausset- zungen kann hervorgebracht werden, daß der Erwerb der Zeichensprache analog zum Lautspracherwerb erfolgt. Dies möchten wir an einem Beispiel vonGleitmankurz dar- legen:

Sechs gehörlose Kinder wurden von ihren Eltern oral erzogen, das heißt, ihnen wurde das Lippen-Ablesen und das Vokalisieren beigebracht. Trotzdem entwickelten die Kin- der von sich aus ein informelles System kommunikativer Gesten. Es wurde herausge- funden, daß diese Kinder zum selben Zeitpunkt mit den Gesten begannen wie normale Kinder mit dem Produzieren erster Wörter.

Besonders interessant ist, daß sie beim Verbinden der Gesten sogar syntaktische Re- geln entwickelten.

- Dissoziationen

Dies ist die letzte sprachspezifische Voraussetzung, die besagt, daß Kinder, die unter Gedächtnisstörungen oder Halluzinationen leiden, trotz der gegebenen Umstände, Sprache erwerben können.

Die Dissoziation, wie beispielsweise bei den ‚idiots savants‘ lassen sich besser mit ei- ner bereichsspezifischen Entwicklungsperspektive vereinbaren. Bei ihnen ist nur ein Wissensbereich (wie zum Beispiel das Zeichen oder Klavierspielen) sehr gut ausge- prägt. Wie sollte eine solche Entwicklung auf der Grundlage eines bereichsunspezifi- schen Lernmechanismus möglich sein?

6.3. Soziale Voraussetzungen

Ein erfolgreicher Spracherwerb ist nicht zuletzt von den sozialen Beziehungen des Klein- kindes abhängig. Die Mutter als seine (in der Regel) primäre Bezugsperson spielt dabei die bedeutendste Rolle. Die emotionale Beziehung des Säuglings zur Mutter einerseits und die Anpassungsfähigkeit der Mutter an die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Säuglings ande- rerseits wirken sich entscheidend auf die Entwicklung der kindlichen Sprache aus.

Die Merkmale der mütterlichen Sprache sind optimal an die Fähigkeiten der Sprachwahr- nehmung des Säuglings angepaßt. Es lassen sich drei mütterliche Sprechstile unterschei- den, die sich auf ideale Weise am jeweiligen Altersstand des Kindes orientieren.

- „Baby-talk“ (Ammensprache)

Typische Merkmale des sog. „baby-talk“, der auch als Ammensprache bezeichnet wird, sind seine hohe Tonlage, eine übertriebene Satzmelodie, lange Pausen zwischen ein- zelnen Phrasen, die starke Betonung besonders wichtiger Wörter, die Verwendung von Diminutiven (Verkleinerungsformen), seine sehr deutliche Aussprache und die äußerst einfache Konstruktion seiner Sätze.

Durch den „baby-talk“ gelingt es der Mutter Situationen zu schaffen, die den Säugling Zusammenhänge zwischen seinem Verhalten und den mütterlichen Reaktionen erken- nen lassen (vgl. Grimm, 1998, S. 746).

- „Scaffolding“ (stützende Sprache)

Das Wesentliche des als „scaffolding“ bezeichneten stützenden Sprechstils liegt im Di- alog zwischen Mutter und Kind, über den die Mutter eine gemeinsame Erfahrungswelt erzeugt:

Die Mutter interpretiert das Verhalten des Säuglings und weist dessen Verhalten da- durch bestimmte Bedeutungen zu. Durch die Bedeutungszuweisung einzelner Hand- lungen erkennt der Säugling nach und nach verschiedene Konzepte und Regeln, die ihn die Personen- und Sachwelt um ihn herum erkennen lassen. Diese Erkenntnis stellt eine wichtige Basis für den Spracherwerb des Kleinkindes dar, da ihm Wörter als Mittel dienen, Bedeutungen und Intentionen auszudrücken.

In der intensiven Sprachlernphase bis zum 5. Lebensjahr spielen darüber hinaus Wie- derholungen eine außerordentlich wichtige Rolle, die sich zu Routinen verfestigen (vgl. Grimm, 1998, S. 746 f.).

- „Motherese“ (lehrende Sprache)

Aus Untersuchungsergebnissen kann man schließen, daß Kinder die Sprache der Mut- ter nicht nur imitieren, sondern daß sie sich die angebotenen Sprachformen nutzbar machen, indem sie sich aktiv damit auseinandersetzen. Die Mutter unterstützt diesen Prozeß, indem sie dem Kind bestätigende oder korrektive (zurechtweisende) Rückmel- dungen gibt.

Beispiel: Kind: „Meike Bank auch.“

Mutter:„Meike, möchtest du auch auf der Bank sitzen?“

Kind:„Auch Saft haben.“

Mutter:„Ja, du bekommst auch einen Saft.“

Die Mutter bestätigt durch ihre Aussage den Inhalt der kindlichen Äußerung und bietet dem Kind gleichzeitig ein korrigiertes Modell. Betrachtet man diese Art des Dialogs als gelungene Verständigung, so ist damit eine aus lerntheoretischer Sicht wesentliche Voraussetzung erfüllt, nämlich daß das Kind merkt, daß seine Äußerung nicht voll- ständig falsch war und unbrauchbar war.

Auf dieser Stufe der kindlichen Sprachentwicklung findet bereits eine ganzheitliche Verarbeitung des Sprachangebotes statt: Das Kind imitiert Gehörtes, übernimmt eini- ges davon als fertige, verfestigte Routine und nutzt diese Vorgaben, um sie ggf. zu ver-

ändern. Dieser Umgang mit Sprache bildet die Basis, auf der es dem Kind gelingt, die formalen Regularitäten des Sprachgebrauchs abzuleiten (vgl. Grimm, 1998, S. 747 f.).

Neben der Art des Sprechens spielt auch die Menge des Sprachangebots eine entschei- dende Rolle bei der Entwicklung der kindlichen Sprachfähigkeit.

Der Fall des Mädchens Genie

Das Mädchen Genie, geboren im April 1957, lebte vom vierten bis zum elften Lebensmo- nat wegen eines angeborenen Leidens mit einer geschienten Hüfte. Mit vierzehn Monaten erkrankte sie schwer. Von diesem Zeitpunkt an wurde Genie in einem winzigen Raum festgehalten; tagsüber und teilweise auch nachts auf einem Kinderstühlchen angebunden oder im Schlafsack in einem Kinderbett liegend, das mit einem Drahtnetz abgesichert war.

Die Mutter versorgte Genie mit dem Notwendigsten. Der Vater bestrafte Genie physisch, sobald sie Laute von sich gab. Er ließ weder Radio noch Fernsehen an das Mädchen drin- gen. Ob die Mutter zu Genie gesprochen hat, ist ungewiß. Der Vater und der Bruder des Mädchens redeten niemals mit ihr, bellten sie aber gelegentlich wie Hunde an.

Mit 13 Jahren wurde Genie befreit und machte den Eindruck einer total unterernährten 6- Jährigen. Sie konnte nicht aufrecht stehen, war nicht sauber und konnte auch nicht essen. Sie gab keinerlei Laute von sich, weinte und lachte nicht. (Vgl. Grimm, 1998, S. 750)

In der Folgezeit war zu beobachten, daß Genie schnell ein wachsendes Sprachverständnis zeigte. Sie begann sogar ohne ein spezielles Sprachtraining erste Wörter zu sprechen. Eine normale Sprache zu erlernen blieb für Genie jedoch Zeit ihres Lebens unmöglich. Zwi- schen ihrem Sprachverständnis und der Produktion von Sprache bestand eine große Dis- krepanz. Sie war nahezu unfähig, eigenständig Sätze zu bilden. Ihre Sprache war sehr ste- reotyp, bediente sich simpelster, monotoner Sprachmuster. Im Verhältnis zur sehr gering ausgebildeten Sprachfähigkeit insgesamt verfügte Genie über einen relativ großen Wort- schatz. Die Ursache für ihre unzureichende Sprachfähigkeit kann in der fehlenden Sprach- anregung in der kritischen Lernphase bis etwa zum 5. Lebensjahr gesehen werden.

Angesichts dieser Ursachenzuschreibung könnte sich die Frage stellen, ob Radio oder Fernsehen dem Mädchen Genie in dieser Phase hinsichtlich ihres Spracherwerbs genutzt

hätten? Aber auch ein gesteigertes Sprachangebot hätte ihr nicht weitergeholfen, da nicht ausschließlich die Menge des Sprachangebots über einen erfolgreichen Spracherwerb ent- scheidet, sondern das Sprachangebot, das im Dialog mit der Bezugsperson den kindlichen Bedürfnissen angepaßt ist, ist von ganz zentraler Bedeutung.

7. Unterschiede interindividueller Art

Als Ergebnis verschiedener Forschungen zum Spracherwerb bei Kindern läßt sich festhal- ten, daß nicht nur die Schnelligkeit des Spracherwerbs von Kind zu Kind verschieden ist, sondern daß sich dieser auch in der Qualität individuelle Unterschiede aufweist. Damit wird die „Universalitäts-Annahme“ widerlegt, nach deren Vorstellung der Prozeß des Spracherwerbs bei allen Kindern nahezu gleich verläuft.

Interindividuelle Unterschiede in der Sprachentwicklung lassen sich in Bezug auf

- das Geschlecht
- die Sozialschicht
- Zwillinge feststellen.

Sprachentwicklung bei Mädchen und Jungen

Über die geschlechterspezifischen Unterschiede kindlicher Sprachentwicklung liegen rela- tiv wenige gesicherte Erkenntnisse vor. Die Aussagen über den kindlichen Spracherwerb vor allem in der frühen Phase der Entwicklung sprechen allerdings dafür, daß Mädchen in dieser Hinsicht Vorteile gegenüber den Jungens haben.

Mädchen erlernen ihre ersten Wörter in der Regel schneller als Jungen und bauen ihren Wortschatz bis zum Alter von etwa 2 ½ Jahren auch schneller aus. Erst danach geht dieser Vorsprung allmählich verloren. Im Vorschulalter produzieren Mädchen längere Äußerun- gen als Jungen, bilden insgesamt variablere syntaktische Muster und machen weniger Feh- ler als die gleichaltrigen Jungen. Auch im Schulalter behält der Vorsprung der Mädchen gegenüber den Jungens Bestand. Sie sind schneller beim Lesen einzelner Wörter und bei Benennungsaufgaben. Sie bilden die Fähigkeit zur automatisierten Verarbeitung von Wör- tern etwa ein Jahr früher als Jungen. Die Leseleistungen der Mädchen erreichen Jungen erst etwa ab dem 3. Schuljahr.

Insgesamt gesehen liegt der entscheidende Vorteil der Mädchen gegenüber gleichaltrigen Jungens beim Erwerb der Sprache in ihrer Schnelligkeit. Weibliche Säuglinge steigen frü- her und schneller ins Sprachsystem ein, Mädchen im Vorschul- und Schulalter weisen eine insgesamt größere Wortproduktion und eine bessere Wortflüssigkeit auf. Dieser Vorsprung bleibt grundsätzlich bis ins Erwachsenenalter erhalten und wird aus alltagstheoretischer – nicht selten männlicher – Sicht als „typisch weibliche Geschwätzigkeit“ bezeichnet.

Die Ursachen für diese Ergebnisse liegen wahrscheinlich in biologischen, geschlechterspe- zifischen Eigenarten. Dafür spricht zunächst, daß sich der mütterliche Sprechstil bei weib- lichen und männlichen Säuglingen nicht unterscheidet. Neben dem früheren Spracherwerb steigen Mädchen auch schneller in das visuelle System ein, was auf eine generell früher einsetzende Entwicklung der Mädchen schließen läßt. Für eine biologisch begründete Er- klärung spricht außerdem die Tatsache, daß verschiedene Sprachaufgaben von Mädchen und Jungen in verschiedenen Gehirnlokationen verarbeitet werden (vgl. Grimm, 1998, S. 751 ff.).

Sprachentwicklung – eine soziale Frage ?

Die Frage, ob die kindliche Sprachentwicklung neben anderen Komponenten auch vom sozialen Status des Kindes und seiner unmittelbaren Umgebung beeinflußt wird, wurde vor allem in den 60er- und den frühen 70er-Jahren leidenschaftlich diskutiert. Dieser Diskussi- onsansatz ist untrennbar mit dem Namen Basil Bernstein verbunden, der die These vertrat, daß die Qualität des Sprachlernens durch den sozio-ökonomischen Status festgelegt sei und sich gravierend auf den schulischen Erfolg auswirke (vgl. Grimm, 1998, S. 753).

Die Unterscheidung zwischen einem restringierten (eingeschränkten) Sprachkode der Ar- beiterschicht („restricted code“) und einem elaborierten (ausgearbeiteten) Sprachkode der sozialen Mittelschicht („elaborated code“) wurde als sog. „Defizithypothese“ (1964) be- kannt. Nach ihr wären unterschiedliche Sprachkodes für unterschiedliche Denkmuster aus- schlaggebend, die sich wiederum auf unterschiedliche, überprüfbare Schulleistungen aus- wirken.

Der „Defizithypothese“ trat 1970 Labov mit der „Differenzhypothese“ gegenüber, nach der jeder Sprachkode innerhalb seines gegebenen Kontextes vergleichbare Funktionalität be- sitze. Die sich anschließende „Defizit-Differenz-Debatte“ verlor jedoch zunehmend das eigentliche Ziel aus den Augen und brachte hinsichtlich der ursprünglichen Fragestellung keine bedeutsamen Forschungsergebnisse.

Daß der Gedanke der Abhängigkeit kindlicher Sprachentwicklung vom sozialen Status nicht völlig abwegig ist, können verschiedene Untersuchungsergebnisse zeigen. So konnte festgestellt werden, daß Mütter der oberen Mittelschicht ihre Kinder mit mehr Informatio- nen über die Sprache versorgen und sie häufiger zur Sprachproduktion anregen als Mütter mit niedrigerem Bildungsniveau. Angesichts dieser Feststellung liegt die Vermutung zu- mindest nahe, daß das soziale Umfeld des Kindes unmittelbare Auswirkungen auf seine sprachliche und kognitive Entwicklung hat und sich damit auch langfristig auf dessen (schulisches) Leistungsniveau niederschlägt (vgl. Grimm, 1998, S. 753 ff.).

Sprachentwicklung bei Zwillingen

Eine nicht ganz alltägliche Situation ergibt sich aus dem gemeinsamen Aufwachsen von Zwillingen. Hinsichtlich der Betrachtung kindlicher Sprachentwicklung interessiert die Frage, ob die Zwillingssituation Auswirkungen auf den Spracherwerb hat. Wenn sie die Sprachentwicklung der Kinder beeinflußt, wäre zu klären, ob die Situation eine antreiben- de oder eine eher hemmende Wirkung mit sich bringt.

Anhand vorliegender Untersuchungsdaten kann die Annahme einer eher hemmenden Wir- kung der Zwillingssituation auf die Entwicklung des kindlichen Spracherwerbs unterstützt werden, die sich in folgenden sprachlichen Defiziten äußert:

- Zwillinge sprechen weniger als Einlinge
- Äußerungen von Zwillingen sind kürzer und einfacher als die von Einlingen
- Zwillinge beginnen später mit der Sprache und beherrschen diese langsamer
- Im Gegensatz zu Einlingen zeigen Zwillinge Ausspracheprobleme; sie bleiben in ihrem Sprachgebrauch konkreter und handlungsbezogener

Diese sprachlichen Defizite sind bei eineiigen Zwillingen in höherem Maße zu beobachten als bei zweieiigen Zwillingen.

Die Ursachen für die Sprachentwicklung von Zwillingen, die sich aufgrund der besonderen Situation eher negativ auf den Spracherwerb auswirkt, sind verschiedenen Faktoren zuzu- schreiben:

- Unter biologischen Gesichtspunkten spielt die Tatsache eine Rolle, daß Zwillinge ein geringeres pränatales Wachstum als Einlinge aufweisen und deshalb stärker von einer Entwicklungsstörung bedroht sind.
- Umweltfaktoren spielen in der Form eine Rolle, daß die Mutter als primäre Bezugsper- son ihre gesamte Aufmerksamkeit und ihre Sprechhandlungen auf zwei Kinder der gleichen Entwicklungsstufe verteilen muß.
- Und schließlich besteht zwischen den Zwillingen selbst eine besondere Kommunikati- onssituation. Sie neigen zu einer Abschottung gegenüber der Außenwelt. Eine gute non-verbale Verständigung der Zwillinge untereinander begünstigt die Entwicklung ei- ner Art Geheimsprache, die anderen Bezugspersonen verborgen bleibt (vgl. Grimm, 1998, S. 756 f.).

8. Fazit

Ziel des Referates, das die Arbeitsgruppe im Rahmen des Seminars zur Entwicklungspsy- chologie des Kindesalters gehalten hat, war die Verdeutlichung grundlegender Aspekte der Sprachentwicklung in den frühen Jahren der Kindheit. Die vorliegende Hausarbeit führt dieses Bestreben fort, indem es einzelne Diskussionspunkte vertiefend behandelt. Eine umfassende Behandlung dieses Themas, die zu einer abschließenden Darlegung der Prob- lematik führt, kann an dieser Stelle nicht geliefert werden. Auf der Grundlage der Ausfüh- rungen von Hannelore Grimm („Sprachentwicklung – allgemeintheoretisch und differen- tiell betrachtet“) stellt die vorliegende Arbeit lediglich den Versuch dar, sich einem äußerst komplexen Themenkreis anzunähern.

Als ein Fazit läßt sich an dieser Stelle festhalten, daß für die frühen Stufen des kindlichen Spracherwerbs die Qualität der frühen Mutter-Kind-Interaktion von entscheidender Bedeu- tung ist und bleibt.

Daneben gilt für jede Art der Sprachentwicklung, daß sie neben einem invarianten Kern immer auch interindividuelle Varianten in Art und Schnelligkeit des Spracherwerbs bein- haltet.

Eine Schwerpunktlegung auf ausgewählte Aspekte der Sprachentwicklung trat in den vo- rangegangenen Ausführungen zugunsten einer möglichst weit gefaßten und einen allge- meinen Überblick vermittelnden Thematisierung in den Hintergrund. Eine Vertiefung bei- spielsweise der Anlage-Umwelt-Diskussion oder der Frage der Lehr- und Lernbarkeit der Muttersprache wäre sicherlich sehr interessant, dürfte aber sicherlich genügend Stoff für eine weitere, eigenständige Bearbeitung bieten.

Literatur

Butzkamm, Wolfgang / Butzkamm, Jürgen (1999): Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen. Tübingen: Francke Verlag.

Grimm, Hannelore (1998): Sprachentwicklung – allgemeintheoretisch und differentiell be- trachtet. In: Oerter, Rolf / Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehr- buch. 4. Auflage. Weinheim: PsychologieVerlagsUnion. S. 705-757.

Mehler, J. / Jusczyk, P. / Lambertz, G. / Halsted, N. / Bertoncini, J. / Amiel-Tison, C. (1988): A precursor of language acquisition in young infants. In: Cognition, 29, 1988, S. 143-178.

Piaget, Jean (1972): Sprechen und Denken des Kindes. Düsseldorf: Schwann.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Sprachentwicklung im Kindesalter
Autor
Jahr
2000
Seiten
37
Katalognummer
V99753
ISBN (eBook)
9783638981903
Dateigröße
432 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprachentwicklung, Kindesalter
Arbeit zitieren
Norbert Lindemann (Autor:in), 2000, Sprachentwicklung im Kindesalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99753

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