Das Théatre Alfred Jarry


Ausarbeitung, 2001

5 Seiten


Leseprobe


Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Antonin Artaud leitet 1926 seine Ansprüche an das neu zu gründende Théâtre Alfred Jarry von einer vernichtenden Einschätzung seiner Epoche ab. Er spricht von „der Verwirrung, derAbwesenheit, der Denaturierung aller menschlichen Werte, dieser quälenden Ungewißheit, in der wir hinsichtlich der Notwendigkeit oder des Wertes dieser oder jener Kunst, dieser oder jener Form geistiger Tä- tigkeit stecken“, wovon das Theater wahrscheinlich am meisten betroffen sei.1Denn für ihn ist das Theater eine Kunstform, „die gänzlich auf einer Kraft der Illusion beruht“2, wodurch es in einer Zeit, in der die menschliche „Unfähigkeit,zu glauben, [sich] Illusionen hinzugeben, […] immens [ist]“3, zwangsläufig in eine existentielle Krise geraten muß. Unter diesen Bedingungen tritt Artaud für ein Theater ein, das eine konkrete gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen hat (nicht bloß Spiel ist4, sondern sich dem Prinzip derAktualitätverpflichtet5) und demnach sein wichtigstes ästhetisches Problem in der Definition seines Verhältnisses zum Publikum suchen muß. Das Programm sowie die künstleri- schen Mittel des A.-J.-Theaters, die Artaud in den Schriften zu dem Projekt darlegt und erläutert, resultieren aus dieser grundlegendsten Annahme über das Wesen des Theaters. So streitbar die letzt- endliche Gestalt des Artaudschen Theaters, so widersprüchlich und geheimnisvoll die Äußerungen Artauds darüber auch sein mögen - seine Ausgangshaltung ist zu jener Zeit ebenso logisch nachvoll- ziehbar wie verbreitet: Die Aufgabe des Theaters (oder der Kunst allgemein) besteht darin, die Wirklichkeit zu verändern, Einfluß zu nehmen auf das Leben der Menschen, sie auch außerhalb der konkreten künstlerischen Wirkungsstätte zu erreichen. Dies gilt für Brecht, Eisenstein, Schostako- witsch, Steinbeck und Picasso in ähnlicher Weise, um nur einige zu nennen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre ästhetischen Konzepte aus der Zielstellung gesellschaftlicher Erneuerung (in freilich sehr unterschiedlicher Weise) ableiteten und es verachteten, Kunst nur um ihrer selbst willen zu betreiben. Artaud spricht Brecht von der Seele, wenn er sagt: „Wir werden es immer ablehnen, das Theater als ein Museum für Meisterwerke zu betrachten, so schön und so menschlich sie auch sein mögen. Ohne das geringste Interesse wird für uns - und, wie wir glauben, das Theater - jedes Werk sein, das demPrinzip der Aktualitätnicht gehorcht […] Kunst oder Schönheit können wir entbehren.“6

Einen sehr eigenen Weg beginnt Artaud einzuschlagen, wenn es darum geht, die angestrebten Veränderungen der Lebensrealität der Adressaten zu konkretisieren. Es ist schwierig, aus der stark abstrahierenden Sprache Artauds mehr als eine unscharfes Schattenbild seiner Vision herauszulesen - was immerhin deutlich wird, ist das Nichtvorhandensein einer politischen, sozialen, ökonomischen, philosophischen oder allgemein lehrhaften Intention. Was das A.-J.-Theater bezwecken soll, steht eher in der Tradition der alten Tragödie: eine Art seelische Läuterung oder Reinigung, „eine gewisse psychologischeErschütterung“7. Es geht um die Konfrontation des Zuschauers mit allem, „was es an Dunklem, an Verborgenem, an Unentdecktem im Geist gibt“8, was erreicht werden soll, ist ein Sieg über das „Unsichtbare“9. Dieses „Unsichtbare“ ist Artauds Auffassung nach codiert (er spricht auch von einer „unsichtbaren oder geheimen Sprache“10) und läßt sich in ein für den Menschen wahr- nehmbares Zeichensystem übersetzen. Die stilistischen Mittel des A.-J.-Theaters sollen gewisserma- ßen als Schlüssel zur Decodierung dieser „unsichtbaren Sprache“ fungieren, die „das ganze Fatum des Lebens und die geheimnisvollen Traumbegegnungen“11für uns bereit hält. Das Zauberwort lautet „Projektion“12des „Unsichtbaren“ auf die Theaterbühne, der erhoffte Effekt ist die endgültige Ret- tung oder der endgültige Ruin eines „bedeutend[en] Teil[s] vom Bereich des Geistes.“13Der sich an dieser Stelle abzeichnende Widerspruch zum Postulat derAktualitätist innerhalb der Artaudschen Anschauung nur ein scheinbarer. Die unbekannten Abgründe der menschlichen Existenz, die es zu enthüllen gilt, stellen für Artaud vielmehr die eigentliche Realität des Daseins dar, während das Er- scheinungsbild deraktuellenGesellschaft nur eine artifizielle Verschleierung bzw. eine Entfremdung des Menschen mit sich selbst darstellt. Dies wird im Postscriptum desManifests für ein gescheiter-tes Theaterdeutlich, in dem Artaud zwischen seinen Polemiken gegen die kommunistische Revoluti- on und die Surrealisten die Forderung nach einer Rückkehr zur „Mentalität […] des Mittelalters […], aber wirklich und durch eine Art existentieller Verwandlung“14, formuliert. Artaud glaubt, daß „einer der Hauptgründe für das Übel, an dem wir leiden, in der fanatischen Zurschaustellung und der ins Unendliche getriebenen Vervielfachung der Kraft liegt; er liegt auch in einer anormalen Leichtfer- tigkeit, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen aufgekommen ist und dem Denken nicht mehr Zeit läßt, in sich selbst zu wurzeln.“15Im „Unsichtbaren“ und im „Mittelalter“ vermutet er Zugänge zu einer seelischen Befreiung des Menschen, weshalb für ihn der Versuch der Sichtbarmachung jenes „Unsichtbaren“ um so Vieles relevanter ist als es beispielsweise Brechts Theater wäre, das böse Zungen auf ein Sprachrohr des Marxismus zu reduzieren imstande sind, denn eine gesellschaftliche Revolution politischer Prägung wäre nach Artauds Verständnis ein unwesentliches Herumkratzen an der Oberfläche menschlichen Zusammenlebens, nicht jedoch eine Bekämpfung der Ursachen für die „furchtbare Verwirrung [, die] auf unseren Leben [lastet]“16und jedenfalls keine Rechtfertigung für den Fortbestand des Theaters. Diese tiefe Überzeugung, dieser Absolutheitsanspruch der Ansichten Artauds erklärt auch das existentielle Risiko, das er mit seinem Theaterprojekt einzugehen glaubt und in das der Zuschauer einbezogen wird: „Nicht an den Geist oder sie Sinne der Zuschauer wenden wir uns, sondern an ihre gesamte Existenz. An die ihrige und an die unsrige. Wir spielen unser Leben in dem Schauspiel, das auf der Bühne abläuft […] Der Zuschauer, der zu uns kommt, weiß, daß er sich einer wirklichen Operation ausliefert, bei der nicht allein sein Geist, sondern seine Sinne und sein Fleisch auf dem Spiel stehen.“17Und dieser wahrhaft titanische Anspruch erklärt auch den Glauben an ein Wunder, „das geschehen wird, um uns alles zu enthüllen, was wir noch nicht wissen, und das dieser armseligen Materie, die wir hartnäckig kneten, ihr ganzes inneres Leben verleihen wird.“18

Die ästhetischen Mittel, die die Gründer des Théâtre Alfred Jarry einzusetzen gedenken, um ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen, ergeben durchaus Sinn, wenn man sich einmal auf die Annahme der Möglichkeit einläßt, ihre (zugegebenermaßen recht abstruse) Theorie von der heilsamen Wirkung der Konfrontation mit jenem „Unsichtbaren“ könnte sich zumindest ansatzweise als wahr erweisen. Ihre Theaterkonzeption ist voll und ganz auf das Publikum hin ausgerichtet, was nur folgerichtig ist angesichts der mysteriösen, verschütteten menschlichen Gemeinwerte, die sie ja auch und vor allem imZuschauer zutage fördern will. Dazu bedürfe es allerdings auch eines Publikums, das imstande ist, „uns ein Minimum an notwendigem Vertrauen und Glauben zu schenken, kurz: unsereInteressen zu teilen[…] Der Zuschauer muß wirklich überzeugt sein, daß wir imstande sind, ihn zum Schreien zu bringen.“19Die Frage, ob ein solches Publikum existiert, müsse sich in der Praxis erweisen, was übri- gens für zahlreiche andere grundlegende Aussagen dieser Theaterkonzeption ebenfalls zutreffend ist. Wenn sich nun ein geeignetes Publikum finden sollte, würde die Unmittelbarkeit zum wichtigsten künstlerischen Prinzip, um dieses zu erreichen: „Wir beabsichtigen nicht, wie das bisher geschehen ist, wie das immer die Sache des Theaters gewesen ist, die Illusion von dem, das es nicht gibt, zu erzeugen, sondern im Gegenteil: vor den Blicken einige Bilder erscheinen zu lassen, unzerstörbare, unbestreitbare Bilder, die den Geist unmittelbar ansprechen. Die Gegenstände, die Requisiten, die Dekorationen selbst, die auf der Bühne vorkommen werden, müssen in unmittelbarem Sinne, ohne Übertragung verstanden werden; sie sollen nicht für das gehalten werden, was sie darstellen, sondern was sie in Wirklichkeit sind.“20Artaud trägt damit die Metapher zu Grabe, die Doppeldeutigkeit, die Konnotation. Auch dies ein haarsträubendes Programm, zu dessen Umsetzbarkeit, da sie ja einen überindividuellen und bis ins Detail hineinreichenden Konsens menschlicher Denkstrukturen voraus- setzt, man tatsächlich an ein Wunder glauben muß. Artaud verwiese als Antwort auf ein Zweifeln an diesem Konsens jedoch wahrscheinlich ebenfalls auf das Verborgene, Unentdeckte im Geist, und so wollen wir uns auch darauf noch einlassen. Der Kern seiner Idee besteht jedenfalls in der Absage an eine Tradition, die Kunst im weitesten Sinne als eine Verschleierung von Tatsachen betrachtet, die bei der Rezeption in einem kognitiven Umkehrprozeß wiederentdeckt werden, was die verschiedensten Effekte auslösen kann, niemals jedoch die vom A.-J.-Theater anvisierten.21Artaud will den Besucher seines Theaters nicht über Umwege gedanklicher Reflexion, sondern direkt, emotional, sinnlich und physisch erreichen. Die Strategien hierfür sind tradierte Elemente des Theaters: Einfühlung und Illusion, jedoch in einer völlig neuen Modifikation. Wenn herkömmliche Illusionskonzepte auf die Abbildung der Wirklichkeit, wie sich sich außerhalb des Theatergebäudes darstellt, abzielen, auf die Spitze getrieben vom Naturalismus, so ist das Anliegen des A.-J.-Theaters auf die Spitze getrieben vom Naturalismus, so ist das Anliegen des A.-J.-Theaters ein völlig anderes.

Auch hier soll Illusion entstehen, auch hier soll eine Realität abgebildet werden. Nur ist diese gänzlich verschieden von den aktuellen Lebensverhältnissen der Menschen, sie liegt vielmehr im Menschen und in der Natur selbst verborgen.22Die auf die Bühne zu bringende Realität besteht eben aus jenen „unsichtbaren“ Werten, weshalb die Illusion „sich nicht mehr auf die Wahrscheinlichkeit oder Un- wahrscheinlichkeit der Handlung beziehen [wird], sondern auf die kommunikative Kraft und Wirk- lichkeit dieser Handlung.“23Das Prinzip ist das gleiche (Einfühlung durch Illusion), nur das Negativ ist ein anderes. Das Theater soll das Bild entwickeln: „Schwerwiegend ist dies: die Bildung einer Wirklichkeit, das ganz neue Hereinbrechen einer Welt. Das Theater muß uns diese flüchtige, aber wahre Welt verschaffen, diese Welt, die das Wirkliche berührt. Es wird diese Welt selbst sein, andernfalls verzichten wir auf das Theater.“24

Das Théâtre Alfred Jarry bleibt vor unseren Augen als eines der vielleicht anspruchsvollsten der Theatergeschichte bestehen - und als eines der wirkungslosesten. Seine Idee ist in gewissem Sinne brillant, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man an Wunder glaubt und seine Weltanschau- ung teilen kann. Es bleiben zu viele Unbekannte in der Gleichung, zu viele Ansichten, die heute als widerlegt gelten und schließlich der wenig rühmliche Lebenslauf des umgesetzten Projekts.25Man muß Artaud immerhin zugute halten, daß er das A.-J.-Theaters von Anfang an als ein Experiment gesehen hat, das eine rein spekulative Theorie hätte beweisen können, jedoch, wie Artaud behaup- tet, nicht an seinem Konzept krankte, sondern an den Umständen seiner Zeit.26

[...]


1Das Alfred-Jarry-Theater (1926), 15.

2Ebd., 16.

3Ebd., 15.

4Vgl. ebd., 15.

5Das A.-J.-Theater beabsichtigt, „Äußerungen auf die Bühne zu bringen, die […] imstande sind, einerseits die modernen Gemeinplätze und falschen Werte zu disqualifizieren, und andererseits dieechtenund überzeugendenEreignissein der gegenwärtigen Lage der Franzosen zu suchen und herauszustellen. Wobei sich natürlich die letztere Bezeichnung auf die jüngste Vergangenheit und die nächste Zukunft erstreckt.“ (Das Alfred-Jarry- Theater und die öffentliche Feindseligkeit, 41).

6Das Alfred-Jarry-Theater (1929).

7Manifest für ein gescheitertes Theater, 22.

8Ebd., 21.

9Ebd.

10Ebd.

11Ebd.

12Ebd.

13Ebd., 22.

14Ebd., 23.

15Ebd..

16Ebd., 21.

17Das Alfred-Jarry-Theater (1926), 17.

18Manifest für ein gescheitertes Theater, 22.

19Das Alfred-Jarry-Theater (1926), 15 bzw. 17.

20Manifest für ein gescheitertes Theater, 21.

21„Der bildhafte Lyrismus, die philosophischen Tiraden, die Unklarheiten, die gelehrten Anspielungen etc. werden sorgfältig vermieden“ (Das Alfred-Jarry-Theater und die öffentliche Feindseligkeit, 42).

22„Es gibt keine Leere in der Natur, die unserer Meinung nach der menschliche Geist nicht imstande wäre, in einem bestimmten Augenblick zu füllen“ (Manifest für ein gescheitertes Theater, 22).

23Das Alfred-Jarry-Theater (1926), 16.

24Ebd., 16.

25Vgl. die Kurzchronik im Anhang, 191-193.

26Vgl. „Öffentliche Feindseligkeit“, 38-41.

Ende der Leseprobe aus 5 Seiten

Details

Titel
Das Théatre Alfred Jarry
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Veranstaltung
Antonin Artaud
Autor
Jahr
2001
Seiten
5
Katalognummer
V99653
ISBN (eBook)
9783638980920
Dateigröße
334 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Théatre, Alfred, Jarry, Antonin, Artaud
Arbeit zitieren
Daniel Reichelt (Autor:in), 2001, Das Théatre Alfred Jarry, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99653

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