Die Bedeutung der Spiritualität des Franziskus von Assisi für die heutige evangelische Frömmigkeit


Seminararbeit, 2000

38 Seiten, Note: 1,25


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

I Kurzbiographie des Franziskus von Assisi

II Die Spiritualität
A Was ist Spiritualit ä t?- Versuch einer Definition
1. Begriff der Spiritualität und seine Geschichte
2. Überblick über Definitionen zum Begriff Spiritualität
B Die evangelische Spiritualit ä t
1. Definition der evangelischen Spiritualität
2. Charakteristika der Spiritualität
3. Kampf und Kontemplation
4. Die pädagogische Dimension der Spiritualität

III Spiritualität des Franziskus von Assisi anhand seiner Originalschriften
1. Die Bibellese- Das Wort Gottes
2. Das Gebet
3. Die Gnadenmittel
4. Die Kirchenmusik- Lobgesänge
5. Die Gemeinschaft- Die ,,Bullierte Regel"

IV Hilfestellungen für den Weg zu einer evangelischen Spiritualität
1. Die Bibellese- Das Wort Gottes- Die Verkündigung des Evangeliums
2. Das Gebet
3. Gnadenmittel- Die evangelische Beichte
4. Die Kirchenmusik
5. Die Gemeinschaft

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Diese Seminararbeit hat sich zum Ziel gestellt, die Bedeutung der Spiritualität des Franziskus von Assisi für die heutige evangelische Frömmigkeit zu untersuchen.

Im ersten Kapitel wird das Leben des Franziskus von Assisi anhand von Jahreszahlen kurz dargestellt mit dem Schwerpunkt auf dessen Wandlung. Hinsichtlich der Umkehr seines Lebenswandels werden exemplarisch unterschiedliche Literaturquellen zu Rate gezogen. Aufgrund der Besonderheit des Gedichts ,,Sonnengesang" des Poverello wird hier schon das Gedicht, nach einer Übersetzung von Karl Vossler, wiedergegeben, sowie noch einmal auszugsweise im dritten Kapitel. Dort jedoch unter dem Gesichtspunkt der Spiritualität des Franziskus von Assisi anhand seiner Originalschriften nach einer Übersetzung des deutschen Franziskanerordens. Bei der Zusammenstellung der Kurzbiographie ergaben sich Schwierigkeiten zum einen aufgrund unterschiedlicher Jahreszahlen der zugrunde liegenden Quellen und zum anderen wegen sich widersprechender Aussagen der Quellen zu den einzelnen Lebensabschnitten des Franziskus. Der Grund für diese Abweichungen sind in der Lebensgeschichte des Franziskus zu finden. Im Vergleich mit anderen Heiligen bemerkten die Zeitgenossen im 12. Jahrhundert schon früh die Einzigartigkeit und Andersartigkeit des Franziskus und verehrten in schon zu Lebzeiten wie einen Heiligen. Dichtungen, Sagen und Legenden bildeten sich daher schnell um seine Person. Aus diesem Grund ist man sich bei einigen Begebenheiten, wie z.B. die Pilgerfahrt nach Rom im Jahre 1206, nicht sicher, ob diese wirklich stattgefunden haben oder ob diese dem Leben des Franziskus nur hinzu gedichtet wurden, um aus der Person des Franziskus den heiligen Franziskus in allen Lebenssituationen zu machen. Folgend basieren die gemachten Jahresangaben in Kapitel 1 der Seminararbeit auf meinen Abwägungen zwischen den einzelnen Quellen. Positiv an diesem damaligen Umgang mit der Person des Franziskus ist sicherlich, daß viele Schriften, wie z.B. der Segen an Bruder Leo, im Original oder als Kopie noch erhalten sind, so wie z.B. sein Gewand in der Grabeskirche San Francesco in Assisi zu besichtigen ist.

Das zweite Kapitel ist in einen Teil A und in einen Teil B untergliedert. Im Teil A wird allgemein auf den Begriff Spiritualität und auf seine Geschichte eingegangen. Zur Hervorhebung der unterschiedlichen Interpretationsformen von Spiritualität werden Definitionsversuche gegeben. Diese sollen die Problematik einer einheitlichen Definition von Spiritualität aufzeigen.

Der Teil B des Kapitels widmet sich ganz der evangelischen Spiritualität. Andere Formen aus dem weitgefaßten Spektrum des Begriffes Spiritualität, wie z.B. die buddhistische oder charismatische Spiritualität, werden im Rahmen dieser Seminararbeit nicht berücksichtigt. Grundlage für die Definition und die Merkmale evangelischer Spiritualität stellt die Vorlesung "Spiritualität- Geschichte, Theologie, Praxis" von PD Dr. Peter Zimmerling an der Universität Mannheim im Sommersemester 2000 dar, ebenso das Buch "Spiritualität" von Prof. Dr. Hans-Martin Barth, das im Teil A schon zur Darstellung der unterschiedlichen Definitionen verwendet wurde. Auch ist die Gliederung des Teil B aus der Vorlesung übernommen worden.

Im dritten Kapitel werden ausgesuchte Texte, die die Spiritualität des Franziskus von Assisi untermauern, erläutert. Als Grundgerüst sollen die Punkte Bibellese, Gebet, Gnadenmittel, Kirchenmusik und Gemeinschaft, die im vierten Kapitel mit ausgewählten Praxisbeispielen erklärt werden, durch die Schriften abgedeckt werden. Alle Aussagen und Auszüge aus Franziskus´ Originalschriften sind aus dem Buch "Die Schriften des heiligen Franziskus", von den deutschen Franziskanern herausgegeben, entnommen. Dabei ist es Absicht, viele kurze, kleine Passagen aus den einzelnen Briefen, Regeln und Ermahnungen, Hymnen und Gebeten zu zitieren und Interpretationen und Erläuterungen möglichst kurz zu halten. Schwerpunkt liegt auf den Aussagen des Franziskus von Assisi. In Bezug auf die Echtheit der Schriften gehe ich davon aus, daß diese nahezu authentisch sind oder im Sinne von Franziskus z.B. durch seine damaligen Brüder verfaßt worden sind. Eine Untersuchung in Form einer Literaturkritik und eine Abwägung bei jedem Zitat, ob es sich um ein authentisches Opusculum des Franziskus handelt, erscheint mir nicht sinnvoll.

Das dritte Kapitel ist auch so zu verstehen, daß die von Franziskus verfaßten Schriften eine wichtige Bedeutung für die heutige evangelische Frömmigkeit besitzen und ebenfalls als Anleitung und Hilfestellung für den eigenen Glauben und die eigene Spiritualität zu verstehen sind. Wünschenswert ist nach meinem Kenntnisstand für die evangelische Spiritualität ein "Learning by Franziskus".

Im vierten Kapitel werden ergänzende Angaben und Hilfen gemacht, die erklären sollen, wie eine evangelische Spiritualität in der Praxis heute konkret aussehen kann.

Die Gliederung des vierten Kapitels, sowie die Praxisbeispiele, sind, wie schon im Teil B des zweiten Kapitels, auf Grundlage der Vorlesung "Spiritualität- Geschichte, Theologie, Praxis" von PD Dr. Peter Zimmerling entstanden und übernommen.

I Kurzbiographie: Franziskus von Assisi (1181/82 - 1226)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Lyriker Rilke fragt mit diesen Versen in seinem Stundenbuch von 1905 nach der Bedeutung des Franziskus für uns heute. Wer war dieser Franziskus von Assisi, wodurch zeichnete er sich aus, worin lag seine Besonderheit, ja sogar Einzigartigkeit, und welche Werke vollbrachte er, daß Rilke nach einem Franziskus in unserer Zeit sucht und wohl nicht findet?

Zum näheren Verständnis der Person bzgl. seines Aussehens und Auftretens zitiere ich zuerst die Aussage des Zeitzeugen Thomas von Celano1, der Franziskus von Assisi um 1215 kennengelernt hat: ,,Er war ein außerordentlich redegewandter Mann mit fröhlichem Antlitz und gütigem Gesichtsausdruck, frei von Feigheit, ohne jede Überheblichkeit. Von nicht sonderlich großer Gestalt, eher klein als groß, hatte er einen nicht besonders großen, runden Kopf, ein etwas längliches und gedehntes Gesicht, eine ebene und niedrige Stirne, nicht sonderlich große, schwarze, unverdorbene Augen, dunkles Haar, gerade Augenbrauen, eine gleichmäßige, feine und gerade Nase, aufwärts gerichtete, aber kleine Ohren, flache Schläfen, eine gewinnende, feurige und scharfe Sprache, eine mächtige, liebliche, klare und wohlklingende Stimme, dichte, gleichmäßige und weiße Zähne, schmale und zarte Lippen, einen schwarzen, nicht vollen Bart, einen schlanken Hals, gerade Schultern, kurze Arme, zarte Hände, lange Finger, etwas vorstehende Nägel, war sehr mager, trug ein rauhes Gewand ...". Ein weiterer Zeitzeuge, Thomas von Spalato, beschreibt Franziskus folgendermaßen: ,,Seine Kleidung war schmutzig, seine Person unansehnlich und sein Gesicht unschön. Aber Gott verlieh seinen Worten so große Bedeutung, daß viele Adelsfamilien ... zum Frieden zurückgeführt wurden."

Franziskus von Assisi wurde 1181/ 82 als Sohn des wohlhabenden Tuchhändlers Pietro Bernadone und der aus einer angesehenen französischen Familie stammenden Mutter Pica geboren. Getauft auf den Namen Johannes, vom Vater aber mit dem Kosenamen Francesco (d.i. Französlein) gerufen. Er besucht die Kathedralschule von Assisi, wo er Französisch und Latein lernt. Francesco hegt den Traum Vieler seiner Zeit, Ritter zu werden.

Diesen Traum versucht er 1202 zu realisieren, als es zu einem Städtekrieg zwischen Assisi und Perugia kommt. Doch es kommt anders. Francesco gerät mit mehreren adligen Kampfgefährten in einjährige Gefangenschaft. Ab diesem Moment beginnt ein unaufhaltsamer Prozeß voller Veränderungen bei Francesco. Er ist nicht mehr der verträumte "Möchtegern-Troubadour", aber er ist auch noch weit weg von der Person, die laut der US- Zeitschrift Times der bedeutendste Mann des letzten Jahrtausends war. Folgende exemplarische Literaturquellen versuchen zu erklären, wie dieser Wandel vonstatten ging und versuchen die Frage zu beantworten, ob dieser ein plötzlicher oder ein langer Prozeß voller Erfahrungen war.

Auf der Homepage des deutschen Franziskanerordens wird diese Frage folgendermaßen beantwortet: "Dieser Plan [Ritter zu werden] scheiterte jedoch kläglich. Zusammen mit den übrigen jungen Männern seiner Heimatstadt war er in den Krieg gegen die Nachbarstadt Perugia gezogen. Statt des erhofften Ruhms und der ersehnten Ehre, geriet er jedoch in Gefangenschaft und wurde krank. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Assisi wußte Franz nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er steckte in einer Lebenskrise. So vernachlässigte er immer mehr seine Aufgaben im elterlichen Geschäft. Einige Male verschenkte er teuere Stoffe an Arme und Bedürftige. Dies forderte den Zorn seines Vaters heraus. 1206 kam es schließlich zum endgültigen Bruch: Vor den Augen des Bischofs [Guido II von Assisi] und des Volkes von Assisi zog er seine Kleider aus und gab sie dem Vater zurück."

Mit ähnlichem Wortlaut beschreibt Walter Dirks in seinem Buch ,,Ein zarter, zäher, kleiner Mann" die Entwicklung Francescos: ,,Irgendwann muss der Rausch der ritterlichen Lebensform seine Faszination verloren haben. Eine <Bekehrung> bereitete sich vor, in der sich der ungestüme Anspruch der absoluten Hingabe, die ihn früh beunruhigt hatte, auf ganz neue Weise zu erfüllen suchte: im Evangelium. Franz küsste spontan einen Aussätzigen, der da am Wege lag ... sodann brach da eine Zärtlichkeit aus, die alle Schranken sprengte."2 Beide Quellen stellen recht schlicht und meiner Meinung nach zu vereinfacht die Umkehr des reichen Tuchhändlersohnes dar. Differenzierter wird dieser Vorgang vom Minoritenorden dargestellt.: ,,Die Monate [in Gefangenschaft] bis ihn sein Vater freikauft, prägen und verändern ihn. Krank und wohl auch depressiv (ein Zug, der Franziskus nie so ganz verlassen wird) kommt er heim. Kaum erholt, geht das Leben äußerlich seinen gewohnten Gang weiter, aber innen sieht es anders aus. Franziskus gerät ins Suchen ... Ausstaffiert als Reitersoldat versucht er nochmals, sich einem Feldzug anzuschließen, aber ein Traum, eine Vision lassen ihn umkehren ... Immer mehr sondert sich Franziskus ab ... Das Jahr 1204. Die Umarmung des ekelerregenden Aussätzigen ... Aber wie geht es weiter? Franziskus zieht durch die Wälder um Assisi. Er ist allein. 1206, zwei Jahre später: In San Damiano außerhalb Assisi betet und meditiert er vor einem großen Tafelkreuz und hört die Stimme Jesus: ,Baue mein Haus wieder auf! Siehst du nicht, es zerfällt!?` - Und Franziskus - typisch für ihn - nimmt den Auftrag sehr wörtlich."3

Tiefgründiger und wissenschaftlicher schildert Ulrich Köpf die Zeit nach der Gefangenschaft in seiner Kurzbiographie: ,,Doch dieses böse Erlebnis [Gefangenschaft] scheint seine Unternehmenslust nicht gedämpft zu haben: 1205 schloß er sich einer kleinen Truppe an, die auf Seiten des Papstes in Süditalien gegen die staufische Herrschaft kämpfen wollte."4 Die Tatsache, daß Francesco diese Reise frühzeitig bei Spoleto abbrach, wertet Kopf so: ,,Was immer der Grund gewesen sein mag- er bedeutete noch keine Absage an die alten Ziele", Köpf folgert jedoch weiter: ,,aber es verschaffte Franz Gelegenheit zur Besinnung und zur inneren Wandlung, die nach einem Jahr im völligen Bruch mit der bisherigen Lebensweise enden sollte."

Der Schriftsteller Gerhard Wehr führt weitere, ergänzende Argumente der Wandlung an. So schreibt er:,, Die einstigen politischen Träume des Jugendlichen haben sich als Schäume erwiesen", und weiter: ,,In den Gründen des Unbewußten <konstelliert> sich die eigentliche Mission dieses Lebens und verlangt praktische Verwirklichung."5

Franziskus selber beschreibt seine Umkehr mit folgenden Worten: "So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu beginnen: denn als ich in Sünden war, kam es mir bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeiten der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt."6 Ulrich Köpf interpretiert: "In der Begegnung mit Aussätzigen, mit unheilbaren Kranken also, die von jeder Gemeinschaft mit anderen Menschen ausgeschlossen waren und den Gegenstand allgemeinen Abscheus und tiefer Furcht vor Ansteckung bildeten, erlebte Franz eine Umkehrung der Empfindungsqualitäten, die seine bisherigen Maßstäbe außer Geltung setzte."

Im Jahre 1210 genehmigt Papst Innocenz die erste Fassung der Ordensregel und erteilt Franziskus die Diakonatsweihe. Knapp zwei Jahre später schließt sich die erst 16-jährige Klara, Tochter aus adeligem Hause, als erste Frau dem Orden an. Doch die Lebensweise des Franziskus, die einem Wanderprediger ähnelt, sieht er für Klara als nicht geeignet an. Aus diesem Grund entwirft Franziskus für Klara eine neue Lebensform als Leiterin von San Damiano. Am 17. September 1219 gewährt Kardinal Hugolino Klara das Armutsprivileg, das er später als Papst Gregor IX. für die franziskanisch orientierten Frauenklöster durchzusetzen versucht.

1219 begleitet Franziskus den 5. Kreuzzug bis nach Palästina und predigt vor dem Sultan El- Kamil. Unregelmäßigkeiten und falsche Glaubensauslegungen von seinen Vertretern in Italien zwingen ihn zur Rückkehr. Um dem immer größeren Zulauf an Brüdern genüge zu tun und die "Vita" an die jüngsten Entwicklungen anzupassen, findet an Pfingsten 1222 bei Portiuncula das "Mattenkapitel" statt. Ca. 3000-5000 Minderbrüder beraten über die Ordensregel. Das Ergebnis, mit dem Franziskus von Assisi nicht einverstanden ist, ist die ,,Nicht bullierte Regel". Die ,,Bullierte Regel" und somit endgültige Regel entwirft Franziskus 1223 in der Einsiedelei von Fonte Colombo bei Rieti, die von Papst Honorius III. durch die Bulle "Solet annuere" bestätigt wird. Im gleichen Jahr feiert er am 24. Dezember die Heilige Nacht in Greccio ("neues Bethlehem"). Hier stellte er die Geschehnisse der Geburt Christi mit seinen Brüdern, einem Ochsen und einem Esel nach. Franziskus gilt als Begründer für den Brauch der Weihnachtskrippe.

Ab dem Jahre 1224 zieht er sich immer öfter mit seinen engsten Brüdern, unter ihnen Bruder Leo, Rufino, Angelo und Masseo, in die Einsiedelei u.a. auf den Berg La Verna oder den Monte Subasio zurück. Hier empfängt er die Wundmale Jesu (Stigmatisation). Sein Körper ist deutlich von den zunehmenden Schmerzen seiner Augenkrankheit geschwächt. In diesem Augenblick dichtet Franziskus von Assisi den Sonnengesang, ein Ausdruck seiner Einzigartigkeit, Frömmigkeit, ein Zeichen für sein Wirken und seinen Umgang mit der Umwelt:

IL CANTICO DI FRATE SOLE:

7 Der Sonnengesang

Höchster, allmächtiger, guter Herr.

Dein sind das Lob, der Ruhm, die Ehr und aller Segen.

Dir gehören sie, Höchster, allein.

Kein Mensch ist wert, Dich zu nennen.

Gelobt seist Du, mein Herr, samt all Deinen Kindern

und der Schwester Sonne besonders,

denn am Tag zünd´st Du für uns sie an.

Schön ist sie und strahlt in großem Glanze.

Von Dir, o Höchster, bringt sie Kunde.

Gelobt seist Du, mein Herr, für Bruder Mond und Sterne!

Am Himmel hast Du Sie geformt, klar köstlich und hell,

Gelobt seist Du, mein Herr, für Bruder Wind

und Luft und Wolken, freundliches und jedes Wetter!

Mit ihnen hegst Du Deine Kinder.

Gelobt seist du, mein Herr, um Wassers willen!

Das ist so nützlich, schmiegsam, köstlich und keusch.

Gelobt seist Du, mein Herr, für Bruder Feuer!

Die Nacht erhellst Du uns mit ihm

und schön ist er und munter und gewaltig und stark.

Gelobt seist Du, mein Herr, für unsere Mutter Erde!

die hegt und trägt uns

und allerlei Frucht und farbige Blumen treibt sie und Gras.

Gelobt seist Du, mein Herr, für alle, die verzeihen

und Krankheit dulden und Mühsal Dir zu lieb.

Selig, wer es duldet in Frieden.

denn von Dir, Höchster, wird er gekrönt.

Gelobt seist Du, mein Herr, für unseren Bruder, den fleischlichen Tod.

Und kein lebendiger Mensch entgeht ihm.

Weh denen, die in Todessünden sterben!

Doch selig, wen Du hältst in Deinem heiligen Willen!

Ihm tut der zweite Tod kein Leides.

,,Dieses ... Gedicht des Poverello ... sprengt vollends alle Grenzen einer individuellen Frömmigkeit", schreibt Gerhard Wehr über Franziskus von Assisi und folgert weiter: ,,Das ist es, was Rilke, ein Wundern und ein Wohlgefallen und ein Entzücken an der Erde` genannt hat. Solcher Entzückung sind nur Liebende fähig. Sonne und Mond, die Sterne, die Winde, die Quelle, das Feuer, Mutter Erde samt dem, das sie trägt, sind zu Brüdern und Schwestern erhoben, zu Geschwistern eines gotttrunkenen Sängers, der es wagen kann, unseren Bruder, den Tod der Leiber` in diesen Preisgesang der Anbetung einzubeziehen" (Wehr 606).

In den Jahren 1225-1226 verschlimmern sich verschiedene Krankheiten. Franziskus hält sich am päpstlichen Hofe in Rieti auf. Er muß, u.a. auf Veranlassung des Kardinals Hugolino hin, wiederholt schmerzhafte, aber erfolglose Behandlungen seines Augenleidens über sich ergehen lassen. Kurz vor seinem Tod diktiert er im Bischofspalast von Assisi sein "Testament".

Am 3. Oktober 1226 stirbt er in der "Capella del Transito", einer kleinen Hütte neben der Kirche Portiuncula. Die Beisetzung findet in der Krypta der Kirche San Giorgio statt. Schon zwei Jahre nach seinem Tod wird Franziskus vom Papst Gregor IX. heiliggesprochen. 1230 wird Franziskus in die für ihn eigens erbaute Grabeskirche San Francesco umgebettet.

II Die Spiritualität

Das Kapitel II versucht eine Grunddefinition von Spiritualität zu geben. Schwerpunkt liegt auf der evangelischen Frömmigkeit. Diese ist zugleich Abgrenzungspunkt zu anderen Spiritualitätsformen, wie der orthodoxen, römisch-katholischen, weiblichen, buddhistischen oder charismatischen Spiritualität.

A Was ist Spiritualit ät?- Versuch einer Definition

Auf die modernen Wortschöpfungen und Neuinterpretationen dieses ,,Modewortes" wird nicht weiter eingegangen. Nur so weit, daß es die Marketingabteilungen großer Unternehmen perfekt verstanden haben, in sachliche Technik und in nüchternen Zahlen mit dem Wort Spiritualität oder ähnlichen Neukreationen dieses Wortes, wie z.B. <spirituales Fahrerlebnis>, einen Hauch von Exotik oder Transzendentem in ihre Produkte ,,hineinzuzaubern" und darüberhinaus Absatzsteigerungen zu realisieren. Ebenso erfahren fernöstliche Gruppen, Sekten, Glaubensgemeinschaften einen ungeheuren Zulauf mit Spiritualitäts-Seminaren, - Workshops und -Vorträgen.

,,Sie [die Spiritualität] ist weder christlich noch jüdisch noch moslemisch, sondern zumeist orientiert an den Religionen Asiens oder was man dafür hält. Die Stichworte <esoterische Erleuchtung>, <indianische Kulte>, <Dalai Lama> oder <Zen-Buddhismus> können die große Bereitschaft bezeugen, die hier besteht ... Für alle Suchenden gilt der Dalai Lama als der große Hoffnungsträger"8 schreibt Klaus Berger in seinem Buch ,,Was ist biblische Spiritualität" und bezeichnet dieses Streben ,,nach Formen spirituellen Lebens" als ,,heidnische Spiritualität". Gemäß einer Standardformulierung des Wörterbuchs werden Nicht-Christen, Nicht-Juden und Nicht-Moslems mit dem Begriff ,,Heiden" tituliert. Folglich faßt Klaus Berger alle Spiritualitätsformen, die nicht den drei Weltreligionen entsprechen als ,,heidnische Spiritualität" zusammen.

So muß aus diesem ,,Melting Pot" von Spiritualitätsformen die für uns notwendige Definition von evangelischer Spiritualität herausgefiltert werden, und Modeerscheinungen, sowie zwielichte und unwissenschaftliche Neudeutungen müssen beiseite gelegt werden.

1. Begriff der Spiritualität und seine Geschichte

9 Der Begriff Spiritualität läßt sich von seinem Wortbestand nicht wie in anderen romanischen Sprachen direkt auf den Heiligen Geist beziehen, so Hans-Martin Barth10 in seinem Buch ,,Spiritualität", sondern er verweist hier auf Assoziationszusammenhänge wie ,,Spiritualisierung", ,,Spiritismus" oder gar ,,Spirituosen". Eingedeutscht wurde er aus der französischen "spiritualité", einem Begriff, der im 17. und im 18. Jahrhundert in Frankreich intensiv benutzt wurde. Barth schreibt dazu: ,,Man bemüht sich um 'La véritable spiritualité du Christianisme ou la haute science des saints' (B.Saladin 1698)". Das Wort "spiritualité" läßt sich wiederum auf das lateinische "spiritualis" (dt. "geistlich") zurückführen, welches sich zum ersten Male am Ende des 5. Jahrhunderts findet. Pelagius11 oder einer seiner Schüler notierte: ,,... bemühe dich, hüte dich, laufe, eile. Bemühe dich, daß du in der Spiritualität (spiritualitas) voranschreitest."

Verfolgt man die Abstammung des Begriffes in die Richtung der Bibel, so gelangt man in der griechischen Fassung des Neuen Testaments zu "pneumatikós" (griech. _________ó_- geistig), das die christliche Existenz bezeichnet und das durch das Wort "spiritualis" übersetzt wurde. Nun könnte man folgern, daß Spiritualität direkt aus der Heiligen Schrift abzuleiten wäre und sich aus dieser erschließt. Übersetzt man Spiritualität ins Griechische zurück, so gelangt man in diesem Gedankengang zu der Wortgruppe ,,eusébia"12. Für Hans-Martin Barth beruht das Wort Spiritualität somit vielmehr auf der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der biblischen Zeugnisse als auf der direkten Zurückführung auf die Bibel.

2. Überblick über Definitionen zum Begriff Spiritualität

Folgt man dem Brockhaus oder anderen Lexika, so wird Spiritualität meistens mit Begriffen wie Frömmigkeit und Religiosität gleichgesetzt. Frömmigkeit drückt die subjektive Sicht des Individuums auf die Religion aus und öffnet den Menschen dadurch für die ,,gnädige Zuwendung Gottes"13, so Erwin Fahlbusch. Für Christian Schütz ist Religiosität das ,,Bedürfnis und die Fähigkeit des Menschen"14, sich in unbestimmter Weise ,,zu einer höheren Instanz in Beziehung zu setzen." In dieser Abgrenzung zu den beiden Begriffen stellt sich heraus, daß Spiritualität umfassender ist.

Um einen groben Überblick über den Begriff Spiritualität zu geben, folgen nun einige Definitionsvorschläge15, die ich zwar weitgehend unkommentiert lasse, die ich jedoch in Gruppen gliedere. Daher wird Spiritualität bei folgenden Definitionsversuchen eher im theologischen Sinne verstanden, u. a. bei Karl Rahner als ,,Leben aus dem Geist ...die bewußte und in etwa methodische Entwicklung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe" oder bei G. Greshake als ,,... die gelebte Grundhaltung der Hingabe des Menschen an Gott und seine Sache ..." und ,,... eine so vielgestaltige Größe wie das Leben selbst und wie die Vielgestaltigkeit möglicher Beziehungen zu Gott", sowie in der EKD-Studie ,,Evangelische Spiritualität" als ,,das wahrnehmbare geistesgewirkte Verhalten des Christen vor Gott". John B. Cobb schreibt dazu: ,,the formation of life in response to the divine Spirit as that is known in Jesus Christ".

Spiritualität im anthropologischen Sinne wird bei H.U. von Balthasar als eine ,,Geisteshaltung" bzw. eine ,,Grundhaltung" angesehen. Tr. Stählin folgert weiter: ,,[die] Grundhaltung des Christen, die sich in allen Vorzügen seines Lebens auswirkt: in einer Lebensführung, die sich bewußt als vom spiritus sanctus geleitet versteht." Ähnlich formulierte dies M.M. Thomas auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok: ,,Menschliche spirituality ist der Weg, auf dem der Mensch nach letzten geheiligten und sinnvollen Strukturen sucht, innerhalb derer er sich selbst erfüllen und verwirklichen kann." Spiritualität kann im anthropologischen Sinne als ein Erbe von Mystik und Asketik angesehen werden, ,,wenn der Moment der konkreten Lebensgestaltung besonders hervorgehoben wird", schreibt Hans-Martin Barth. So zitiert er A. Rozetter, der von der ,,geregelten, methodischen, gemeinsamen Ausgestaltung christlichen Geistes spricht". Des weiteren spricht Rozetter im Zusammenhang mit der Definition von Spiritualität von einer ,,Existenz des Christen, die sie sich vom Geist Gottes empfängt und von daher in die Vielfalt des Lebens entfaltet" und von einer ,,Glaubenspraxis, die ihren Maßstab aus der Geschichte bezieht, die durch Jesus von Nazareth eröffnet worden ist".

Weitere Definitionsversuche z.B. von G.Stachel ,,Sich der Tiefe öffnen", von W.Nethöfel ,,Selbstorganisation christlicher Existenz" oder vom Institut der Orden, die von einer ,,Integration des gesamten Lebens in eine vom Glauben getragene und reflektierte Lebensform" sprechen. P.M. Zulehner definiert Spiritualität als eine ,,... persönliche Übernahme geschenkter Geistesgaben" bzw. als ,,Verwirklichung des Glaubens unter den konkreten Lebensbedingungen".

Nachdem die Geschichte und die vielfältigen Definitionsmöglichkeiten der Spiritualität, sowie die Abgrenzung gegenüber der ,,heidnischen Spiritualität" dargestellt wurden, folgt nun eine Betrachtung der evangelischen Spiritualität. Ohne die Hintergrundinformationen des Teil A wäre ein tiefergehendes Verständnis des Teil B nicht möglich.

B Die evangelische Spiritualität

1. Definition der evangelischen Spiritualität

Der Ursprung des Begriffes Spiritualität liegt nicht in der Reformation, sondern im französischen Katholizismus. ,,Dem evangelischen Selbstverständnis entspricht [Spiritualität] eher dem Ausdruck ,,Frömmigkeit", folgert Hans-Martin Barth und weiter: ,,sofern diese als Reaktion auf Gottes Heilshandeln in Jesus Christus aufgefaßt wird." Im Mittelpunkt aller evangelischer Spiritualität, die sich ,,vom hochkirchlichen Flügel der Anglikanischen Gemeinschaft hin bis zu den aus der Reformation erwachsenen Freikirchen und den heute sich zu Wort meldenden evangelikalen Gruppen" erstreckt, steht, laut Barth, das <Wort Gottes> (Barth 44). Aus der Verkündigung des Wortes Gottes erwächst die evangelische Spiritualität. Hilfsmittel der Verkündigung sind das Wort und das Sakrament. Diese sollen zu einem Einbrechen des Heiligen Geistes in die ,,Wirklichkeit des Menschen" führen. Nach Barth realisiert sich die reformatorisch verstandene Spiritualität, unter der Berücksichtigung der Confessio Augustana (CA VI), als ,,neuer Gehorsam". ,,Die Urbeziehung von Wort und Glaube, die Dynamik von Gesetz und Evangelium und die Verkündigung durch das gegenseitige Zeugnis der Glaubenden bzw. durch das Amt führen dazu, daß dieser neue Gehorsam entstehen kann" (Barth 45).

Die reformatorische Spiritualität von Luther ist durch die ,,4 soli" charakterisiert, mit denen er sich von den Glaubensauffassungen des Mittelalters deutlich abgrenzt: solo christe (=allein durch Christus), sola scriptura (=allein durch die Schrift), sola gratia (=allein durch die Gnade) und sola fide (=allein durch den Glauben).

Für Hans-Martin Barth führt die Buße in der reformatorisch geprägten Frömmigkeit ,,in die Freude darüber und in die Dankbarkeit dafür, daß er, der sich aus seinem sündigen Wesen nicht erlösen kann, von Gott angenommen ist und des ewigen Heils gewiß sein darf" (Barth 53). Daher verliert die Angst an Bedeutung, sich erneut zum Sünder durch Entscheidungen zu machen. ,,Pecca fortiter, sed fortuis fide" schreibt Luther im Jahre 1521 zu Melanchthon. ,,Sündige kräftig, Glaube aber noch kräftiger [und freue dich in Christus]" ist eine der herausragenden Aussagen reformatorischer Spiritualität.

Wie lautet nun die Definition für evangelische Spiritualität? Hier folgt nun eine Definition, die das oben beschriebene meiner Meinung nach passend zusammenfaßt. Spiritualität ist die äußere Gestalt gelebter Frömmigkeit, die ihre Motivation und gleichzeitige Begrenzung im reformatorisch geprägten Rechtfertigungsglauben erfährt.

2. Charakteristika der evangelischen Spiritualität

Eine evangelische Spiritualität läßt sich, in Anlehnung an die ,,4 Soli" von Luther, durch die folgenden vier Konzentrationen charakterisieren.

Eine Konzentration auf die Bibel (sola scriptura) bedeutet, daß eine evangelische Frömmigkeit immer gleichbedeutend mit einer Bibelfrömmigkeit ist. Luther versteht bei seinem reformatorischen Ansatz die Bibel als ,,viva vox evangelii", was man übersetzen kann als ,,lebendige Stimme des Evangeliums". Luther meint damit, daß die Bibel das Wort des <lebendigen Gottes> ist, das die Menschen anspricht. Luther ist der Auffassung, daß der Glaube, der aus dem Wort Gottes erwächst ,,ein göttlich Ding in uns [ist], das uns wandelt und neu gebiert aus Gott ... und tötet den alten Adam ... und bringt den heiligen Geist mit sich. O es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken"16. Diesen Sachverhalt konkretisierte Luther mit dem Beispiel eines Baumes, der von selbst gute Früchte trägt. Die Seele, die das Wort Gottes hat, benötigt ,,keines anderen Dings mehr, sondern sie hat in dem Wort Genüge, Speise, Freude, Frieden, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Weisheit, Freiheit und alles Gut überschwenglich"17.

Barth vertritt die Auffassung, daß das erste Dekalog-Gebot die Zielperspektive reformato- rischer Spiritualität zusammenfaßt. Als Beleg führt er die Auslegung von Luther aus dem Kleinen Katechismus an: ,,Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." So prägt ,,eine Kultur des gehörten und gesprochenen, des gelesenen und geschriebenen, ja auch des gedachten und des im Schweigen anwesenden Wortes" die evangelische Frömmigkeit quer durch alle christliche Religionsgemeinschaften (Denominationen), vom Luthertum bis zu den Quäkern (Barth 49). Jedoch verliert die evangelische Spiritualität an Boden, wenn es zu keiner existentiellen Begegnung zwischen dem Wort und der Stimme Gottes kommt. Barth meint damit, daß der Einzelne den Mut haben soll, sich in eigener Initiative und Verantwortung der biblischen Botschaft zu vergewissern (vgl. Barth 55f).

Aus dieser Vergewisserung ergibt sich ein weiteres Charakterisierungsmerkmal der evangelischen Spiritualität, nämlich die Konzentration auf die Aneignung des Glaubens (sola fide). Im Kleinen Katechismus von Luther ist der Ansatz, den Glauben zu leben auch ohne die Kirche zu finden. Dies darf aber nicht als eine Ablehnung der Kirche angesehen werden, sondern in einer anderen Akzentuierung hinsichtlich einer persönlichen Aneignung des Glaubens. Luther vertrat das Ideal einer ,,Haus- und Familiengemeinde, in der ein Hausvater die einzelnen Stücke des Katechismus, seinem Gesinde einfältig vorhalten soll`" (Barth 50). Barth vertritt die Ansicht, daß nach Luther ein Christ nicht von seiner Frömmigkeit, sondern von seinem Glauben und von seiner Liebe definiert wird (Barth 47). Luther schreibt in seiner Schrift ,,Von der Freiheit eines Christenmenschen": ,,... Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christenmensch nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe ."18

Aus der obigen Schrift Luthers ist für die evangelische Spiritualität eine Konzentration auf Jesus Christus (solo christe) ableitbar. Nach dem Bibelverständnis der Reformatoren fällt die Kirche des Mittelalters als <Heilanstalt> weg und wird durch die Konzentration auf Jesus Christus substituiert. Grund für dieses Verständnis ist die Ansicht, daß sich die Kirche im Mittelalter zwischen den Menschen und Jesus Christus geschoben hat. Es wurde von der Kirche das Bild vertreten, daß Maria als Mittlerin fungierte, Jesus in der Glaubenshierarchie nach oben und die Heiligen nach unten verschoben waren. Eine Auflösung dieser Spannung hin zur Vergegenwärtigung der Person Christi erfolgte durch die Reformatoren. Jesus ist nach Ansicht der Reformatoren primät der Erlöser und nicht zuerst der Richter, in ihm erkennen wir den gnädigen Gott.

Eine viertes Merkmal ist die Konzentration auf die Rechtfertigung (sola gratia).

Rechtfertigung geschieht allein aus Gnaden und Christi Willen. Barth schreibt zu dieser Thematik: ,,`Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst; aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme`- so legt Luther die II. Vaterunser-Bitte aus" (Barth 51f). Barth folgert weiter, daß die evangelische Frömmigkeit nicht erreicht werden kann und keinen Zweck hat, sondern ein Geschenk oder Resultat des göttlichen Handelns ist. Durch diese Gewißheit einer unverdienten Gnade findet der evangelische Christ Trost und Zuversicht bei der Bewältigung des Alltages. Problematisch ist dabei nur der <Freifahrscheingedanke>, der die Vergebung der Sünden beinhaltet und das Hinwegsetzen über die Gebote Gottes scheinbar ermöglicht. Aus diesem Grund kritisierte Luther den <Freifahrscheingedanken> und verweigerte nicht einsichtigen Sündern das Abendmahl. Laut Luther wirkt sich der Glauben auf das Leben des Menschen z.B. durch das Abendmahl und die Beichte aus. Er schreckte nicht davor zurück, Gläubige zu exkommunizieren.

3. Zum Verhältnis von Kampf und Kontemplation

Hans-Martin Barth schreibt in seinem Buch "Spiritualität" zum Thema Kampf und Kontemplation: "Daran, wie man den Begriff `Spiritualität` versteht, entscheidet sich, ob neben Bibel, Gebet, Sakrament und Liturgie politischer Kampf und gesellschaftliches Engagement unter diejenigen Punkte eingereiht werden sollen, die in einer Analyse christlicher Spiritualität zu bedenken sind" (Barth 148). Unterscheidbar sind zwei Richtungen. Die eine Richtung, vertreten durch die römisch-katholische, orthodoxe Seite, sowie "konservative Gruppen innerhalb des Protestantismus", befürchten einen Verlust der Identität ihrer Spiritualität durch ein zu großes gesellschaftliches Engagement. Die Gegenseite, engagierte Ökumeniker, fordern, daß man über eine Spiritualität hinauskommen sollte, "die sich in subjektiver Innerlichkeit oder kirchlicher Ghetto-Frömmigkeit erschöpfe". Doch trotz dieser Spannung hat sich nach Barth die Formel "Kampf und Kontemplation", die sich in Taizé gefunden hat, legitimiert. Askese und Einsatz für den Nächsten stehen für Hans-Martin Barth komplementär zueinander und gehören zur Spiritualität des Christentums. Nur die Akzentuierung kann von dem jeweiligen politischen Kontext abhängig sein (vgl. Barth 148ff). Bezugnehmend auf die Spannungen zwischen Kampf und Kontemplation verweist der Autor darauf, daß "Kontemplation ohne Kampf .. leicht zu unfruchtbarer Pflege individueller psychischer Bedürfnisse verkommen [kann], während Kampf ohne Kontemplation Gefahr läuft, in puren Aktivismus auszuarten, in dem ebenfalls nur psychisch (oder sozial) bedingte Mechanismen ausagiert werden" (Barth 154f). In diesem Kontext appelliert Barth für einen Dialog zur weiteren Entfaltung der Ökumene zwischen der einen Gruppierung, die an einer an der Kontemplation orientierten Frömmigkeit interessiert ist und der anderen Gruppe, die an einer für den Kampf engagierten Spiritualität interessiert ist.

Klingt doch der Lösungsweg eines ausgeglichenen Verhältnisses von Kampf und Kontemplation bei Barth für mich recht abstrakt, so stellt das Buch ,,Gemeinsames Leben"19 von Dietrich Bonhoeffer, aus dem Jahr 1939, einen Beitrag zur Klärung und zur Praxis einer kirchlichen Gemeinschaft dar. Im Verhältnis von Kampf und Kontemplation ist Dietrich Bonhoeffer als die Person zu sehen, die der Kontemplation wieder zu ihrem Recht verholfen und sie aktuell gemacht hat. Schon bei der Betrachtung des Inhaltsverzeichnisses läßt sich die Thematik des Buches erkennen. So stellt Bonhoeffer dem Kapitel der ,,Gemeinsame Tag" das Kapitel ,,Der einsame Tag" gegenüber. Trotz Hervorhebung der Kontemplation übersieht Bonhoeffer die Aktion, die er mit ,,Dienst" tituliert, nicht.

Im Dritten Reich warfen Vertreter der Bekennenden Kirche Bonhoeffer vor, daß für Meditation jetzt keine Zeit wäre. Doch Bonhoeffer ging es nicht um klösterliche Abgeschiedenheit, sondern um das Ziel der intensiven Konzentration für das Wirken nach außen. ,,So gehört auch der Christ nicht in die Abgeschiedenheit eines klösterlichen Lebens, sondern mitten unter die Feinde. Dort hat er seinen Auftrag, seine Arbeit" (Bonhoeffer 15). Er gab eine Anleitung zur täglichen Meditation heraus, da nach seiner Ansicht der Dienst aus der Ruhe des Wort Gottes kommt und die Liebe zu Christus im Schweigen beginnt. ,,Darum mögen in der Frühe des Tages die mancherlei Gedanken und die vielen unnützen Worte schweigen, und der erste Gedanke und das erste Wort möge dem gehören, dem unser ganzes Leben gehört" (Bonhoeffer 37). Nach Ansicht von Bonhoeffer dient die Meditationszeit der persönlichen Schriftbetrachtung, dem persönlichen Gebet und der persönlichen Fürbitte (vgl. Bonhoeffer 69ff). Wichtiger Bestandteil des gemeinsamen Tages ist das Schweigen, zumal der gemeinsame Tag ohne den einsamen Tag sowohl für den einzelnen wie auch für die Gemeinschaft unfruchtbar ist (Bonhoeffer 64ff). Das Wort kommt zu dem Schweigenden, denn dieser hört die Worte Gottes zur rechten Zeit. Laut Bonhoeffer heißt Schweigen ,,schließlich nichts anderes als auf Gottes Wort warten und von Gottes Wort gesegnet herkommen" (Bonhoeffer 68)

Bezüglich des Dienstes setzt er einen gebrochenen Willen und eine Ehre, die dem Nächsten gegenüber unwichtig erscheint, voraus. Laut Bonhoeffer schadet das Verlangen nach Ehre dem Glauben und somit Gott und dem Nächsten (vgl. Bonhoeffer 81f). Unterscheidungs- merkmal zwischen brüderlicher Seelsorge und Predigt ist die wichtige Komponente des Zuhörens. Diese Komponente des Zuhörens ist für Bonhoeffer der erste von drei Diensten, der einer gegenüber dem anderen in der Gemeinschaft verpflichtet ist. Er begründet den ersten Dienst mit folgender Aussage: ,,Wer aber seinem Bruder nicht mehr zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören, sondern er wird auch vor Gott immer reden" (Bonhoeffer 83). Der zweite oder ,,andere" Dienst, wie Dietrich Bonhoeffer ihn nennt, umfaßt die tätige Hilfsbereitschaft innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Mit der Hilfe einher geht die Verkündigung des Wortes Gottes. Denn ,,nur wo die Hände sich für das Werk der Liebe und der Barmherzigkeit in täglicher Hilfsbereitschaft nicht zu gut sind, kann das Wort von der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes freudig und glaubwürdig verkündigen" (Bonhoeffer 84f). Beim dritten Dienst bezieht sich Bonhoeffer auf Galater 6,2: ,,Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." Tragen ist gleichbedeutend mit Leiden und in diesem Tragen liegt die Gemeinschaft mit Gott. Verweigert sich der Einzelne dem Tragen, so ist keine Gemeinschaft möglich. Tragen des Bruders ist somit gleichbedeutend mit der Erfüllung des Gesetzes Christi (vgl. Bonhoeffer 85). Zum Schluß des Kapitels ,,Der Dienst" schreibt der Autor: ,,Die Gemeinde braucht nicht glänzende Persönlichkeiten, sondern treue Diener Jesu und der Brüder" (Bonhoeffer 92).

Die heutige Kirche ist keine kirchliche Gemeinschaft, wie sie Bonhoeffer beschreibt, sondern es ist festzustellen, daß eine Mißachtung der Kontemplation zu einer Überbetonung der Diakonie und des sozialethischen Engagement in der evangelischen Kirche geführt hat . Es besteht vielerorts die Ansicht, daß diakonisches Handeln im Zentrum der kirchlichen Aktion stehen muß und gleichzeitig ein Zurücktreten der Verkündigung und des Lebens des Glaubens in Kauf genommen wird. Nunmehr legitimiert die evangelische Kirche ihre Existenz durch Sozialdienste. Dabei verkümmert zunehmend der "Wurzelboden der Früchte des Glaubens" und somit die Beziehung zu Gott.

Ein weiterer Aspekt ist die zunehmende spirituelle Ausdörrung des Protestantismus in unserer Gesellschaft. Die Menschen stillen ihre spirituellen Sehnsüchte im esoterischen Bereich. Beispielsweise hat der Buddhismus es sehr gut verstanden, dieses Potential aufzufangen. Selbst der Dalai Lama gibt in Interviews zu, daß er sich über diesen Zulauf aus der westlichen Welt wundert, wobei doch z.B. das Christentum eine eigene Form von Spiritualität besitzt und viele Christen davon nichts wissen. Für diese Vernachlässigung der Spiritualität ist mit großem Anteil die Kirche verantwortlich, da sie Stille und Sammlung zurückgewiesen hat und, wie oben schon beschrieben, die diakonische Aufgabe überzogen hervorgehoben hat.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Vernachlässigung für die kirchliche Spiritualität und welche Förderungsmöglichkeiten gibt es? Wie soll das Verhältnis von Kampf bzw. Aktion und Kontemplation aussehen? Sucht man in der Heiligen Schrift nach einem Lösungsvorschlag, so findet man im Zentrum der Ethik Jesu das "Doppelgebot der Liebe"(Mt 22,37-39). Hier ist Gottesliebe -"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt"(Mt 22,37)- und Nächstenliebe -"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"(Mt 22,39)- miteinander verknüpft. Damit ist gemeint, daß ohne die Liebe zu unserem Nächsten auch die Liebe zu Gott an Bodenhaftung verliert und andererseits die Liebe zum Nächsten ohne die Liebe Gottes schnell abkühlt. Beispielsweise versteht man auf unsere Problematik bezogen darunter, daß aus der Gottesliebe eine Erneuerung der Liebe in einer Ehe wachsen kann. Ein Vertreter dieser Auffassung ist Frère Roger20, der seine christozentrische Spiritualität folgendermaßen ausdrückt: "Noch das bescheidenste Licht des Evangeliums zerreißt unsere Dunkelheit. Es ist Feuer, es ist Geist."21

Wie man dieses Feuer wieder in der Kirche entfachen kann und eine Verstärkung der Akzentsetzung auf die Gottesliebe herbeiführt, wird nun anhand von vier Elementen, welche die christliche Kontemplation prägen sollen, demonstriert:

Das erste Element will eine Offenheit für Gott, eine Existenz vor Gott, eine Bejahung der Geschöpflichkeit und ein Leben in Beziehung zum unsichtbaren Gott. Eine Ausrichtung auf die Ewigkeit bedeutet keine Weltflucht. Dennoch warnt das zweite Element vor einem Steckenbleiben in der Jenseitsorientierung, sprich einer Weltflucht. Nicht heraus aus der Welt, sondern hinein in die Welt bei einer vorgegebenen Lebensweise durch den Geist Gottes. Das dritte Element soll deutlich machen, daß es neben dem rationalen Erkennen auch andere Erkenntnisweisen, wie die schauende oder staunende Erkenntnis gibt. Dies soll zu einer Ergänzung zum kritischen Rationalismus beitragen. Das vierte Element besagt das Wahrnehmen des Leidens und Sterbens Jesus Christi. Dies bedeutet, daß das Licht der Offenbarung Gottes in das Alltagsleben hineingebracht wird. Problem ist oft die einseitige Betrachtungsweise, sprich nur Darstellung der Wirklichkeit oder nur Darstellung der Offenbarung, die es zu überwinden gilt.

4. Die pädagogische Dimension der Spiritualität

Die pädagogische Dimension der Spiritualität umfaßt zwei Aspekte. Zum einen den Aspekt des Verzichtes und zum anderen den Aspekt der Übung. Beide sollen dem Glaubenden eine Hilfestellung auf dem Weg zur christlichen Vollkommenheit, sprich Aszetik, geben. Unter Aszetik versteht man die Lehre von der Gestaltwerdung christlichen Glaubens bzw. von der Vollzugsseite des christlichen Glaubens, heute im gröberen Sinne von Spiritualität. Eine Hilfestellung ist notwendig, da heute zunehmend die Einübung von Glauben vernachlässigt wird. So ergeben sich z.B. die heutigen Fragen, wie lerne ich beten oder die Schrift lesen. Hinsichtlich des Aspektes des Verzichtes schreibt Paulus im 1.Korinther 6,19: ,,Oder wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und daß ihr nicht euch selbst gehört?" Paulus hebt die Freiwilligkeit des Verzichtes hervor: ,,Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen" (1.Korinther 6,12). Verzicht um der Möglichkeit willen eines effektiven Daseins für Gott und den Nächsten. Kasteiungen und Entbehrungen sind aber nicht selbst auszuwählen, da im Leben genug Krankheiten und Probleme auftauchen. Aber eine besondere Aszese, z.B. Fasten, ist wünschenswert. Problematisch ist die Vermittlung der Aszese, da der moderne Mensch häufig durch den Lebensalltag überfordert ist und nicht mehr von tragenden Familienbanden gehalten wird. Ohne feste Werte muß heute das Lebens- konzept ständig neuen Entwicklungen angepaßt werden. Bis zum 17. Jahrhundert lernte der Sohn den Beruf des Vaters. Ohne eine Wahlmöglichkeit für den Beruf war der damalige Mensch weniger großer Unsicherheit und auch Überforderung ausgesetzt. Selbstverwirklichung war jedoch nur schwer möglich.

Auch in der Postmoderne hat die Aszese einen Wert, z.B. für Sportler, Musiker, Models. Diese Gruppierung ist so zu charakterisieren, daß sie freiwillig auf Reize und Genußmittel verzichtet, um auf ihrem Gebiet mehr Erfolg zu haben.

Im Neuen Testament wird Aszese nicht als Selbstzweck, sondern mit dem Ziel der Liebe gedeutet. Der Glaube an Gott ist nicht Selbstverlust, sondern Gewinn. Keinem bleiben Verzicht-leistungen auf allen Ebenen erspart. Je früher dieses Erlebnis des Verzichtes z.B. in der Kindheit eintritt, um so besser. Ein Verzicht wird nicht oder nur schwer bewältigt, wenn man nicht gelernt hat, positiv zu verzichten. Somit kann der freiwillige Verzicht die erste Hilfe sein.

Das Neue Testament zeigt, daß Spiritualität auch Übung bedeutet. So steht in Hebräer 5 Vers 14: ,,Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können.". Durch Gewohnheit soll man in der Lage sein, Gut und Böse zu unterscheiden. Glauben, Bedürfnisse und Rituale helfen dabei. Wichtige pädagogische Instrumente für den Glauben sind z.B. der Konfirmandenunterricht oder Religionsunterricht. Mit ihnen werden Glaubensvollzüge eingeübt, die sich beispielsweise mit der Frage des Betens beschäftigen. Es ist aber zu berücksichtigen, daß Glaube und Liebe allemal mehr als asketische Übung sind und sich von ihr auch nicht einholen lassen (vgl. Barth 47f).

III Die Spiritualität des Franziskus von Assisi anhand seiner Originalschriften

Bevor ich in Kapitel IV versuche, Möglichkeiten für die Umsetzung- sprich die Praxis- der in Kapitel II gegebenen Definition der evangelischen Spiritualität, sowie deren angesprochene Probleme und Interpretationsstreitereien (siehe Kampf und Kontemplation) zu geben, möchte ich in Kapitel III Franziskus von Assisi zu Wort kommen lassen. Wenn jemand die von Luther definierten "4 soli" erfüllt, und wenn einer uns den Geist des Evangeliums in seiner unverblümtesten Art und Weise wieder näher bringen kann, dann ist dies, meiner Meinung nach, der Poverello aus Assisi. Jeder Christ, Pilger, Besucher von Assisi, der am Grab des Franziskus in der Grabeskirche von San Francesco stand, San Damiano und andere Städten, an denen Franziskus wirkte, besucht hat, spürt die Besonderheit dieses Mannes. Hier in Assisi unter dem Eindruck dieses Heiligen, auf seinen Pfaden zu wandeln, fällt es einem nicht schwer, Christ zu sein und seinen Glauben weiter zu verfestigen. Dieses Gespür möchte ich auch ohne die Orte und die herrliche landschaftliche Umgebung anhand der Originalschriften des Franziskus von Assisi dem Leser näherbringen.

Grundraster für eine Auswahl seiner Schriften sollen die in Kapitel IV vorkommenden ausgewählten Praxisformen Bibellese, Gebet, Gnadenmittel, Kirchenmusik und Gemeinschaft sein. Diese Elemente weisen für mich eine große Nähe zwischen der franziskanischen und der evangelischen Spiritualität auf. Die Spiritualität des Franziskus kann Impulsgeber für die evangelische Spiritualität werden. Im Folgenden möchte ich jedem der o.g. Punkte Auszüge aus seinen Originalschriften22 gegenüberstellen und die Absicht Franziskus erläutern, sowie Denkanstöße und Hilfen beim Glauben geben.

Bezüglich der Frage der Authentizität der Schriften und deren Problematik möchte ich kurz auf das "Gebet vor dem Kreuzbild" eingehen und dahingehend zwei Quellen zitieren. Beispielsweise ist Helmut Feld in seinem Buch "Franziskus von Assisi und seine Bewegung" auf Seite 28 der Auffassung: "Das Gebet war also im Bereich der Volksreligionen sehr beliebt. Die Echtheit läßt sich schwer nachweisen." Ganz anderer Meinung sind die deutschen Franziskaner, die sich auf K. Eßer berufen, der nach Prüfung des Gebetes und dem Vergleich mit den alten Fassungen, die Echtheit bestätigt (Schriften 126f). Welcher Autor hat nun recht? Fakt ist doch, daß dieses Gebet eine Möglichkeit demonstriert, wie man Gott ansprechen kann. Es zeigt, daß Franziskus in Form des Gebetes seine Bitte und seine Ängste vor Gott vorträgt und auf Erhörung hofft. Wichtig erscheint mir im folgenden der Aussagegehalt der Schriften und weniger die Fragestellung, ob die eine oder andere Schrift nur zu 80 oder 90 Prozent dem Franziskus von Assisi zuzuordnen ist.

1. Die Bibellese- Das Wort Gottes

Schon in Kapitel II wurde die Aussage gemacht, daß die Bibel die Anrede Gottes an den Menschen sei. Kurz vor seinem Tode schrieb Franziskus von Assisi in seinem Testament: ,,Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hat, zeigte mir niemand, was ich zu tun hätte, sondern der Höchste selbst hat mir geoffenbart, daß ich nach der Vorschrift des heiligen Evangeliums leben sollte" (Schriften 218). Seine gesamte Legitimation für sein Handeln bezieht er aus der Schrift, die ihn durch den Geist Gottes persönlich anspricht und der er gehorcht. Im ,,Brief an die Kleriker" äußert sich Franziskus zu der Bedeutung des Wortes Gottes folgendermaßen: ,,Nichts haben und sehen wir nämlich leiblich in dieser Weltzeit von ihm, dem Allerhöchsten selbst, als den Leib und das Blut, die Namen und Worte, durch die wir geschaffen und vom Tode zum Leben erlöst sind" (Schriften 70). Weiter schreibt er im ,,Brief an die Gläubigen": ,,Und wir alle sollen fest wissen, daß niemand gerettet werden kann als nur durch die heiligen Worte und das Blut unseres Herrn Jesus Christus" (Schriften 62).

Aus diesen beiden Textstellen kann man, nach Auffassung der deutschen Franziskaner in ihrem Buch über ,,Die Schriften des heiligen Franziskus von Assisi", erkennen, daß für Franziskus ,,Christus, das menschgewordene Wort des Vaters" ist (Schriften 240). Und weiter: ,,Die Heilige Schrift gab ihm darum nicht nur Zeugnis von Gott, das zu lesen für den Menschen gut sei; sondern in ihr ist, wie Franziskus ausdrücklich bekennt, Gott zu suchen" und zu finden. Aus dieser Suche nimmt Franziskus auch in seinen letzten Lebensjahren die Kraft, seinen sehr schmerzhaften Krankheiten standzuhalten. Das Wort Gottes aus der Schrift setzt sich seiner Ansicht nach über alles irdische Leid hinweg. Wie wichtig auch der Umgang mit dem Wort war, schreibt er im 20. Kapitel von ,,Ermahnungen", einer uralten Sammlung von Lobsprüchen und Mahnworten, mit dem Titel ,,Vom echten und vom eingebildeten Ordensmann": ,,Selig jener Ordensmann, der nur an den hochheiligen Worten und Werken des Herrn seine Wonne und Freude hat und dadurch die Menschen mit Fröhlichkeit und Freude (vgl. PS 50,10) zur Liebe Gottes führt. Wehe jenem Ordensmann, der an müßigen und leeren Worten sein Vergnügen hat und damit die Menschen zum Lachen reizt" (Schriften 107). ,,Im Brief an den gesamten Orden" wiederholt er seine Stellung und seine Besorgnis über die Behandlung des Wortes Gottes: ,,Deshalb ermahne ich alle meine Brüder und bestärke sie in Christus, daß, wo immer sie geschriebene göttliche Worte finden, sie dieselben, so gut sie können, ehrfürchtig behandeln. Und soweit es an ihnen liegt, sollen sie diese sammeln und verwahren, wenn sie nicht gut aufbewahrt sind oder ungeziemend irgendwo zerstreut liegen, und so in den Worten, die er gesprochen hat, den Herrn ehren" (Schriften 92).

2. Das Gebet

Das folgende Gebet sprach Franziskus, nachdem er eine Stimme in der verfallenen Kirche von San Damiano vernommen hatte, die ihm gebot: ,,Franziskus, geh hin und stelle mein Haus wieder her, das, wie du siehst, ganz verfallen ist!"23 So betete er: ,,Höchster, glorreicher Gott, erleuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir rechten Glauben, gefestigte Hoffnung und vollendete Liebe. Gib mir, Herr, das [rechte] Empfinden und Erkennen, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle. [Amen]."

Ein andere Form des Gebetes kann, neben der Fürbitte oder Klage, auch Lob und Dank sein. Das überlieferte ,,Preisgebet zu allen Horen" des Franziskus von Assisi, welches vermutlich als Tagzeitengebet verrichtet wurde, endet mit dem Gebet: ,,Allmächtiger, heiligster, erhabenster und höchster Gott, du alles Gut, höchstes Gut, ganzes Gut, der du allein der Gute bist (vgl. LK 18,19), dir wollen wir erweisen alles Lob, alle Herrlichkeit, allen Dank, alle Ehre, allen Preis und alles Gute. Es geschehe! Es geschehe! Amen" (Schriften 161).

Franziskus ist ein ,,Wiederentdecker" der Väterlichkeit Gottes, ist sich aber dennoch des ,,Abstandes zwischen dem Vatergott und dem sich ihm zuwendenden Menschen bewußt"24.

3. Die Gnadenmittel

In den ,,Fragmenten aus der Regelerklärung des Hugo von Digne" findet man die folgende Aussage des Franziskus von Assisi über die Taufe: ,,Sie [die Ungläubigen] sollen sich taufen lassen und Christen werden, weil nur gerettet werden können, die sich taufen lassen, und sie sollen in Wahrheit und im Geist Christen sein. Denn 'wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Heiligen Geist, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen' " (Schriften 124).

,,Wir müssen ja alle unsere Sünden dem Priester beichten; und von ihm laßt uns den Leib und das Blut unseres Herrn Jesus Christus empfangen. Wer sein Fleisch nicht ißt und sein Blut nicht trinkt (vgl. Joh 6, 55.57), 'kann nicht in das Reich Gottes eingehen' (Joh 3,5)" schreibt Franziskus in dem ,,Brief an die Gläubigen II" in Bezug auf die Eucharistie (Schriften 61). Dieser Brief ist weniger ein Brief als vielmehr eine Mahnrede, denn einige Zeilen später mahnt er: ,,Und wir alle sollen fest wissen, daß niemand gerettet werden kann als nur durch die heiligen Worte und das Blut unseres Herrn Jesus Christus, welche die Kleriker sprechen, verkünden und darreichen" (Schriften 62). Im ersten Kapitel von ,,Ermahnungen" folgert Franziskus weiter (Schriften 99ff): ,,Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben (vgl. Joh 6.55). Daher ist es der Geist des Herrn, welcher in seinen Gläubigen wohnt, der den heiligsten Leib und das Blut des Herrn empfängt. Alle anderen, die nichts von eben diesem Geist haben und ihn zu empfangen wagen, 'essen und trinken sich das Gericht'(vgl. 1 Kor 11,29)." Im ,,Brief an den gesamten" Orden bittet er seine Brüder, Priester, daß sie ,,das wahre Opfer des heiligsten Leibes und Blutes unseres Herrn Jesus Christus darbringen, nicht um irgendeiner irdischen Sache willen, auch nicht aus Furcht oder Lieb zu irgendeinem Menschen, als wollten sie den Menschen gefallen" (Schriften 90).

Zur Zeit Franziskus` wurde die Frage diskutiert, ob ein Minderbruder oder eine andere Person, die kein Priester ist, die sog. Laienbeichte abnehmen darf. Die Laienbeichte ist nicht als eine Erniedrigung zu verstehen, sondern als der Wunsch, sich von der Sünde freizumachen. Die deutschen Franziskaner vermuten, daß ,,man damals wohl stärker als heute von der Tatsache durchdrungen [war], daß der Mensch die starke Neigung zur Sünde in sich trägt" (Schriften 315). Franziskus schrieb zu dieser Problematik im ,,Brief an einen Minister" (Schriften 86): ,,Und falls dort kein Priester ist, so möge er seinem Bruder beichten, bis er einen Priester finden wird, der ihn rechtmäßig losspricht ... Und diese [Brüder] sollen in keiner Weise die Vollmacht haben, eine andere Buße aufzuerlegen als diese: 'Gehe hin und sündige nicht mehr' (vgl. Joh 8.11)." Und in Kapitel 20 der ,,Nicht bullierte Regel" steht mit ähnlichem Wortlaut (Schriften 196): ,,Wenn sie aber gerade keinen Priester haben können, mögen sie ihrem Bruder beichten, wie der Apostel Jakobus: 'Bekennt eure Sünden' (Jak 5, 16)." Auch an diesen Schriften ist wieder die unmittelbare Nähe zum Evangelium bei der Suche nach Rat erkennbar. Zum Umgang mit dem Sünder schreibt Franziskus im siebten Kapitel der ,,Bullierten Regel": ,,Und sie müssen sich hüten, wegen der Sünde, die jemand begangen hat, zornig und verwirrt zu werden; denn Zorn und Verwirrung verhindern in ihnen selbst und in den anderen die Liebe" (Schriften 170).

4. Die Kirchenmusik- Lobgesänge

Neben den bisher dargestellten Gebeten, Briefen, Ermahnungen, Ordensregeln sind uns von Franziskus auch einige Lobgesänge erhalten geblieben. Die Gesänge sind wiederum eine besondere Auslegungsart des Franziskus, Gott anzusprechen und ihm zu danken. <Das Feuer des Evangeliums> brennt in ihm dermaßen, daß er dieses Medium nutzt ,um seinen Gefühlen zu Gott habhaft zu werden. Der Lobgesang dient der Aufforderung an alle Geschöpfe, Gott zu loben, sowie der Betonung von Gehorsam vor Gott als auch der Spende von Trost und Unterstützung.

Im Sacro Convento zu Assisi werden die zwei von Franziskus handgeschriebenen Schriften ,,Lobpreis Gottes" und der "Segen für Bruder Leo" aufbewahrt. Den ,,Lobpreis Gottes" dichtete Franziskus für den ihm am nächsten stehenden Bruder Leo, der sich dadurch eine Erlösung von seinen <inneren Prüfungen> erhoffte. In diesem Lobpreis zählt Franziskus von Assisi die Eigenschaften Gottes auf. Er beginnt, in Anlehnung an Psalm 76,15, mit: ,,Du bist der heilige Herr, der alleinige Gott, der 'du Wunderwerke vollbringst', ... Du bist die Schönheit, ... Du bist unsere Hoffnung und Fröhlichkeit, ... Du bist all unser Reichtum zur Genüge", und endet mit dem eindrucksvoll formulierten Lobpreis: ,,Du bist unser ewiges Leben: Großer und wunderbarer Herr, allmächtiger Gott, barmherziger Retter" (vgl. Schriften 208ff).

Das bekannteste Loblied ist der ,,Sonnengesang", welches in Kapitel I nach einer Übersetzung von K. Vossler wiedergegeben ist. Weniger bekannt ist das Loblied ,,Aufforderung zum Lobe Gottes", welches als ein Vorläufer des Sonnengesanges gilt. Die deutschen Franziskaner sehen in dem Loblied ,,ein frühes Zeugnis für jenes Beten des Heiligen, das sich im Lobe Gottes allen Geschöpfen verbunden weiß, die alle aufgefordert und eingeladen werden, mit ihm den Herrn und Schöpfer zu loben" (Schriften 50). Franziskus dichtet in diesem Vorläufer: ,,Lobt ihn Himmel und Erde; Lobt den Herrn, all ihr Flüsse" (Schriften 51).

Im Sonnengesang vergleichsweise schreibt Franziskus: "Gepriesen seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteren Himmel und jegliches Wetter, durch welches du deinen Geschöpfen den Unterhalt gibst" (Schriften 214). Aus diesem kurzen Gedichtsausschnitt kann man erahnen, welches großartige Naturverständnis der Poverello besaß. Sein ,,Sonnengesang" ist in umbrischer Volkssprache verfaßt und gilt als eines der frühesten dichterischen Zeugnisse, von beeindruckender sprachlicher Schönheit und immenser Aussagekraft. Zentrale Aussage ist das Lob an Gott aus Dankbarkeit für die Geschöpfe. Die Geschöpfe sollen nach der Auffassung von Franziskus mit all ihren Kräften den Schöpfer wiederum loben. Sämtliche Naturerscheinungen erhalten im ,,Sonnengesang" den Beisatz Bruder oder Schwester. Franziskus wollte evtl. mit diesem Beisatz verstärkt ausdrücken, daß die Naturerscheinungen im Auftrag des Schöpfers agieren. Zentrale Stelle, meiner Meinung nach, ist die Strophe über den Tod: ,,Gepriesen seist du, mein Herr, durch unseren Bruder, den leiblichen Tod; ihm kann kein Mensch lebend entrinnen." Diese Stelle ist daher so beeindruckend, da sich Franziskus Augenleiden in einem Stadium befand, in dem er kaum noch sehen konnte und sehr große Schmerzen hatte. Statt aber Groll gegen die Schöpfung zu hegen und Gott für seine Schmerzen verantwortlich zu machen, reagiert Franziskus mit einem Bekenntnis zu Gott. Auch der herannahende Tod betrübt diesen außergewöhnlichen Menschen nicht, sondern er bindet ihn ein. Für Franziskus von Assisi stellt der Tod nicht etwas geheimnisvolles, erschreckendes, böses oder unheimliches dar. Der Tod ist für ihn ein normaler, irdischer Vorgang. Nicht normal ist der ,,zweite Tod" in Sünden, denn: ,,Wehe jenen, die in schwerer Sünde sterben. Selig jene, die sich in deinem allheiligen Willen finden, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leides tun", folgert Franziskus (Schriften 215). Grundlage für diese Strophe könnte z.B. Offenbarung 2,11 sein, in der es heißt: ,,Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tod." Auch im ,,Sonnengesang" ist wieder die Nähe zum Evangelium unmittelbar spürbar.

Neben den Lobliedern ist auch ein ,,Mahnlied für die Schwestern der heiligen Klara" bis heute erhalten geblieben. Laut der Legende ,,Perusiana" hat Franziskus das Mahnlied zur gleichen Zeit und am gleichen Ort geschrieben, an dem er den ,,Sonnengesang" gedichtet hat. Als Begründung gibt die Legende Mitgefühl mit den armen Schwestern von San Damiano an, da Franziskus seinen baldigen Tod spürte und den Schmerz darüber bei den Schwestern mildern wollte. Zu diesem kurzen Mahnlied schreibt Schmucki: ,,...diese gesungene Ermahnung ... bezeugt in einzigartiger Weise jene originelle, vom mittelalterlichen Rittertum her beeinflußte Verkündigung des Evangeliums in der Form von 'Lauden' ... schließlich erscheinen in ihm einige bedeutsame Schwerpunkte der franziskanischen Spiritualität, und dies in deren Spiegelung für die in Klausur dem kontemplativen Leben geweihten Klarissen."25 Aufgrund des knappen Textes und dem bedeutsamem spirituellen Gehalt, folgt nun das ,,Mahnlied für die Schwestern der heiligen Klara" (Schriften 138):

H ö rt, kleine Arme vom Herrn berufen,

die ihr aus vielen Gebieten und Landen seid vereint:

lebt immer so in der Wahrheit,

da ß ihr im Gehorsam sterbt.

Schaut nicht nach dem Leben drau ß en!

Denn jenes nach dem Geiste ist besser.

Ich bitte euch in gro ß er Liebe:

ü bt Sorgfalt mit den Almosen, die der Herr euch gibt!

Jene [Schwestern], die von Krankheiten beschwert sind,

und die anderen, die f ü r sie erm ü det sind:

ihr alle, harret aus in Frieden!

Denn um teuren Preis werdet ihr verkaufen solche M ü hsal,

da jede gekr ö nt wird im Himmel als K ö nigin- mit Maria,

der Jungfrau.

5. Die Gemeinschaft- Die ,,Bullierte Regel"

In der ,,Bullierten Regel" und in der ,,Regel für Einsiedeleien" nimmt Franziskus von Assisi zu der Frage Stellung, wie das Leben in der Gemeinschaft der Brüder auszusehen hat. Die ,,Bullierte Regel" entstand als Reaktion auf die ,,Nicht bullierte Regel". Die ,,Nicht bullierte Regel" gibt zwar Grundrichtungen, Mahnungen und flammende Anrufe vor, sowie großartige Ideale und Gedanken, aber sie klärt nicht, wie eine große Anzahl von Brüdern zusammenleben soll. Die Lösungsmöglichkeit einer Übernahme der Benediktinerregel, wie sie von verantwortlichen Leitern der Brüder gefordert wurden, stieß bei Franziskus auf größten Widerstand. Diese neue Form der Lebensweise mit ihrer Beweglichkeit und ohne eine lebenslange Anbindung an ein bestimmtes Kloster sollte nach der Ansicht von Franziskus bestehen bleiben. Aus diesem Grund nahm er sich der Regelfrage an. Resultat dieser Bemühungen ist die ,,Bullierte Regel", die am 29. November 1223 von Papst Honorius durch die Bulle ,,Solet annuere" bestätigt wurde.

Die ,,Bullierte Regel" beinhaltet in ihren 12 Kapiteln die Lebensweise der Brüder in Bezug z.B. zur Kirche, Fasten, Eigentum, Almosen, Buße, Wahl der Generalminister, Keuschheit ... Besonders am Herzen liegt Franziskus in der ,,Bullierten Regel" (vgl. Schriften 162ff), wie auch in der ,,Nicht bullierten Regel" (vgl. Schriften 174ff), der Umgang der Brüder miteinander. Er sträubt sich gegen Hierarchien in seinem Orden und lehnt gängige Ämterbezeichnungen ab. Nur widerwillig führt er folgende Bezeichnungen ein: Minister (i.S. von Diener), Kustos (d.h. Wächter) und Guardian (soll auf andere achten). Wichtig erscheint im, daß die Minister als Obere die Aufgabe zum Dienst am Unteren haben. Zum Umgang schreibt Franziskus im 10. Kapitel der ,,Bullierten Regel": ,,Die Brüder, die Minister und Diener der anderen Brüder sind, sollen ihre Brüder aufsuchen und ermahnen und sie in Demut und Liebe zurechtweisen, ohne ihnen etwas zu befehlen, was gegen ihre Seele und unsere Regel wäre" (Schriften 172). In der ,,Nicht bullierten Regel" steht im fünften Kapitel mit ähnlichem Wortlaut: ,,Wenn aber ein Minister einem Bruder etwas gegen unser Leben oder gegen dessen Seele befehlen sollte, dann ist der Bruder nicht verpflichtet, ihm zu gehorchen" (Schriften 182). Im 17. Kapitel steht: ,,Und kein Minister oder Prediger soll das Amt des Ministers ... sich aneignen, sondern zu jeder Stunde, wenn es ihm befohlen wird, soll er ohne jeden Widerspruch auf sein Amt verzichten" (Schriften 183).

Als eine Art <Zusatzregel> kann die ,,Regel für Einsiedeleien" angesehen werden. Das Einsiedlerdasein war für Franziskus lebenslang ein erstrebenswertes Ideal. Auch einige seiner Brüder eiferten ihm nach, so daß Franziskus diese Regel schuf, die für jeden einen möglichst großen Raum, nach Ansicht der deutschen Franziskaner, für seine ,,persönliche Gestaltungskraft" zuließ (Schriften 208f). Auch in dieser Lebensregel möchte er Hierarchien und Ämterbezeichnungen vermeiden. Daher benutzt er die Worte <Mütter und Söhne> für <Obere- und Untergebene>: ,,Jene, die als Ordensleute in Einsiedeleien verweilen wollen, sollen zu drei oder höchstens zu vier Brüdern sein. Zwei von ihnen sollen die Mütter sein und sollen zwei Söhne oder wenigstens einen haben" (Schriften 206). Die Einsiedeleien können als eine der ersten Formen franziskanischer Niederlassungen angesehen werden, sowie als ein <Seßhaftungswerdungsprozeß> des Wanderpredigers.

IV Hilfestellungen für den Weg zu einer evangelischen Spiritualität

Im Anschluß an die Schriften der Franziskus sollen nun in Kapitel IV ergänzende Angaben und Hilfen gegeben werden, wie eine evangelische Spiritualität in der Praxis konkret aussehen kann. Mit diesem Kapitel soll auch dem möglichen Vorwurf entgegen gewirkt werden, daß der eine oder andere Leser die Besonderheit und die Aussagekraft der Schriften erkennt, aber für sich selbst z.B. mit den Worten ,,ich bin doch nicht der Franz und außerdem kein Heiliger" zu früh und zu schnell ablehnen könnte. Das Kapitel IV hat nun erstens die Aufgabe dies zu vermeiden und zweitens die Notwendigkeit einer evangelischen Spiritualität in der heutigen Zeit noch einmal zu verdeutlichen.

Die Gliederung des Kapitels entspricht dem Kapitel III. Die Gliederungspunkte sind Bibellese, Gebet, Gnadenmittel, Kirchenmusik und Gemeinschaft, die allesamt ausgewählte Formen sind, die auf den Weg zu einer künftigen evangelischen Spiritualität führen können. Ausgewählte Praxisbeispiele erklären die einzelnen Formen, soweit diese noch nicht einleuchtend durch die Schriften des Franziskus von Assisi erklärt wurden.

1. Die Bibellese- Das Wort Gottes- Die Verkündigung des Evangeliums

Bei allen Schriften des Franziskus von Assisi ist unverkennbar, mit welcher Nähe zum Evangelium und zum Wort Gottes diese verfaßt sind. In der Schrift ist nach Ansicht des Franziskus Gott zu finden, und sie ist deshalb auch ehrfürchtig zu behandeln. Paul Schütz schreibt in seinem Buch ,,Das Evangelium"26 in der Schrift ,,Die Kunst des Bibellesens", daß die Stimme der Bibel leise, fremd und verbogen ist. Als Begründung nennt er den zerschlagenen Heiligenschein um die Bibel heute. Der Mensch muß sich auf ein unwegsames Gebiet einlassen und sich Antworten gefallen lassen, die sein Verhalten in Frage stellen und ihm nicht passen. Somit ist oft der Einstieg, vergleichsweise mit einer Bergbesteigung, in die Bibellese das Schwierigste, aber Gottes Stimme ist in der Bibel, wenn auch leise.

Dietrich Bonhoeffer sagt über sich selbst, daß er kein Christ gewesen sei, als er die Bergpredigt noch nicht gelesen hatte. Zu dieser Erkenntnis erlangte Bonhoeffer als er sich zu Beginn der 30er Jahren aufgrund eines Stipendiums an der Union Theological Seminary in New York aufhielt. Die an dem Institut vertretene Theologie der Professoren, u.a. Reinhold Niebuhr, orientierte sich am "social gospel", an der Einsicht, daß das Evangelium eine soziale und politische Dimension hat. Durch Freunde, insbesondere den schwarzen Mitstudenten Frank Fisher, lernt Dietrich Bonhoeffer die Situation der schwarzen Bevölkerung in den Ghettos und auch deren Bibelfrömmigkeit kennen. Ebenso lernt er von dem französische Pfarrer Jean Lasserre dessen Einstellung zur Bergpredigt. In einem Brief an seinen Bruder Karl-Friedrich vom 14.1.1935 schreibt Dietrich Bonhoeffer: ,,Ich glaube zu wissen, daß ich erst innerlich klar und aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge, ernst zu machen ... Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromißlos einzustehen. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus sei so etwas."27

Immanuel Kant, der große Aufklärer und Philosoph, der Gott und die Unsterblichkeit in Frage stellt, sagt über die Bibel, daß diese tröstet. Er beruft sich auf Psalm 23,4, in dem es heißt: ,,Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich." Diese Worte sind für Kant die ,,wichtigsten und tröstlichsten vier Worte der Bibel"28. Zur Bedeutung der Bibel äußert sich Kant folgendermaßen: ,,In der Existenz der Bibel als ein Buch für alle Menschen liegt der größte Nutzen, den die Menschheit je erfahren hat. Jeder Versuch, ihre Bedeutung zu schmälern, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit."29

Der Schriftsteller Bertold Brecht antwortete auf die Frage nach seiner liebsten Lektüre mit dem Satz: ,,Sie werden lachen - die Bibel."30

Für Marc Chagall stellt die Bibel ein Medium dar, die ihn für seine Malerei inspiriert, was sich in seiner Bibelillustration und den von ihm gestalteten Glasfenstern in der Kathedrale von Reims31 zeigt. Die Weisheit der Bibel erfüllt und beruhigt ihn.

Zusammenfassend ist die Bibel die Anrede Gottes an den Menschen, ein Liebesbrief sozusagen, die Begegnung mit Christus und ein Mittel zur Alltagsbewältigung. Die Bibellese soll in eine Zeit der Stille und Besinnung eingebettet sein. Der meditative Charakter der Bibellese kann eine Antwortmöglichkeit auf das moderne Leben sein, das voller Geschwindigkeit und Streß steckt. Auch bei noch soviel Streß sollte jeder Christ als Minimalziel die Losungen lesen. Sehr unterstützend kann ein Bibelleseplan sein oder eine Jahresbibel, die genaue Vorgaben zur Bibellese macht.

2. Das Gebet

32 Wie ist ein Gebet zu verrichten? Im 2.Mose 32,7 sprechen Gott und Mose auf ,,Du und Du" miteinander. Nicht der Mensch spricht Gott an, sondern Gott geht auf Mose zu. Dies widerspricht unserem Verständnis von Beten. Unter Beten wird oft ein Reden in distanzierten liturgischen Formen verstanden. Franziskus spricht von Gott in der Eigenschaft eines Vaters, ist sich dennoch des Abstandes zwischen Mensch und Gott bewußt. In 1.Samuel 1,9-18 geschieht das Gebet von Hanna in der Hoffnung auf Erhörung. ,,Bittet, so wird euch gegeben" ist die zentrale Aussage in Lukas 11,5-13. Bedingung dafür ist die Ernsthaftigkeit und das Engagement des Gebetes. In Johannes 14,13f spricht Jesus: ,,Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun." Jesus ist in einer Vermittlerrolle zwischen Gott und dem Menschen. In der Bergpredigt, Matthäus 6,5-15, kritisiert Jesus das öffentliche Beten als Heuchelei und präferiert: "Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir´s vergelten."

Folgend möchte ich nun aus der Vorlesung "Spiritualität" <die kleine Theologie des Gebets > darlegen:

1) Wenn wir vor Gott treten und beten, entsprechen wir der Bestimmung, zu der uns Gott geschaffen hat.

2) Dialogcharakter des Betens, d.h. Beten ist mehr als nur reden, sondern bedeutet auch hören. Gott soll auch zu Wort kommen, indem man z.B. in die Stille hineinhört.

3) Ein Gebet muß nicht aus schönen, gekünstelten Worten bestehen. Auch ist nicht die Länge des Gebetes entscheidend. Angst vor Blamage ist hier völlig fehl am Platz. Der Beter soll im Gebet alles zur Sprache bringen, was ihn bewegt. Beste Voraussetzung dafür ist ein Raum, in dem man total ungestört ist. Zinzendorf hat z.B. aus diesem Grund Gebetsgemeinschaften abgeschafft.

4) Die Grundformen des Gebetes sind Klage, Bitte, Fürbitte, Dank und Lob:

_ Die Klage gehört selbstverständlich zur menschlichen Existenz dazu. Sie ist Bestandteil der gelingenden Beziehung zu Gott und gehört auch in ein heiles Gottesverhältnis. Die Klage soll daher nicht unterdrückt werden, denn sie ist hilfreich bei der Verarbeitung von Trauer.
_ Die Fürbitte erschließt Kraftpotentiale für andere. Luther war der Auffassung, daß aufgrund seiner Fürbitte Melanchthon nicht gestorben sei und es zu seinen Lebzeiten in Deutschland zu keinem Krieg gekommen ist.
_ Das Lob stellt für die Frommen im Alten Testament eine Form der Freude am Dasein dar. Der Mensch und die Geschöpfe (siehe Kapitel III Lobgesänge) sollen mit ihrer ganzen Existenz Gott loben. Ort des Lobes ist die menschliche Tiefe, wo die Klage in Lob umschlagen kann.

5) Die Hoffnung auf Erhörung im Gebet. Diese Gewißheit besaß Jesus und er wollte sie an seine Jünger vermitteln, um sie zu einem sorglosen Leben vor Gott zu ermutigen. In Markus 11,24 heißt es: ,,Darum sage ich euch: Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubt nur, daß ihr`s empfangt, so wird`s euch zuteil werden."

6) Im Gebet erhält der Beter die Möglichkeit, Anteil am Leben Gottes zu haben. Der Beter hat die Gelegenheit, die Welt von der Perspektive der Ewigkeit aus zu sehen. Obwohl der Mensch sich auf einem hohen technischen Niveau befindet, bewegt er sich bei der Dimension des Geistes auf ,,Steinzeitniveau". Aus einem Gebet für die Ewigkeit wächst auch eine neue Einstellung zur Welt. Eine Fürbitte kann die Teilnahme an der Weltregierung Gottes bedeuten.

7) Ort des Gebetes ist und bleibt der Raum des Glaubens. Der Nachweis von Gottes Hilfe gegenüber einem Ungläubigen ist schwierig. Gott zeigt sich in unserer Welt in Verhüllung und offenbart sich unter dem Anschein des Gegenteils. Im 1. Römerbrief 8,26 steht: ,,Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich`s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt." Unser Gebet erfolgt in der Stille und im Vertrauen zu Gott. Nicht immer erhalten wir sofort eine Antwort und es kann so aussehen, als ob Gott sich zurückgezogen hätte. In diesen Zeiten soll man nicht den Glauben verlieren, sondern sogar intensivieren.

Bei der praktischen Gestaltung meines Gebetes kann ich ein freies Gebet oder ein vorformuliertes Gebet sprechen. Ich kann mich genauso beispielsweise auf den Psalter oder auf ein Lied aus dem Gesangbuch beziehen.

3. Gnadenmittel- Die evangelische Beichte

Martin Luther schreibt in seinem Großen Katechismus: ,,Darümb, wenn ich zur Beichte vermahne, so tue ich nichts anders, denn daß ich vermahne, ein Christ zu sein. Wenn ich dich dahin bringe, so habe ich dich auch wohl zur Beicht gebracht." Luther entwickelte seine eigene Art von Beichte als Reaktion auf die Beichtpraxis der katholischen Kirche, die einen Beichtzwang hatte und nur die Absolution für wirksam hielt, wenn alle Sünden bekannt wurden. Luthers Verständnis von der Beichte ist das folgende: ,,Man soll wohl dazu reizen, aber nit treiben, man soll dazu locken, aber nit zwingen. Man soll die Leute darin bestärken, aber man soll nit drohen und schrecken mit der Beicht. Frei, willig und gern soll man beichten. Kann man das nit tun, so lasse man das Treiben anstehn."

Verfolgt man den Verlauf der Geschichte der Beichte, so stellt man fest, daß die Beichte im Leben des Christen im 21. Jahrhundert nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Das Angebot Gottes an den Menschen war im 17. Jahrhundert verpflichtend und mit einer Geldzahlung verbunden. Seit der Aufklärung ist der Mensch autonom und sieht es nicht mehr als notwendig an, daß sein Gewissen von anderen Menschen diktiert wird. Und heute? Die Sünden und Probleme der Menschen haben sich bestimmt nicht in Luft aufgelöst, doch viele Menschen nehmen sich lieber einen Psychoanalytiker oder Psychologen zur Verarbeitung ihrer Probleme zur Hand. Ich möchte bestimmt nicht zum Ausdruck bringen, daß die Psychoanalyse keinen Nutzen hat, sondern ich möchte hier das Verhalten kritisieren, daß das oft Naheliegendere für einen Christen, die Beichte, nicht mal in Erwägung zur Lösung z.B. von bestimmten seelischen Problemen gezogen wird. So sollte sich doch jeder Christ die Frage stellen, ob nicht eine Lösung seiner Probleme durch ein Beichtgespräch mit einem Pfarrer oder einem guten Freund, Familienmitglied anhand eines Beichtspiegels33 und/ oder Beichtordnung34 erfolgen könnte. ,,Ich will dir die Schlüssel des Himmelsreich geben: alles was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein" (Mt 16,19).

4. Die Kirchenmusik

Im dritten Kapitel sahen wir bei Franziskus, daß seine gedichteten Lobgesänge eine ganz bestimmte Art der Ansprache an Gott sind. Mit dem Lobgesang wollte er alle Geschöpfe auffordern, Gott zu loben, aber er wollte auch Trost damit spenden, wie bei dem ,,Mahnlied für die Schwestern der heiligen Klara" (vgl. Schriften 138). Von Franziskus wird berichtet, daß er oft in überschäumender Freude anfing zu singen oder zu tanzen.

Klaus Berger schreibt folgendes über das Singen: ,,Das Lied .. ist Gabe Gottes und Eintrittskarte in den himmlischen Bereich Gottes und der Engel. Singen wird damit zum Zeichen der Erlösung und ist eine Art <Sakrament>" (Berger 200).

Das durch Luther geprägte Kirchenlied als Bekenntniswort ist bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Mittelpunkt der evangelischen Kirchenmusik. Er faßte Anregungen aus vorreformatorischen deutschen Liedern, liturgischen Gesängen der mittelalterlichen Kirche, volksliedhaften Bestandteilen, religiösen und dichterischen Elementen aus der Bibel (Psalmen), hussitischem Choral zu einem Gemeindelied (,,Wir-Lied") zusammen. Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Kirchenmusik ist ,,unmittelbarer Ausdruck seines religiösen Glaubens lutherisch-orthodoxer Ausprägung. Musik ist für ihn ,zur Ehre Gottes und zur Recreation des Gemütes` da. Die Werke entstehen zweckgebunden im Dienste des ihm auferlegten Kirchenamtes und sind ganz mit der Liturgie verknüpft. In einer einzigartigen Weise schließen sich ein gewaltiger musikalischer Impuls, eine umspannende seelische Ausdruckskraft und eine die Musik völlig durchdringende Erfülltheit religiöser Vorstellungen zusammen, die in (heute erst zum Teil erhellte) musikalische Symbole gefaßt sind."35

Walter Blankenburg sagt über Bach im Zusammenhang mit dessen h-moll-Messe: ,,Bach tritt uns in der h-moll-Messe unbestreitbar auch als Theologe gegenüber, indem er in ihr bewußt trinitarische Theologie verankert und verschlüsselt hat. Möge niemand in der Verquickung von künstlerischem Schaffen und theologischem Denken einen Nachteil sehen! Denn solches Denken ist keine von Bachs gesamter geistiger Existenz abgesonderte Verstandestätigkeit, sondern in aller Lebensfülle und allem persönlichen Betroffensein unlöslich in sein kompositorisches Werk verwoben. Erkennt man das, werden einem letzte Tiefen seiner Kunst erschlossen."36

Diese Verschlüsselungen sind in den für die Barockzeit typischen Stilelementen wie der Zahlensymbolik und der Symmetrieform zu finden. Die ,,heilige Zahl 7" wird sowohl assoziiert mit den sieben Schöpfungstagen als auch mit der ,,göttlichen Geistesfülle gemäß Offenbarung Johannes 1,4". So steht beispielsweise das mit ,,Symbolum Nicenum" überschriebene Credo der h-moll-Messe ganz unter der Symbolzahl 7, was sich in einer siebenstimmigen Fuge dieses Satzes äußert, sieben Silben des Textes ,,Credo in unum Deum", sieben Einsätzen und einem siebentönigen Baß-Continuum.

Nicht zuletzt äußert sich die Schriftverbundenheit Bachs dadurch, daß die einzelnen Kompositionen teils mit dem Kürzel ,,DSGl" (= Deo soli Gloria; Gott die Ehre) teils mit dem Signum ,,J.J." (= Jesu, Juva: Jesu, hilf) versehen sind.

5. Die Gemeinschaft

Die Gemeinschaft des Franziskanerordens ist u.a. durch die ,,Bullierte Regel" geregelt. Aber wie ist unsere Gemeinschaft heute aufgebaut? Welche Regel hilft uns, auf den Pfad zu einer evangelischen Spiritualität zu gelangen? Sicherlich ist der Gottesdienst sehr hilfreich. Aber es bedarf weiterer Mittel und Methoden zur Vertiefung des Inhaltes von Gottesdienst und Bibel. Wünschenswert sind regelmäßige Hauskreise, in denen z.B. über Glaubensgrundsätze diskutiert wird, die Bibel zusammen gelesen wird, Seelsorgegespräche geführt werden oder einfach nur gesungen wird.

Meine Seminararbeit möchte ich nun mit dem Vorschlag an den Leser beenden, doch mal eine Reise im spirituellen Sinne durchzuführen. Was meine ich damit?

Goethe sprach davon, daß ,,Reisen bildet" und dem möchte ich hinzufügen hoffentlich auch im Spirituellen. Zum erweiterten Verständnis der Schriften des Franziskus ist es doch naheliegend, Assisi zu bereisen. Und das natürlich nicht allein, sondern, mein Vorschlag, in einer Gemeinschaft. In dieser wunderbaren Umgebung rund um Assisi spürt man schon den Hauch der Spiritualität des Franziskus bei der Ankunft und vieles erscheint einem aus den Schriften des Franziskus plausibler an den Orten, an denen der Poverello wandelte. Durch weitere vertiefende Gespräche und Diskussionen in der Gemeinschaft nimmt man genug Schwung für seinen Weg zu einer Spiritualität mit nach Hause. Zuhause fällt es dann einem hoffentlich nicht schwer, an die Ansatzpunkte der Reise im Sinne der Spiritualität anzuknüpfen. Dies bedeutet nicht, daß man nicht mehr an sich weiter arbeiten muß und in seinen gewohnten Trott zurückfallen kann. Selbstverständlich fällt auf einer Reise einem vieles leichter, dennoch soll zumindest der <Funke> mit nach Hause genommen werden. Natürlich muß es nicht Assisi sein, sondern es kann auch eine Studienfahrt nach Rom oder Jerusalem sein oder eine Meditationswoche in Taizé. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Nicht nur die Luftveränderung, auch die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema, sowie geführte Einzel- und Gruppengespräche in einer Gemeinschaft sind, meiner Ansicht nach, eine Bereicherung für den Glauben.

LITERATURVERZEICHNIS

Hans-Martin Barth, Spiritualität, Bensheimerhefte 74, Ökumenische Studienhefte 2, Göttingen 1993

Klaus Berger, Was ist biblische Spiritualität?, Gütersloh 2000

Walter Blankenburg, Einführung in Bachs h-moll-Messe, 5. Auflage, Kassel 1996

Dietrich Bonhoeffer, Werke, Band 5, München 1987

Das Neue Testament, nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Internationaler Gideonbund, Wetzlar 1992

Der Brockhaus in fünfzehn Bänden, Leipzig Mannheim 1998

Walter Dirks, Ein zarter, zäher, kleiner Mann, Eschbach 1987

K. Eßer, Studien zu den Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, hrsg. von E. Kurten OFM und Isidoro de Villapadierna OFMCap, Rom 1973 (Subsidia scientifica franciscalia, 4)

Erwin Fahlbusch, Spiritualität, Evangelisches Kirchenlexikon/ Internationale theologische Enzyklopädie, 3. Auflage, Göttingen 1996

Helmut Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994

Hrsg. deutsche Franziskaner, Die Schriften des heiligen Franziskus, 9. Auflage, Band 1, Werl/ Westfalen 1994

Frère Roger, Liebe und Staunen- Brief aus Taizé, 1/ 1995

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Martin Luther, Werke- Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar

Friedrich Rehkopf, Griechisches Lernvokabular zum Neuen Testament, Göttingen 1987

Hugo Riemann, Hugo Riemanns Musiklexikon, 8. Auflage, Berlin 1916

O. Schmucki, Das wiederentdeckte Mahnlied "Audite" des hl. Franziskus für die Armen Frauen von San Damiano, in: Separatabzug aus "fidelis", Provinzzeitschrift der Schweizer Kapuziner, 1981

Christian Schütz, Spiritualität, Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg 1992

Paul Schütz, Das Evangelium: Sprache und Wirklichkeit der Bibel in der Gegenwart, hrsg. von Hans F. Bürki, Brendow, 1984

Hrsg. JürgenTesch und Eckhard Hollmann, Kunst! Das 20. Jahrhundert, München, New York 1997

Karl Vossler, romanische Dichter, München o.J.[1938]

Wahrig, Fremdwörterlexikon, 4. Auflage, Gütersloh 1999

Gerhard Wehr, Franziskus von Assisi, erschienen in die GROSSEN, Band III/ 2, Zürich 1977

INTERNETVERZEICHNIS

Http://193.171.36.252/esh/bonhoeffer/ausstellung/berg.html

Http://www.derweg.org/mwbibela/wdbibel1.htm

Http://www.gemeinde-christi.ch/zurich/meinungen.htm

Http://www.minoritenorden.de

Http://www.seelsorge.net/javetha/seite3b2.html

[...]


1 Italien. Tommaso da Celano, 1190-1260, verfaßte 1229 und in einer erweiterten Form 1245- 47 zwei Biographien über Franziskus von Assisi.

2 Walter Dirks, Ein zarter, zäher, kleiner Mann, Eschbach 1987, S. 5f.

3 Http://www.minoritenorden.de.

4 Hier und im Folgenden: Ulrich Köpf, Franz von Assisi, Kurzliteratur, entnommen aus Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Band III (Mittelalter I), Stuttgart 1983, S. 285.

5 Gerhard Wehr, Franziskus von Assisi, erschienen in die GROSSEN, Band III/ 2, Zürich 1977, S. 606 (Wehr).

6 Auszug aus dem Testament des Franziskus von Assisi, Hrsg. deutsche Franziskaner, Die Schriften des heiligen Franziskus, 9. Auflage, Band 1, Werl/ Westfalen 1994, S. 217 (Schriften).

7 Des heiligen Franziskus Sonnengesang, ins Deutsche übertragen von Karl Vossler (in: K. Vossler, romanische Dichter, München o.J.[1938]).

8 Hier und im Folgenden: Klaus Berger, Was ist biblische Spiritualität?, Gütersloh 2000, S. 12f (Berger).

9 Zur Begriffsgeschichte vgl. A. Solignac, Art. Spiritualité. I. Le mot et l´histoire, in: DSp 14, S. 1142-1160.

10 Hans-Martin Barth, Spiritualität, Bensheimerhefte 74, Ökumenische Studienhefte 2, Göttingen 1993, S. 10ff (Barth).

11 Pelagianismus, die von Pelagius (~384,+418[?]) u.a. gegen Augustinus vertretenen Anschauungen, wonach es eine Erbsünde nicht gibt, der Mensch kraft der Gnade Gottes eine natürliche Fähigkeit (einen freien Willen) zum Bösen wie zum Guten besitzt und durch eigene Bemühungen das Heil erlangen kann, wenn er durch die Gnade unterstützt wird.

12 Eusebie [f.; unz.] Gottesfurcht, Gottergebenheit, Frömmigkeit; Ggs. Asebie [lat. <grch. eusebes «gottesfürchtig, fromm».

13 Erwin Fahlbusch, Spiritualität, Evangelisches Kirchenlexikon/ Internationale theologische Enzyklopädie, 3. Auflage, Göttingen 1996, S. 403.

14 Christian Schütz, Spiritualität, Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg 1992, S. 1171.

15 Zitate wurden entnommen aus: Hans-Martin Barth [siehe Fußnote 10], S. 12ff und Christian Schütz [siehe Fußnote 14], S. 1170ff.

16 Martin Luther, Werke- Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar, 7, 10, 6ff, zitiert nach Barth 45.

17 Ebd. WA 7, 22, 9ff.

18 Martin Luther, Werke- Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar, 7, 38.

19 Dietrich Bonhoeffer, Werke, Band 5, München 1987 (Bonhoeffer).

20 Der evangelische Pfarrer Roger Schütz, besser bekannt als Frère Roger, hat 1949 in Taizé eine Kommunität (heute 100 Brüder umfassend) gegründet, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts zu einer internationalen Jugendbegegnungsstätte entwickelt hat. Hier soll für die Jugendlichen eine Begegnung mit den unverfälschten Quellen des Evangeliums in einer Atmosphäre ökumenischer Spiritualität stattfinden.

21 Frère Roger, Liebe und Staunen- Brief aus Taizé 1/ 1995, S.7.

22 Sämtliche Auszüge aus den Originalschriften des Franziskus von Assisi sind entnommen aus: Hrsg. deutsche Franziskaner, Die Schriften des heiligen Franziskus, 9. Auflage, Band 1, Werls/ Westfalen 1994 (Schriften).

23 2 Celano 10, Bonaventura, Großes Franziskusleben, II, 1.

24 K. Eßer, Studien zu den Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, Hrsg. von E. Kurten OFM und Isidoro de Villapadierna OFMCap, Rom 1973 (Subsidia scientifica franciscalia,4), S. 321.

25 O. Schmucki, Das wiederentdeckte Mahnlied "Audite" des hl. Franziskus für die Armen Frauen von San Damiano, in: Separatabzug aus "fidelis", Provinzzeitschrift der Schweizer Kapuziner, 1981, Nr. 1, S. 12-24.

26 Paul Schütz, Das Evangelium: Sprache und Wirklichkeit der Bibel in der Gegenwart, hrsg. von Hans F. Bürki, Moers 1984., S. 17ff.

27 Http://193.171.36.252/esh/bonhoeffer/ausstellung/berg.html.

28 Http://www.seelsorge.net/javetha/seite3b2.htm.

29 Http://www.derweg.org/mwbibela/wdbibel1.htm.

30 Http://www.gemeinde-christi.ch/zurich/meinungen.html

31 Vgl. Hrsg. JürgenTesch und Eckhard Hollmann, Kunst! Das 20. Jahrhundert, München, New York 1997, S. 38.

32 Literaturhinweise zum persönlichen Gebet:

1) Anhang des neuen Evangelischen Gesangbuchs, Ausgabe für die evangelische Landeskirche in Baden, Karlsruhe 1995, 805 ff.
2) Taizé, Gemeinsame Gebete für das ganze Jahr, 2. Auflage, Freiburg/ Basel/ Wien 1998.
3) Walter Nigg (Hrsg.), Gebete der Christenheit, mehrere Auflagen.

33 Ein Beichtspiegel ist eine Anleitung für den Ratsuchenden. Dies kann z.B. anhand der Zehngebote erfolgen. Mit dem jeweiligen Gebot ist ein Fragenkatalog verknüpft, mit dem der Ratsuchende sich selbst überprüfen kann. In Verbindung beispielsweise mit dem Gebot "Du sollst nicht töten" kann sich dieser die Fragen stellen, ob es "einen Menschen- oder mehrere - dem ich nicht vergeben kann, was er mir - oder anderen - angetan hat" gibt oder ob " durch meine Schuld ein Kind vor seiner Geburt getötet" wurde.

34 "Eine 'Beichtordnung' kann eine Hilfe sein, den Übergang vom Seelsorge-Gespräch zur Beichte leichter zu finden und den beiden Beteiligten die Gegenwart Gottes bewußter zu machen.

35 Hugo Riemann, Hugo Riemanns Musiklexikon, 8. Auflage, Berlin 1916, S. 154.

36 Walter Blankenburg, Einführung in Bachs h-moll-Messe, 5. Auflage, Kassel 1996, S. 104.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung der Spiritualität des Franziskus von Assisi für die heutige evangelische Frömmigkeit
Hochschule
Universität Mannheim
Veranstaltung
Spiritualität - Geschichte, Theologie und Praxis
Note
1,25
Autor
Jahr
2000
Seiten
38
Katalognummer
V99479
ISBN (eBook)
9783638979238
Dateigröße
570 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bedeutung, Spiritualität, Franziskus, Assisi, Frömmigkeit, Spiritualität, Geschichte, Theologie, Praxis
Arbeit zitieren
Christof Buttgereit (Autor:in), 2000, Die Bedeutung der Spiritualität des Franziskus von Assisi für die heutige evangelische Frömmigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99479

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