Die Modernisierung in der Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk


Hausarbeit, 1998

24 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Kurze Biographie Mustafa Kemal Atatürks

3. Das Ende des Osmanischen Reiches 1918
3.1 Das Osmanische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht
3.2 Der schleichende Niedergang

4. Die Gründung der Republik durch Atatürk
4.1 Der Nationale Befreiungskampf - Die „Anatolische Lösung“
4.1.1 Die Kongresse von Sivas und Erzurum
4.1.2 Aufstände in Anatolien - Der Beginn des Befreiungskampfes
4.2 Die Gründung der Türkei
4.2.1 Der Friedensvertrag von Lausanne
4.2.2 Der Weg zur Republik
4.3 Kemalismus als Staatsform
4.3.1 Populismus
4.3.2 Laizismus
4.3.3 Nationalismus
4.3.4 Etatismus
4.4.5 Republikanismus
4.3.6 Revolutionismus
4.4. Probleme bei der Durchsetzung der Reformen

5. Momentane Situation in der Türkei/Ausblick auf die Zukunft

6. Fazit

7. Literaturliste

1. Einleitung

In dieser Hausarbeit soll anhand der Türkei die Problematik dargestellt werden, islamische Traditionen und Lebensweisen mit europäisch geprägten politischen Grundsätzen zu vereinbaren. Hierzu gehe ich vor allem auf die Reformen unter Mustafa Kemal Atatürk ein, die eigentlich keine Reformen waren, sondern eher als Staatsneugründung unter europäischen Parametern zu verstehen sind. Um diesem komplexen Thema gerecht zu werden, gebe ich zuerst einen kurzen Überblick über Mustafa Kemals Leben, bevor er mit dem Titel „Atatürk“ bedacht wird. Dies erscheint mir sinnvoll, um einen Hintergrund für die Intentionen Mustafa Kemals zu geben. Weiterhin werde ich im zweiten Teil der Arbeit kurz die Geschichte des Osmanischen Reiches beleuchten, vor allem im Bezug auf den Niedergang des Weltreiches. Hierbei gehe ich nur auf die historischen Fakten ein, eine kritische Auseinandersetzung würde zu weit führen.

Anschließend komme ich zum eigentlichen Teil der Arbeit, die Gründung der Türkei. Besondere Schwerpunkte lege ich hierbei auf die Person Atatürks und seine Staatserneuerung. Abschließend will ich die momentane Situation in der Türkei skizzieren und versuchen festzustellen, inwieweit der Kemalismus heute noch präsent und wirkungsvoll ist. Dabei gehe ich auf die aktuellen Probleme der Türkei ein; zu nennen wären dabei die zunehmenden Versuche zur Re-Islamisierung und die gleichzeitige starke Orientierung an den Westen, insbesondere an die Europäische Union. Abschließend soll die Frage geklärt werden, ob der Kemalismus der Türkischen Entwicklung im Allgemeinen dienlich war.

2. Kurze Biographie Mustafa Kemal Atatürks

Atatürk wurde als Mustafa am 12. März 1881 in Saloniki (heute Thessaloniki in Griechenland) geboren. Der Name Kemal („der Auserwählte“) stammt der Legende nach aus der Schule, da der Lehrer mehrere "Mustafa" in der Klasse unterscheiden mußte und jedem einen anderen Beinamen gab. Sein Vater war ein einfacher Zollbeamter und Holzhändler. Ab dem Alter von 5 Jahren besuchte er die Militärschulen von Saloniki und Monastir, da diese Schulen die einzige Möglichkeit boten, später im Osmanischen Reich Karriere zu machen und in Istanbul ein angesehener Mann zu werden. Die Schulen waren als Zentren des antitürkischen und griechischen Nationalismus bekannt. 1899 schaffte es Mustafa an die Militärakademie Istanbul zu gehen, an der er 1905 seine Ausbildung als Stabshauptmann abschloß.

Sein Engagement in der „Jungtürkenorganisation“ brachte ihm die Versetzung nach Syrien ein. Die Regierung des Osmanischen Reiches war gegen die Jungtürken, da diese gegen die Regierung arbeiteten und Reformen wie Frauenrechte und die Trennung von Staat und Kirche forderten.

3. Der Niedergang des Osmanischen Reiches

3.1 Das Osmanische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht

Das Osmanische Reich erreichte unter Sultan Mehmed II., genannt der Eroberer (1451-1481) den Höhepunkt seiner Macht. Nach der Eroberung Konstantinopels wurde diese zur Hauptstadt des Reiches erklärt. Der Sultan stärkte seine Stellung und baute die Verwaltung weiter aus.

Unter Selim I. (1512-1520) konnte das Osmanische Reich ganz Anatolien, Syrien und Ägypten besetzen. Nachdem Kairo erobert war ließ der Sultan den Kalifen, das religiöse Oberhaupt aller Muslime (eigentlich eine Würde ohne politische Macht), nach Istanbul bringen und sich das „Amt“ des Kalifen übertragen. Dadurch konnte der Sultan seine Herrschaftsposition weiter ausbauen, da der Kalif per Definition der rechtmäßige Vertreter des Propheten Mohammeds auf Erden ist. Der Sultan ist von nun an auch legitimes Oberhaupt aller Muslime. Gestärkt wurde die Würde durch die Tatsache, daß auch die heiligen Stätten Mekka und Medina unter osmanischer Herrschaft standen

Unter Süleyman „dem Prächtigen“ (1520-1566) erreichte das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung. Durch die Reformationskriege und Uneinigkeit der europäischen Staaten konnten die Osmanen weitere territoriale Gewinne auf dem Balkan verzeichnen. 1529 scheiterte der erste Angriff auf Wien, weite Teile Ungarns wurden jedoch osmanisch, darunter auch Ofen, der heutige westlich der Donau liegende Budapester Stadtteil Buda. Mit der Eroberung von Tunis erreicht das Reich den größten Einfluß auf das Mittelmeer (siehe Karte).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Osmanisches Reich um 1680

Um das Jahr 1680 umfaßte das Osmanische Reich Südosteuropa, Kleinasien, Teile Nordafrikas und der Arabischen Halbinsel. Microsoft-Karte1

3.2 Der schleichende Niedergang

Nach der Machtübernahme Selim II. (1566-1574) begann der langsame Verfall des Reiches, der ebenso lange dauerte wie sein Aufsteig. Steinbach gibt als einen der Faktoren für den Niedergang die „schlechte Qualität“2 der nachkommenden Herrscher an, die einschließlich Selim II. als Trunkenbolde bekannt waren. Das Reich wurde nach Steinbachs Meinung auch durch die anderen, vor allem europäischen Großmächte erhalten, die lieber ein schwaches Osmanisches Reich neben sich hatten, als selber machtpolitisch zurückzustecken, falls das Osmanische Reich zerfällt und der eigene Einfluß verlorengeht. Weitere Probleme im Reich waren die Versorgung der Bevölkerung und die Rückständigkeit der Reichsverwaltung.3

Erschien das Reich nach außen hin immer noch als starke Macht, wurden die innenpolitischen Probleme größer. Die Sultane zogen sich immer weiter aus der Öffentlichkeit zurück, die militärische Elitetruppe, die „Janitscharen“, gewann bald soviel Einfluß, daß sie auch Sultane absetzten konnte und immer häufiger versuchte in der Nachfolgerfrage tonangebend zu sein.

Der äußere Zerfall setzte mit der zweiten Belagerung von Wien 1683 unter Mehmed IV. (1648-1687) ein. Trotz einer 200.000 Mann starken Armee konnte Kara Mustafa Pascha sich nicht gegen die Habsburgischen Truppen mit ihren Verbündeten behaupten. Am 12.9.1683 verloren die Osmanen die Schlacht am Kahlenberg, 1686 wurde Ofen befreit. Vom Osten her bedrohte Zar Peter der Große das Osmanische Reich. 1699 wurde der „Friede von Karlowitz“ geschlossen, der die Osmanen weiter aus Europa zurückdrängte. Im „Frieden von Kücük Kaynarca“ 1774 wurde Rußland das Schutzrecht für alle auf osmanischem Gebiet lebenden orthodoxen Christen eingeräumt. Sultan Abdülhamit I. (1774-1789) mußte außerdem territoriale Verluste auf dem Balkan und in Europa hinnehmen.

Nachdem Napoleon 1798 Ägypten besetzt hatte, begannen in Istanbul Reformen des Staatswesens Gestalt anzunehmen. Ziel des derzeitigen Sultans Mahmut II. (1808- 1839) war es, das Osmanische Reich so umzugestalten, daß es von den europäischen Mächten als Teil Europas angesehen werden konnte. Durch den Erlaß des „Tanziamat-i Hayyriye“ (Heilsame Neuordnung) wurden Sicherheit, Ehre, Privateigentum und Religionsfreiheit garantiert. Auch Nicht-Muslime konnten dadurch gleichberechtigte osmanische Bürger werden.

Die geplante Verfassung Abdülhamit II. (1876-1909) scheiterte 1878 und wurde erst 1908 von den „Jungtürken“ wieder aufgenommen. Probleme bereiteten dem Sultan jedoch die Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb des Reiches. 1829 wurde Griechenland unabhängig, später Rumänien, Serbien und Montenegro. Weiterhin gewannen die europäischen Staaten, die sich mitten in der Industrialisierungszeit befanden, immer größeren Einfluß auf die Wirtschaft des Osmanischen Reiches. Durch Kapital aus Europa wurde das Reich mit Straßen, Eisenbahn und Stromleitungen ausgestattet. Die Entwicklung einer eigenen osmanischen Industrie wurde von Seiten der Europäer jedoch unterdrückt, da im Osmanischen Reich für Europas billige Waren ein großer Markt bestand.

1908 betraten die Jungtürken die politische Bühne und setzten in der Zeit bis 1918 umfassende Reformen in Gang. Atatürk unterstützte die Ideen der Jungtürkenbewegung, die auch seinen Idealen eines Staates entsprachen. Die Jungtürken traten für Gleichberechtigung der Frauen, Trennung von Staat und Kirche im Rechts- und Bildungswesen sowie Förderung der Industrie und Landwirtschaft. Das Staatssystem aus der Tanzimat-Zeit wurde durch den Ausschuß für Einheit und Fortschritt in Ansätzen demokratisiert. Die „Jungtürken“ scheiterten unter der Führung von Enver Pascha an Ihren Großmachtsträumen, die sie im Ersten Weltkrieg mit Hilfe der Deutschen als Bündnispartner zu realisieren versuchten4.

Mustafa Kemal selbst wurde trotz seiner Kritik am Waffenbündnis mit den Deutschen nach einem Sieg an den Dardanellen zum General befördert.

4. Die Gründung der Republik durch Atatürk

4.1 Der Nationale Befreiungskampf - Die „Anatolische Lösung“

Nach der Besetzung des Osmanischen Reiches und der Aufteilung der heutigen Türkei unter den Mächten der Entente agierte Mustafa Kemal in Anatolien, von wo aus er seinen Plan zur Befreiung der Türkei verfolgen konnte. Das Gebiet der Türkei war in mehrere Besatzungszonen aufgeteilt. Das Gebiet um Izmir unterstand den Griechen, der Bosporus und die Dardanellen-Meerenge waren unter internationaler Kontrolle, die ägäische Küste sowie das Gebiet zwischen Bursa und Adana kontrollierten die Italiener und die ehemals osmanischen Gebiete in Syrien kontrollierte Frankreich, der Irak unterstand Großbritannien; nur Ankara war freie Zone.

Mustafa Kemal verfolgte dasselbe Ziel wie viele Völker in der Geschichte: ein Volk, ein Land, eine Sprache und eine Kultur. Der neue türkische Nationalstaat sollte keine Herrschaft mehr über andere Völker ausüben, wie es im Osmanischen Reich gehandhabt wurde, jedoch im anatolischen Kernland eine homogene Volksgemeinschaft bilden. Mustafa Kemal drückte sein Ziel so aus: „Wir müssen uns der östlichen Zivilisation entziehen und der westlichen zuwenden. Wir müssen die Unterschiede zwischen Mann und Frau aufheben [...] Wir müssen die Schrift, die uns hindert an der westlichen Zivilisation teilzunehmen, abschaffen [...] und wir müssen uns in jeder Beziehung, bis hin zu unserer Kleidung, auf den Westen ausrichten.“5

Dieses Ziel versuchte Mustafa Kemal zuerst einmal publik zu machen, indem er die vom letzten Sultan Abdülhamit II. aufgebauten Telegrafenämter nutzte und seine Ziele im besetzten Land kundtat. Im Prinzip war der Türkische Nationalstaat schon im Telegrafennetz existent, bevor er politisch gegründet werden konnte. Unterstützung zu finden war nur zu Beginn schwer. Das Volk war mit dem Friedensvertrag von Sèvres 1920, der die Türkei in die o.g. Besatzungszonen aufteilte, unzufrieden setzt jedoch zunächst lieber auf die altbewährte Macht des Sultans6.

Mustafa Kemal hatte jedoch das große Glück, daß die Besatzungsmächte kriegsmüde waren und wenig Interesse an dem türkischen Gebieten hatten. So konnte Mustafa Kemal praktisch ungestört eine Nationalversammlung planen um seine Ideen in die Tat umzusetzen.

4.1.1 Die Kongresse von Sivas und Erzurum

Am 6. August wurde auf dem „Erzurum-Kongress“ der Nationalpakt konstatiert, dessen Inhalte Freiheit und Souveränität für das türkische Volk und die Festlegung der Grundrechte sind7. Mustafa Kemal konnte sich jedoch noch nicht sicher sein, im wieweit er auf seine Truppen und die Nationalisten in den Städten und Dörfern zählen konnte. Er mußte aber sicher gehen, daß er die Unterstützung bekommen würde. Kemal berief am 4. September 1919 einen Kongreß in Sivas ein, an dem Delegierte aus dem gesamten Kernland teilnehmen sollten, um vom „lokalen zum nationalen Handeln“8 zu kommen. Interessant ist, daß sowohl der Kongreß in Erzurum, wie auch in Sivas das Ziel verfolgten, das Kalifat zu erhalten und in den neuen Nationalstaat einzubinden9. Dies lag vor allem an den radikalreligiösen Teilnehmern des Kongresses, auf deren Unterstützung Kemal angewiesen war10. Gleichzeitig verkündete die Sultans-Regierung in Istanbul, daß eine Nationalversammlung einberufen werden sollte. Ziel der Aktion war es, die Kemalisten zu verunsichern und gegeneinander aufzuhetzen11.

Während in Sivas noch der Repräsentantenausschuß unter Vorsitz Mustafa Kemals tagte, entwickelte das Volk eine eigene Dynamik, um gegen die Besatzer vorzugehen. Überall bildeten sich „Kuvay-i Milliye“, Volksmilizen, die für die Befreiung kämpften. Die Kemalisten wurden sofort aktiv und widmeten sich der Organisation der Aktivitäten. Mustafa Kemal war sich nun sicher, daß er die Unterstützung des Volkes hatte. Über das Telegrafennetz sprach Kemal sich mit allen militärischen Befehlshabern in den Städten Erzurum, Erzincan, Mosul, Diyarbakir, Samsun, Trabzon, Ankara, Malatya, Kars, Konya und Bursa über das weitere Vorgehen ab. Die Kemalisten zogen am 27.12.1919 nach Ankara, um von dort die Aktionen der „Kuvat-i Milliye“ besser kontrollieren zu können. Die Kemalisten stellten dem Großwesir ein Ultimatum, in dem gefordert wird, die Regierung abzusetzen. Anderenfalls würden Maßnahmen zur Befreiung des Volkes von der „illegalen Regierung“12 ergriffen. Das Repräsentantenausschuss aus Sivas sollte eine Übergangsregierung bilden. Die Alliierten kamen in Bedrängnis, da die Nationalisten mittlerweile über eine gut gerüstete moderne Armee verfügten (s.u.). Die Alliierten wollten sich einerseits nicht von den besetzten Gebieten zurückziehen, andererseits bedeutete Widerstand gegen die Nationalisten unter Mustafa Kemal den Ausbruch eines Bürgerkrieges ungeahnten Ausmaßes und vor allem Ausganges. Die Briten entschlossen sich, ihre Truppen von den „gefährdeten“ Punkten in Anatolien abzuziehen. Der Rückzug aus Samsun und Eskisehir hatte zur folge, daß die Nationalisten nun das Kernland der heutigen Türkei kontrollierten.

Etwa zur gleichen Zeit, am 16. März 1919 marschierten die Engländer in Istanbul ein und lösten das Parlament auf. Dies zerstörte bei den Anhängern der Istanbuler Regierung die Hoffnung auf Befreiung durch den Sultan.

Die Parlamentsmitglieder und die gerade in Istanbul anwesenden Mitglieder des Repräsentantenausschusses flohen nach Ankara. Hier schlossen sich die beiden Köpfe des Kemalismus´, Mustafa Kemal und Ismet Inönü13 zusammen.

4.1.2 Aufstände in Anatolien - Der Beginn des Befreiungskampfes

Die Kemalisten konnten nach der Auflösung des Parlamentes von dem entstandenem Machtvakuum profitieren. Am 23. April 1920 wurde die „Große Türkische Nationalversammlung“ einberufen, die praktisch als Gründungsversammlung für einen neuen türkischen Staat diente. Die Nationalversammlung hatte die Kompetenzen der Legislative, Exekutiven und Judikative. Die Kemalisten planten, eine politische Autorität im anatolischen Kernland aufzustellen um die Fortsetzung des Aufstandes unter Führung der Nationalversammlung zu gewährleisten14.

Nach den ersten Erfolgen, während weiterhin ein Guerillakrieg gegen die griechischen, französischen und italienischen Truppen geführt wurde, entschloß sich Mustafa Kemal, Ankara als neue Hauptstadt und Parlamentssitz zu wählen. Die Aufstände der Bevölkerung in Anatolien gingen unvermindert weiter. Am 10. August 1920 unterzeichnete die osmanische Regierung das Abkommen von Sevrés, das offizielle Ende des Osmanischen Reiches15. Durch das Abkommen beabsichtigten die Besatzungsmächte, das Reich endgültig zugrunde zu richten und die Aufstände in Anatolien niederzuschlagen. Das Abkommen wurde von der Nationalversammlung nicht anerkannt, weiterhin stellten sie sich gegen die Initiative der Engländer, einen Kurdenstaat auf ostanatolischem Gebiet zu gründen16. Durch ein weiteres Abkommen mit Rußland (16. März 1921) bekam die Nationalversammlung weitreichende Unterstützung im Kampf gegen die Griechen, die ihrerseits durch Großbritannien unterstützt wurden17. Lenin rief beim „Kongreß der Ostvölker“ am 1. September 1920 zum gemeinsamen Kampf gegen die englischen Imperialisten auf18. So konnten die Griechen Anfang des Jahres 1921 bei Inönü19 geschlagen werden und die Armenier mit Einverständnis der Russen auf brutalste Weise in ihre Grenzen zurückgedrängt werden20. Damit war der Friedensvertrag von Sevrés nur noch ein Stück wertloses Papier.

Am 5. August 1921 wurde Mustafa Kemal zum Oberbefehlshaber der Armee ernannt, um die vorhergegangenen Niederlagen der türkischen Armee gegen die zurückschlagenden Griechen wieder wettzumachen. Mustafa Kemal mobilisierte praktische die gesamte Bevölkerung für den bevorstehenden Befreiungskampf. Nicht nur die Armee kämpfte, sondern auch Frauen und Kinder waren an der Front oder sorgten für Nachschub. In dieser Situation, in der die Türken ihr „Vaterland“ vor der Aufteilung der Besatzungsmächte verteidigen mußten, gelang es Kemal, in der Bevölkerung das Nationalbewußtsein zu wecken, welches für die Existenz seiner Bewegung immanent wichtig war21.

Am 20. Oktober 1921 gelang den Kemalisten, ein Abkommen mit Frankreich zu schließen, in dem beschlossen wurde, die französischen Truppen vom türkischen Territorium abzuziehen und die Kemalisten als unabhängige Regierung anzuerkennen22. Damit hatte die Armee praktisch den „Rücken frei“ um sich gegen die griechische Besatzungsmacht aufzulehnen. Am 26. August 1922 wurde die griechische Armee vom „Gazi“23 Mustafa Kemal besiegt und die letzte Besatzungsmacht vom Gebiet, das im Nationalpakt festgelegt worden war, vertrieben. Der Befreiungskampf war somit beendet; die Kemalisten begannen nun, den Staat politisch zu manifestieren. Als erstes beendete Mustafa Kemal per Gesetz am 1. November 1922 das Sultanat.

4.2 Die Gründung der Türkei

4.2.1 Der Friedensvertrag von Lausanne

Durch den Friedensvertrag von Lausanne gelang es den Kemalisten, die Souveränität über die befreiten Gebiete zu erlangen und einen Staat aufzubauen. Der Vertrag wurde nach monatelangen Verhandlungen am 24. Juli 1923 unterschrieben. Er beinhaltet hauptsächlich die volle Souveränität der Türkei, Rückzug der englischen Truppen aus Istanbul, Entmilitarisierung der Meerengen und indirekte englische Verwaltung der Erdölgebiete um Mossul24.

Da nun die außenpolitischen Parameter gesetzt waren, mußten die Kemalisten die politische Form des neuen türkischen Staates definieren. Im Lager der Kemalisten herrschte Uneinigkeit. Viele wollten die halbtheokratische Struktur des Sultanats beibehalten, andere befürchteten, daß Mustafa Kemal die Herrschaft an sich reißen und eine Diktatur errichten würde. Nach langen Diskussionen, in denen sich vor allem Rauf Bey als Sultanstreuer hervortat, zeichnete sich ab, daß Mustafa Kemal eine Republik durchsetzten wollte. Die Gegner Kemals erkannten, daß die Republik nicht abzuwenden war und konzentrierten ihre Kräfte darauf, Mustafa Kemal abzuhalten, möglicherweise alle Kompetenzen an sich zu binden. Im Parlament schwand die Zustimmung für Kemals Republikpläne zusehends25.

Noch regierte Kemal mit dem Kriegsrecht, daß ihm gestattete Oberkommandierender der Armee, Präsident und Kabinettschef gleichzeitig zu sein. Er hatte jedoch die Unterstützung des Volkes und der Armee hinter sich, mit der er das Parlament hervorragend unter Druck setzen konnte. Nachdem seine Vollmachten ausliefen, gründete er die „CHP“, die „Türkische Volkspartei“, die im ganzen Land verteilt war und von ihm persönlich auf seine Person eingeschworen wurde26.

4.2.2 Der Weg zur Republik

Im September 1923 jedoch verfehlten die Kemalisten bei den eingeführten Parlamentswahlen die absolute Mehrheit. Die islamistische Opposition wollte den von Kemal eingesetzten Kalifen zum Staatsoberhaupt machen. Kemal war am Tiefpunkt seiner Karriere. Da sich die Abgeordneten nach dem Rücktritt Mustafa Kemals Kabinett auf keine neue Regierung einigen konnten, bot Kemal an, „das Chaos unter der Bedingung zu beenden, daß sich das Parlament widerspruchslos seinen Vorschlägen fügte“27.

Dies machte Kemal den Weg frei, seine Ideen durchzusetzen. Am 29. Oktober 1923 hält er im Parlament die Rede, welche die Republik Türkei begründet. Er ruft eine autoritäre Republik aus, „die von einem mit der umfassenden Exekutivmacht versehenen Präsidenten regiert wird“28. Nachdem vierzig Prozent der Abgeordneten das Parlament verlassen haben, wird Mustafa Kemal einstimmig29 zum Präsidenten gewählt. In der neuen, zwölfköpfigen Regierung waren nur drei Generäle in Ministerposten berufen worden30.

Nun beginnt der radikale Umsturz im Alltag der Türken.

4.3 Kemalismus als Staatsform

Der Kemalismus gründet sich auf sechs Prinzipien31, Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus, Laizismus und

Reformismus/Revolutionismus. Im folgenden stelle ich kurz diese sechs Prinzipien und die danach durchgeführten Reformen vor.

4.3.1. Populismus

Durch das Prinzip des Populismus schuf Mustafa Kemal eine Gleichberechtigung der Bürger untereinander. Alle Titel und Privilegien aus dem Osmanischen Reich wurden aufgehoben. Allein durch die Tatsache, daß im Befreiungskrieg Männer und Frauen sowie Mitglieder der unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammen gekämpft hatten, wurde der Populismus in der türkischen Gesellschaft existent. Dazu zählt vor allem die Gleichberechtigung der Frau, die im osmanischen Reich praktisch keine Möglichkeit hatte, am Staatsleben teilzunehmen.

Als weitere Reformen wurden die Medressen, die höheren islamischen Schulen geschlossen, um allen Bevölkerungsschichten durch Einführung eines populistischen Bildungssystems die Chance auf eine einheitliche Schulbildung zu geben. Im Zuge der Modernisierung des Bildungssystems führt Mustafa Kemal am 1. Oktober 1928 die lateinische Schrift ein. Dadurch erreichte Kemal nicht nur seine immer gewünschte Annäherung an den Westen, sondern auch eine Verringerung des Analphabetentums, da durch die Alphabetisierungskampagnen viele Leute lesen und schreiben lernten32.

Im ersten Entwurf der Verfassung von 1921 wird der Populismus u.a. folgendermaßen manifestiert:

„Artikel 6 - Die Souveränität liegt einzig und unabdingbar bei der Nation, das Verwaltungssystem beruht auf dem Grundsatz, daß das Volk tatsächlich und persönlich sein Geschick lenkt“33

4.3.2 Laizismus

Den größten gesellschaftlichen Sprengstoff enthält zweifellos der Laizismus. Seit der französischen Revolution in der Staatsführung etabliert, führten die Kemalisten die Trennung von Staat und Kirche nun auch in der neuen Türkei ein. Während im Osmanischen Reich die Sultane zwar gleichzeitig Kalif waren (s.o.) versuchten die Kemalisten nun durch die Abschaffung des Kalifats am 3. März 1924 den Schritt zu einem westlich orientiertem Staat zu machen. Der letzte Kalif Prinz Abdulmecid geht ins Exil nach Paris. Die Säkularisierung nimmt ihren Lauf. Durch die Abtrennung der Religion von den Staatsgeschäften sind Spannungen entstanden, die bis heute für Probleme in der Türkei sorgen. Mustafa Kemal schrieb dem Volk weitreichende Änderung in ihrem Leben vor. Wahrsagerei wurde verboten, ebenso die vom Islam gebilligte Polygamie. 1925 wurde dem Volk westliche Kleidung verordnet, die traditionelle islamische Kopfbedeckung, das Fez wurde gegen westliche Hüte ausgetauscht. Kemal duldete bei der Durchsetzung dieser „medienwirksamen“ Reformen keinen Widerspruch, er soll einigen Männern das Fez auch mit dem Beil vom Kopf genommen haben34. Mustafa Kemal erlaubte der Presse, die eigentlich zensiert wurde, ihn bei jedem Verstoß gegen den Koran zu photographieren. Er trank in aller Öffentlichkeit Alkohol, zeigt sich in Badehose oder beim Tango tanzen mit seiner Frau. Kemal verachtet den Islam, er bezeichnete ihn öffentlich als „absurde Theorie eines unmoralischen Beduinen, [...] ein in Fäulnis übergegangener Kadaver, der unser Leben vergiftet“35.

4.3.3 Nationalismus

Der Nationalismus trat an die Stelle der „Umma“, der islamischen Glaubensgemeinschaft im osmanischen Reich. Als es um die Befreiung Anatoliens ging, mußten die Kemalisten einen Weg finden, die Bevölkerung gegen die Besatzer zu vereinen. Durch das Prinzip des Nationalismus konnte dies gelingen. Der kemalistische Nationalismus definiert sich nicht als konservativ, sondern als fortschrittlich und gleichberechtigt zu allen anderen modernen Nationen, bewahrt aber die Besonderheiten der türkischen Kultur und Gesellschaft36.

4.3.4 Etatismus

Der Etatismus der Kemalisten ist nicht wie in vielen Staaten an einen Idealismus gebunden, sondern eher Mittel zum Zweck. Finanzierte sich das Osmanische Reich aus der Landwirtschaft und Steuern aus den eroberten gebieten, mußte die kemalistische Regierung in die Wirtschaft des Landes eingreifen. Nach dem Befreiungskrieg war die ehedem schwache Wirtschaft kaum noch leistungsfähig und mußte von neuem aufgebaut werden. Auch hier verfolgten die Kemalisten ihr eigenes System. Sie distanzierten sich vom Kapitalismus genauso wie vom Sozialismus. Daher schufen sie das „Neue Wirtschaftsmodell der Türkei“37, in dem privates Vermögen mit dem Staat kooperiert. Dabei werden einige Bereiche den privaten Investoren und die größeren, vor allem Großkredite, dem Staat überlassen.

4.3.5 Republikanismus

Der Republikanismus in der Türkei war nicht nur eine Reform, sondern eine der weitreichendsten und wegweisenden Revolutionen überhaupt. Das Ziel dieser Revolution war einfach: das Volk sollte die Souveränität übernehmen. Die Umsetzung gestaltete sich jedoch als schwierig, da das türkische Volk überhaupt keine Erfahrung mit Selbstbestimmung hatte. Selbst unter den Kemalisten gab es Streit über die Einführung einer Republik, vor allem, weil man befürchtete, Mustafa Kemal würde die Republik als Diktator lenken. Kemal sprach sich immer wieder gegen Diktatorische Führungen aus, es erschien jedoch vielen Kemalisten seltsam, daß er im Parlament alle Kompetenzen innehatte (s.o.).

Realistisch erscheint da die Einschätzung von Professor Duverger, der die Türkische Republik „eine auf Demokratie abzielende republikanische Diktatur“ bezeichnete38. Andererseits kann man nicht von einer modernen Demokratie sprechen, da der Präsident der Nationalversammlung nicht abgesetzt werden kann, es kein Verfassungsgericht o.ä. gibt, das die Regierung kontrollieren kann.

4.3.6 Revolutionismus

Natürlich muß man berücksichtigen, daß innerhalb der kurzen Zeit der Reformen in der Türkei keine vollkommen „echte“ Demokratie eingeführt werden kann, berücksichtigt man vor allem die Tatsache, daß das türkische Volk Jahrhunderte lang immer nur von einem Einzelnen regiert worden ist. Der Übergang von einer Diktatur, die gerade im Osmanischen Reich über 600 Jahre funktioniert hat, in eine demokratische Staatsform ist dann auch für das Volk eine Vertrauenssache, die unter Umständen langsam wachsen muß.

Dieses Prinzip stellt eigentlich den Garant für eine ständige Erneuerung der in den anderen Prinzipien durchgeführten Änderungen dar.

Als wirkliche Revolutionen in der neuen Türkei ist die Einführung eines völlig neuen Rechts zu sehen.

1926 wurde die Schweizer Zivilgesetzgebung eingeführt und kurz danach ein Strafrecht nach italienischem Vorbild geschafften. Nach Aserbaidschan wurde auch in der Türkei das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt. Weiterhin wurden die Gesichtsschleier und die Ganzkörperverhüllung der Frauen abgeschafft. Weiterhin wurde die Musik in der Öffentlichkeit radikal auf den Westen umgestellt, die Trennung von Mann und Frau in der Öffentlichkeit wurde aufgehoben. Auch hier zeigte sich, daß die von oben verordnete Freiheit Zeit brauchte sich durchzusetzen. Vor allem auf dem Sektor der politischen Gleichberechtigung dauerte es, bis die Frauen überhaupt wußten, was sie mit dem Wahlrecht anfangen sollten39.

4.4 Probleme bei der Durchsetzung der Reformen

Wie bei jeder Reform stieß auch Mustafa Kemal auf Probleme. Er stellte die Türkei innerhalb kürzester Zeit von einer praktisch mittelalterlichen Struktur auf eine westlich orientierte Gesellschaftsform um. Das Problem daran war, daß das Volk mit solchen Rechten wie Wahlen oder der Gleichberechtigung der Frau (noch) nicht umzugehen wußte. Weiterhin hatte Kemal in den eigenen Reihen Widersacher, die die Reformen auf einem demokratischen Weg durchsetzten wollte. Mustafa Kemal war jedoch davon überzeugt, das auf demokratischem Wege keine durchgreifenden Reformen durchgeführt werden könnten. Er ließ die oppositionellen Generäle daraufhin geschickt entfernen. Einige wurden in Rente, andere auf einsame diplomatische Posten geschickt40. Spätestens jetzt wurde klar, das der Kemalismus ein „Ein-Mann- Regime“41 war. Ab 1930, nachdem Atatürk die wichtigsten Reformen wie die Einführung der lateinischen Schrift oder die Gleichberechtigung der Frauen eingeführt hatte und die Türkei auf den Weg in die moderne Welt gebracht hatte, arbeiteten er und seine Leute an der Einführung einer neuen Demokratie. Wie auch alle anderen Reformen vorher, wurde die Demokratie auf Atatürks Befehl erlassen, sogar die Gründung einer Oppositionspartei ging auf seinen Befehl zurück. Das kurze Gastspiel um die Gründung der „Liberalen Republikanischen Partei“ endete nach ca. 4 Monaten am 18. Dezember 1930, als religiöse Fanatiker den Vorsitzenden Fethi Okyar, der von Atatürk mit der Gründung beauftragt worden ist, ermordeten. Das Revolutionsbestreben der Kemalisten kam ins Stocken. Die versuchte Einführung der Demokratie 1930 führte zu massiven Konflikten in Armenien, an der Grenze zu Syrien und in den Kurdengebieten, wo die Bevölkerung protestierte und auch vor Gewalt nicht zurückschreckte42.

An der Einführung einer Demokratie scheiterte Atatürk. Das Volk war noch nicht weit genug um mit der rasanten Geschwindigkeit mit der Atatürk seine Reformen durchsetzte mitzuhalten. Außerdem war in der Politik der frühen Republik Opposition praktisch gleichbedeutend mit Re-Islamisierung. Nach dem Versuch, selbst eine Oppositionspartei zu gründen, die er kontrollieren konnte43, kehrte Atatürk zu seinen eigentlichen Prinzipien zurück. Die Regierung handelte wieder autoritär, die Diktatur wurde in die Republik eingebettet und bestand weiterhin mit allen ihren negativen Seiten. „Das Volk soll sich nicht mit Politik beschäftigen [...] Ich muß dieses Land noch zehn, fünfzehn Jahre leiten. Erst dann wird sich zeigen, ob das Volk fähig ist, sich selbst zu verwalten“44. Dazu kam er jedoch nicht mehr, er starb am 10. November 1938, sechs Jahre nach dieser Rede. Von 1932 an unterließen die Kemalisten jegliche Versuche zur Einführung einer Demokratie auf Befehl von oben. Eine echte Demokratie erreichte die Türkei erst am 14. Mai 1950, als erstmals freie und allgemeine Wahlen auf der Basis des Mehrparteiensystems durchgeführt wurden.

5. Momentane Situation in der Türkei/Ausblick auf die Zukunft

Die Trennung von Staat und Kirche stellt auch heute noch ein Problem in der Türkei dar. Die radikal-islamischen Strömungen geben sich mit der Stellung einer Opposition im System nicht zufrieden. Die Türkei schwankt schon fast beständig zwischen Modernisierung und Re-Islamisierung hin und her. Problematisch in diesem Zusammenhang ist die Stellung des Militärs, das auf Atatürk und seine Ideen einer Demokratie eingeschworen wird. So wird das Militär in letzter Instanz zum Wächter des Kemalismus. Seit der Gründung der Türkei hat das Militär starken Einfluß auf die Politik ausgeübt. Hatte Mustafa Kemal mit Hilfe der Armee die Republik gegründet, ist das Militär nun die einzige Instanz, die schlagkräftig genug ist, weitreichendere Reformen durchzuführen45.

„Die türkische Bevölkerung ist schwerfällig und ungebildet [...] und unfähig eine Volksbewegung zu bilden. [...] und bleibt angesichts der Geschehnisse, die es erlebt, einfach nur Zuschauer“ schreibt der französische Botschafter Spitzmuller am 15. Mai 1960 an Minister Couve de Murville46 und bringt damit die dominierende Haltung des Volkes zu den aktuellen politischen Problemen zum Ausdruck.

Die Armee handelte bei den Militärputschen nicht anders, als Atatürk selbst. Sie räumten Oppositionelle aus dem Weg, um der Modernisierung der Türkei nicht zu schaden. Die neue Verfassung die das Militär nach dem Putsch am 27. Mai 1960 ausarbeitete war fortschrittlicher, sozialer und gründete sich auf eine demokratische Ordnung47. Trotzdem erhielten die alten „Demokraten“ wieder eine Mehrheit bei den Wahlen, woraus zu schließen ist, daß die Mehrheit der Bevölkerung die Reformen der Armee auf kemalistischer Grundlage nicht angenommen hat.

1971 trat das Militär wieder in Aktion und setzte Ministerpräsident Demirel ab um gegen die aufkommenden linken Strömungen anzugehen, da diese mit dem Kemalismus nicht konform gingen. Demirel sagte dazu, das Ziel der Intervention des Militärs sei es „in einer Phase demokratischer Hoffnung die politische Macht an sich zu bringen“48. 1973 wurden die Fundamentalisten erstmals in die Regierung mit aufgenommen. Der Grund für den „Verstoß“ gegen das Kemalistische Prinzip keine Opposition an der Regierung zu beteiligen lag wohl an der Persönlichkeit des CHP-Vorsitzenden Bülent Ecevit, der die Nachfolge von Ismet Inönü in Atatürks Volkspartei übernahm. Er machte den Islamisten unter Führung von Necmettin Erbakan Zugeständnisse, die das Prinzip des Laizismus untergruben. So wurden Mittel- und Oberstufen an den Koranschulen wiedereröffnet und zugesichert, daß Absolventen dieser Schulen an den Universitäten aufgenommen würden.

Ecevit sah nach der Zypern-Krise 1974 seinen Fehler ein und trat zurück. Die Fundamentalisten wurden auch in der Öffentlichkeit aktiv. Aussprüche wie „Islam oder Tod“ waren fast schon an der Tagesordnung.

Trotzdem spiegelte der Zustand der ständig wechselnden Regierungen die Sichtweise der Bevölkerung und ihre Lebensweise wider. Erbakan benutzte den Kemalismus als Schutzschild um das Militär zu beschwichtigen. Die von ihm vertretene türkisch- islamische Synthese stellte er als nationale Bewegung im Sinne des Kemalismus dar49. Jedoch sah sich das Militär 1980 erneut gezwungen zu putschen, da die politische Situation Unsicherheit und Terrorakte linker wie rechter Gruppierungen hervorrief. Die Militärs verhängten das Kriegsrecht und lösten die Parteien auf. Mit neuer Verfassung wurde 1983 wieder eine Zivilregierung eingesetzt. In der Verfassung wurde z.B. der Religionsunterricht unter staatliche Aufsicht gestellt um die Islamisten zu kontrollieren.

Die Islamisten versuchen jedoch weiterhin kemalistische Prinzipien aufzuweichen. Der Artikel der Verfassung, der den Laizismus festschreibt stellt für sie eine Verletzung der Glaubensfreiheit dar. Weiterhin wehren sich die Islamisten gegen die Bestrebungen der Türkei Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft zu werden und favorisieren eine Umorientierung in Richtung der anderen islamischen Länder. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß die kemalistisch eingestellten Parteien eine Einheit gegen die Fundamentalisten bilden können, die mittlerweile einen Stimmenanteil von 20% innehaben. Jedoch ist es genauso unwahrscheinlich, daß die Türkei sich an die arabischen Länder orientieren wird, auch wenn die ablehnende Haltung der EU den Fundamentalisten heute dienlich erscheint50.

6. Fazit:

Die Türkei ist heute ein Staat, der zwischen zwei Kulturkreisen praktisch eingekesselt ist. Auf der einen Seite haben wir Europa mit einer starken Wirtschaftsmacht, auf der anderen Seite die arabischen Staaten. Die Türkei hat sich unter Atatürk von den arabischen Staaten abgewandt und gen Europa orientiert. Diesen Weg zu bewerten gestaltet sich als schwierig; sicher ist jedoch, daß die Türkei heute nicht der Staat wäre, der heute existiert, hätte Atatürk nicht gnadenlos seine Ideale eines westlich orientierten Staates verteidigt und unter Einsatz von Gewalt durchgesetzt. Die Frage stellt sich nun, ob der Kemalismus auch heute noch in der Türkei existent ist. Generell kann man beobachten, daß gerade junge Türken sich immer mehr auf Atatürks Wertvorstellung zurückbesinnen. Dies ist natürlich auch mit einem neuen Nationalitätsbewußtsein verbunden, daß gerade durch die Diskussion über den EU- Beitritt der Türkei genährt wird. Diese Situation birgt einen gewissen Widerspruch, denn immer häufiger ist auch aus türkischen Regierungskreisen zu hören, daß die Türkei sich auch in Richtung Arabien umorientieren kann, wenn der sogenannte „Christen-Club“ Europäische Union den Türken weiter verschlossen bleibt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Türkei bereits 1964 den Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt hat und nun zuerst Polen in die Gemeinschaft aufgenommen wird und sich die Staaten des Baltikums weiter oben auf der Liste befinden als die Türkei, stellt sich die Frage der zukünftigen Orientierung der Türkei mehr denn je.

Weiterhin bringt gerade die Aussichtslosigkeit auf eine bessere Wirtschaftslage den Fundamentalisten und deren Vision eines „Gottesstaates“ ungeahnte Sympathien ein. Daß die Fundamentalisten an einer Mitgliedschaft in der EU nicht interessiert sind, versteht sich quasi von selbst.

In diesem Zusammenhang bekommt das Werk Atatürks einen völlig anderen Stellenwert. Da die Armee der Türkei weder auf die Verfassung noch auf den Staat vereidigt wird, sondern auf den Staatsgründer, garantiert der Kemalismus, vertreten durch das Militär, die Hauptdirektive in der türkischen Politik. Dieses Prinzip wird jedoch nicht nur aus politisch-taktischen Gründen immer weiter aufgeweicht. Der Kemalismus gibt in der türkischen Politik die Richtung an, in allen Details kommt er nicht mehr zu Geltung, wohl auch da zum Beispiel eine staatlich gelenkte Wirtschaft gegen Ende des Jahrtausends nicht mehr ausreichend ist.

Interessant ist jedoch, daß sich trotz (oder gerade wegen) der ständigen Schwankungen zwischen Re-Islamisierung und Militärdiktatur eine Gesellschaft mit eigener Identität entwickelt hat. Insofern ist Atatürks Vorhaben geglückt, den Türken ihr Land und ihre Identität zu geben.

7. Literaturliste

Birand, Mehmet Ali: Die Beziehungen der Türkei zur EG, in: Inalcik, I.Halil: Die Türkei im Umbruch, 1988, S.187-207

Ender, Aydin: Ursprung und Vermächtnis des Kemalismus, in: Türkei - Staat und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1987

Hale, William: The Political and Economic Development of Modern Turkey, London, Sydney 1981, S. 33-116

Lord Kinross: Atatürk - The Rebirth of a Nation, London 1964

Macfie, A.L.: Atatürk, London, New York 1994

Tanör, Bülent: Der Verfassungswandel in der Türkei, in: Inalcik, I.Halil: Die Türkei im Umbruch, 1988, S.11-39

Weiker, Walter F.: The Modernization of Turkey, From Ataturk to the Present Day, New York, London 1981

Winter, Michael: „Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit, Nr.43, 17.10.97, S.17-20

Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997

Saribay, Ali Yasar: Der Einfluß der Religion auf die türkische Gesellschaft und ihre Rolle im politischen Leben, in: Özak, I.Halik/Dagyeli Yildirim (Hrsg.): Die Türkei im Umbruch, Frankfurt/Main 1989, S.88-112

Steinbach, Udo: Die Grundlagen der Türkischen Republik, in: Informationen zu politischen Bildung, Türkei, Nr.223, Hrsg. Bundeszentrale f. Politische Bildung, S.13- 16

Steinbach, Udo: Geschichtlicher Hintergrund, in: Informationen zu politischen Bildung, Türkei, Nr.223, Hrsg. Bundeszentrale f. Politische Bildung, S.1-12

[...]


1 "Osmanisches Reich um 1680," Microsoft® Encarta® 97 Enzyklopädie. © 1993-1996 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.

2 Steinbach, Udo: Geschichtlicher Hintergrund, in: Informationen zu politischen Bildung, Türkei, Nr.223, Hrsg. Bundeszentrale f. Politische Bildung, S.8

3 Steinbach, Udo: Geschichtlicher Hintergrund, in: Informationen zu politischen Bildung, Türkei, Nr.223, Hrsg. Bundeszentrale f. Politische Bildung, S.8

4 Winter, Michael :„Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit, Nr.43, 17.10.97, S. 19

5 Winter, Michael :„Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit, Nr.43, 17.10.97, S. 19

6 Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997, S. 49

7 Lord Kinross: Atatürk - The Rebirth of a Nation, London 1964, S.531f.

8 Lord Kinross: Atatürk - The Rebirth of a Nation, London 1964, S.185

9 Lord Kinross: Atatürk - The Rebirth of a Nation, London 1964, S.187

10 Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997, S. 49f

11 Ebenda, S.49

12 Lord Kinross: Atatürk - The Rebirth of a Nation, London 1964, S.193f.

13 Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997, S. 52f

14 Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997, S.53f

15 Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997, S.54

16 Auf die Kurdenproblematik werde ich hier nicht eingehen; der Konflikt zwischen den Kurden und der Türkei ist so vielschichtig, daß er genug Stoff für einen eigene Arbeit bieten würde.

17 Ebenda, S.55f

18 Ebenda, S.55f

19 Hier war Ismet Pascha Befehlshaber der Armee, er bekam später den Beinamen „Inönü“

20 Winter, Michael: „Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit Nr.43, S.20

21 Sahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997, S.58f

22 Ebd., S.59

23 Diesen Titel („Frontkämpfer“) bekam Mustafa Kemal nach dem Sieg von Sakarya; ein Beweis des Vertrauens, welches das Volk ihm entgegenbrachte, da er zwei Jahre vorher alle militärischen Dienstgrade abgelegt und als Zivilbürger die Unabhängigkeitsbewegung vorangetrieben hat.

24 Winter, Michael: „Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit Nr.43, S.20

25 Sahinler, Menter: S.63

26 Winter, Michael: „Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit Nr.43, S.20

27 Winter, Michael: „Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit Nr.43, S.20

28 Mustafa Kemal Atatürk, zitiert nach Winter, Michael: „Ich bin die Türkei“, in: Die Zeit Nr.43, S.20

29 Natürlich einstimmig, denn die Opposition hat das Parlament verlassen; gerade für die Islamisten kündigt sich eine unsichere Zeit an. Bemerkenswert ist, daß dieser Vorgang gerade bei türkischen Autoren fast keine Erwähnung findet.

30 Ismet [Inönü] Pascha (Ministerpräsident), Müsir Fevzi Pascha (Minister der Streitkräfte) und Kazim Pascha. Dieses Prinzip der weitgehensten Teilung von Politik und Militär wurde durchgehend beibehalten. Nach dem ersten Militärputsch 1960 befand sich nur noch ein General in der Regierung.

31 Macfie, A.L.: Atatürk, S.151

32 Sahinler, Menter, S.70

33 zitiert nach: Ebd. S.71

34 Winter, Michael, S.20 Anm.: Dies auch meist mit dem Kopf zusammen.

35 Zitiert nach: Ebd., S.20

36 Sahinler. S.82

37 ebd. S.83f

38 Duverger, Maurice; Le Kémalisme, Le pays d´Atatürk, LeMonde vom 27.05.1961, zitiert nach Sahinler, S.93

39 Steinbach, Udo: Die Grundlagen der Türkischen Republik, in: Informationen zu politischen Bildung, Türkei, Nr.223, Hrsg. Bundeszentrale f. Politische Bildung, S.15

40 Hale, William. The Political and Economic Development of Modern Turkey, London, Sydney 1981, S.115f

41 ebenda, S.128

42 Sahinler, Menter, S. 133

43 Es enthält eine gewisse Ironie, daß die Opposition praktisch den selben Führer haben sollte wir die Regierungspartei.

44 Benoist-Mechin: Mustafa Kemal ou la Mort d’un Empire. Paris 1957. S.414, zitiert nach Sahinler, Menter, S. 133

45 In seiner Rede an die türkische Jugend von 1927 übertrug Atatürk die Verantwortung für die Türkei der Jugend, um sich so vom Konservatismus zu lösen. Auch nennt er eine starke Armee als wichtige Einrichtung, um sich gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen.

46 zitiert nach Sahinler, Menter: S. 228

47 vgl. Tanör, Bülent: Der Verfassungswandel in der Türkei, in: Inalcik, I.Halil: Die Türkei im Umbruch, 1988, S.11-39

48 Sahinler, S. 236

49 vgl. Saribay, Ali Yasar: Der Einfluß der Religion auf die türkische Gesellschaft und ihre Rolle im politischen Leben, in: Özak, I.Halik/Dagyeli Yildirim (Hrsg.): Die Türkei im Umbruch, Frankfurt/Main 1989, S.98f

50 vgl. auch Saribay, Ali Yasar: Der Einfluß der Religion auf die türkische Gesellschaft und ihre Rolle im politischen Leben, in: Özak, I.Halik/Dagyeli Yildirim (Hrsg.): Die Türkei im Umbruch, Frankfurt/Main 1989, S.88-112

Die Diskussion über ein für und wieder des EU-Beitrittes der Türkei werde ich hier nicht behandeln, da dies aufgrund der komplexen Sachverhalte m.E. zu weit führen würde

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Modernisierung in der Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Veranstaltung
Theorieseminar "Theorien des Historischen Wandels"
Note
1
Autor
Jahr
1998
Seiten
24
Katalognummer
V99392
ISBN (eBook)
9783638978361
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Modernisierung, Türkei, Mustafa, Kemal, Atatürk, Theorieseminar, Theorien, Historischen, Wandels
Arbeit zitieren
Oliver Praceius (Autor:in), 1998, Die Modernisierung in der Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99392

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