Aus grüner Vorzeit


Hausarbeit, 1994

20 Seiten


Leseprobe


Aus grüner Vorzeit

Richard Beiderbeck

1981 erregte unsere Gemüter die Stationierung der Pershing II - Raketen und ich sah die Gefahr, daß Deutschland dabei war, zum Schlachtfeld der Supermächte zu werden. Vor dem Kaufhof am Münchner Marienplatz stand im Sept. 81 ein Info-Stand der "Frauen für den Frieden". Sie sagten mir, wo sich der Koordinationsauschuß der Müncher Friedensintitiativen treffen würde. Ich ging hin und traf viele bärtige und langhaarige Männern an, die so ganz unbürgerlich aussahen; vermutlich Marxisten, Kommunisten, Maoisten, schwule Anarchisten. Davon hob sich Dr.Walter Harless, der Kreisvorsitzende den Grünen von München Mitte wohltuend ab. Mir war auch klar, daß man, wenn man etwas bewegen will, eine Partei braucht. Er lud mich zur nächsten Versammlung der Grünen in der Kaulbachstraße ein.

Die Versammlung begann wie immer mit einer Diskussion zu einem aktuellen politischen Thema. Meistens ergriff August Haußleiter das Wort, der Herausgeber und Redakteur des Parteiorgans "Die Grünen". Haußleiter war nahezu 80 Jahre alt und machte die wöchentlich erscheinende Parteizeitung praktisch alleine. 1949 war Haußleiter Stellvertretender Vorsitzender der CSU gewesen. "Damals war die CSU auch noch eine fortschrittliche Partei", entschuldigte er sich. Später war er wie Walter Harless Mitglied der AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher) gewesen. Die Grünen bildeten sich am 17. und 18. März 1979 in Sindelfingen als Wahlbündnis aus AUD, GAZ (der "Grünen Aktion Zukunft" Herbert Gruhl's), der GLU ("Grüne Liste Umweltschutz) und anderen Splitterparteien und Bürgerinitiativen und Aktivisten, darunter der Künstler Joseph Beuys und die EG-Verwaltungsrätin Petra Kelly. Haußleiter wurde in Sindelfingen zu einem der drei gleichberechtigten Bundesvorsitzenden der Grünen gewählt.

Doch zurück zur Versammlung der Grünen in der Kaulbachstraße. Die fünf Münchner Kreisverbände hatten beschlossen, einen Ausschuß zu bilden, der ihre Aktivitäten koordinieren sollte. Jeder Kreisverband sollte zwei Delegierte in den sogenannten "Arbeitsrat" entsenden. Ich meldete mich begeistert und so kam es, daß ich erst eine Stunde bei den Grünen war und schon ein Amt hatte.

Der Arbeitsrat traf sich im alten Münchner Parteibüro in der Zieblandstraße. Gleich um die Ecke, in der Schellingstraße 50 war früher die Parteizentrale der NSDAP gewesen. Über dem Hauseingang ist heute noch rudimentär der Parteiadler zu erkennen. Gegenüber hatten die Eltern von Franz Joseph Strauß eine Metzgerei geführt und Strauß konnte von dem Laden aus die Parteigrößen beobachten. Hitler war oft im Schelling Salon oder in der Osteria Italiana. In einem Hinterhof gegenüber NSDAP-Parteizentrale hatte sich die Druckerei des "Völkischen Beobachters" befunden.

Die Grünen waren 1981 in einer ungeheuren Aufbruchstimmung. Sie hatten erste Erfolge gehabt und fühlten sich berufen, eine neue und bessere Welt aufzubauen. Liebe, Anstand und Moral sollten in die Politik einkehren. Nicht Militarismus, sondern Pazifismus sollten in Deutschland herrschen. Nicht rücksichtsloses industrielles Wachstum, sondern sanfte Technologien und Schonung der Umwelt waren der richtige Weg. Diese Botschaft verkündeten wir begeistert. War von der Schellingstraße aus das Unglück, das ungeheure und beschämende Verbrechen und der Krieg ausgegangen, so sollte von der Zieblandstraße aus der Frieden, die Sanftheit, das Gute in jeder Form ausgehen. Was unsere Väter und Großväter falsch gemacht hatten, das wollten wir richtig machen. Wir waren angetreten, um die Maßstäbe der Politik von Grund auf zu revolutionieren. Nicht das Geld, sondern die Liebe zur Natur und den Menschen sollte die Republik regieren, nicht die Industrie, sondern der Umweltschutz sollte maßgebend sein, nicht die Parteien und Lobbyisten, sondern die Bürger sollten die Politik bestimmen.

In der Zieblandstraße trafen sich die Grünen aller Stadtteile und Schattierungen. Georg Welsch, der später ein bekannter Münchner Kommunalpolitiker wurde, kam öfters mit seinen Vorschlägen und Wünschen an seine Partei. Es kam auch eine Abordnung der Kurden, die wollten, daß wir uns für sie einsetzen. Öfters kreuzte auch ein Vertreter des "Arbeitskreises Schwule" auf, die erwarteten, daß wir uns für ihre Belange einsetzen. Da die Grünen auch einen gewissen Neuigkeitswert und auch Sympathien bei den Journalisten hatten, kam auch Rudi Küffner vom bayrischen Rundfunk und wies darauf hin, daß er in seinen Sendungen schon viel für die Verbreitung der grünen Idee getan hat.

Manche von denen, die kamen, wollten gar nicht mehr fortgehen, so z.B. ein Wehrdienstverweigerer aus Norddeutschland, der einige Wochen auf der Couch der Parteizentrale wohnte. Andere kam auch gar nicht rein, wie z.B. ein Behinderter, der in seinem Auto eine halbe Stunde im Schneegestöber vor dem Haus stand, weil wir vergessen hatten, ihn hereinzubringen.

Meine Aktivitäten als Arbeitsrat bestand zunächst darin, daß ich mit Hilfe der Bohrmaschine ein Regal an die Wand machte. So verschaffte ich mir lautstark das Image des Machers und Aktivisten. Wann immer ich jemanden traf, der mir besonders wichtig oder sympathisch erschien, ließ ich ihn Adresse und Telefon-Nr. in mein Notizbuch eintragen. Angerufen habe ich aber praktisch nie jemanden, obwohl es bei den Grünen sehr hübsche Frauen gab.

In den Arbeitsratssitzungen ging es meist um den Austausch von Terminen von Veranstaltungen und Aktionen. Mal war hier eine Radeldemo, mal dort eine Spontandemonstration gegen die Neutronenbombe. Mal war Hiroshima-Tag (6.Aug.), mal war Anti-Kriegs-Tag (1.Sept.). Es ging darum, wer wo Plakatständer anmeldet und aufstellt, welche Slogans man auf die Transparente schreibt und wo man einen Infotisch macht. Die Termine wurden dann von uns in unserem Kreisverband bekanntgegeben.

Natürlich nahmen wir dann auch selbst an den Demo's teil. 1982 war auf dem Odeonsplatz eine Kundgebung gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen. Dr. Harless und ich hatten einen Infostand aufgebaut. Es sprach eine Reihe von Prominenz, darunter auch Dorothee Sölle und Petra Kelly. Am besten gefiel mir aber ein Redner, der sagte: "Es heißt, die Bundeswehr ist für unsere Verteidung zuständig. Aber ich fühle mich von niemanden bedroht. Und zu meiner Verteidigung reicht ein Regenschirm aus." Als die Kundgebung zu Ende war, packten wir schnell den Infostand zusammen und holten unser Transparent hervor. Darauf stand: "Raketen-Schmidt, wir zieh'n nicht mit!" Vielleicht wird sich der eine oder andere noch daran erinnern, daß es einmal einen SPD-Bundeskanzler gab, der das Wettrüsten vorantrieb. Seine Politik hat die Grünen groß gemacht und die SPD in die Opposition geführt. Abgesehen davon habe ich den Mann eigentlich bewundert. Er konnte sehr überzeugend reden und machte einen kompetenten, wenn auch manchmal überheblichen Eindruck. Wir nahmen also unser Transparent und marschierten durch Sonnen- und Lindwurmstraße zur Theresienwiese. Die Veranstalter erinnerten sich vermutlich an den 7. November 1918, als eine große Friedenskundgebung auf der Theresienwiese stattfand. Damals machte Kurt Eisner im Anschluß an die Kundgebung seinen Staatsstreich, indem er mit Rüstungsarbeitern, Soldaten und Bauern die Kasernen hinter der Donnerbergerbrücke besetzte. Er ließ sich am Abend im Mathäserbräu zu Ersten Vorsitzenden des Arbeiterrates wählen. Die Arbeiter- und Soldatenräte zogen dann in das Parlamentsgebäude in der Prannerstraße, wo Eisner den "Freien Volksstaat Bayern" ausrief und sich zum Ministerpräsidenten machte. Der König war schon im Auto entflohen.

1992 gab es keinen Staatsstreich, sondern nur eine Menge rote Fahnen.

Aber wir stürmten nicht die Siemens-Hauptverwaltung, auch nicht das BMW-Hochaus und noch nicht mal die Staatskanzlei.

Einer der Arbeitsräte der Münchner Grünen war früher Mitglied der kommunistischen Partei. Jetzt war er ins Arbeitgeberlager gewechselt und Taxiunternehmer. Bei den Kommunisten hatte er erfahren, was eine Kaderpartei ist, nämlich eine Partei, die von Parteifunktionären absolut beherrscht wird. Deshalb war er jetzt ein überzeugter Anhänger der Basisdemokratie.

"Keine Macht für niemand" war sein Credo. Wir verbrachten viel Zeit im Arbeitsrat mit Diskussionen, ob Basisdemokratie und imperatives Mandat praktikabel sind. Ein Gewerkschafter in grüner Lederjacke betonte, daß die Basisdemokratie völlig ineffizient ist. Ich warf die Frage auf: "Wer ist eigentlich die Basis? Sind es die grünen Parteimitglieder, oder sind es vielleicht alle Grünwähler?" Wie sollte man den Willen der Basis überhaupt erfahren?

Der Konflikt über die Basisdemokratie lähmte eine Zeitlang ziemlich unsere Arbeit, und ein Arbeitsrat stellte fest, "daß wir eine miserabele Gruppendynamik haben". Schließlich trafen wir uns im Stadtteil Neuhausen, um eine Konferenz über die Basisdemokratie abzuhalten. Aber die Fronten blieben verhärtet. Ich sagte damals den Grünen voraus: "Auch die Grünen werden eine ganz normale Partei werden." In einem Artikel in der "Grüze" ("grüne Zeitung") des Landesverbandes Bayern vertrat ich in dem Artikel "Die neue Mitte" die Ansicht, daß die Grünen versuchen sollten, an das Wählerpotiential in der Mitte heranzukommen. Es war dies im Grunde der Konflikt zwischen Fundi's und Realo's, der die Grünen seit ihrer Gründung begleitete. Es ist der gleiche Konflikt wie der zwischen SPD und Kommunisten, zwischen Menschewiken und Bolschwiken, oder (in der Französischen Revolution) zwischen Girondisten und Jakobinern. Die einen wollen radikal und kompromisslos die Wirklichkeit nach ihren Idealen verändern, die anderen wollen Kompromisse machen und sich der Realität anpassen. In ruhigen und normalen Zeiten siegen die Gemäßigten, in Zeiten der Not und der Verwirrung siegen die Radikalen.

Im Anschluß an die Konferenz trafen sich Freizeitrevoluzzer und grüne Spießbürger friedlich im Cafe Rufini.

Im Jahr 83 waren in Bayern Landtagswahlen. Da galt es ein Wahlprogramm zu entwerfen.

Für jedes Sachgebiet gab es eine Arbeitsgruppe. Jede Arbeitsgruppe legte einen Entwurf vor. Die Landesgeschäftsstelle in der Kapuzinerstraße vervielfältigte die Entwürfe und schickte sie an die Parteitagsdelegierten. Es gab auch Alternativorschläge. Auch die mußten kopiert und versandt werden. Ich hatte eine Alternativorschlag zur Präambel geschrieben. Daraufhin schrieb Haußleiter einen Alternativvorschlag zu meinem Alternativorschlag. So hatten wir drei Versionen. Der Landesgeschäftsführer war sauer, weil die Geschäftsstelle alle drei Versionen an alle Delegierten schicken mußte. Basisdemokratie ist sehr mühsam, wenn man sie ernst nimmt. Zur Strafe mußte ich mich mit den andern Aktivisten 500 mal den Tisch in der Landesgeschäftsstelle umkreisen und die einzelenen Seiten der Entwürfe aufeinanderlegen.

Um die Präambel abschließend zu diskutieren, wollten wir uns in einem Lokal in der Hesstraße treffen. Aber wir standen vor verschlossenen Türen. Wir fanden jedoch eine Ausweichmöglichkeit beim "Netzwerk". Wnd in der Tat, die Grüne Bewegung war weit mehr als eine Partei, sie war ein Netzwerk von vielen Gruppen, der Frauenbewegung, der Graswurzelrevolution, des Bund Naturschutz, der Friedensinitiativen. Die Mehrheit der selbständig denkenden Jugend war grün und links. Ein großer Teil der Studenten und viele Intellektuelle waren Sympathisanten der Grünen. Die Intellektuellen sind diejenigen, die den Leuten sagen, was sie denken sollen. Was von der grünen Bewegung und ihren Vorläufern vorgedacht worden war, das wurde innerhalb von 10 Jahren Allgemeingut - bei allen Parteien und in allen Gesellschaftsschichten. Dieselbe Sorte Leute, die uns 1981 als grüne Spinner verlachten, verkündeten sieben Jahre später im Brustton der Überzeugung ihre neu gewonnene Weltanschauung - unsere grüne Weltanschauung. Aber sieben Jahre später fand ich das alles ziemlich langweilig.

Auf dem Programmparteitag kam es dann zu heftigen Diskussionen, weil vereinzelte Randgruppen, z.B. die Nürnberger Stadt-Indianer oder die Schwulen und Lesben ihre extrem Positionen in des Programm drücken wollten. Durch Geschäftsordnungstricks und durch geschickte Anträge gelang ihnen das im allgemeinen Chaos auch manchmal. Im Großen und Ganzen arbeiteten die Grünen aber fleißig und diszipliniert.

Auf den Parteitagen dominierten oft diejenigen, die schon in anderen Parteien, z.B. bei den Jungliberalen oder bei der SPD Erfahrungen gesammelt hatten. Sie wußten, wie man sich in Szene setzt und eine Versammlung beeinflußt. Im Vorteil waren auch Lehrer, Anwälte oder andere "Mundwerker", während wir anderen, unbedarften Grünen die Kulisse abgaben. Aber in jeder Partei ist das so.

Auf einem dieser Parteitage, es war in Treuchtlingen, sprach auch Petra Kelly. Sie sprach in einer sehr aufgeregten, hektischen, fast exaltierten Weise. Ich spürte, daß sie sich darüber sehr aufregte, daß die Welt nicht in Ordnung war und versuchte uns irgendwie mit dieser Aufregung anzustecken. Später ging sie dann mit einigen Grünen zum Bahnhof, eine kleine, stille Person.

Auf diesem Parteitag lief ein Mann mit einer großen Filmkamera auf der Schulter herum.

Aber er filmte nicht die Redner, sondern ging durch die Tischreihen und filmte sorgfältig jedes einzelne Gesicht. Ich glaube nicht, daß er vom bayerischen Fernsehen war. Als ich einen Infostand im Erdinger Moos machte, kam der gleiche Kameramann. Er filmte als die Anstecker und die Literatur auf meinem Infostand. Diese Dinge hatte ich, arglos wie ich war, in einem Laden der linken Szene in Schwabing gekauft. Die Literatur stammte vom Pahl- Rugenstein-Verlag, einem vermutlich von der DDR finanzierten Verlag.

Heute bin ich mir ziemlich sicher, daß die Friedensbewegung hauptsächlich von den Kommunisten und von der Unterstützung durch die DDR getragen wurde. In allen Organisationskomitee's waren die Kommunisten überrepräsentiert. Sie organsierten die Friedensbewegung mit und sie arbeiteten für sie.

Aber nicht nur der Kameramann des Verfassungsschutzes, sondern auch das DDR-Fernsehen besuchte uns. Auf dem Parteitag in Kehlheim sprach ein Vertreter der DDR- Gewerkschaftsjugend vor laufender DDR-Kamera. Als sich noch ein weiterer Sprecher aus der DDR ums Wort bat, lehnte die Versammlungsleitung das ab. Das Ganze war doch zu kompromittierend.

Da ich im Landkreis Freising wohnte, verlagerten sich meine Aktivitäten zunehmend zum Kreisverband Freising. Das beherrschende Thema in Freising war der geplante Bau des Flughafens München II. Der Kreisverband hatte, so vermute ich heute, auch schon den richtigen Landtagskandidaten ausgeguckt: Christian Magerl, einen engagierten Naturschützer und Flughafengegner. Er war Lehrer für Chemie und Biologie und Beamter beim Bayerischen Staat. Er war nicht Mitglied der Grünen und er wollte wohl auch nicht Kandidat sein. Deshalb verfiel der Kreisverband in letzter Minute auf mich. Die Aufstellungsversammlung fand im Lindenkeller statt. Der Keller war nicht geheizt und es war unangenehm kalt. Die Reporterin von der Süddeutschen Zeitung fror. Entsprechend schlecht war ihre Stimmung. Ich hatte keine Rede vorbereitet, weil ich gar nicht wußte, daß bei einem solchen Anlaß die Presse kommt. Ich hatte mich auch vom Outfit her nicht darauf vorbereitet. Zum Thema Flughafen fiel mir nichts ein. Auch der Münchner Merkur war da. Dessen Redaktion verwechselte "aus Versehen" mein Bild mit dem eines Bauern aus der Hallertau, der seine goldene Hochzeit feierte.

Aber dann kam ich doch noch zu einem großen Auftritt vor der Lokalpresse. Ein Student von der Landwirtschafts-Universität Freising-Weihestephan hatte Material über die Grundwasserverseuchung durch Nitrat aus Düngemitteln vorbereitet. Ich machte daraus einen Vortrag. Die Freisinger Neuesten Nachrichten brachte einen großen Bericht auf Seite eins. Ich habe ihn weggeworfen, weil für mich die Zukunft zählte - nicht die Vergangenheit. Bei dem Bericht fiel mir auf, daß auf einer Versammlung viel mehr gesagt wird, als ein Journalist auf dem meisten knappen Raum, der ihm zur Verfügung steht, schreiben kann. Er trifft also eine Auswahl. Auch wenn der stets die Wahrheit schreibt, kann er allein schon durch das, was er hervorhebt und was er wegläßt, eine Veranstaltung ganz verschieden beschreiben. So können zwei Reporter über die selbe Versammlung ganz verschiedene Dinge schreiben.

Bald merkte ich, daß die Süddeutsche über uns Grüne fair bis wohlwollend berichtete, während der Münchner Merkur sachlich bis negativ berichtete. Als ich später bei der Bayernpartei war, war es gerade umgekehrt.

In München fand die Aufstellungsversammlung für die Liste zur Landtagswahl statt. Ganz wichtig war die Reihenfolge, in der die Kandidaten auf der Liste standen. Wer auf einem der vorderen Listenplätze stand, konnte damit rechnen, Landtagsabgeordneter zu werden - vorausgesetzt die Grünen würde die 5 %-Hürde überwinden.

Die Aufstellungsversammlung begann um 14 Uhr und zog sich bis spät in die Nacht hinein. Es war eine der typischen grünen Marathonsitzungen. Es mußte ein Wahlprotokoll geführt werden, das festhielt, wer mit wieviel Stimmen gewählt wurde. Da die Protokollführerin, wie wir fast alle, so etwas noch nie gemacht hatte, schrieb sie den ganzen Hergang der Versammlung mit und füllt Blatt um Blatt. Dabei hätte es genügt, zu schreiben, wer mit wieviel Stimmen gewählt wurde.

Die Spitzenkandidaten mußten in einem dreiminütigen Auftritt ihre Person und ihre politischen Ziele vorstellen. Die Versammlung durfte sie dann befragen und kritisieren.

Teilweise aber artete die Befragung in Beschimpfung und Beleidigung aus, was dazu führte, daß sich die Angriffenen gegen ihre Beleidiger in ebenfalls rüder Weise zur Wehr setzten. Aber das war halt die Basisdemokratie. Bei anderen Parteien wurden die Listenplätze vom Vorsitzenden und seinem engeren Umkreis ausgehandelt und dann dem Parteivolk en bloc zur Abstimmung vorgelegt.

Im Juni kaufte ich mir bei einem Heimwerkermarkt 20 zurechtgeschnittene Press-Spanplatten und Holzlatten. Daraus nagelte ich im Keller Plakatständer zusammen. Ich begann mit dem Plakatieren im Juni, doch zu meiner Überraschung mußt ich sehen, daß die CSU mit ihren Plakatständern schon alle markanten Punkte in Freising besetzt hatte. Und diese strategischen Punkte hielt sie mit immer neuen Plakaten bis zur Wahl im Oktober. Wir hatten uns auf einen Kampf mit einem übermächtigen und gut organisierten Gegner eingelassen. Von der Landesgeschäftsstelle holte ich mir "Leerplakate", die nur mit einem grünen Rand und einer Sonnenblume bedruckt waren. Auf die weiße Fläche in der Mitte schrieb ich mit einem dicken Filzstift meine Wahlslogans gegen das Wettrüsten und für die Erhaltung der Natur. Auf ihrer Fronleichnams-Demo marschierten die Freisinger Christen zum ersten Mal daran vorbei.

Ich verfasste auch ein Flugblatt, mit dem ich die Freisinger beglückte. Ich zitierte darin den Erzbischof von Wien, Kardinal König: "Wir sitzen auf einem Pulverfaß. Jeder Narr, jeder Verbrecher kann es zünden. Wir reden von Sicherheit und meinen unsere Sicherheit. Wir reden von Abrüstung und meinen die Abrüstung der anderen."

In diesem Flugblatt legte ich schon die Grundzüge meiner Vorstellungen zum Frieden dar. Ich schrieb: Die Friedensbewegung muß unparteiisch über den militärischen Blöcken stehen. Wir müssen unsere Regierungen drängen, auf alle Nachrüstungsprogramme zu verzichten und ihre Armeen in reine Verteidigungsarmeen umgestalten. Wir müssen den Menschen im Ostblock glaubhaft beweisen, daß die Feindbilder, welche die KPdSU von uns "westlichen Imperialisten" entwirft, genauso falsch sind wie das Bild von den "kommunistischen Aggressoren", die bei uns die CSU verbreitet. Es muß zu einer wirklichen, kontrollierten Abrüstung kommen. Dazu müssen die Regierungen eine internationale Kontrollinstanz anerkennen und ihr erlauben, im eigenen Land alles zu beobachten. Ein weiterer Schritt würde darin bestehen, daß alle Regierungen auf den Besitz und die Anwendung von Massenvernichtungswaffen verzichten. Konventionelle Waffen dürfen nur soweit erlaubt sein, wie es die innere Sicherheit erforderlich macht. Das Monopol für militärische Gewalt darf nur an eine übergeordnete, internationale Instanz haben. Innerhalb der Bundesrepublik z.B. garantiert der Staat als übergeordnete Instanz den Frieden der Bürger untereinander. Er hat das polizeiliche Gewaltmonopol und hat allein das Recht, bei Gesetzesübertretungen Gewalt anzuwenden. Der Bürger darf aber nicht jedermann mit einem geladenen Revolver bedrohen. Genau das tun aber die "zivilisierten" Staaten - nicht mit Revolvers, sondern mit Atomraketen. Weltpolitik wie im Wildwestfilm. Kein Wunder, daß der ehemalige Holywood- Schauspieler und heutige Präsident Reagan in seinem Element ist.

Ein großes Problem ist noch, diese übergeordnete Instanz daran zu hindern, ihre Macht zu mißbrauchen. Dieses Problem kann gelöst werden, wenn wir statt den Waffen die Demokratie weiterentwickeln.

Die Politiker der einzelnen Staaten werden von sich aus niemals auf die Möglichkeit der militärischen Gewaltanwendung verzichten und sich einer übergeordneten Instanz unterwerfen. Deshalb sind sie auch unfähig, jemals einen sicheren Frieden zu schaffen. Die Völker selbst müssen sich, über alle Staatsgrenzen und Ideologien hinweg, zusammentun in dem gemeinsamen Ziel, Frieden zu schaffen. Das ist unsere letzte Chance".

Im Sommer 83 erhielten alle Landtagskandidaten von der Bürgerinitiative gegen den Flughafen eine Einladung, an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen. Für die CSU trat Otto Wiesheu an, für die SPD Anke Martiny (in Vertretung von Carmen König) und für die ÖDP Herbert Gruhl. Verglichen mit diesen Politprofi's war ich ein Niemand, ein Leichtgewicht. Also versuchte ich die ganze Geschichte ohne größere Katastrophen zu überstehen. Ich sagte nicht viel, sondern ließ den Herbert Gruhl reden. Was immer ich hätte sagen können, Herbert Gruhl sagte es viel besser und überzeugender. Aber für die Flughafengegner war mein Auftritt natürlich enttäuschend. Sie hatten erwartet, daß ich ihre Sache vehement und energisch vertreten würde, so wie es Christian Magerl , auf dessen Stuhl ich im Grunde saß, gemacht hätte. Aber warum sollte ich das? Im Grunde war mir der Flughafen egal, ich war sogar eher dafür. Vielleicht war dem Otto Wiesheu der Flughafen im Grunde auch egal oder er war dagegen, weil er ihm als Kreisvorsitzender nur Probleme und Stimmverluste in seinem Wahlkreis brachte.

Einen anderen Auftritt hatte ich bei der katholischen Landjugend in Freising. Hier konnte ich auf das Thema eingehen, das mir wirklich am Herzen lag: der Frieden. Als ich auch noch sagte, daß im mich nicht als Politiker, sondern einfach nur als engagierte Mensch fühlte, bestärkte ich sie in ihrer Sympathie für die Grünen. In der anschließenden Diskussion hatte ich aber einen sehr schweren Stand gegen eine jungen Mann von der CSU, der sich offensichtlich sehr gut auf diese Veranstaltung vorbereitet hatte und durch geschicktes Fragen offenlegte, daß ich keine Ahnung von SLM's (See-launched-misiles) und ähnlichen Dingen hatte. Er wies mir mit Statistiken nach, daß die Russen die Aggressoren seien und der Westen in der Defensive. Aber je mehr er mich in die Enge trieb, umso mehr Sympathie hatten die Jugendlichen mit mir und halfen mir bei der Argumentation.

Im Zuge des Wahlkampfes kamen prominente Politiker nach Freising, so auch der damalige Staatssekretär Edmund Stoiber. Ich war schon eine halbe Stunde vor Beginn vor dem Lerchenfelder Hof. Da kreuzten zwei Studenten, die Mitglieder von der DKP waren, mit Spruchtafeln auf und versuchten eine Demonstration gegen Stoiber zu organisieren. Sie kannten mich von der Freisinger Friedensbewegung und wollten mich dazu überreden, auch so ein Friedenstransparent zu halten. Das lehnte ich Gottseidank ab. Denn das wäre eine nicht angemeldete Demonstration gewesen und hätte dazu geführt, daß ich eine saftige Geldstrafe bekommen hätte. Das hätte mich gegen das Establishment erbittert und noch weiter nach links, zur DKP gebracht. So war offensichtlich das Kalkül. In jener Zeit wurde ich auch von einem weiblichen Mitglied der DKP umworben, die versuchte, mich in ihren Zirkel hineinzuziehen. Aber weder für die Dame noch für die DKP empfand ich Zuneigung. Man konnte mit diesen Leuten auch überhaupt nicht diskutieren. Sie waren vollkommen auf ihre Ideologie festgelegt und waren nicht bereit, auch nur einen Millimeter davon abzuweichen. Was hat es für einen Sinn, mit jemanden zu diskutieren, der im alleinigen Besitz der Wahrheit ist? Irgendwie erinnern mich die Diskussion an eine andere Diskussion, die ich einmal mit einem strenggläubigen ägyptischen Moslem über die Darwin'sche Abstammungslehre hatte.

In beiden Fällen waren meine Diskussionspartner keiner Argumentation zugänglich.

Doch zurück zur Stoiber-Kundgebung. Ich fragte ihn, wie es eine Partei wie die CSU mit ihrem christlichen Gewissen vereinbare, andere Völker mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Er hatte offensichtlich seinen Max Weber gelesen wies auf den Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungspazifismus hin, und meinte, daß wir das Recht auf Selbstverteidigung hätten.

Bei einer anderen Veranstaltung, sie wurde von der Friedensbewegung veranstaltet, versäumte es der CSU-Vertreter, anwesend zu sein. Ich klemmte meine Aktentasche unter den Arm und gab mich als CSU-Mann aus. Ich sagte: "Auch wir sind für die Freiheit. Jedermann hat die Freiheit, so viel Geld zu verdienen, wie es die Dummheit der Verbraucher und der Kunden erlaubt. Wir sind auch für die Abrüstung. Wenn es zum Atomkrieg kommt, wird mit jedem Atomschlag eine Atombombe verbraucht. Wenn alle Atombomben verbraucht sind, ist die Abrüstung komplett."

Auch Genscher kam nach Freising in den Lerchenfelder Hof. Als Volksredner machte er eine weit schlechtere Figur als vor der Fernsehkamera. Er war eigentlich ein Mann der leisen Töne und der klugen und vernünftigen Argumente. Er sprach ständig mit lauter, aber wenig modulierter Stimme. Irgendwie merke man, daß es ihm keinen Spaß machte.

Horst Ehmke hatte ebenfalls einen Auftritt. Er vertrat den Aufrüstungskurs von Helmut Schmidt. In dieser Zeit muß wohl Peter Glotz auf sein berühmtes Wort vom "Tanker SPD", dessen Richtung man so schwer ändern könne, in den Sinn gekommen sein. Und in der Tat, es brauchte einen Sturz des Kanzlers Schmidt und eine Wahlniederlage, bis aus der Schmidt- SPD die Lafontaine-SPD geworden war. Schuld an dem Debakel der SPD waren die Grünen, weil sie ihr einen Teil ihrer Stimmen wegnahmen. Aber Schuld war auch die SPD selbst. Drei Tage vor der Wahl veranstaltete die Gewerkschaft Wissenschaft und Erziehung eine Diskussionsveranstaltung mit den Landtagskandidaten zum Thema Raketenstationierung. Von den großen Parteien war niemand vertreten, wohl aber FDP und DKP. Wegen letzterer waren auch zwei Beamte vom Verfassungsschutz anwesend. Der Versammlungsleiter war überaus fachkundig und redegewandt. Er bereitete der FDP-Kandidatin eine beschämendes Debakel.

Ich sagte in meiner Rede, daß die USA und die Sowjetunion zwei Seiten derselben Medaille seien. Als die Versammlung vorbei war, sagte der blonde von den schon erwähnten DKP- Studenten zu mir: "Die kannst doch nicht im Ernst meinen, daß die Sowjetunion ein Aggressor ist". Da sagte ich ihm ein paar wohlwollende Worte über die Sowjetunion (die ja immerhin ein paar Jahre später einen Gorbatschow hervorbrachte). Dies hörte der Begleiter der FDP-Kandidatin, ein FDP-Gemeinderat aus Nandlstadt. Einige Zeit später, als in meiner Heimatgemeinde Nandlstadt der Kommunalwahlkampf dem Höhepunkt zuging, stand im Lokalteil der Mainburger Zeitung mit großen Lettern "Ist Richard Beiderbeck ein Kommunist?" Als meine Mutter das las, traf sie beinahe der Schlag. Da der Journalist hinter den Satz ein Fragezeichen gesetzt hatte, war keine Möglichkeit gegen ihn gerichtlich vorzugehen. Aber ich hätte es ohnehin nicht getan. Man darf weder die Politik noch die Journalisten zu ernst nehmen. Vor allem darf man niemals im Leben ohne Not einen Prozess führen.

Ein Journalist ist ein Mensch, der seinen Beruf verfehlt hat. Denn eigentlich hätte er viel lieber eine großes litererarisches Werk geschrieben. Aber was tut er in Wirklichkeit? Er schreibt Wegwerfprosa. Oder er würde gerne die Richtlinien der Politik bestimmen. Aber da hätte er Bundeskanzler werden sollen.

Journalisten können manchmal recht fies sein. Die Freisinger Grünen machten einmal eine Aktion, bei der ein Grüner im März in die Isar sprang. Als der Aktionist vor Kälte zitternd herauskam, sagte der Pressefotograf: "Es tut mir leid, ich habe keinen Film in der Kamera. Springen die doch bitte nochmals ins Wasser!" Er hatte aber sein Photo schon geschossen und es war auch ein Film in der Kamera.

Bei der Landtagswahl erreichten die Grünen nur 4,5 %. Die Enttäuschung war groß. Die ganze Rangelei bei der Listenaufstellung war umsonst gewesen.

Als die Landtagswahl vorbei war, wurde ich einer der drei Kreisvorsitzenden der Freisinger Grünen. Meine beiden Kolleginnen waren eine Studentin und eine Lehrerin, die früher einmal bei der FDP war. Wir kamen gut miteinander aus. Da die beiden Frauen zu den Sitzungen auch ihre Partner mitbrachten, waren wir ein richtiges Team.

Wir machten eifrig Veranstaltungen, die manchmal gut und manchmal schlecht besucht waren. Wir luden jemanden ein, der vorführte, wie man Brot selber backen kann. Er brachte gleich einen Elektro-Ofen mit und verwandelte das Nebenzimmer vom Grünen Hof in eine Backstube. Alles, was mit der Ernährung zu tun hat, interessiert viele Leute. Ein andermal machten wir eine Veranstaltung über die geplante Volkszählung. Wir hatten dafür das Nebenzimmer des Grünen Hofes vorgesehen. Aber die Leute strömten nur so herein und schon bald war das Nebenzimmer zu klein. Wir zogen um in den großen Saal, und der wurde fast voll. Ich schaute mir die Leute an, und ich bemerkte, daß viele von ihnen Geschäftsleute und Wohnungsvermieter waren. Was sie in hellen Scharen zu uns trieb, war die Sorge, daß das Finanzamt ihnen auf die Schliche kommen würde, denn die Volksbefragung fragte auch noch Wohnungseigentum und Quadratmeterzahlen und allerlei anderen Dingen.

Am 17. Juni, dem "Tag der deutschen Einheit" erklärten wir das Gelände des geplanten Flughafens München II zur atomwaffenfreien Zone. Zwei der Freisinger Grünen hatte zwei 2,5 Meter große Pershing-II-Raketen aus Pappe gebastelt, die Spitze nach unten und gerade dabei, einzuschlagen. Unser Mitglied der marxistischen Gruppe hatte sie mit allerlei passenden Sprüchen verziert. Dieses "Mahnmahl" weihten wir in Franzheim, einer wegen des Flughafenbaus verlassenen Ortschaft im Erdinger Moos ein. Mein Mit-Kreisvorsitzender, Richard Biegger, erklärte, es sei zu befürchten, daß die Wiedervereinigung darin bestehe, daß wir einen gemeinsamen Untergang haben. Ich bedankte mich bei den Erbauern der Pappraketen und sagte, sie hätten damit für Deutschland mehr getan, als alle Raketenbauer dieser Welt. Ich erinnerte an den Werbespruch eines amerikanischen Touristik- Unternehmens: "Besuchen sie Europa, solange es Europa noch gibt". Die Bäume werden in unserem Land immer weniger und die Raketen immer mehr, stellte ich fest. Ich schloß meine Rede mit der Frage: "Warum wird die Berliner Mauer nicht abgerissen und warum werden die Raketen nicht verschrottet?"

Eine andere Aktion war es, sich jeden Freitag Nachmittag auf dem Freisinger Marienplatz schweigend eine Kreis zu bilden und sich an den Händen zu fassen. Eine Tafel erklärte, daß wir hier für den Frieden in der Welt demonstrierten.

Die Müncher gingen noch einen Schritt weiter. Sie maskierten und schminkten sich als Opfer eines Atomangriffs und warfen sich in der Sonnenstraße auf den Boden. Gegen die Verwendung von Atomstrom ließen sich die Grünen die Aktion "Giroblau" einfallen. Man sollte die Stromrechnung zahlen, aber in möglichst vielen Teilbeträgen, um die Verwaltungskosten der Stromkonzerne in die Höhe zu treiben.

Die Müncher machten auch ein schönes Plakat zur Abrüstung. Da der Friedensengel gerade beim Renovieren war, stand die Friedenssäule verwaist da. Da uns die CSU weißmachen wollte, daß Raketen dem Frieden dienen, zeigte das Plakat die Friedensäule mit einer Atomrakete obendrauf.

Im Sommer machten wir ein Seminar zum Thema gewaltloser Widerstand. Es ging über das Wochenende und wir campierten in den Isarauen und verbrachten einen romantischen Abend am Lagerfeuer.

Im Oktober fuhren wir zur Menschenkette gegen die Raketenstationierung auf die Schwäbsiche Alb. Dort fassten wir uns alle an den Händen und bildeten mit vielen anderen Menschen eine 100 km lange Kette. Ich hatte nur eine kurz Jacke an und der kalte Herbstwind bescherte mir einen Hexenschuß. Weit größere Opfer nahmen aber später andere Grüne aus unserem Kreisverband auf sich, die im Winter bei Wackersdorf am Bauzaun der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage zelteten und sich von der Polizei mit Wasserwerfern und CS-Gas malträtieren ließen.

Aber nicht alle Veranstaltung des Kreisverbandes waren ein Erfolg. Zwar gelang es, in Neufahrn einen Ortsverband zu gründen, aber in Allershausen und Nandlstadt war uns auf die Dauer kein Erfolg beschieden. Ein Vortrag über die Wirkung eines Atombombenabwurfes, den ich in Freising mit mittelmäßigem Erfolg hielt, wurde in den ländlichen Gemeinden nicht besucht. Dagegen hatte ich einen gefüllten Saal im Nandlstädter Bäckerbräu mit Sepp Bichler, einem Ökobauern, über den die Abendzeitung vorher einen großen Bericht gebracht hatte. Die Nandlstädter Lokalreporterin (und CSU-Mitglied ) fragte mich nach der Versammlung, ob bei den Grünen auch Kommunisten seien. Ich sagte: "Nein." Was ja auch zu 98 % stimmte. Ein andermal kam der Ökobauer und spätere Bundestagsabgeordnete Hias Kreuzeder bis von Freilassing heraufgefahren, um vor 14 Bauern in einem winzigen Dorf zu sprechen.

Einmal machte ich in Freising einen Vortrag über das Waldsterben. Da kamen noch nicht einmal die Grünen. Als einziger kam derjenige Grüne, der auch Mitglied der marxistischen Gruppe war. Wir fuhren dann nach Eching zu einer Veranstaltung des frisch zur SPD übergetretenen Günther Verheugen. Ihn fragte ich, ob er es richtig finde, daß sein Ex- Parteifreund, der Ex-Minister Hoffie (FDP) aus Hessen nach zweijähriger Amtszeit schon einen hohen Pensionsanspruch habe. Verheugen fand das nicht richtig, aber Hoffie behielt seine Pensionsanspruch.

Je länger ich allerdings bei den Grünen war, desto größer wurden meine Zweifel, ob der Pazifismus der Grünen der richtige Weg zum Frieden sei. Denn: "Niemand kann in Frieden leben, wenn's dem bösen Nachbar nicht gefällt." Die Abrüstung mußte also von einer übergordneten Autoriwät kontrolliert werden. Diese Autorität müßte die Sicherheit gewährleisten, wenn am Ende alle waffenlos wären. Diese Autorität konnte nur eine Art Weltregierung sein. Ich verfasste einen zehnseitigen Vortrag, den ich 1985 bei den Freisinger und bei den Nandlstädter Grünen hielt. Wie nicht anders zu erwarten, reagierten die meistens mit Unverständnis und Ablehnung. Kein Wunder, sie waren schon gegen das Wort "Autorität" allergisch. Und ich forderte immerhin eine Superautorität und einen Weltstaat. Als ich meinen Vortrag geendet hatte, war betretenes Schweigen die Antwort. Die Grünen sahen, daß sich ihr Kreisvorsitzender weit von der grünen Parteilinie entfernt und in einem seltsamen Wolkenkuckucksheim verloren hatte. Und auch ich merkte, daß ich die Grünen nicht für meine Ideen gewinnen können.

Auch wenn ich nur noch mit halbem Herzen Grüner war, so blieb ich doch weiterhin Kreisvorsitzender. Wir fuhren zum Bundesparteitag nach Hagen in Westfalen. Dort ging es um das Programm für die Bundestagswahl 1986. Heftig diskutiert wurde über die Frage, ab die Grünen Tierversuche grundsätzlich ablehnen sollen, oder ob vereinzelte Tierversuche für die medizinische Forschung erlaubt sein sollten. Der(damals) bekannte DDR-Dissident Rudolf Bahro trat entschieden gegen die unmenschliche Art ein, in der Tiere behandelt wurden. Er drohte mit seinem Austritt, falls die Grünen sich nicht rigoros gegen jede Art von Tierquälerei aussprächen. Ich glaube, er trat dann auch wirklich aus.

Auf dem Parteitag waren auch Otto Schily, Jutta Dittfurth und Petra Kelly. Sie sah damals strahlend, selbstbewußt und schön aus. Da die Rednerliste sehr lang war, kamen nur einige Redner zu Wort. Der Staranwalt und Prominente Otto Schily erhielt keine Erlaubnis zu reden. Er zog sich in seinen Schmollwinkel zurück und ich sah ihm an, daß er sich ärgerte. Ich achte mir: "Otto, allzu lange wirst auch Du nicht mehr bei den Grünen sein." Wie ja bekannt ist, trat Schily später zur SPD über und war 1990 der einzige von den BRD-Grünen, der noch im Bundestag verblieb.

Auf dem Parteitag verteilte ich ein Flugblatt mit dem Titel "Weltparlament". Ich hatte 500 Stück davon drucken lassen. Es enthielt die in meinem Vortrag bei den Grünen dargelegten Thesen. Bei den meisten Grünen erntete ich Kopfschütteln und Skepsis. Nur einer der Redner sagte, "die Geistigkeit der Leute ist viel weiter als die Politik." Obwohl die Presse und das Fernsehen da waren, nahmen sie natürlich von meiner Forderung nach einem Weltparlament und einer Weltverfassung keine Notiz. Dies war eine Erfahrung, die ich später noch öfters machen mußte. Die Meinung einer einzelnen Privatperson existiert für die Presse nicht, außer als Leserbrief.

Mein Flugblatt schloss mit den Worten: "Die Atomwaffen sind eine Realität, die weder durch Verhandlungen, noch durch Demonstrationen, noch durch atomwaffenfreie Zonen, noch durch einseitige Abrüstung aus der Welt zu schaffen sind." Das war eigentlich schon der Bruch mit den Grünen.

Zuspruch und Unterstützung fand ich nur durch Gernot Spielvogel. Er hatte bei uns an der TU München sein Diplom als Geologe gemacht. Er war einige Jahre aktives Mitglied bei Greenpeace gewesen, war dann aber ausgetreten, weil ihm die Strukturen zu hierarchisch und elitär waren. Zusammen mit seinen Freunden gründete er eine eigene Vereinigung, "Protection Earth". Ich unterstützte ihn bei der Gründung und er machte Werbung für meine Ideen. Um seine Protection Earth zu finanzieren, hielt er im Deutschen Museum Dia-Vorträge über eine mehrmonatige Kajak-Fahrt auf dem Yukon von der Quelle bis zur Mündung. Seine Fahrt durch die menschenleere Wildnis von Alaska hat er in dem Buch "2000 Meilen Abenteuer" beschrieben.

Im Jahr 1986 war Bundestagswahl. Ich sah Petra Kelly im Fernsehen in einer Diskussion mit dem damaligen Bundesinnenminister Eduard Zimmermann. Damals gab es noch keinen Umweltschutzminister, und Zimmermann war auch für den Umweltschutz zuständig. Petra Kelly kam in der Diskussion eher schlecht heraus, weil sie auf den ausgebufften Politprofi zu emotional reagierte. Aber ich dachte mir: Die möchte ich einmal persönlich kennenlernen. Dieser Wunsch ging noch im gleichen Jahr in Erfüllung. Die Grünen suchten einen Kandidaten für den Bundestag. Erst dachten Sie an Pfarrer Guggenmoos, der ein engagierter Flughafengegner war. Den pfiff aber anscheinend sein Bischof zurück, so daß er absagte. Da hatte Günther Godor (dies ist sein Künstlername) den Einfall, Petra Kelly in Freising kandidieren zu lassen. Die Chance bestand, denn Petra Kelly war in ihrem eigenen Wahlkreis Nürnberg bei der Nominierungsabstimmung der jungen Kreisvorsitzenden unterlegen. Das muß eigentlich garnicht so sehr verwundern, denn Petra Kelly war fast nie in ihrem Kreisverband, sondern immer in Bonn oder auf Reisen.

Auch in unserem Kreisverband war Petra Kelly nicht unumstritten. Viele warfen ihr vor, daß Sie entgegen dem vereinbaren Rotationsprinzip ihrer Nachrückerin Halo Seibold den Platz nicht frei gemacht hatte. Es war wohl auch zutreffend, daß die Petra arrogant sein konnte und sich der Gruppendisziplin schlecht unterwarf und daß sie ein Star war, der total abgehoben von der grünen Basis war. Ich war jedoch unter ihren Fürsprechern, denn die Partei konnte es sich wohl nicht leisten, eine so profilierte und charismatische Persönlichkeit ins Abseits zu stellen. Günther Godor und Richard Biegger riefen sie also an und lud sie und Gert Bastian ein, zu einer Art Bewerbung zur Versammlung der drei Kreisverbände Freising, Erding und Pfaffenhofen, die den Bundestagswahlkreis bilden, zu kommen.

Die Versammlung fand in Neufahrn in einem Lokal nahe der S-Bahn statt. Die Grünen baten mich, die Versammlung zu leiten, und so saß ich neben Kelly und Bastian am Podiumstisch. Ich begrüßte sie und sagte, daß wir sie bitten wollten, für uns zu kandidieren. Sie sagte, sie möchte sich erst ein Bild über die Meinung der Mitglieder zu ihrer Kandidatur machen. Nur wenn sie den Eindruck habe, daß ihre Kandidatur wirklich erwünscht sein, werde sie kandidieren. Sie erzählte von ihren Aktivitäten und wie wichtig es für sie sei, mit dem Geld, das sie als Bundestagsabgeodnete bekomme, ihre zahlreichen Aktivitäten zu finanzieren, insbesondere ihre Stiftung für krebskranke Kinder. Ihre Schwester Grace war als Kind Opfer der Krebskrankheit geworden, und ich vermute, daß Petra Kelly's entscheidender Impuls, gegen alles Unrecht dieser Welt anzukämpfen, in der Verwundung lag, die sie durch den langsamen Tod ihrer Schwester empfangen hat. So wie sie diesen Tod nie akzeptieren konnte, so konnte sie auch nie akzeptieren, daß die Welt nicht in Ordnung war. Petra Kelly sprach sehr schnell. Scherzhaft meinte sie, sie dürfe nicht schneller reden, als manche Leute denken können. Das war lustig, aber auch ein wenig arrogant.

Was sie sagte, war gescheit und kompetent. Vermutlich zählte sie zu den Hochbegabten. Aber sie war nicht immer klug. Denn sonst hätte sie nicht die Bemerkung fallen lassen: "Die Grünen sind für mich nicht so wichtig. Da überschätzen sie sich." Die Atmosphäre zwischen ihr und der Hälfte der Grünen, die sie ablehnten, wurde immer gespannter, ja feindselig. Wie das die Art der Grünen war, unterzog man sie einer regelrechten Inquisition. Warum sie sich nicht an das Rotationsprinzip gehalten habe, warum sie sich nie um ihre Parteibasis kümmere, warum sie so abgehoben, arrogant und voller Starallüren sei. Ich spürte, daß Petra all diese Anwürfe als unverschämt und um Grunde für ihre Selbstachtung als beinahe unerträglich empfand. Mehrmals war sie nahe daran, den Versammlung einfach platzen zu lassen. Ich saß daneben und ließ die Versammlung ihren Gang gehen; ich beschränkte mich darauf, die Ordnung zu halten. Mein Kalkül war, daß die Grünen ruhig Dampf ablassen sollten. Nachdem sie Petra ordentlich zurechtgestutzt hätten, würden sie sie vielleicht doch einladen, zu kandidieren.

Diejenigen, die Petra ablehnten, waren vor allem die Fundi's und Basisdemokraten. Im Laufe des Abends stellte sich aber heraus, das Petra ebenfalls ein in der Wolle gefärbter Fundi war, und das war keine Schauspielerei. Nachdem sich die Verhandlung schon bis 23.30 Uhr hingezogen hatte, wurde Petra Kelly allmählich unruhig und schien die Geduld mit den Grünen zu verlieren. Wenn wir jetzt nicht zu einem Ergebnis kommen würden, würde sie abreisen und niemals mehr wiederkommen. Das Ergebnis dieses Abends durfte nur eine Einladung zu offiziellen Nominierungsversammlung sein. Die heutige Versammlung war ja unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Ich brach also die Diskussion gegen einigen Widerstand ab und bat die Grünen, Petra zu einer Kandidatur zu ermutigen. Dann schlug ich vor, darüber abzustimmen, ob wir sie dazu ermutigen sollten. Das Ergebnis der Abstimmung war denkbar knapp: Mit einer hauchdünnen Mehrheit wurde Petra Kelly als Kandidatin eingeladen. Sie nahm an und bedankte sich.

Inzwischen war es Mitternacht geworden, die Versammlung war vorbei und Kelly und Bastian standen ohne Auto in Neufahrn auf der Straße und hatten kein Hotel reserviert. Mit einiger Mühe fanden wir in Freising noch ein Hotel. Petra Kelly sagte auf der Fahrt nach Freising, sie fände es schade, daß Heinrich Böll nicht für die Grünen in den Bundestag gekommen, sondern vorher gestorben sei. Ich sagte ihr, daß ich es nicht richtig fände, wie die Grünen sie behandelt hätten und daß ich mich innerlich von den Grünen distanziert habe. Zwei Wochen später wurde Petra Kelly als Kandidatin offiziell nominiert. Das Ergebnis der Abstimmung war wieder äußerst knapp: 20 gegen und 21 für Petra.

Kurz vor dieser Versammlung, auf der es noch emotionaler und aggressiver zuging als in Neufahrn, erschien auf der ersten Seite der Bildzeitung ein kleines Bild und die Schlagzeile in 5 cm großen Lettern: "Petra Kelly nackt!". Das sah nach einer Sensation aus, denn die Kelly hatte ein bißchen das Image einer Jungfrau von Orleans. Weiter hinten konnte man dann lesen, daß das Männermagazin "Penthouse" ein Kartenspiel herausgebracht hatte, auf dem prominente Politiker leichtbekleidet als Zeichnung(!) dargestellt waren. Das war wieder typisch Bildzeitung, und es steckte die gemeine Absicht dahinter, auf Kosten der Kelly mehr Zeitungen zu verkaufen und durch die wortwörtliche Bloßstellung ihrer Gallionsfigur den Grünen zu schaden. Petra Kelly machte sich einige Sorgen darüber, daß dies ihrer Kandidatur in Freising schaden würde. Aber es war klar, daß sich die Grünen nicht durch die Bildzeitung beeinflussen ließen.

Um wieder in den Bundestag zu kommen, mußte sie als weitere Hürde Aufstellungsversamlung in Lindau bestehen. Auf Platz eins kam Halo Seibold. Gegen sie konnte Petra nicht kandidieren, denn der Halo nochmals das Bundestagsmandat vorenthalten - das konnte und wollte die Kelly nicht. Auf Platz 2 kam gemäß dem "Reißverschlußprinzip" ein Mann, Gerald Häfner. Bei der Bewerbung um Platz drei unterlag Petra ihren Mitbewerberinnen. Wieder mußte sie sich heftige Vorwürfe gefallen lassen. Auf Platz vier kam der Ökobauer Hias Kreuzeder. Er gewann in einer dreiminütigen Rede die volle Sympathie der Delegierten für sich. Der Versammlungsleiter sagte: "Hier hat Herz zu Herz gesprochen". Hias Kreuzeder war aber nicht der schlichte Ökobauer, für den man ihn halten konnte, sondern ein routinierter Bauernfunktionär. Auf Platz fünf kam wieder eine Frau, und dieser Platz war Petra's letzte Chance, in den Bundestag zu kommen. Als Mitbewerberin kandidierte u.a. auch Petras Rivalin aus dem Kreisverband Nürnberg. Bei der ersten Wahl hatte Petra weniger Stimmen als ihre schärfste Konkurrentin, aber auch diese hatte nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Es kam zu Stichwahl. Die Chancen für Petra standen schlecht, und nach zwei demütigenden Niederlagen zögerte sie, nochmals anzutreten. Sie fragte ihre Umgebung, (den "Petra Kelly-Fanclub", wie der ehemalige Arbeitsratkollege von München West zu mir bissig bemerkte), ob sie nochmals antreten sollte. Ich sagte, sie hätte auch ihren Stolz und sollte doch aufgeben. Sie aber entschied sich dafür, weiterzukämpfen. Und dann geschah fast ein kleines Wunder: Sei gewann die Stichwahl. Wenn die Grünen ein einigermaßen gutes Ergebnis erzielten, war Petra wieder im Bundestag. Ihre Freunde kamen zum Gratulieren, später ging sie zum Interview vor der Fernsehkamera.

Anschließend saßen wir draußen auf der Terrasse des Versammlungslokals am Bodensee und genossen die warme Sonne. Petra Kelly erzählte, daß sie zu Beginn ihrer Zeit im Bundestag ganz vorne neben Willy Brand gesessen habe und daß er sich so gut mit ihr verstanden habe, daß ihn die Genossen daraufhin ein Stück weiter nach hinten versetzt hätten. Sie erzählte auch, wie sehr sie Karlheinz Böhm bewundere, der eine private Aktion gegen den Hunger in Äthiopien durchführte und daß sie es ungerecht finde, daß man ihn als "Sissy-Kaiser" abqualifiziere. Sie erzählte auch von den zahlreichen Drohungen und Verleumdungen, denen sie ausgesetzt sei, die manchmal absurde (sie sei die Tochter des KZ-Arztes Mengele) bis gefährliche Formen (Bedrohung mit dem Messer) annahm. Gert Bastian blieb meistens schweigsam. Er machte einen traurigen und müden Eindruck. Er sagte, daß die Tage kürzer würden, und daß er nicht mehr die Kraft und Energie wie früher hätte. Kelly war damals 39 und Bastian war 64. Sie war eine dynamische, arbeitswütige und umtriebige, noch junge Frau. Es war offensichtlich, daß er ihr Tempo nicht mithalten konnte.

Schließlich verabschiedeten sich alle voneinander. Als ich Petra Kelly die Hand gab, wußte ich schon, daß ich die Grünen verlassen würde. Ich würde nicht ihr Kreisvorsitzender sein und ich würde nicht den Wahlkampf für sie führen, obwohl ich sie mochte und ich ihr gerne geholfen hätte. Auch gab sie mir durch einige kleine Gesten das Gefühl, daß sie mich mochte. Aber der Wahlkampf war nur eine Formsache. Er hatte nichts mit ihrem Wiedereinzug in den Bundestag zu tun. Darüber entschied ihr Listenplatz, und den hatte sie sich heute erkämpft. Sie würde ohnehin nur selten nach Freising kommen. Wirklich helfen hätte ich ihr nur in Bonn gekonnt. Sollte die Plakate doch jemand anders kleben und jemand anders die Versammlungslokale organisieren! Ich wollte für den Weltstaat eintreten, nicht für die Grünen, und noch nicht einmal für Petra Kelly. Es bestand auch keine Chance, daß ich sie dazu bewegen könne, sich für den Weltstaat zu engagieren. Sie kannte zwar meine Broschüre. Aber wahrscheinlich hatte sie aus Zeitmangel nicht gelesen. Wenn ich mich in den Dienst von Petra Kelly gestellt hätte, hätte ich keine Kraft für irgend etwas anderes gehabt.

Petra Kelly wurde am 1.Okt. 1992 von Gert Bastian in ihrem Reihenhaus in Bonn im Schlaf mit dem Revolver erschossen. Anschließen erschoss Bastian sich selbst. Die Leichen wurden erst am 19. Okt. gefunden. Am Morgen des 20. Oktober hörte ich im Radio die Nachricht, daß Kelly und Bastian erschossen aufgefunden worden wären und daß es sich vielleicht um einen Doppelselbstmord handele. Später wurde dann klar, daß Bastian Kelly ohne ihr Einverständnis getötet hat. Als ich die Nachricht gehört hatte, fuhr ich auf der B11 in die Arbeit. Ich dachte daran, wie ich mit den beiden auf dieser Straße gefahren war. Neben der B11 flog etwa 50 Meter neben der Straße ein Schwarm Möven. Eine einzelne Möve löste sich aus dem Schwarm und flog herüber zu meinem Auto. Erst fürchtete ich, sie wolle in meine Windschutzscheibe fliegen, dann aber strich sie knapp über das Autodach. Sie streifte die Dachantenne, die mit einem hellen Klang auf des Autodach schlug. Ich dachte mir: "Jetzt hat sie auf Wiedersehen gesagt!" Im "Spiegel" las ich dann, daß der Lieblingsvogel von Petra Kelly die Möve war.

Etwa zwei Wochen nach der Versammlung in Lindau schickte ich an den Kreisvorsitzenden Thomas Magerl, den jüngeren Bruder von Christian Magerl, meine Austrittserklärung. An die Presse schrieb ich nichts. Durch die Dusseligkeit der Grünen landete aber mein Rücktrittsschreiben bei der Lokalpresse.

Noch bevor Sie meine Rücktrittschreiben erhielt, schrieb uns Petra Kelly:

"Ich werde Euch meinen Terminkalender zukommen lassen. Ich möchte Euch dann einige Vorschläge für den Wahlkampf machen, die wir dann diskutieren können. Ich will mich im Januar intensiv auf diverse Veranstaltungen konzentrieren. Ich möchte auch ein Solidaritätskonzert zu Gunsten der Flughafengegner initiieren. Ich möchte auch eine Veranstaltung mit diversen Elterninitiativen und besonders "Mütter gegen Atomgefahren" durchführen, zusammen mit Anti-Atom-Ärzten. Auf jeden Fall sollten auch Veranstaltungen zum Thema Frieden und Abrüstung und Europäische Atomstreitmacht, zum Thema Grüne Gesundheitspoltik, zum Thema Atomenergie und Atomwaffenund auch zum Thema Frauen und Ökologie stattfinden. Mir liegt auch sehr daran, den Volksentscheid gegen Atomanlagen in Freising, Erding und Pfaffenhofen vorzustellen. Im September wird, so hoffe ich, das von mir herausgegebene Buch "Viel Liebe gegen Schmerzen" erscheinen, und vielleicht kann ich dieses Buch nicht nur in Bonn, sondern auch in Freising der lokalen Presse vorstellen. Hierzu bräuchte ich natürlich auch Euere Unterstützung und Euere Mitarbeit.

In Lindau hatte wir ja schon die Möglichkeit einer Veranstaltung mit Karl-Heinz-Böhm diskutiert. Bitte teilt mir mit, ob Ihr mit einer solchen Veranstaltung einverstanden seid.

Ich möchte auch mit Christian Magerl ins Erdinger Moos fahren. Ferner liegt mir auch daran, ein gemeinsames Treffen aller Bürgerinitiativen durchzuführen. Ich wäre Euch für eine Adressenliste aller Euch bekannten Bürgerinitiativen dankbar. Es wäre wohl auch sehr gut, wenn jeder Kreisverband eine Kontaktperson benennt, sodaß ich Euch alle effektiver erreichen kann. Das wärs für jetzt. Mit lieben Grüßen. Eure Petra Kelly. Grüße auch von Gert."

Der Brief stellte im Grunde eine lange Liste von Anweisungen an uns dar. Kein Wort des Dankes oder der Anerkennung. Petra Kelly hatte von Bonn aus das Regiment über den Kreisverband übernommen. So jedenfalls empfand ich das. Vergaß Petra Kelly, daß wir berufstätig oder Studenten waren, und nicht von der Partei bezahlte Angestellte?

Wo viel Licht ist, ist viel Schatten. Wenn Petra es besser verstanden hätte, mit den andern (und sich selbst) umzugehen, hätte sie vielleicht eine der ganz Großen werden können. Leider hatte sie nicht die Chance, ihren Reifungsprozess zu Ende zu führen.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Aus grüner Vorzeit
Autor
Jahr
1994
Seiten
20
Katalognummer
V99372
ISBN (eBook)
9783638978163
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vorzeit
Arbeit zitieren
Richard Beiderbeck (Autor:in), 1994, Aus grüner Vorzeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99372

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