Eric Voegelin: Die Neue Wissenschaft der Politologie


Hausarbeit, 2000

15 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Das Phänomen der Repräsentation bei Voegelin
1.1 Deskriptiver Typus von Repräsentation
1.2 Existentieller Typus von Repräsentation
1.3 Transzendenter Typus von Repräsentation
1.4 Fazit

2. Der Wahrheitsbegriff bei Voegelin
2.1 Der kosmologische Wahrheitsbegriff
2.2 Der anthropologische Wahrheitsbegriff
2.3 Der soteriologische Wahrheitsbegriff

3. Der Gnostizismus als Kennzeichen der Moderne
3.1 Ursachen des Rationalitätsverlustes
3.2 Varianten des Gnostizismus

4. Zusammenfassung der Ziele der ,,Neuen Wissenschaft"

5. Kritische Schlussbetrachtung

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

Als Eric Voegelin 1952 seine an der University of Chicago abgehaltenen Walgreen Lectures unter dem Titel ,,The New Science of Politics. An Introduction" veröffentlichte, reagierte er auf einen Zustand der Politischen Wissenschaften zu dieser Zeit, mit dem er seine Auffassung von dieser Disziplin nicht vereinbaren konnte.

Im Vorwort der deutschen Ausgabe erläutert er, dass die ,,Neue Wissenschaft" sein Versuch sei, die Politische Wissenschaft im klassischen Sinne wiederherzustellen, im Gegensatz zu den vorherrschenden Methoden des Positivismus. Seiner Meinung nach bewirke eine positivistische, mathematisch-naturwissenschaftliche Herangehensweise an Probleme und Phänomene von Politik lediglich die Bereitstellung oberflächlicher Erklärungsmuster. Die ,,Neue Wissenschaft" soll nun den ,,wahren Pfad" aufzeigen, um die Politische Wissenschaft zu ihrer, vom Autor unterstellten, ursprünglichen Höhe an Erkenntnis zu führen. Diese Arbeit will durch eine Analyse des Voegelin'schen Repräsentationsverständnisses, durch Darlegung seiner Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff in der Geschichte der Menschheit, und anhand seiner Kritik an der Moderne zu den Inhalten vorstoßen, die Voegelin für eine Neubegründung, bzw. Wiederbegründung der klassischen Politischen Wissenschaft für notwendig erachtet.

1 Das Phänomen der Repräsentation bei Voegelin

Voegelins Herangehensweise an das Thema folgt einer Forderung, die er an eine neue Politikwissenschaft stellt. Die bloße Beschreibung eines Problems reicht nicht aus. Eine ernsthafte, gleichsam Erkenntnis versprechende Analyse muss auch die Geschichte berücksichtigen. Bereits in der Einleitung der ,,Neuen Wissenschaft" fordert Voegelin also: ,,Die Existenz des Menschen in politischer Gesellschaft ist geschichtliche Existenz. Eine Theorie der Politik, wenn sie zu den Prinzipien vorstößt, muß zu einer Theorie der Geschichte werden."1

Das Phänomen der Repräsentation erhellt sich für Voegelin folglich vor allem durch die Betrachtung repräsentativer Vorgänge, bzw. Systeme, in ihrer geschichtlichen Ausprägung. Als Grundbedingung für die Bildung politischer Gesellschaften und damit repräsentativer Gesellschaften müsse ein Prozess einsetzen, den Voegelin als Artikulierung der Gesellschaft bezeichnet. Hierbei müsse zunächst eine Gruppe von Menschen grundlegende Gemeinsamkeiten und Interessen besitzen. Dies führt nun zur Bildung einer gewissen Gemeinschaftlichkeit. Um den Willen dieser Gemeinschaft auf ein Ziel ausrichten zu können, entschließt sie sich dazu, Machtbefugnisse an einen oder mehrere, je nach Art des Repräsentationssystems, abzugeben.

Bei der Analyse gegenwärtiger und vergangener repräsentativer Systeme führt Voegelin nun eine Aufspaltung des Komplexes der Repräsentation in verschiedene Teilaspekte durch. In Anlehnung an Max Weber2 arbeitet er drei Typen von Repräsentation heraus, die jedoch nur zusammengeführt ein erschöpfendes Bild vom Thema bilden.

1.1 Deskriptiver Typus von Repräsentation

Eine erste oberflächliche Untersuchung des Themas führt zu Gesellschaften unserer Zeit, die man als repräsentativ bezeichnet. So wird z.B. von den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich,etc., also von Staaten die ein demokratisches politisches System aufweisen, als von Ländern gesprochen, die repräsentative Institutionen besitzen.

Voegelin spricht hierbei von der Verwendung des Terminus ,,Repräsentation" als einem Symbol in der politischen Realität3. ,,Wenn jemand, der sich dieses Symbols bedient, aufgefordert würde zu erklären, was er damit meint, würde er ziemlich sicher antworten,daß die Institutionen eines Landes repräsentativen Charakter hätten, wenn die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung ihre Mitgliedschaft kraft Volkswahl besitzen."4 Diese Form von Repräsentation erstreckt sich damit also auf alle strukturelle Rahmenbedingungen, die ein System dazu befähigen, den Willen des Volkes, d.h. der artikulierten Gesellschaft, zum Ausdruck zu bringen.

Theoretisiert man das Phänomen auf dieser Ebene, so wird man sich auf die ledigliche Beschreibung der vorhandenen Institutionen und deren Ausgestaltung beschränken. Die Begriffe beziehen sich auf messbare, zählbare und anschauliche Daten: ,,Sie beziehen sich auf geographische Bezirke; auf Menschen die in ihnen wohnen; auf Männer und Frauen; auf deren Alter; auf Wahlakte, die darin bestehen, daß Zeichen auf Papierstücke neben Namen, die darauf gedruckt sind, gesetzt werden;..."5

Wegen seines rein beschreibenden Charakters nennt Voegelin diese Seite der Repräsentation den deskriptiven Typus. Ihm kommt zwar eine elementare Relevanz zu; da eine rein beschreibende Darstellung jedoch lediglich an der Oberfläche des Problems bleiben kann, muss die Analyse tiefer gehen.

Dies führt uns zum Typus der existentiellen Repräsentation.

1.2 Existentieller Typus von Repräsentation

Geht man nun von einer artikulierten Gesellschaft aus, die sich ihren Reprä-sentanten ausgewählt hat, so stellt sich die Frage, wie dieser Repräsentant Befehle oder Entscheidungen gegenüber seinem Volk durchsetzen kann. Voegelin verwendet hier eine Definition, die auch von Max Weber stammen könnte:

,,Politische Gesellschaften müssen, um handlungsfähig zu sein, eine innere Struktur besitzen, kraft deren einige ihrer Glieder - der Herrscher, die Regierung, die Fürsten, der Souverän, die Obrigkeit, etc., je nach Terminologie der Zeiten - imstande sind, für ihre Befehlsakte regelmäßigen Gehorsam zu finden;..."6

Der Charakter dieser Befehlsakte muss dabei existentiellen Grundbedürfnissen der Gesellschaft entsprechen. Diese existentiellen Anforderungen, sind natürlich keine in alle Zeiten festgeschriebenen Tatbestände; sie verändern sich im geschichtlichen Verlauf zusammen mit der Zusammensetzung der Gesellschaft, die sie stellt. So mag nun einmal Sicherheit das höchste Bedürfnis sein, ein andermal die persönliche Freiheit höher stehen, oder Gleichheit eingefordert werden, etc.

Die Formen von Repräsentation sind somit an die existentiellen Grundbedürfnisse einer Gesellschaft gebunden; gleichwohl ist dies auch der jeweilige Repräsentant. Denn wenn seine Befehlsakte nicht mehr von der Gesellschaft als Erlass einer Vorschrift verstanden werden, die für ihre einzelnen Glieder Gültigkeit besitzt, wenn diese sich also vom existentiellen Boden der Gesellschaft grundlegend unterscheiden, dann wird er sich nicht mehr als Repräsentant dieser Gesellschaft halten können.

Wenn allerdings die Handlungen einer Person (oder mehrerer Personen, wieder je nach Art der strukturellen Ausgestaltung) wirksam nicht als die Handlungen dieser Person aufgefasst werden, sondern der Gesellschaft zugerechnet werden; wenn also diese Person Handlungen im Nahmen der Gesellschaft trifft, mit deren Zustimmung, so ist er deren Repräsentant.

1.3 Transzendenter Typus von Repräsentation

Voegelin differenziert neben den beiden bereits genannten Typen von Repräsentation, dem deskriptiven und dem existentiellen, noch eine dritte, noch tiefer ansetzende Form des Problems.

Während im deskriptiven und existentiellen Typus weltliche Daten, bzw. Ereignisse, d.h. menschliche Taten und Anforderungen, eine entscheidende Rolle ausüben, tritt nun mit dem transzendenten Typus von Repräsentation ein außerweltliches Moment hinzu. Voegelin zufolge artikuliert sich das Volk mittels Wahlen, oder anderer Instrumentarien, in seinem Repräsentanten; diese Ebene beschreibt der deskriptive Typus. Der Repräsentant ist nun wiederum durch die existentiellen Anforderungen der Gesellschaft an das Volk rückgebunden, was der existentielle Typus ausdrückt. Nun bestehe allerdings noch eine dritte Ebene, an die sowohl Volk als auch Repräsentant gebunden sind; die transzendente Ebene. Erstmals erkannt werde dies in Fortescues ,,De Laudibus Legum Anglie". Fortescue habe erkannt, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft, oder besser gesagt für die damaligen Verhältnisse, des Reiches, nicht in ihr selbst oder beim Repräsentanten zu finden sei: ,,Es war da ein Etwas an einem artikulierten Reich, eine Art Substanz, welche die verbindende Kraft der Gesellschaft lieferte, und dieses Etwas ließ sich mit der organischen Analogie nicht erfassen."7

Diese außerweltliche, transzendente Wahrheit, deren Existenz bei Fortescue erstmals anklinge, binde sowohl die Gesellschaft als auch deren ordnende Macht an sich. Beide repräsentieren also diese göttliche Wahrheit und werden gleichzeitig von ihr beeinflusst. Dieser komplexe Gedanke geht nun erstmals über Max Webers Analyse des Repräsentationsproblems in seinen ,,Drei Typen legitimer Herrschaft"8 hinaus. Mit der Annahme, dass Gesellschaft und Gesellschaftsordnung durch eine transzendente Macht rückgekoppelt sind, verneint er Webers Forderung einer wertfreien Wissenschaft. Vielmehr besteht Voegelin auf ,,cognitive validation"9, auf einer bewussten Bewertung eines Problems durch die Wissenschaft, die sich damit vom Positivismus abgrenze.

1.4 Fazit

Zusammengefasst übernimmt Voegelin also Webers Typen legitimer Herrschaft. Zu den deskriptiven und existentiellen Typen von Repräsentation, die aneinander gekoppelt sind, fügt er einen dritten Typus hinzu, der über Webers Analyse hinaus geht; bzw. der sie ergänzt. Mit dem transzendenten Typus von Repräsentation versucht Voegelin das göttliche Prinzip wieder in die Politische Wissenschaft einzuführen, das mit dem Aufkommen der Rechtssymbolik und später des Positivismus verdrängt und verleugnet wurde, bzw. wird.

Voegelins komplexe Argumentation und sein enormes geschichtsphilosophisches Wissen10 erschweren es für den Leser seine Gedankengänge nachzuvollziehen. Mit einem Wissenschaftsverständnis, das Wertfreiheit und Faktennachweis einfordert, ist ein transzendenter Typ von Repräsentation nicht in Übereinkunft zu bringen. Gleichwohl ist genau diese Miteinbeziehung der Existenz von Divinität, diese grundlegende Akzeptanz einer transzendenten Macht, eine der Grundvoraussetzungen von Voegelins ,,Neuer Wissenschaft". Seine Ziele für die Neubegründung der Politischen Wissenschaft arbeitet Voegelin noch genauer aus in der geschichtlichen Analyse des Wahrheitsbegriffes und des menschlichen Verständnisses von der Welt.

2. Der Wahrheitsbegriff bei Voegelin

Bereits in Kapitel 1 wurde erwähnt, dass für Voegelin eine neue Politische Wissenschaft eine Theorie der Geschichte beinhalten muss, und dass ausgehend von dieser Forderung der Autor auch die ,,Neue Wissenschaft" konzipiert hat.

Bei der Untersuchung der unterschiedlichen Ausformungen von ,,Wahrheit", d.h. einer transzendenten Ordnung, die als wahr empfunden wird, in der Geschichte der Menschheit entwickelt Voegelin nun eine Art evolutionäres Ablaufmodell von dem menschlichen Verständnis der Welt.

,,Es sind drei Stufen, über die - nach Voegelin - der Mensch ein differenziertes Verständnis von der Welt und seiner Stellung in ihr gewinnt, sowie drei ihnen entsprechende Formen von 'Wahrheit', in denen dieses Wissen artikuliert, symbolisiert und gesellschaftlich repräsentiert wird."11

Diese drei Stufen und die damit einhergehend entwickelten Wahrheitsbegriffe folgen zeitlich aufeinander. Mit dem Erreichen einer neuen Stufe erfolgt auch ein differenzierteres Verständnis von der Welt durch den Menschen. Diese ,,Stufenleiter" teilt Voegelin in kosmologischen, anthropologischen und soteriologischen Wahrheitsbegriff ein, wobei er die Entwicklung mit dem Hochmittelalter als für abgeschlossen sieht. Dann habe ab dem 14. Jahrhundert ein Umkehrprozess eingesetzt, der mit der Moderne seinen Tiefpunkt von Weltverständnis und gleichzeitigen Höhepunkt von Realitäts- und Rationalitätsverlust erreiche12.

2.1 Der kosmologische Wahrheitsbegriff

Den geschichtlichen Rahmen für die Vertreter kosmologischer Wahrheit stellen vor allem die alten Reiche des Nahen und Fernen Ostens, wie z.B. Achaeminiden, Mongolen, etc. Diese Reiche empfanden sich als Repräsentanten einer transzendenten kosmischen Ordnung, die von ihnen als ,,Wahrheit" verstanden wurde13. Dabei vertraten diese Gesellschaften eine bestimmte Vorstellung, wie diese transzendente Ordnung sich in der Gesellschaft selbst darzustellen habe:

,,Das Reich ist ein kosmisches Analogon, ein Mikrokosmos als Spiegel des allumfassenden Makrokosmos. Herrschaft wird zur Aufgabe, die Gesellschaftsordnung in Einklang mit der kosmischen Ordnung zu bringen."14

Dies äußerte sich in Riten: so sollten Zeremonien den Rhythmus des Kosmos repräsentieren, Feste und Opferfeiern dienten als eine Teilhabe der Gesellschaft am Kosmos, das Territorium des Reiches symbolisierte die Welt mit ihren vier Himmelsrichtungen.15 Diese erste höhere Deutung der Welt durch den Menschen wird nun zwischen 800 und 300 vor Christus durch einen Prozess herausgefordert, der das Transzendente nicht mehr als in Kosmos und Natur situiert sah, sondern als außerweltlich.

2.2 Der anthropologische Wahrheitsbegriff

Dieser über fünfhundert Jahre dauernde Prozess vollzog sich in beinahe allen Kulturen der damaligen Zeit. Seinen Höhepunkt sieht Voegelin gekommen, als um 500 v.Chr. zu gleicher Zeit Heraklit, Konfuzius und Buddha lebten16.

Es sei aber vor allem die westliche Welt gewesen, die diesen Prozess zu seiner Vollkommenheit zu Ende gedacht habe, da sich in ihr - nämlich im hellenischen Griechenland Platons - die Philosophie und aufbauend auf dieser die episteme politike, die Politische Wissenschaft, entwickelt habe.

Auslöser war zum einen die Transzendenzerfahrung, dass das Göttliche nicht ein Teil der Welt, sonder außerhalb von ihr existiere17. Gleichzeitig fand eine stärkere Fokussierung auf den Menschen statt, der nicht mehr das Göttliche als das Maß aller Dinge sah, sondern den Menschen, der mit Gott im Einklang steht.

In diesem Zusammenhang wurde nun die menschliche psyche, die Seele, als der Ort entdeckt, in dem das Göttliche im Menschen wirkt. Die Seele ist also die direkte Verbindung des Menschen mit der außerkosmischen Gottheit, der Kanal zur transzendenten Wahrheit, das Sensorium für diese Wahrheit18. ,,Die Entdeckung der neuen Wahrheit ist nicht eine Bereicherung des psychologischen Wissens im immanentistischen Sinne; man müsste vielmehr sagen, daß die Psyche selbst als ein neues Zentrum im Menschen entdeckt wird, in welchem er sich als aufgeschlossen für transzendente Realität erfährt."19 Die Seele stellt einen Punkt dar, der durch ein Aggregat von Erfahrungen gebildet wird, die so stark vorherrschen, dass sie den Charakter eines Menschen formen20.

Als Repräsentanten dieser göttlichen Ordnung sieht Voegelin den Philosophen, d.h. den seelisch offenen Menschen, der durch seine Liebe zur Wahrheit, wie es der Begriff Philosoph ja schon ausdrückt, ein Verständnis für den göttlichen Grund des Daseins erhält. Die durch Platon und Aristoteles entwickelten Methoden des Theoretisierens, der Rückgriff auf die Seele als das Sensorium der Transzendenzerfahrung, die den Maßstab für die Wertung menschlicher Erfahrungen bildet, stellen sich als für Voegelin zentrale Bestandteile einer neubegründeten Politischen Wissenschaft heraus. Auf diese platonisch-aristotelischen Methoden und die entscheidende Bedeutung der Theorie für eine Politische Wissenschaft im Sinne Eric Voegelins wird u.a. in Kapitel 4 näher eingegangen.

Im Laufe der Geschichte betritt nun ein dritter Wahrheitstypus die Bühne, der im Kampf mit dem kosmologischen und anthropologischen Typen die Oberhand behält.

2.3 Der soteriologische Wahrheitsbegriff

Mit dem Auftauchen des Christentums entwickelt sich Voegelin zu Folge ein dritter Wahrheitstypus, der soteriologische Wahrheitsbegriff, der sich schließlich im Römischen Reich gegen die beiden vorhergegangenen Begriffe durchsetzen kann21. Dieser Typus bringt für Voegelin den Höhepunkt des menschlichen Verständnisses von der Welt und seiner Rolle in ihr und bestimmt die geistige und politische Entwicklung der westlichen Welt bis ins Hochmittelalter hinein.

Dabei wird der anthropologische Wahrheitsbegriff vom soteriologischen nicht ersetzt, sondern lediglich in einem entscheidenden Punkt erweitert: Die Philosophen zur Zeit Platons und Aristoteles' gingen von einer radikalen Ungleichheit des göttlichen und menschlichen Elementes aus. Die Menschen hören Gott quasi durch die Verbindung mit ihm in ihrer Seele. Gott oder das transzendente Etwas, das die Götterwelt der Griechen darstellen sollte, erhört jedoch nicht den Menschen, da er von ihm grundsätzlich verschieden sei. Darauf reagiert das Christentum nun mit dem Begriff der amicitia, was Wohl mit Freundschaft Gottes zum Menschen oder Gnade Gottes übersetzt werden kann22. Die Seele stellt im Christentum zwar wiederum den Ort dar, in dem das Göttliche im Menschen wirkt; er ist nun aber gleichsam in der Lage mit ihm, durch seine Seele als Mittler, zu kommunizieren. Havard spricht hier von einem Prozess der ,,divine-human cooperation"23. Damit wird also die stärker die menschliche Seite der Orientierung zur Transzendenz betonende anthropologische Wahrheit nicht ersetzt, sondern vielmehr ergänzt. Einen weiteren Punkt bildet das Hinzufügen eines Heilsgedanken durch das Christentum, und damit des soteriologischen Wahrheitsbegriffes, den die Antike nicht kannte. Durch seine Hingabe an Gott wird dem Menschen ein Fortdauern seiner Existenz auch nach dem Tode versprochen; ein Leben nach dem Tod, das eine Ausrichtung des irdischen Lebens nach göttlichen Prinzipien voraussetzt.

Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass die verschiedenen Wahrheitsbegriffe aufeinander aufbauen und sich nicht gegenseitig ausschließen. ,,Bei allen Unterschieden werden die früheren durch die späteren Typen nicht als falsch überwunden und damit überflüssig, sondern lediglich durch neue Ordnungserfahrungen in differenziertere Formen von Ordnungswissen - damit zugleich von Rationalität - überführt."24

Mit dem Einsetzen des 14. Jahrhunderts setzten nun aber nach Voegelin Prozesse ein, die zu einer Erosion der bereits erlangten Rationalität führen, deren Höhepunkt er mit dem Hochmittelalter für erreicht erklärt und die er wiedererlangen will mit den Methoden, die er in seiner ,,Neuen Wissenschaft" vorstellt.

3. Der Gnostizismus als Kennzeichen der Moderne

Ein wichtiges Anliegen von Voegelins ,,Neuer Wissenschaft" ist die Abgrenzung gegenüber dem Positivismus und dessen Einfluss auf die Politische Wissenschaft seiner Zeit. So ist es nicht verwunderlich, wenn der Autor eine Position einnimmt, die man als antimodern- restauratorisch bezeichnen könnte.

Es wurde erwähnt, dass für Voegelin die christliche Kultur des Hochmittelalters den Höhepunkt an Differenzierung und Rationalität bildete. Wenn dem so ist, dann muss schließlich irgendetwas geschehen sein, dass unser heutiges Verständnis von der Welt irrational gestaltet. Als für verantwortlich für den Beginn einer Abfolge von Erosion identifiziert er zwei Zeitgeschehnisse, besser Prozesse, die im folgenden Kapitel kurz dargestellt werden sollen.

3.1 Ursachen des Rationalitätsverlustes

Zum einen habe eine ständige Erosion des klassischen christlichen Weltverständnisses stattgefunden. Die Ausrufung des Christentums als Staatsreligion des Römischen Reiches und die damit verbundenen Anstrengungen der Kirche sich selbst zu rechtfertigen bilden dabei den Ausgangspunkt.

Dazu kommt ein zweiter Prozess, der mit dem ersten korrespondiert. Die Rechtferigung der Kirche als Vertreter Gottes auf Erden führt zu einer Abschwächung des ursprünglichen Heilsgedanken, der durch eine zunehmende Hinwendung zur innerweltlichen Realität noch verstärkt wird. Es erfolgen Versuche, dem Verlauf der Geschichte eine Sinnhaftigkeit zu unterstellen, die nicht in der Intention des ursprünglichen Christentums lag. ,,Nachdem diese Versuche zunächst noch in christlichen Kategorien erfolgt waren, entfernen sie sich mit zunehmender Immanentisierung von dem geistigen Wurzelgrund, aus dem sie entstanden waren, und nahmen antichristliche bzw. antireligiöse Züge an."25 Als Träger dieser Entwicklung sieht Voegelin frühe christliche Sektenbewegungen, die Gnostizisten. Diese hätten es im Verlauf der Geschichte schließlich erreicht, die ursprüngliche christlichen Symbole zu unterwandern und mit eigenen Bedeutungen zu versetzen. ,,Gesellschaftlich und politisch manifestierte sich diese Entwicklung in progressivistischen Geschichtsspekulationen und innerweltlichen Apokalypsen, die in Entwürfen eines 'neuen Menschen' und einer 'neuen Welt' ihre theoretische Ausgestaltung fanden."26 Der Begriff der Gnosis bezeichnet dann auch den Versuch, eine Erlösung des Menschen bereits auf Erden zu erlangen, und nicht erst im ursprünglich christlich proklamierten Himmelreich. Voegelin sieht vor allem die Massenbewegungen des 19. Jahrhunderts und auch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts als Ausgestaltungen solcher immanentisierten Religionen.

3.2 Varianten des Gnostizismus

In seinem frühen Werk ,,Politische Religionen" konstatiert Voegelin die Bildung sogenannter innerweltlicher Religionen, deren Herausbildung er auf die Trennung der Institutionen von Staat und Kirche zurückführt: ,,...die Geistreligionen, die das Realissimum im Weltgrund finden, sollen für uns überweltliche Religionen heißen; alle anderen, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden, sollen innerweltliche Religionen heißen."27 Als solche innerweltliche Religionen, die ihre Politik mit einem weltlichen Heilsgedanken verbinden, bezeichnet er die ideologischen Massenbewegungen des 19. Jahrhunderts, wie Progressivismus und Positivismus, und auch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wie Faschismus und Kommunismus.

Diese Ideologien verbänden gnostische Symbole, wie das des Führers (dux), das vom Nationalsozialismus verwendet wurde, mit einem Bestreben einer ,,Erlösung" des Menschen in der Welt, wie dies Voegelin dem kommunistischen Idealen einer klassenlosen Gesellschaft unterstellt. Damit befänden sie sich auf einem hohen Grad der Irrationalität, da die Transzendenz geleugnet werde und an ihrer Statt der Mensch als das alleinige Maß aller Dinge gesetzt wird.

4. Zusammenfassung der Ziele der ,,Neuen Wissenschaft"

Was sind nun abschließend zusammengefasst die zentralen Anliegen Voegelins, wenn er die Neubegründung der Politischen Wissenschaft fordert?

Voegelins Analyse entwickelt sich aus der Ablehnung des positivistischen Grundverständnisses der Wissenschaften seiner Zeit heraus. Den Positivismus sieht er als Träger einer gnostizistisch gefärbten innerweltlichen Religion, der Transzendenz verleugnet und an ihre Stelle den Fortschrittsglauben setzt.

Den Höhepunkt von Rationalität und Differenzierung haben ihm zufolge die Menschen in der christlichen Kultur des Mittelalter erreicht. Folglich müsse es das Ziel einer Politischen Wissenschaft sein, diese ursprüngliche Höhe wieder zu erreichen.

Grundlegend hierfür sei ein Wiedererwachen der Prinzipienfrage28, das eine Ablehnung rein deskriptiv-beschreibender Forschung miteinbeziehen müsse und an deren Stelle die platonisch-aristotelischen Methoden der Theoretisierung zu setzen habe. ,,Theorie ist nicht ein beliebiges Meinen über die menschliche Existenz in Gesellschaft; sie ist vielmehr ein Versuch, den Sinn der Existenz durch die Auslegung einer bestimmten Klasse von Erfahrungen zu gewinnen. Ihr Argument ist nicht willkürlich, sondern leitet seine Gültigkeit von dem Aggregat von Erfahrungen her, auf das sie sich ständig zur empirischen Kontrolle beziehen muß."29

Er fordert nicht eine Rückkehr zu den Inhalten dieser Methode des Theoretisierens, sondern zu deren Methoden der kritischen Klärung. Dazu gehört freilich die Miteinbeziehung unseres heutigen empirischen Wissens.

Ferner müsse eine Theorie der Politik auch eine Theorie der Geschichte beinhalten; nur so sei es überhaupt möglich zu den elementaren Prinzipien vorzustoßen.

5. Kritische Schlußbetrachtung

William C. Havard diskutiert in seinem Aufsatz ,,Notes on Voegelin's Contributions to Political Theory"30 die Leistungen, die Eric Voegelin für die Politische Wissenschaft erbracht hat.

Dem Leser der ,,Neuen Wissenschaft" mag es so gehen wie Havard wenn er das Unverständnis beschreibt, das oft auf Voegelins Ablehnung einer wertfreien Wissenschaft erfolgt: ,,It is a disturbing experience...to be confronted with a language that suggests they31 are operating from an epistemologically and methodologically closed 'position', rather than from openess to the exploration of reality based on an abiding tradition of inquiry reaching at least to classical antiquity."32

Gleichwohl die Grundvoraussetzungen, die Voegelin für seine ,,Neue Wissenschaft" einfordert befremdlich wirken mögen, so hat dieses Werk doch enorme Leistungen vollbracht. Voegelins Forderungen nach einer stärkeren Betonung des theoretischen Rahmens, nach einer Auslegung der Theorie an den menschlichen Erfahrungen und deren Überprüfung an eben diesen Erfahrungen, und damit die Ablehnung des rein Deskriptiven sind Leistungen, die anerkannt sind.

Seine Kritik der Moderne vermag jedoch nicht zu überzeugen. Zwar ist es augenscheinlich, dass religiöse Symbole die politische Welt und auch einzelne Bewegungen im Besonderen durchdrungen haben mögen. Doch dies mutet nicht allzu spektakulär an, wenn man erkennt, dass Religion und Politik in stetigem Austausch stehen und standen; schließlich sind sie beide Teile der menschlichen Realität. Es stellt sich jedoch die Frage, ob man z.B. dem Kommunismus einen innerweltlichen Heilsgedanken zuschreiben kann. Denn wenn eine Bewegung auf die Herstellung bestimmter Lebensverhältnisse abzielt, die sie als für die Menschen vorteilhafter erachtet, muss dies nicht gleichsam bedeuten, dass damit ein heilsgedankliches ,,Endreich" gemeint ist. Hier scheint Voegelins Analyse doch über das Ziel hinaus zu schießen.

Schluss

Was bleibt also nach der Lektüre? Eine Neubegründung der Wissenschaft nach Voegelins Gedanken fand nicht statt. Gleichwohl wurde ,,Die Neue Wissenschaft der Politik" in den Kanon der ideengeschichtlichen Klassiker aufgenommen.

Voegelins Werk hat die Wissenschaft ohne Zweifel bereichert, seine Leistungen auf der Ebene der Theoretisierung wurde angesprochen. Sie hat sie jedoch nicht revolutioniert.

Vielleicht erläutert Havards Annahme die Schwierigkeiten am besten, die der heutige Leser mit ,,Der Neuen Wissenschaft" hat:

,,For the latter, Voegelin is apparently a sort of intellectual anachronism who is trying to apply the outmoded internecine arguments of the Christian Middle Ages to a modern secular ("scientific") world in which they have no place."33

Literaturverzeichnis

GEBHARDT, Jürgen, Toward the Process of Universal Mankind: The Formation of Voegelin's Philosophy of History, in: SANDOZ, Ellis, Eric Voegelin's thought, Duke University Press 1982

HAVARD, William C. Jr., Notes on Voegelin's Contributions to Political Theory, in:

SANDOZ, Ellis, Eric Voegelin's thought, Duke University Press 1982

MÜHLEISEN, Hans-Otto, Normative Theorien der Politik, in: NOHLEN, Dieter,

SCHULTZE, Rainer-Olaf (Hrsg.), Lexikon der Politik. Band I. Politische Theorien, München 1995

McALLISTER, Ted V., Revolt against modernity : Leo Strauss, Eric Voegelin, and the search for a postliberal order, Kansas 1996

OPITZ, Peter .J. (Hrsg.), Eric Voegelin, Alfred Schütz, Leo Strauss und Aron Gurwitsch. Briefwechsel über ,,Die Neue Wissenschaft der Politik", Freiburg i.Br./München 1993 OPITZ, Peter J., Eric Voegelin: ,,The New Science of Politics", in: STAMMEN, Theo,

RIESCHER, Gisela, HOFMANN, Wilhelm (Hrsg.), Hauptwerke der politischen Theorie, Stuttgart 1997

VOEGELIN, Eric, Autobiographical reflections, Louisiana 1989 VOEGELIN, Eric, Die Politischen Religionen, Wien 1938

VOEGELIN, Eric, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959 WEBER, Max, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1968

[...]


[1] VOEGELIN, Eric, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959, S.17

[2] WEBER, Max, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1968

[3] siehe Anm. 1, S. 55

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 57

[6] siehe Anm. 1, S. 61

[7] siehe Anm.1, S. 69

[8] siehe Anm. 2

[9] HAVARD, William C. Jr., Notes on Voegelin's contributions to political theory, in: SANDOZ, Ellis (Hrsg.), Eric Voegelin's thought., Duke University Press 1982

[10] siehe dazu auch: OPITZ, Peter J., Eric Voegelin. The New Science of Politics, in: STAMMEN, Theo, RIESCHER, Gisela, HOFMANN, Wilhelm (Hrsg.), Hauptwerke der politischen Theorie, Stuttgart 1997

[11] siehe Anm.10, S. 504

[12] Ebd., S. 506

[13] siehe Anm. 1, S. 83

[14] Ebd., S. 84

[15] Ebd.

[16] Ebd., S. 91

[17] siehe Anm. 10, S. 504

[18] siehe Anm. 1, S. 111

[19] Ebd., S. 100

[20] Ebd., S. 96

[21] siehe Anm. 10, S. 505

[22] Ebd.

[23] siehe Anm. 9

[24] siehe Anm. 10, S. 505

[25] siehe Anm. 10, S. 506

[26] Ebd.

[27] VOEGELIN, Eric, Die Politischen Religionen, Wien 1938, S. 16

[28] siehe Anm. 1, S. 18-19

[29] Ebd., S. 96

[30] siehe Anm. 9

[31] they = die Wissenschaftler (Anm. des Verfassers)

[32] siehe Anm. 9, S. 89

[33] siehe Anm. 9, S. 98

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Eric Voegelin: Die Neue Wissenschaft der Politologie
Hochschule
Universität Augsburg
Autor
Jahr
2000
Seiten
15
Katalognummer
V99362
ISBN (eBook)
9783638978064
Dateigröße
434 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eric, Voegelin, Neue, Wissenschaft, Politologie
Arbeit zitieren
Michael Ostermeier (Autor:in), 2000, Eric Voegelin: Die Neue Wissenschaft der Politologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99362

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