Welche ökonomischen Kenntnisse brauchen Schüler?


Ausarbeitung, 2000

30 Seiten


Leseprobe


,,Welche ökonomischen Kenntnisse brauchen Schüler?"

(Referat, gehalten im Rahmen des Landesforum 2000 der Deutschen Vereinigung für politische Bildung e.V. am Freitag, den 20. Oktober 2000, in der Mercator-Halle Duisburg)

0. Einführung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt die Welt einen tiefgreifenden Umbruch, der auch die Politische Bildung vor neue Probleme und Herausforderungen stellt. Der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Osteuropa - die letzte Diktatur ist erst vor kurzem in Serbien zu Ende gegangen - , der europäische Integrations- und Erweiterungsprozeß, die zunehmende Wachstumsdynamik des asiatisch-pazifischen Raumes, die Tumulte um die Neufassung des Welthandelshabkommens der WTO haben den Prozeß der ,, Globalisierung" der Weltwirtschaft in den letzten Jahren stürmisch vorangetrieben. Hinzukommen die mit unglaublicher Geschwindigkeit sich ausbreitenden Informations- und Kommunikationstechnologien (Datenautobahn), mit deren Hilfe Informationen in Sekundenschnelle auf dem ganzen Globus verfügbar werden, so daß sich die Produktions- und Austauschbedingungen auf dem Weltmarkt grundlegend verändert haben. Dieser Prozeß verlauft ausgesprochen ambivalent.

Auf der einen Seite entsteht eine weltweite, internationale Kommunikationsgemeinschaft, durch die eine Vorstellung von der Einheit der Welt, aber auch den Grenzen des Planeten Erde ins Bewußtsein tritt. Die Welt als Ganzes wird plötzlich klein und überschaubar (global village).

Auf der anderen Seite hat dieser Prozeß zu einer Verschärfung der Konzentration und wirtschaftlichen Machtballung auf den Weltmärkten geführt und damit zu einer Entmachtung der Politik zugunsten multinationaler Konzerne und internationaler Kapitalfonds (global players). Die internationale Wirtschaftspolitik findet nicht mehr länger in den Parlamenten souveräner Nationalstaaten statt, sondern in den mehr oder weniger ,, rechtsfreien Räumen" der Chefetagen multinationaler Konzerne, in denen das Schicksal der Weltbevölkerung und ihrer sozialen und ökologischen Umwelt verhandelt wird. In diesen Räumen gibt es weder einen Gesellschaftsvertrag noch Gesetze und auch keine Sanktionen, sondern es regiert die Rationalität des Marktes und die sie leitenden Kennziffern der Rentabilität und Produktivität.

Der dadurch bedingte Souveränitätsverlust der modernen nationalen Staaten führt dazu, daß die dem sogenannten ,, Global Web" angehörenden ,, Global Players" im ,,Global Village" nach eigenen Spielregeln operieren, die durch keine nationalen Loyalitäten und Solidaritäten mehr beeinflußt und relativiert werden können.1

,, Globalisierung der Wirtschaft" bedeutet zusammenfassend, daß die nationalen Grenzen bei Investitions-, Produktions-, Angebots-, Nachfrage- und Finanzierungsentscheidungen zunehmend an Bedeutung verlieren. Diese Globalisierung umfaßt neben den Waren- und Dienstleistungsmärkten auch die Kapital- und Arbeitsmärkte. Die internationalen Migrationsströme werden daher eher zu- als abnehmen. Dieser Prozeß scheint unumkehrbar. Kein Land kann sich aus der integrierten, vernetzten Weltwirtschaft zurückziehen, ohne - zumindest zeitweise - Wohlfahrtsverluste für sich und andere Staaten zu verursachen.2 Diese Einengung des Spielraums für eine nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik, insbesondere auch Umweltpolitik, stellt die nationale Politik vor eine Reihe schwerwiegender Probleme.

Unter dem Stichworten ,, Weltmarkkonkurrenz" und ,, Standortsicherung" droht sich eine neues ,,Totschlagargument" zu etablieren, mit dessen Hilfe alle Forderungen nach einem sozialen und ökologischen Umbau unserer Gesellschaft obsolet zu werden scheinen. Die Standortsicherungs-Debatte verschleiert insbesondere, daß es sich - wie so oft - lediglich um eine neue Spielart ewiger Verteilungskonflikte handelt. Vor allem der seitens der Wirtschaft und ihrer Verbände sowie neoliberal gesinnter Wirtschaftswissenschaftler (z.B. im Sachverständigenrat) vehement geführte Angriff auf den Sozialstaat wird von den Gewerkschaften als Kampfansage und Aufkündigung der jahrzehntelang mi großem Erfolg praktizierten ,,Sozialpartnerschaft" gewertet. Diese Situation wirft eine ganze Reihe neuer Fragen auf:

1. Ist die Idee einer sozialstaatlich verfaßten Gesellschaft angesichts globalisierter Märkte noch zu retten?
2. Droht nicht der Exodus deutscher Unternehmen in die Billiglohnländer Osteuropas und Südostasiens und damit eine weitere Verschärfung der Massenarbeitslosigkeit?
3. Ist im Zeitalter der international operierenden Konzerne (Global Players) überhaupt noch eine nationale Wirtschafts- ,Sozial- und Umweltpolitik möglich?
4. Kann angesichts dieser weltweiten Entwicklungen überhaupt noch in Deutschland und anderswo das notwendige sozialstaatliche Umverteilungsvolumen erarbeitet werden, um soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit zu gewährleisten?
5. Kann sich die Wirtschaftspolitik mit ihrem Ziel der Standortsicherung nur noch in einem internationalen Wettlauf um die geringsten Arbeitskosten und niedrigsten Umweltstandards erschöpfen?

Indem jede Nation auf dem Weltmarkt versucht, durch Kostensenkung Konkurrenzvorteile zu ergattern, werden in den einzelnen Nationen die Bedingungen gesellschaftlicher Wohlfahrt und einer nachhaltigen Entwicklung zerstört. Der Konkurrenzkampf führt so nicht zu einem allgemeinen Wohlfahrtsgewinn, sondern zu einem allgemeinen Wohlfahrtserlust und damit letztlich zu sozial instabilen und ökologisch unverträglichen Gesellschaften.3 Langfristig steht - und das zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen um eine zunehmende Brutalisierung der Gesellschaft und um ein Verbot der NPD - die Stabilität unsesres demokratischen Gemeinwesens zur Disposition.

Den Initiatoren des Landesforums ist es daher zu danken, wenn sie das Zauber- und Reizwort ,, Globalisierung" in den Mittelpunkt einer Tagung zur politischen Bildung stellt. Gibt das Thema doch Gelegenheit, auf das grundsätzliche Verhältnis von politischer und ökonomischer Bildung einzugehen und einige Ideologien und Missverständnisse anzusprechen, die die aktuelle Globalisierungsdebatte und im Gefolge davon die Forderung nach einem eigenständigen Fach ,,Wirtschaft" bestimmen. Diese Forderung ist nicht neu. Sie wird seit über 20 Jahren von unterschiedlichen Interessengruppen, einmal seitens der Wirtschaft und der Arbeitgeberverbände, das andere Mal seitens der Gewerkschaften, in jüngster Zeit sogar in einem gemeinsamen Memorandum, und nicht zuletzt seitens der Fachvertreter der dafür zuständigen Fachdidaktiken (insbesondere der Wirtschaftspädagogik und Wirtschaftsdidaktik) erhoben.

Es wäre also der Frage nachzugehen, welches die aktuellen Anlässe sind, dieses Thema wieder auf die Tagesordnung zu bringen und darüber eine intensive politische und didaktische Diskussion zu entfachen.

Gestatten Sie mir zuvor, hierzu auch eine ganz persönliche Reminiszenz anzumerken. Es war im Jahr im Jahre 1975, also vor nunmehr 25 Jahren, als ich an der PH Bielefeld auf einen neu errichteten Lehrstuhl mit der Bezeichnung ,,Wirtschaftswissenschaften und ihre Didaktik" berufen wurde. Hintergrund war, dass in den Empfehlungen zum Aufbau der Hauptschule des Deutschen Auschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen im Jahre 1964 die Einführung eines Faches ,, Arbeitslehre" gefordert wurde, in dem neben einer wirtschaftlichen Grundbildung die Förderung der Schülerinnen und Schüler zur Berufswahlreife propagiert wurde. Diese Forderung wurde in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich umgesetzt. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wurde ein Lernbereich Technik/Wirtschaft eingerichtet, der die Fächer Haushaltslehre, Technik und Wirtschaftslehre umfasst. Die ursprüngliche Forderung, das Fach Arbeitslehre als Pflichtfach in allen Schulformen und - stufen zu verankern, wurde bald durch den hartnäckigen Widerstand der Gymnasien und seiner Standesorganisationen (z.B. Philologenverband) fallen gelassen, so dass das Fach Arbeitslehre schnell zu einem sogenannten ,, Blaujackenfach" der Hauptschule degenerierte.

Nachdem das Fach in allen Hauptschulen des Landes eingeführt war, stellte man fest, dass es dafür überhaupt keine Lehrer gab. So wurden - viel zu spät - an den damaligen Pädagogischen Hochschulen - die Universitäten waren ja nicht betroffen - über ein Dutzend neuer Lehrstühle eingerichtet, die neue Studiengänge für die Teilbereiche Haushaltslehre, Technik und Wirtschaftslehre für die Sek. I entwickeln sollten. Diese Arbeit wurde auch mit viel Elan und Fantasie in Angriff genommen, sah man doch in dem Fach neue Möglichkeiten der Fächerintegration - allerdings von vornherein unter der konsequenten Ausblendung von Politik - sowie zum Projektlernen.

Ich habe meine Tätigkeit an der PH Bielefeld im Sommersemester 1975 aufgenommen. Ein Studiengang ,,Arbeitslehre/Wirtschaft" war unter der Verantwortung meines Vorgängers, Herrn Prof. Dörge, bereits eingerichtet worden und wurde von etwa 100 Studierenden belegt. Kaum hatte ich mich in die neue Aufgabe eingearbeitet, erreichte uns bereits zum Wintersemester 1975 ein Erlass des damaligen Wissenschaftsministers und des heutigen Bundespräsidenten Johannes Rau, daß der Studiengang ,,Arbeitslehre/Wirtschaft" eingestellt werden soll, d. h. es konnten ab sofort keine neuen Einschreibungen mehr vorgenommen werden.

Nach etwa drei bis vier Jahren hatten die letzten Studierenden die PH verlassen und ich war - wie viele andere meiner Kollegen - ein Professor ohne Aufgaben- und Geschäftsbereich (,,nackter Professor"). Die seinerzeit berufenen Kolleginnen und Kollegen sind inzwischen aus dem aktiven Dienst ausgeschieden oder werden in den nächsten Jahren ausscheiden. Das heißt, wenn jetzt wieder über die Einführung eines Pflichtfaches ,,Wirtschaft" diskutiert wird, dann wird man- wie damals - bestenfalls ein Fach, aber keine kompetenten Lehrerinnen und Lehrer dafür haben.

Nach dieser Rückblende möchte ich etwas grundsätzlicher werden und mit Ihnen drei Fragen diskutieren:

1. Brauchen wirüberhaupt ein eigenständiges Fach ,,Wirtschaft" und welche gesellschaftlichen Interessen stehen hinter dieser Forderung?
2. Welcheökonomischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen sollen in diesem Fach oder in einem sozialwissenschaftlichen Lernbereich vermittelt werden?
3. Welches fachliche und methodische Wissen brauchen Schüler und Schülerinnen, um die durch die zunehmende Globalisierung aufgeworfenen Herausforderungen , Probleme und Fragen bildungswirksam im wirtschaftlich-sozialwissenschaftlichen Unterricht bearbeiten zu können?

1. Brauchen wir ein eigenständiges Fach ,,Wirtschaft" und welche gesellschaftlichen Interessen stehen hinter dieser Forderung?

So einstimmig der Chor für die Einführung eines eigenständigen Unterrichtsfaches Wirtschaft zu klingen scheint, so vielstimmig bis polar sind die dahinter stehenden gesellschaftlich- politischen Interessen. Man kann mindestens drei Interessenlagen unterscheiden:

(a) Arbeitgeber-Interessen,
(b) gewerkschaftliche Interessen sowie
(c) Standes- und hochschulpolitische Interessen:

a) Arbeitgeber-Interessen

Die Arbeitgeberseite hat in letzter Zeit im Rahmen ihrer ,, Modernisierungs- und

Bildungsoffensive" eine grundsätzliche Neuorientierung des deutschen Bildungs- und Hochschulsystems gefordert. Das deutsche Bildungssystem müsse fit gemacht werden für den Wettbewerb auf einem weltweiten Bildungsmarkt, der durch aggressive Angebotspolitik ausländischer Universitäten, Web-Studien und Hochschulgründungen von Firmenmultis geprägt sei. Der Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt sieht in der unzulänglichen Antwort von SchülerInnen auf die Frage nach der durchschnittlichen Umsatzrendite der deutschen Wirtschaft ,,dramatische Defizite" und begründet damit die Forderung nach einem neuen Unterrichtsfach ,,Wirtschaft". Bisher produziere das deutsche Bildungssystem nur ,,Mittelmaß und schlechten Durchschnitt", notwendig sei die Umstellung auf Spitzenqualität und Wettbewerb. Hundt fordert unter anderem die Abschaffung der Gesamtschulen, Einführung von Studiengebühren, marktgerechte Bewertung und Entlohnung von Lehrkräften. Schlechte Lehrer an Schulen und Hochschulen müssen entlassen werden, gute zusätzlich honoriert werden. Ferner möchte er die Lehrerinnen und Lehrer zwangsverpflichten, in den Ferien künftig ein Betriebspraktikum zu machen, in der Produktion zu arbeiten und Computer- Fortbildungen zu belegen.4 Die Stoßrichtung wird klar: Das neue Unterrichtsfach Wirtschaft ist Teil einer großangelegten Offensive, durch die der Wirtschaftsstandort Deutschland für den globalen Wettbewerb und die dadurch bedingte Kostenkonkurrenz fit gemacht werden soll.

Es macht schon ein wenig stutzig, wenn ein umfassendes ,, Memorandum zurökonomischen Bildung" im vergangenen Jahr ausgerechnet vom Deutschen Aktieninstitut unter der Ägide seines Chefs, Herrn Prof. Dr. Rüdiger von Rosen, vorgelegt wird. Während das Memorandum selbst noch relativ vorsichtig formuliert ist und relativ abstrakt für ein neues Unterrichtsfach ,,Wirtschaft" plädiert, wird Herr von Rosen in der Fachzeitschrift ,,Die Bank" schon deutlicher. Dort heißt es:

"... die Etablierung einer soliden, nachhaltigen und vor allem durch die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten fundierten Aktienkultur - in die Deutschland trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren immer noch erkennbare Defizite hat - bedarf einer breit angelegtenökonomischen Bildung. Auf den ersten Blick scheint der Zusammenhang zwischen der Forderung der Aktienakzeptanz auf der Anleger- wie auf der Emittentenseite mit der Bildungspolitik nicht besonders eng zu sein. Bei näher Betrachtung wird aber deutlich, dass in der Schulbildung einer der wichtigsten Schlüssel für den Aufbau einer soliden, nachhaltigen Aktienkultur liegt. Eine neutrale und fachlich korrekte Vermittlung von elementarem Wissenüber die Aktie und andere Anlageformen sowieüber die Börse als dem zentralen Marktplatz für Anleger und Kapitalnachfrager ist essenziell, um ein Grundverständnis für die spätere eigenverantwortliche Nutzung dieser Institutionen und Instrumente durch die Bürger unseres Landes zu bilden ... (deshalb) bedarf es - endlich - eines eigenständigen Faches ,, Ö konomie", das die erforderliche intellektuelle Basis zum Verständnis des Kapitalmarktes legt." 5 Angesichts einer solchen unverfrorenen Absicht kann man mit Arno Klönne nur noch zynisch fordern: ,,Damit neoliberale Glaubenszweifel nicht erst auftreten, folgender Vorschlag: Obligatorische Praktika für alle Pädagogen nicht im Betrieb, sondern an der Börse! Kommt ein großer Crash, sind neue Ü berlegungen zur Lehrer/innen-Ausbildung anzustellen." 6

b) Gewerkschaftliche Interessen

Im Gegensatz zu dieser eindeutig Kapitel orientierten Position legen die Gewerkschaften den Schwerpunkt einer ökonomischen Bildung auf die Situation und Interessenlage des künftigen Arbeitnehmers in der Wirtschaft und fordern eine umfassende Hilfe und Aufklärung über Probleme der Berufsfindung, der Berufsbildung und der späteren Berufsarbeit in einer zunehmend globalisierten und damit prekären Arbeitswelt. Bemängelt wird, dass die Entfaltung ökonomischer Themen hauptsächlich auf der geschichtlich-gesellschaftlichen Ebene der Arbeit erfolge und damit das Thema Arbeit auf die individuelle Erscheinungsebene reduziere. Die Schüler und Schülerinnen in der Hauptschule könnten dem Unterricht oft kaum folgen, ,,wenn sie aus einer abstrakt teilnahmslosen Perspektive einzelfachliche Inhalte aus dem Rechnungswesen, aus Modellvorstellungen über Wirtschaftsordnungen und über den Wirtschaftskreislauf oder etwa über Strukturen des Welthandels etc. lernen sollen."7 Damit leiste das Fach einer ökonomischen Ideologienbildung Vorschub, weil die eigentlichen Probleme ausgeklammert bzw. verschleiert würden. Beispielsweise bleibe unklar,

- dass die Massenarbeitslosigkeit keine Krise, sondern das Ergebnis steigender Arbeitsproduktivität in einem System sei, das die Einsparung von Arbeit zum Ziel habe,
- dass Verteilungsfragen weiter politisiert und Entscheidungsprozesse vermehrt zentralisiert werden und
- dass der Arbeitsmarkt nicht nur ein Ort des Ausgleichs von Angebot und Nachfrage an Arbeit sei, sondern das dort entschieden werde, wer welche Qualifikationen erhält, wo gearbeitet wird und in welchem Umfang am gesellschaftlichen Reichtum teilgenommen wird usw.8

In einem Statement von der Bund-Länder-Kommission zur Entwicklung des Bildungs- und Beschäftigungsproblems in Deutschland forderte daher Regina Görner, Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes: ,,Schulen müssen Schülerinnen und Schüler auf ein Leben in Patchwork-Biografien vorbereiten. In der Arbeitslehre wird, so fürchte ich, immer noch vorwiegend auf ein Leben im Normalarbeitsverhältnis vorbereitet, das es für die große Mehrheit der jungen Menschen gar nicht mehr geben wird.

- Vor allem in der Sekundarstufe I muss überprüft werden, ob die Curricula noch den gewandelten Anforderungen entsprechen.
- Kommunikative Kompetenz sowohl im Umgang mit Menschen als auch mit Medien ist entscheidend.
- Das Bild der Arbeitswelt, das in der Schule vermittelt wird, gehört auf den Prüfstand.
- Berufswahl-Orientierung und Berufsvorbereitung müssen einen viel höheren Stellenwert erhalten.
- Bei der Aus- und Weiterbildung von Lehrern sind die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen."9

Man sieht aus diesen wenigen Bemerkungen, dass die Gewerkschaften einen eher emanzipatorischen und kompensatorischen Ansatz verfolgen. Sie sehen die Aufgabe einer Wirtschafts- und Arbeitslehre primär darin, die Voraussetzungen für lebenslanges Lernen und wechselnde Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Dazu gehört, dass sie in den Lebenszusammenhängen der Jugendlichen Identitätsfindung und soziale Erfahrung ermöglicht sowie stärker noch als bisher soziale Kompetenzen vermittelt. Dies gilt insbesondere für benachteiligte Jugendliche, die im Vergleich zu anderen gleichaltrigen ungünstigere Startchancen und schlechtere individuelle Voraussetzungen für die Berufsausbildung mitbringen. Für Jugendliche ausländischer Herkunft wird darüber hinaus gefordert, Ausbildungshemmnisse auszugleichen, insbesondere Sprachdefizite, mangelnde gesellschaftliche Integration und damit verbundene soziale Benachteiligungen abzubauen.10

c) Standes- und hochschulpolitische Interessen

Nach der bereits geschilderten Einstellung eigenständiger wirtschaftswissenschaftlicher Lehramtsstudiengänge für die Sekundarstufe I Mitte der 70-er Jahre kam es zur Gründung einer "Bundesfachgruppe fürökonomische Bildung", die von den in NRW betroffenen Kolleginnen und Kollegen ausging und allmählich auch Fachvertreter anderer Bundesländer einbezog. Diese Fachvertreter verstanden sich als hochschulpolitische Lobby für die Sicherung bzw. Einrichtung wirtschaftswissenschaftlicher Lehramtsstudiengänge und der damit verbundenen Lehrstühle für "Wirtschaftswissenschaften und ihre Didaktik". Diese Bundesfachgruppe trat mit einer eigenen Empfehlung "Zur Ö konomie in der Lehrerbildung" an die Öffentlichkeit, in der die "Problemlage" wie folgt beschrieben wurde: "Mit großer Sorge beobachten die Hochschullehrer, die für die Lehrerausbildung im Bereich 'Ökonomie' verantwortlich sind und sich zur Bundesfachgruppe für ökonomische Bildung zusammengeschlossen haben, die anhaltend schlechte Situation des Wirtschaftsunterrichts in den allgemeinbildenden Schulen. Den Schülern wird sowohl eine ausreichende Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt in allen allgemeinbildenden Schulstufen und Schulformen wie auch eine Orientierung auf wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge durch entsprechende Kursangebote in der gymnasialen Oberstufe vorenthalten. Dies steht in krassem Gegensatz zur Bedeutung ökonomischer Bildung, der zur Bewältigung der Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe in unserer Gesellschaft wachsendes Gewicht zukommt. Dabei geht es nicht nur darum, bisher vorhandene Defizite in ökonomischer Bildung, die in allen Bevölkerungskreisen festzustellen sind, zu beseitigen, sondern auch darum, neue Probleme im ökonomischen Bereich als bildungsrelevante Fragestellungen zu formulieren, d.h. Lernziele ökonomischer Bildung weiter zu entwickeln.

Beispielhaft für solche zukunftsorientierte Problemkreise seien hier angeführt:

1. Probleme der Humanisierung der Arbeits- und Wirtschaftswelt;
2. Probleme der Partizipation an wirtschaftspolitischen Entscheidungen in allen Bereichen der Wirtschaft und des Staates;
3. Probleme des Wandels von Konsumgewohnheiten, der durch einen wirtschaftlichen Umgang mit den natürlichen Ressourcen (insbesondere Energie) und den Nord-Süd-Konflikt erforderlich wird;
4. Probleme der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und Probleme der fortschreitenden Umweltbelastungen;
5. Probleme der Arbeitsplatzwahl und der beruflichen Qualifizierung unter den Bedingungen eingeschränkten Wachstums und raschen technischen Wandels."11

Interessant bei dieser Problembeschreiung ist die Tatsache, dass fast alle der genannten Probleme nicht zum traditionellen Kanon der Wirtschaftswissenschaften gehören, sondern eher allgemeine gesellschaftspolitische Probleme ansprechen, die bevorzugt in der politisch- sozialwissenschaftlichen Bildung und Ihren Bezugsdisziplinen bearbeitet werden. Die Bundesfachgruppe zieht daraus eher indirekt die Konsequenz, nicht das traditionelle Lehrgebäude der Wirtschaftswissenschaften - insbesondere in der immer noch dominierenden neoklassischen Variante - zu Grunde zu legen, sondern eine eher akteursbezogene Sozialökonomie zu beschreiben, die von der Situation und Interessenlage des Verbrauchers (Konsumökonomie), des zukünftigen Arbeitnehmers bzw. abhängig Beschäftigten (Arbeitsökonomie) und des mündigen Wirtschaftsbürgers (Gesellschaftsökonomie) zu fordern. Diese primär lehramtsbezogenen Ö konomien wurden dann auch bei der Konzeption sozialwissenschaftlicher Studiengänge für die Sekundarstufen I und II zugrunde gelegt.

Die Empfehlung betont, "dass die Wirtschaftswissenschaften von zentraler Bedeutung für das politische Zusammenleben sowie des Lebens des Einzelnen und damit für die Schule sind, dass Wirtschaftswissenschaften in der Regel dennoch nicht in eigenen Schulfächern oder Lehramts-Studiengängen gelehrt werden."12 Die Bundesfachgruppe für ökonomische Bildung hat sich vor einigen Jahren in die "Deutsche Gesellschaft fürökonomische Bildung" umfirmiert und umfasst heute über 70 Mitglieder. Sie versteht sich weitgehend als standespolitische Vertretung der fachdidaktischen Lehrstühle in der Bundesrepublik und insofern auch als Lobby für die Verankerung der Wirtschaftswissenschaften in allen allgemeinbildenden Schulstufen und Schulformen. Sie ist sich in der Zielrichtung einig mit den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, wenn auch - wie bereits ausgeführt - die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung eines solchen Schulfaches oder Lernbereichs höchst unterschiedlich gesehen wird. Deshalb ist es notwenig, nunmehr auf die inhaltliche und methodische Seite dieser Forderung einzugehen.

2. Welche ökonomischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen sollen in einem Unterrichtsfach ,,Wirtschaft" bzw. einem Lernbereich ,,Sozialwissenschaften" vermittelt werden?

Ich habe schon eingangs darauf hingewiesen, dass es relativ einfach ist, auf einer sehr allgemeinen Zielebene Konsens auch zwischen höchst divergierenden Interessen zu finden, dass aber der Streit sofort entbrennt, wenn es um die konkrete Umsetzung, also die Konkretisierung durch Inhalte und Methoden geht. So ist es auch bei der Forderung nach mehr ökonomischer Bildung und nach einem eigenständigen Unterrichtsfach sowie nach einer fachlich qualifizierten Lehrerbildung.

Nimmt man den jüngsten Entwurf von BDA und DGB vom August 200013, dann überrascht zunächst, dass gesellschaftliche Gruppen, die sonst weit auseinander liegende Interessen verfolgen, sich hier unter einem gemeinsamen Dach versammelt haben. Die Initiative wird neben den beiden federführenden Verbänden getragen vom Deutschen Elternverein, dem Verband Deutscher Realschullehrer, der Deutschen Gesellschaft für ökonomische Bildung und dem Bundeselternrat. Um so viele unterschiedliche Gruppen einzubinden, muss man sich schon auf einer sehr allgemeinen und abstrakten Diskussionsebene bewegen. Und genau dies kennzeichnet diese Initiative. Auch ich habe beim gründlichen Durchlesen nur eine Aussage gefunden, die ich nicht unterstreichen kann, nämlich die Forderung nach einem eigenständigen Unterrichtsfach "Wirtschaft". Wenn man das Vorwort aufmerksam liest, findet man am Ende den bezeichnenden Satz: "...ein einheitliches Votum zur Einführung des Unterrichtsfaches Wirtschaft wurde seitens der Bundesorganisation nicht erzielt."14

Dieser Widerspruch erklärt sich dadurch, dass die Argumente, die dort für die Begründung eines eigenständigen Unterrichtsfaches vorgeführt werden, eigentlich eher für die Integration der ökonomischen Bildung in einen umfassenden sozialwissenschaftlichen Lernbereich hinauslaufen.

Unter der Überschrift "Notwendigkeit eines eigenständigen Unterrichtsfaches "Wirtschaft'" heißt es nämlich: "Die interdisziplinäre Behandlungökonomischer, sozialer, politischer, rechtlicher, ethischer,ökologischer und technischer Zusammenhänge des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems, die Analyse aktueller wirtschaftlicher und politischer Probleme, an denen exemplarisch allgemeine Einsichten vermittelt werden sollen, erfordert den Erwerb differenzierter theoretischer und empirischer Kenntnisse vor allem in den Wirtschafts- und in den Sozialwissenschaften. Diese sind systematisch und kumulativ, schulform- und schulstufengerecht im Unterricht zu erarbeiten." 15 Der Leser erwartet als conclusio dieser Überlegungen den Satz: " Dies kann nur in einem integrierten Lernbereich 'Sozialwissenschaften' geleistet werden." Es geht jedoch im Text genau umgekehrt weiter: "Hierfür ist ein eigenständiges Unterrichtsfach 'Wirtschaft' in allen Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I und II einzurichten; in der gymnasialen Oberstufe sind Grund- und Leistungskurse vorzusehen."16

Auch die Inhaltsbereiche, die in vier Lernfelder gegliedert sind, versprechen ein schülernahes, lebenspraktisches und sozialwissenschaftlich breit fundiertes Curriculum (vgl. Übersicht 1).

Inhalte sind jedoch, da ist man sich unter Fachdidaktikern einig, noch keine Themen und schon gar keine Problemstellungen, die es im Unterricht zu bearbeiten gilt. Deshalb ist es ein verhängnisvoller Irrtum, wenn immer wieder versucht wird - gerade auch von Wirtschaftsdidaktikern - aus Stoffkategorien Bildungskategorien zu destillieren.17 Klaus Beck, ein Wirtschaftspädagoge, hat hierzu klar gestellt, "dass man einen Kategorienfehler begeht, wenn man versucht, 'Bildung' ...mit Hilfe von Inhaltskatalogen zu definieren."18 Für Beck handelt es sich hier um ein Zweck-Mittel-Ve rhältnis, d.h. es stellt sich die Frage, welche Mittel (= Inhalte) geeignet sind, um einen Zweck (=Bildung) zu erreichen.19 Inhalte werden also didaktisch zu "Themen", wenn sie mit Bildungszielen verknüpft werden, d.h. wenn sie unter einer bestimmten didaktischen Perspektive bearbeitet werden. Aber auch in dieser Hinsicht sind in der Bildungsinitiative Ziele formuliert worden, die - wiederum in großer Allgemeinheit - uneingeschränkt Zustimmung finden können. Es heißt dort:

Die Schülerinnen und Schüler müssen

"Kenntnisse und Einsichten erwerben sowie Beurteilungskompetenz und Reflexionsfähigkeit entwickelnüber

- die herausragende Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Persönlichkeitsentwicklung,
- die Handlungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Individuen zur Realisierung ihrer Lebenspläne im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem und für deren Mitgestaltung,
- die Möglichkeiten einer eigenverantwortlichen, sachkundigen und persönlichkeitsbezogenen Entscheidung für eine Ausbildung oder für ein Studium und die folgende berufliche Laufbahn,
- die politische Gestaltung des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems und der internationalen Wirtschaftsbeziehungen.

Zugleich müssen sie befähigt werden,

- zur Reflexion eigener Wertvorstellungen, Interessen und Gesellschaftsbilder und rationalen Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Sachverhalten und deren Folgen." 20

Nicht vergessen wurden auch die Unterrichtsmethoden, bei denen alles aufgezählt wird, was heute in der Didaktik gut und teuer ist (Methoden des entdeckenden und forschenden Lernens, Praxisbegegnungen, Fallstudien, Projekte, Planspiele, Simulationen, Übungsfirmen, Betriebspraktika, Interviews, Diskussionen usw.).21

Ich fasse zusammen: An der gemeinsamen Initiative von BDA und DGB ist weder inhaltlich noch methodisch etwas auszusetzen, wenn man auf der dort gewählten abstrakten Argumentationsebene verbleibt. Höchst widersprüchlich ist lediglich die durch die vorgetragenen Argumente in keiner Weise begründete Forderung nach einem eigenständigen Unterrichtsfach "Wirtschaft".

Sehr viel problematischer wird die Sache erst, wenn man konkreter wird, insbesondere dann, wenn man mit fachdidaktischen Prinzipien und Relevanzkriterien arbeitet. Erst dann kann ein stringenter Begründungs- und Ableitungszusammenhang zwischen Zielen, Inhalten und Methoden erfolgen. Ein solches Curriculum wird in keinem der bisher zur ökonomischen Bildung vorgelegten Memoranden und Initiativen entwickelt.22

Hier steht jeder Fachdidaktiker vor einem Dilemma: Je nachdem, welches Relevanzkriterium bzw. didaktische Prinzip man an einen Stoffkatalog anlegt, d.h. eine didaktische Perspektive einnimmt, ergeben sich aus ein und demselben Stoffkatalog völlig unterschiedliche Konsequenzen für den praktischen Unterricht (vgl. Übersicht 2).

Folgt man beispielsweise dem Prinzip Wissenschaftsrelevanz, dann steht die Systematik des Faches im Vordergrund und dann gelangt man zu Curricula, die dem Typ "Abbilddidaktik" zuzuordnen sind. Einen solchen Zugriff versuchen beispielsweise Sczesny/Lüdecke in ihrer empirischen Untersuchung zur ökonomischen Bildung, wenn sie das ökonomische Wissen auf insgesamt 22 Fachkategorien verdichten (Übersicht 3).

Entscheidet man sich hingegen für das didaktische Prinzip "Lebensrelevanz" und fragt, in welchen ökonomischen Situationen Jugendliche und spätere Erwachsene schwierige Sachverhalten beurteilen sowie entscheiden und handeln müssen, dann sind die jeweiligen Situationen und Interessenlagen zu identifizieren, die z.B. für die Hinführung der Jugendlichen zur Wirtschafts- und Arbeitswelt und für die Berufsfindung (Situation des Ausbildungsplatzbewerbers, des Jugendlichen in der Berufsbildung, des späteren Arbeitnehmer, des potentiellen Arbeitslosen bis hin zum Rentenbezieher), aber auch für Konsumentscheidungen im privaten Haushalt wichtig werden.

Nimmt man schließlich als primäres Relevanzkriterium die "Gesellschaftsrelevanz", dann werden aktuelle und strukturelle Probleme der Gesellschaft, wie sie in der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit verhandelt werden, Ausgangspunkt des ökonomischen Lernens (z.B. die Massenarbeitslosikeit, die Umwelg- und Ernergiekrise, die aktuelle Situation auf dem Mineralölmarkt als Musterbeispiel für die Macht der Konzerne und die Ohnmacht der Politik, die Hungersnot in Äthiopien oder der Streit um die Rentenreform).

Die Beispiele zeigen, dass die Definition eines Curriculums Ökonomie oder Sozialwissenschaften ein fachdidaktisches Optimierungsproblem zwischen konkurrierenden Relevanzprinzipien darstellt und die Frage "Welche ökonomischen Kenntnisse brauchen Schüler?" nur über eine solche Relevanzklärung beantwortet werden kann. Nimmt man z.B. die allseits erhobene Forderung ernst, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie jeweils sind, dann muss dem Prinzip der Lebensrelevanz Vorrang gegenüber den Prinzipien der Gesellschaftsrelevanz und der Wissenschaftsrelevanz eingeräumt werden. Dann müssen objektive Relevanzkriterien mit subjektiven Relevanzkriterien vermittelt werden (vgl. Übersicht 2). Dies geschieht primär in der Planung und Realisierung des individuellen Unterrichts im Hinblick auf die jeweilige Klasse und ihre anthropogenen und soziokulturellen Bedingungsfaktoren. Aber als objektive Relevanzkriterien müssen die Inhalte bei einem schülerorientieren Curriculum zunächst dem Situationsprinzip sowie dem Prinzip der Handlungsorientierung genügen.

Fachwissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten werden dann in den Dienst der Situationsund Problembewältigung Jugendlicher in einer komplexen, dynamischen und offenen Gesellschaft gestellt.

Doch welches sind dann die geeigneten wirtschaftswissenschaftlichen Bezüge, also die Schlüsselkatagorien, Theorien und Methoden, die für einen solchen didaktischen Zugriff herangezogen werden können? Hier tut sich ein neues Dilemma auf:

Nimmt man das Insgesamt der Wirtschaftswissenschaften als wissenschaftliches Bezugssystem, dann ergibt sich eine fast unendliche Vielfalt an Fragestellungen, Problemdefinitionen, Schlüsselkategorien, Theorieansätzen und Methoden. Die Frage ,,Was ist das proprium der Ökonomie, also der ureigenste Gegenstand dieser Disziplin?" ist bis heute auch unter Wirtschaftswissenschaftlern höchst umstritten. Kurz gefragt: Worin unterscheiden sich Wirtschaftswissenschaften von anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen?

Es gibt Sozialwissenschaftler, die prinzipiell bestreiten, dass es überhaupt eine Wirtschaftswissenschaft gibt, die sinnvoll als Einzeldisziplin betrieben werden kann. So hat z.B. Hans Albert schon vor langem die These vertreten, die Nationalökonomie sei nichts anderes als eine spezielle Soziologie. Die Entsoziologisierung der Ökonomie führe zur Immunisierung in außerökonomische Faktoren und damit zu einer Immunisierung gegen die Erfahrung überhaupt.23 Unterstellt man hingegen, dass es eine Wirtschaftswissenschaft sinnvoller Weise geben kann und soll, dann stehen mindestens zwei Varianten für die Definition eines Erkenntnisobjektes und Auswahlprinzips zur Verfügung: Die Gewinnmaximierung und die Güterknappheit.24 Nachdem der Marxismus weltweit zu Grabe getragen wurde - dieser hatte sich als Politische Ökonomie weitgehend auf das Gewinnmaximierungsprinzip kapriziert - , werden die Wirtschaftswissenschaften heute fast ausschließlich auf die Knappheitsthese gegründet. Danach steht die Überwindung der Güterknappheit und die bedarfsgerechte Versorgung der Menschen am Ausgangspunkt aller wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen. Das war keinesfalls immer so. Wilhlem Rieger, einer der führenden Vertreter der Betriebswirtschaftslehre im Vorkriegs-Deutschland schrieb 1929 in seiner Privatwirtschaftslehre ganz klar: "Dass eine Unternehmung sich als Aufgabe die Versorgung des Marktes setzt, ist eine ganz unmögliche Vorstellung. Gewiss, wenn sich heute eine Waggonfabrik auftut, so berechnet sie aufgrund irgendwelcher Unterlagen den voraussichtlichen Bedarf für absehbare Zeit, vergleicht damit die Kapazität der bereits bestehenden Waggonbauanstalten und kommt so zu der Ü berzeugung, dass sich auch für sie ein Plätzchen finden werde. Sie hofft an der Befriedigung der Nachfrage des Bedarfs an Waggons mitwirken zu dürfen, namentlich wenn sie sich mit Plänen für Neuerungen, Spezialitäten usw. trägt. Aber nicht, weil sie der Menschheit helfen, den Markt mit Waggons versorgen will, sondern weil ihr dies ein aussichtsreicher und dankbarer Weg zu sein scheint, ihr Ziel zu erreichen: nämlich zu verdienen... Von den Unternehmern... könnte man eher behaupten, dass sie es außerordentlich bedauern, wenn sie den Markt versorgen; denn je länger er nicht versorgt ist, desto länger die Aussicht auf Absatz und Gewinn. Nichts hört der Kaufmann so ungern wie dies: Ich habe keinen Bedarf, der Markt ist versorgt - während er doch eigentlich verpflichtet wäre, es mit einem Gefühl tiefer Befriedigung zu vernehmen!" 25

Aber auch hier handelt es sich lediglich um eine Frage der Perspektivität.

Gewinnmaximierung oder optimale Güterversorgung sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die eine Perspektive betrachtet die geldwirtschaftliche Seite, die andere die güterwirtschaftliche. Eine Didaktik der Wirtschaftslehre müsste eigentlich mit der Problematisierung dieses Verhältnisses beginnen und darf nicht - ähnlich dem Überwältigungsverbot in der politischen Didaktik -- mit einer paradigmatischen Vorentscheidung im vermeintlich wohlverstandenen Interesse der Schülerinnen und Schüler beginnen. Überhaupt wäre es einmal nützlich darüber nachzudenken, dass jede Fachdidaktik - also auch die Wirtschaftsdidaktik - im Grunde eine Metawissenschaft ist, d.h. sie steht außerhalb der Objektbereichs der Ökonomie und betrachtet deren wissenschaftliche Aussagensysteme unter dem Blickpunkt und Verwertungsinteresse der Erziehungswissenschaft. Darin besteht der viel beschworene Brückenschlag zwischen der Erziehungswissenschaft und den fachwissenschaftlichen Einzeldisziplinen, den die Fachdidaktik nach ihrem eigenen Selbstverständnis zu leisten hat. Nur - je höher die Vogelperspektive eingenommen wird, desto vielfältiger und bunter wird die Wissenschaftslandschaft der Ökonomie. Nimmt man nur die Forschungsdiversifikationen des 20-sten Jahrhunderts, dann konkurrieren neoklassische Lehren und ihre Varianten (z.B. Wohlfahrtsökonomie, Institutionenökonomik, Theorie der Eigentumsrechte usw.) mit dem Keynesianismus und seinen Ablegern, ferner mit dem Neoliberalismus, der evolutorischen Wirtschaftstheorie (Schumpeter u.a.), der Neuen politischen Ökonomie, der Spieltheorie, der Umweltökonomik, Ökonometrie, Wirtschaftsethik und vielen weiteren Spielarten mehr.

Angesichts dieses fast unlösbaren Auswahl- und Begründungsproblems bleibt den Wirtschaftsdidaktikern nur der Ausweg, pragmatisch vorzustehen, d.h. je nach Zielrichtung und Problemdefinition die Theoriebezüge herzustellen, die für eine Aufklärung und Orientierung der Schüler und Schülerinnen über existenziell bedeutsame Gegenwarts- und Zukunftsfragen geeignet erscheinen. So kann es auch nicht verwundern, dass die meisten Wirtschaftsdidaktiker nicht dem Mainstream der Wirtschaftswissenschaften, nämlich der neoklassischen Wirtschaftstheorie anhängen, sonder eher sozialwissenschaftlich orientierte Ansätze einer Sozialökonomie verfolgen (z.B. die ökonomische Verhaltenstheorie, das Kollektivgut-Theorm und die moderne Theorie der Institutionen)26. Eine solche moderne Sozialökonomie steht in der Tradition der deutschen Historischen Schule der evolutorischen Ökonomie, wie sie von Josef Schumpeter begründet wurde. Günther Seeber hat einige grundlegende Kategorien sozioökonomischen Denkens herausgearbeitet, die er für eine fachwissenschaftliche Fundierung der Wirtschaftsdidaktik als besonders fruchtbar erachtet werden (vgl. Übersicht 4).

Übersicht 4

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Grundlegende Kategorien sozioökonomischen Denkens

Quelle: Seeber, Günther: Moderne Sozioökonomie als Herausforderung für dieökonomische Bildung. In: Deutsche Gesellschaft fürökonomische Bildung (Hrsg.): Konzeptionelle Ansätzeökonomischer Bildung. Bergisch-Gladbach 1997, S. 194.

Danach müsste das klassische Kategorienschema ergänzt werden um die Kategorien ,,Menschenbild", ,,Entwicklung", ,,Werte und Normen" (Gerechtigkeit, Freiheit, soziale Sicherheit usw.) und ,,Institutionen".

Aber mir fehlt hier immer noch eine wichtige Kategorie: Die Kategorie ,, Nachhaltigkeit". Ich habe insbesondere mit Blick auf diese Kategorie vor einiger Zeit für eine ,,zukunftsfähige" ökonomische Bildung plädiert und vorgeschlagen, den Schlüsselbegriff ,, Zukunftsfähigkeit"als neues wissenschaftliches und didaktisches Relevanzkriterium einer sozioökonomischen Bildung aufzunehmen.27 Nimmt man dieses Prinzip ernst, dann wird ein Kategoriensystem für eine zukunftsfähige ökonomische Bildung doch erheblich von dem abweichen, was bisher in der Wirtschaftsdidaktik als gut und richtig erachtet wurde (vgl. Übersicht 5).

Übersicht 5

Kategorien einer ,,zukunftsfähigen" ökonomischen Bildung28

Arbeit und Beruf

Effizienz

Entropie

Entwicklung (nachhaltige) Fortschritt

Gerechtigkeit (interregionale, intergenerative)

Kapital (ökologisches bzw. natürliches, soziales bzw. gesellschaftliches, moralisches) Konsistenz

Kosten (soziale, externe)

Menschenbild (homo oeconomicus vs. homo oecologicus) Lebensstil

Leitbilder Netzwerk

Nachhaltigkeit (ökonomische, ökologische, soziale)

Natur

Rationalität Ressourcen

Selbstorganisation

Sozialverträglichkeit System

Suffizienz

Umweltraum

Umweltverträglichkeit

Wachstum (qualitatives, immaterielles, kulturelles) Wirtschaftlichkeit

Zukunftsfähigkeit (Tragfähigkeit, Sustainability)

Nimmt man die globale ökologische Krise als die existentielle Herausforderung der Gattung Mensch und geht man von der Voraussetzung aus, dass das ökonomische System auf Gedeih und Verderb auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, also die Funktionsfähigkeit des ökologischen Systems, angewiesen ist, dann kann man mit Ulrich Weizsäcker die Frage stellen, ob das ,, Jahrhundert der Ö konomie" sich nicht allmählich dem Ende zuneigt29 Dieses Jahrhundert der Ökonomie war vor allem in seiner zweiten Hälfte gekennzeichnet durch exponenzielles Wirtschaftswachstum, die Globalisierung von Produktion und Konsum sowie durch stetig verkürzte Innovations- und Produktionslebenszyklen Dieses Jahrhundert der Ökonomie - so Ulrich von Weizsäcker - müsste durch eine ,, Jahrhundert der Politik" ersetzt werden, damit die notwendigen Rahmenbedingungen für eine globale und zukunftsfähige Wirtschaftsentwicklung geschaffen werden. Die Ökonomie und ihre Didaktik sind in diesem Sinne aufgerufen, sich an der Suche nach einem neuen, ,, zukunftsfähigen" Wohlstandsmodell einer ,,nachindustriellen Gesellschaft" zu beteiligen. Alle die bisher vorgelegten Curricula, die die Forderung nach einer verstärkten ökonomischen Bildung begründen wollen, scheinen mir in dieser Hinsicht noch wesentlich ergänzungsbedürftig.

3. Welches fachliche und methodische Wissen brauchen SchülerInnen, um die durch die zunehmende Globalisierung aufgeworfenen Fragen, Probleme und Herausforderungen angemessen im wirtschaftlich-sozialwissenschaftlichen Unterricht bearbeiten zu können?

Nach diesem insgesamt doch relativ unbefriedigendem Ergebnis werden Sie mich mit Recht fragen, was ich denn nun für eine sinnvolle Fortentwicklung und Verankerung der ökonomsichen Bildung in Schule und Universität anzubieten habe. Insbesondere, wie man in Zukunft das Thema ,, Globalisierung" im sozialwissenschaftlichen Unterricht anzugehen habe. Ich möchte hierzu kurz drei Punkte ansprechen.

3.1 Neue didaktisch-methodische Ansätze

Zunächst geht es um eine Verbesserung und Erweiterung des didaktischen Ansatzes. Ich sehe hier drei wichtige Innovationen für die Weiterentwicklung der Wirtschaftsdidaktik:

(1) Ein Curriculum für die ökonomische Bildung müsste gemäß den didaktischen Prinzipien der Situations-, Problem- und Handlungsorientierung die Schülerinnen und Schüler als handelnde Akteure in unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und politischen Situationen begreifen und sie nicht nur als Funktionselement in abstrakten Systemen und Institutionen betrachten. Die in der Wirtschaftswissenschaft so beliebten Geld- und Güterkreisläufe müssen in den Kontext sozialer Verhaltensweisen und Entscheidungssituationen gestellt werden. Nicht der private Haushalt, der Betrieb, der Staat, das Ausland, die Politik usw., also abstrakte Institutionen und Pseudosubjekte, dürfen Gegenstand und Thema ökonomischer Bildung sein, sondern Individuen in ihrem Rollenhandeln in komplexen sozialen und ökonomischen Situationen. Es war mein erster didaktischer Versuch im Rahmen der Aufbaukommission Laborschule an der neu gegründeten Universität Bielefeld Anfang der 70er Jahre, dass ich am Beispiel des Themas ,, Geld", das in allen vorliegenden Curricula rein mechanistisch und isoliert von allen sozialen Beziehungen behandelt wird, einen solchen sozialökonomischen Zugang zum Thema versucht habe.30 Ich halte diesen Ansatz auch heute noch für tragfähig (vgl. Übersicht 6).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein solcher Zugang belässt der Ökonomie ihre Eigenständigkeit (der Fachmann wird sofort das magische Viereck des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes erkennen) und bindet gleichzeitig die wirtschaftlichen Akteure in ihr soziales Rollenhandeln ein. Nur hier können sich Schülerinnen und Schüler unmittelbar wiederfinden. Außerdem wird die Verknüpfung mit der Politik durch die drei Kategorien Interessen, Konflikt und Staat deutlich. Es wäre fatal, diese im Curriculum eng miteinander verbundenen Aspekte durch einer Fächertrennung von Politik und Wirtschaftslehre auseinander reißen zu wollen.

(2) Ich würde heute in Fortführung dieses Ansatzes die Ausrichtung eines wirtschaftlichen Curriculums der Konsumökonomie um eine g ü terwirtschaftliche Dimension erweitern. Reinhold Hedtke hat in seiner in vergangenen erschienenen Schrift ,,Konsum in der Standardökonomik" den in der traditionellen Konsumökonomie verwendeten Güterbegriff als völlig unzureichend charakterisiert. Er kritisiert, ,,dass mit den scheinbar rein ökonomischen Begriffen implizit und unkontrolliert auf Gesellschaft Bezug genommen wird, dass es für konsumtheoretische Verwendungen erhebliche Unklarheiten in der Begrifflichkeit gibt und dass die formalen Grundannahmen Teilbarkeit und Homogenität der Güter wesentliche konsumökonomische Einsichten verhindern."31 Er bemängelt ,,die mangelnde Sensibilität der Standardökonomik und insbesondere des Haushaltsproduktionsansatzes für soziale Strukturen, die ökonomische Alternativen und ökonomisches Handeln wesentlich prägen"32 und kommt nach einer ausführlichen kritischen Analyse zu dem Ergebnis, dass die ,,allgemeine konsumtheoretische Basis, gebildet von der Trias aus unbegrenzten Bedürfnissen, ewiger Knappheit und ständigem Wachstum" nicht tragfähig ist, ,,weil Bedürfnisse und Knappheit keine exogenen, natürlichen Tatbestände sind, sondern Konstrukte von Ökonomie und Ökonomik, Gesellschaft und Geschichte."33 Konsum ist danach nicht nur ökonomisches, sondern primär sozialgeprägtes, interaktives Handeln. Auch dies ist ein Plädoyer für eine sozialökonomische Sichtweise und die Integration ökonomischer und sozialwissenchaftlichen Erklärungsansätze. Für ein Curriculum der ökonomsichen Bildung müssten danach wesentlich differenziertere Güterkategorien entwickelt und zum Gegenstand eines sozialwissenschaftlichen Unterrichts gemacht werden (z.B. durch eine Kategorisierung nach Lebensmitteln unter Ernährungs- und Gesundheitsaspekten, Textilien nach modischen, ästhetischen, ökologischen und stofflichen Gesichtspunkten bis hin zu Dienstleistungen wie Versicherungen, Hypotheken, Leistungen von Ärzten, Rechtsanwälten, Bildungseinrichtungen, Kunst, Theater usw. usw.). Hier stelle ich mir ein sehr lebenspraktisches, interessantes und nicht zuletzt auch wissenschaftlich und theoretisch anspruchsvolles Lernen vor.

(3) Eine wichtige Fortentwicklung für ein innovatives Curriculum der ökonomischen Bildung sehe ich auch in einer Neudefinition der Rolle des Unternehmers als Akteur. In den bisherigen Curriculumentwürfen - auch in meinen eigenen - tauchen Unternehmer in zweifacher Funktion auf:

- einmal als Produzenten von Konsumgütern, die dann gleichsam Kontrahenten von Konsumenten auf wettbewerblich organisierten Gütermärkten werden,
- zum andern als Unternehmer und Arbeitgeber, die dann wiederum Kontrahenten im Konflikt zwischen Gewinnmaximierungs- und Lohninteressen sind.

Wenn aber immer deutlicher wird, dass die für Jugendliche ganz elementare und existenzielle Zukunftshoffnung, nämlich die Hoffnung auf befriedigende und Sinn erfüllte Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen vom Ausbildungs- und Beschäftigungssystem immer weniger erfüllt werden können, dann muss in der Tat über neue Zukunftsperspektiven, die in den allgemein bildenden und beruflichen Schulen entwickelt werden müssen, nachgedacht werden. Ich meine hier die Bildung zu der vielfach geforderten ,, Kultur der Selbständigkeit". In ein solches Curriculum gehören unbedingt auch Informationen und Anleitungen zur Existenzgründung und zum Aufbau von Selbständigkeit. Diese wichtige Bildungsarbeit darf nicht - wie bisher üblich - den Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter und Existenzgründer-Seminaren der Industrie- und Handelskammern überlassen bleiben, sondern muss in ein sozialökonomisches Curriculum integriert werden.

Abschließend möchte ich auf das Rahmenthema und meine Eingangsbemerkungen zurückkommen. Was folgt nun aus alledem für eine Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf ein Leben in einer globalisierten Welt? Schaut ,man auf die einschlägigen Stoffkataloge und Inhaltsbereiche, so scheint es das Thema Globalisierung überhaupt nicht zu geben. Bestenfalls wird es in ein Inhaltsfeld ,,Internationale Beziehungen" verwiesen (vgl. Übersichten 1 und 3 und 7) Vor allem in der Initiative BDA/DGB vom August d. J. (Übersicht 1) fällt dieses Inhaltsfeld jedoch außerordentlich dürftig aus. Auch dies eine Folge der Beschreibung des Faches auf einer aller allgemeinsten und deshalb Konsens fähigen Ebene Der größte Fehler, den man hierbei machen kann, besteht nun darin, sich auf die wenigen globalen Institutionen zurückzuziehen, die es bisher überhaupt gibt. Dann wäre ein Unterricht über Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, die WTO, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und natürlich die UNO zu organisieren. Es leuchtet sofort ein, dass es kaum gelinden kann, durch eine Information über Stellung und Funktion dieser Organisationen in der Weltwirtschaft großes Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken. Geht man die Sache jedoch problemorientiert an, dann tut sich eine Fülle interessanter Konfliktfelder, Probleme und Fragen auf, z.B.

- Warum hat die Welthandelskonferenz der WTO im vergangenen Jahr in Seattle zu weltweiten Massenprotesten geführt, die schließlich ein Scheitern dieser Konferenz zur Folge hatten?
- Warum ist bis heute nicht gelungen, internationale Mindeststandards für Arbeit und Umwelt im globalen Markt durchzusetzen?
- Ist die Freihandelsdoktrin wirklich eine Chance für die Entwicklungsländer, ihren Schuldenberg abzutragen und Analphabetismus, Armut und Hunger zu überwinden oder sind die Entwicklungsländer die Verlierer der Globalisierung?34
- Welche demokratische Legitimation haben eigentlich die einzelnen globalen Institutionen (IWF, Weltbank, WTO usw.), um im Namen der gesamten Menschheit die Spielregeln und Sanktionsmechanismen für den Welthandel zu bestimmen?

Auch bei diesen Fragen wird sofort deutlich, dass sie den Erklärungshorizont der Ökonomie, nach deren Freihandelsdoktrin es zwischen Staaten, die Handel miteinander treiben, sowieso nur Gewinner geben kann, völlig unzureichend ist und durch viele weitere Theorieansätze der Politikwissenschaft, Soziologie, des Völkerrechts usw. ergänzt werden muss. Die genannten Probleme und Fragen gehören also durchaus in einen aktuellen sozialwissenschaftlichen Unterricht, nur muss man den curricularen Zugriff etwas anders aufziehen. Wenn Globalisierung heißt, dass die Welt zu einem globalen Dorf geschrumpft ist und dass alles, was weltweit geschieht, unmittelbaren Einfluss auf unseren Alltag hat - und umgekehrt, wenn unser Alltagshandeln immer mehr durch globale Strukturen und Prozesse bestimmt wird, dann muss man die Globalisierung auch dort aufsuchen, nämlich im Alltag von handelnden Individuen. Also

- im privaten Haushalt und in der Familie als Konsumeinheit,
- im Betrieb mit seinen in- und ausländischen Arbeitnehmern und weltweiten Verflechtungen durch Import- und Exportbeziehungen,
- in den Entscheidungen staatlicher Akteure auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene und
- in den internationalen Kommunikations- und Austauschbeziehungen, die die Güter, Kapitalund Informationsströme beeinflussen.

Globalisierung ist insofern ein quer zu allen Inhaltsfeldern der ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Bildung liegendes Prinzip und erfordert methodisch die Gewinnung eines neuen Denkhorizontes, der die traditionelle Raum- und Zeitmuster nationaler Gesellschaften überwindet.

3.2 Globale Bezüge in unserer Alltagswelt

Wir haben uns daran gewöhnt, daß uns die Welt den Tisch deckt, aber wir haben kein Bewußtsein davon. Eine solche globale Bewußtseinsbildung wäre ein erster methodischer Schritt für die geforderte globale Perspektivenerweiterung. Wir trinken Kaffee und Tee, würzen mit Curry und Pfeffer und denken nicht daran, daß wir es hier mit ,, Kolonialwaren" zu tun haben, die aus fernen Ländern kommen und z.T. unter menschenunwürdigen und naturzerstörenden Bedingungen produziert werden. Wir essen Käse aus Holland, Schinken aus Italien, Salami aus Ungarn, Honig aus Mexiko, Butter aus Holland, Kiwis aus Neuseeland, Bananen aus Mittelamerika usw. und wissen sehr wenig über Produktionsbedingungen, ökonomische und politische Verhältnisse in den Herkunftsländern sowie die sozialen und ökologischen Kosten und Nebenfolgen des weltweiten Handels mit diesen Produkten. Selbst der Lebenszyklus einzelner Produkte kann heute weltweite Wege und Stufen umfassen. Beim Kauf eines bunten Oberhemdes etwa kann die Baumwolle in Usbekistan gefertigt, in der Türkei mit Farben aus deutscher Chemieproduktion gefärbt, in Marokko zu Stoff verarbeitet werden, u.U. auf Webstühlen eines deutschen Textilmaschinenexporteurs. Das Design ist schließlich aus Italien, genäht wird in Slowenien und verkauft wird es schließlich von einem US-Multi in Deutschland.35

Ähnliche globale Beziehungen ergeben sich, wenn wir das Inhaltsfeld Betrieb und die Akteuerperspektive des Arbeitsnehmers und Unternehmers in den Blick nehmen:

- Warum werden unsere Belegschaften immer multinationaler und warum müssen wir z.B. indische Programmierer importieren, um die für die Digitalisierung der Produktionsabläufe, Waren- und Transportströme sowie Finanztransaktionen notwendigen Funktionen sicher zu stellen?
- Wie kann Deutschland als rohstoffarmes Land im internationalen Wettbewerb um knappe Ressourcen bestehen, ohne die Länder der Dritten Welt auszubeuten und die Umwelt zu zerstören?
- Warum verlassen immer mehr Unternehmen den Standort Deutschland und verlagern ihre Produktion ins Ausland? Wie kann der dadurch bedingte Verlust an Arbeitsplätzen kompensiert werden?

Dies sind Fragen, die im Lernfeld Betrieb thematisiert und auf die persönliche Situation der Schüler und Schülerinnen als zukünftige Arbeitnehmer bezogen werden müssen. Noch ganz kurz einige Bemerkungen zur Methodenfrage.

3.2 Zukunftswerkstatt und Szenariotechnik als neue Methodenkonzepte der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bildung

Die vielen globalen und miteinander vernetzten Probleme - von der Überrüstung zur Unterernährung, von der Klimakatastrophe zum Artensterben usw. - lassen nur noch einen Weg in die Zukunft offen: Die globale Suche nach annehmbaren Modellen für eine ,,Welt für alle".36 Hier bedarf es auch einer Perspektivenerweiterung im Hinblick auf die politische und moralische Urteilsbildung, und zwar auf drei Stufen anhand der Leitfragen:

(1) Was brauche ich (Individualebene)?
(2) Was brauchen wir (gesellschaftliche und nationale Ebene)?
(3) Was brauchen die anderen (globale Ebene)?

Auf der Suche nach neuen Methoden der Politischen Bildung für eine zukunftsorientierte und globale Auseinandersetzung mit den säkularen Herausforderungen unserer Zeit haben sich insbesondere zwei Methoden als besonders geeignet und wirkungsvoll herauskristallisiert:

1. Die Zukunftswerkstatt als ein Methodenkonzept, das auf die Frage antwortet: ,, Welche Zukunft wünschen wir uns?"

2. Die Szenariotechnik als eine Methode, die auf die Frage antwortet: ,, Welche Zukunft wird wahrscheinlich kommen?"

Die bisherigen Erfahrungen mit diesen beiden Methoden ermutigen, sie generell als eine wichtige Innovation und Erweiterung des Methodenrepertoires der Politischen Bildung zu betrachten. Sie stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander und können durch eine sinnvolle Verknüpfung dazu beitragen, die weitverbreitete Zukunftsangst und Ohnmacht der Jugendlichen zu überwinden und ermutigende Modell einer zukünftigen, sicheren und lebenswerten Welt für alle jetzigen und zukünftigen Generationen zu entdecken.37

[...]


[1] vgl. zu diesem Zusammenhang Koch, Claus: Die Gier des Marktes. Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft. München: Hanser 1995, sowie Knieper Rolf,: Nationale Souveränität. Versuch über Ende und Anfang einer Weltordnung. Frankfurt M.: Fischer 1991.

[2] vgl. Hesse, Helmut: Stichwort ,,Globalisierung". In: Lexikon der Wirtschaftsethik. Freiburg/Basel/Wien: Herder 1993, S. 402 ff.

[3] vgl. Jürgen Hoffmann: Der Kostensenkungswettlauf schafft einige Kathedralen und sehr viel Wüste. In: Frankfurter Rundschau vom 28. Okt. 1995, S. 6.

[4] vgl. nds 9/2000, S. 3

[5] Rosen, Rüdiger von: Schulfach Ökonomie - Eine notwendige Vision. In: Die Bank, Oktober 1999, S. 698 ff.

[6] Klönne, Arno: Börsengang. In: nds 9/2000, S. 3

[7] Ziefuss, Horst: Arbeit als Unterrichtsinhalt der Arbeitslehre. In: Gewerkschaftl. Bildungspolitik, Nr. 5/93

[8] vgl. ebenda

[9] Görner, Regina: Statement vor der Bund-Länder-Kommission zur Entwicklung des Bildungs- und Beschäftigungsproblems in Deutschland vom 15.3.1999

[10] vgl. Anforderungen des DGB an einen Nationalen Aktionsplan zur Durchführung der beschäftigungspolitischen Leitlinien für 1998 (Internet: http://www.dgb.de/idaten/nataktpl.doc)

[11] Bundesfachgruppe für ökonomische Bildung: Zur Ökonomie in der Lehrerbildung. o.J., S. 4

[12] ebenda, S. 9

[13] Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.): Wirtschaft - Notwendig für schulische Allgemeinbildung. Gemeinsame Initiative von Eltern, Lehrern, Wissenschaft, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Berlin August 2000

[14] ebenda, S. 5

[15] ebenda, S. 12

[16] ebenda, S. 12 f.

[17] So z.B. bei Kaminski, Hans: Der Gegenstandsbereich der ökonomischen Bildung. Anmerkungen zur Bestimmung von Unhalten und Zielen zur ökonomischen Bildung. Teil I und II in: Arbeiten und lernen/Wirtschaft 1994, Heft 14, S. 7-13 und Heft 15, S. 4-8 sowie in jüngster Zeit bei Kruber, Klaus-Peter: Kategoriale Wirtschaftsdidaktik - der Zugang zur ökonomischen Bildung. In: Gegenwartskunde Nr. 3/2000, S. 285-295.

[18] Beck, Klaus: Allgemeine Wirtschaftsbildung an kaufmännischen Schulen - Didaktische Grundlagen und empirische Befunde. In: Heinrich Schanz (Hrsg.): Didaktik allgemeiner Fächer an beruflichen Schulen. stuttgart: Holland & Josenhans 1997, S. 48.

[19] ebenda

[20] BDA/DGB (Hrsg.): Wirtschaft - Notwendig für schulische Allgmeinbildung. Berlin 2000, S. 12

[21] vgl. ebenda, S. 16. Allerdings scheinen die Verfasser die neueren, von mir besonders favorisierten "Komplexmethoden", wie z.B. Zukunftswerkstatt, Szenariotechnik, Produktlinienanalyse nicht zu kennen.

[22] Am elaboriertesten erscheint mir hier der Entwurf von Klaus Beck, der allerdings primär auf die allgemeine Wirtschaftsbildung an kaufmännischen Schulen zielt (vgl. Fußnote X).

[23] vgl. Albert, Hans: Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Berlin 19967, S. 364 ff.

[24] vgl. Schmielewicz, Klaus: Forschungskonzeptionen der Wirtschaftswissenschaft. 2. Aufl., Stuttgart 1979, S. 22. Interessant wäre die Frage, wie eine Wirtschaftswissenschaft aussehen müsste, die das Verteilungsproblem oder das Prinzip der Nachhaltigkeit zum Erkenntnisobjekt und Auswahlprinzip erheben würde.

[25] Rieger, Wilhelm: Einführung in die Privatwirtschaftslehre. Erlangen 1959 (1. Aufl. 1929), S. 46 f.

[26] Vgl. z.B. Karpe, Jan und Krol, Ger-Jan: Ökonomische Verhaltenstheorie, Theorie der Institutionen und ökonomische Bildung. In: Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung (Hrsg.): Konzeptionelle Ansätze ökonomischer Bildung. Herausgegeben von Klaus-Peter Kruber. Bergisch-Gladbach 1997, S. 75 - 102.

[27] vgl. Weinbrenner, Peter: Plädoyer für eine ,,zukunftsfähige" ökonomische Bildung. In: Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung (Hrsg.): Konzeptionelle Ansätze ökonomischer Bildung. Herausgegeben von Klaus-Peter Kruber. Bergisch-Gladbach 1997, S. 225 - 254.

[28] Ebenda, S. 249

[29] Vgl. Weizsäcker, Ernst-Ulrich von: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt. 2. Aufl. Darmstadt 1990, S. 10.

[30] Vgl. Weinbrenner, Peter: Das Geld im Kontext der Arbeitnehmer-, Verbraucher- und Sparerrolle. In: Gegenwartskunde Nr. 1/1973, S. 109 - 138.

[31] Hedtke, Reinhold: Konsum in der Standardökonomik. Eine Kritik der theoretischen Grundlagen. Weingarten 1999, S. 141.

[32] Ebenda, S. 179.

[33] Ebenda, S. 184.

[34] In Ihrem jüngsten Report der UN_Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) wird festgestellt: ,,Die ärmsten Länder der Welt verlieren in der globalisierten Wirtschaft weiter an Boden. Fast ein Viertel der ärmsten Länder sind in einer nach unten führenden Spirale gefangen, in der sich eine rückläufige Wirtschaftsentwickung, soziale Problem und gewälttätigen Konflikte gegenseitig verstärken." (vgl. dpa v. 13.Okt. 2000)

[35] Dieses und viele andere Beispiele finden sich in Braßel, Frank und Michael Windfuhr: Welthandel und Menschenrechte. Bonn: Dietz 1985, S. 9f. Zum Thema ,,Kolonialwaren" vgl. Grießhammer, Rainer und Claudia Burg: Wen macht die Banane krumm? Kolonialwarengeschichten. Reinbek: Rowohlt 1989. Das Thema ,,Bananen" ist ein besonders ergiebiges Exempel für die Globalisierungsproblematik, vgl. hierzu z.B. Wessels, Bernd- Artin: Das Bananendiktat: Plädoyer für einen freien Außenhandel Europas. Frankfurt M./New York: Campus 1995.

[36] vgl. hierzu die ausgezeichnete Zusammenstellung von Andreas Giger (Hrsg.): Eine Welt für alle. Visionen von globalem Bewußtsein. Rosenheim: Horizonte 1990.

[37] Für eine ausführliche Darstellung dieser beiden Methoden vgl. Weinbrenner, Peter: Zukunftswerkstätten - Eine Methode zur Verknüpfung von ökonomischem, ökologischem und politischem Lernen. In: Gegenwartskunde, Nr. 4/1988, S. 527-560; Weinbrenner, Peter/Walter Häcker: Zur Theorie und Praxis von Zukunftswerkstätten. In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.): Methoden in der Politischen Bildung - Handlungsorientierung. Bonn 1991, S. 115-149; Weinbrenner, Peter: Auto 2010 - Ein Szenario zum Thema ,,Auto und Verkehr" sowie Multikulturelle Gesellschaft - Einsatz der Szenariomethode. In: Steinmann, Bodo und Birgit Weber (Hrsg.): Handlungsorientierte Methoden in der Ökonomie. Neusäß 1995, S. 432 ff. und 469 ff. Als Begründer der Methode Zukunftswerkstatt gilt Robert Jungk, vgl. Jungk, Robert und Norbert R. Müllert: Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. München: Heyne 1989.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Welche ökonomischen Kenntnisse brauchen Schüler?
Hochschule
Universität Bielefeld
Autor
Jahr
2000
Seiten
30
Katalognummer
V99349
ISBN (eBook)
9783638977937
Dateigröße
571 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Referat, gehalten im Rahmen des Landesforum 2000 der Deutschen Vereinigung für politische Bildung e.V. am Freitag, den 20. Oktober 2000, in der Mercator-Halle Duisburg
Schlagworte
Welche, Kenntnisse, Schüler
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Peter Weinbrenner (Autor:in), 2000, Welche ökonomischen Kenntnisse brauchen Schüler?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99349

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