Delinquenz vor der Pubertät


Skript, 1998

21 Seiten


Leseprobe


Delinquenz vor der Pubertät

Zürich, den 5. November 98, David Rudolf

In einem ersten, einführenden Kapitel steht der Versuch, den Begriff der Delinquenz zu erfassen. Die Schwierigkeiten der Definition zeigen wie relativ Delinquenz zu verstehen ist. Im Anschluss daran wird kurz auf die rechtliche Lage von Kindern eingegangen, sowie auf entwicklungspsychologische Aspekte, die zu den geltenden Gesetzesbestimmungen führten.

Im zweiten Kapitel wird die Delinquenz bei Kindern von jugendlicher Delinquenz und Kriminalität bei Erwachsenen phänomenologisch abgegrenzt. Charakteristika und Formen kindlicher Delinquenz werden diskutiert. Betrachtungen zur Häufigkeit delinquenten Verhaltens zeigen die Brisanz der Thematik auf.

Ein dritter Teil ist den Entstehungsbedingungen der Kinderdelinquenz gewidmet, die innerhalb des Spannungsfeldes `Individuum - Gesellschaft` diskutiert werden. Die komplexe Interaktion der zahlreichen pathogenen Faktoren wird für die Entstehung von Delinquenz betont.

Praktische Konsequenzen, die sich aus den ätiologischen Überlegungen ableiten lassen werden unter dem Aspekt der präventiven und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten ausgeführt. Es wird nach Bedingungen und Eigenschaften von erfolgreichen Interventionen gesucht.

Den Abschluss bildet die Fallgeschichte des Oliver Twist. Anhand von Zitaten werden typische Aspekte kindlicher Delinquenz rekapituliert. Historische Überlegungen führen zu einer kritischen Würdigung von Dickens` Roman.

1. Zum Begriff der Delinquenz

1.1. Probleme der Definition

Der Begriff der Delinquenz lässt sich aus dem Lateinischen `delinquere` herleiten, das mit `sich vergehen` übersetzt wird. Im heutigen, alltäglichen Sprachgebrauch wird mit diesem Terminus eine Straffälligkeit, im Sinne eines Verstosses gegen eine rechtliche Norm, bezeichnet (Duden, 1982, S. 170). In der Fachliteratur sind unterschiedliche Definitionen von Delinquenz anzutreffen, die zwischen den folgenden zwei Polen pendeln:

Im angloamerikanischen und französischen Sprachraum wird Delinquenz als Überbegriff für Dissozialität und Verwahrlosung gebraucht (Kühne, 1989; Dauner, 1997). Dissozialität soll dabei eine gestörte Gemeinschaftsfähigkeit bezeichnen, die einerseits mit kriminellen Handlungen, andererseits aber auch mit nichtkriminellem Verhalten, wie etwa Lügen, Davonlaufen oder Zündeln gekoppelt ist. Mit dem Begriff der Verwahrlosung, der im allgemeinen Verhalten, wie das Nichteinalten von Höflichkeitsregeln, ungenügende Körperpflege, Unzuverlässigkeit usw. umfasst, bezeichnet Dauner (1997, S.303) "eine psychopathologische Veränderung der Persönlichkeitsstruktur", die er anhand von ätiologischen Annahmen definiert. Gemäss dieser Definition wird jegliches erwartungswidrige Verhalten als delinquent klassifiziert: die Definition ist erwartungsorientiert. Im Deutschen wird für diese Klasse von Verhaltensweisen auch der Begriff der Devianz1 gebraucht. Der Inhalt einer so verstandenen Kategorie von Delinquenz ist ausserordentlich umfassend und in letzter Konsequenz sogar beliebig: Wer entscheidet darüber, welches die relevanten Verhaltenserwartungen sind? Es können durchaus auch delinquente Verhaltensweisen erwartet werden und funktional sein, wie z.B. das Decken eines Freundes, der beim Spicken beobachtet wurde. Normenkonflikte zwischen Subkulturen und der herrschenden Gesellschaft oder zwischen konkreten Bezugspersonen, die sich als unterschiedliche Verhaltenserwartungen äussern, sind an der Tagesordnung.

Im deutschen Sprachraum wird eine wesentlich eingeschränktere Auffassung der Kategorie der Delinquenz vertreten (Pongratz & Jürgensen, 1990). Der deutsche Sprachgebrauch von Delinquenz bezieht sich lediglich auf Abweichungen vom Strafrecht. Die derart definierte Delinquenz ist eine Teilklasse der erwartungsorientierten Definition und kann, in Abgrenzung davon, als normorientiert bezeichnet werden. Hier wird das Definitionsproblem der erstgenannten Position durch eine institutionelle Bezugnahme gelöst.

Mit dieser Position kann das delinquente Verhalten inhaltlich zwar eindeutig definiert werden, andererseits entpuppt es sich bei genauer Betrachtung aber als zu begrenzt für eine sozialwissenschaftliche Fragestellung: die meisten Verhaltensweisen sind durch informelle Normen, wie z.B. Sitten, Bräuche oder Spielregeln gesteuert, die einer juristischen Basis vollständig entbehren. Weiter wird durch diese Definition von Delinquenz ersichtlich, dass sie untrennbar mit einer Norm verküpft ist, ja sogar durch eine Norm bedingt ist; Delinquenz ist somit `normal` (Lamnek, 1993, S. 42). Dieser dialogische Bezug von Norm und Delinquenz verweist wiederum auf die Relativität der Definition von delinquentem Verhalten bzw. auf deren Abhängigkeit von historischen, kulturellen, politischen Variablen, Interessen usw.

Die Schwierigkeiten, auf die wir schon bei der begrifflichen Klärung von Delinquenz stossen, zeigen wie uneindeutig, situations- und perspektivenabhängig die Definition von delinquentem Verhalten ist. Normen sind nichts anderes als Konkretisierungen von Wertehaltungen, deren Funktion soziale Kontrolle ist. Daraus muss Vorsicht im Umgang mit Normen resultieren, die Beziehung zwischen `Normsendern` und `Normadressaten` ist in hohem Masse anfällig auf Ideologie- und Machtansprüche.

1.2. Strafrechtliche Handhabung

Im juristischen Kontext fallen delinquente Handlungen vor der Pubertät unter das Stichwort der `Delinquenz bei Kindern`. Der Begriff `Kind` wird in der Gesetzgebung von der Geburt bis zum zurückgelegten 14. Altersjahr verwendet2 ; Jugendlicher ist, wer über 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Die folgende Aufstellung gibt die rechtliche Situation von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden (18-21 Jahre) wieder.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Die rechtliche Lage bis zum 21. Lebesjahr , (in Anlehnung an Remschmidt, 1997)

Der Begriff der Delinquenz wird entsprechend der fehlenden oder bloss teilweisen Gültigkeit des Strafgesetzes und in Abgrenzung von der Kriminalität3 bei Erwachsenen, spezifisch bei Kindern und Jugendlichen gebraucht (Sieverts & Schneider, 1998).

Der juristisch übliche Gebrauch des Terminus der Delinquenz soll sozialen Wertungen, die mit dem emotional beladenen Begriff der Kriminalität verknüpft sind, entgegenwirken und auf den entwicklungsbedingten, vorübergehenden, episodenhaften Charakter der Delinquenz hinweisen. Auf Delinquenz soll weniger mit Repression und Strafe, als vielmehr mit Zuwendung, Erziehung und Prävention reagiert werden.

"Die Einsicht in das Delikt4 ist eine gesetzliche Voraussetzung für die zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit von Minderjährigen" (Hommers, 1989, S.97). Inwieweit kann von Kindern ein Verständnis für Verantwortlichkeit und Unrecht oder allgemeiner von Verursachung und Moral5 erwartet werden?

1.3. Entwicklungspsychologische Aspekte

Nach Piaget wird die frühe Kindheit bis etwa zum 7. Lebensjahr in bezug auf die kognitive Struktur als präoperative Phase bezeichnet. Das Weltbild von Kindern in diesem Altersabschnitt ist hauptsächlich durch den vorherrschenden Egozentrismus zu charakterisieren. Sie sind sich selbst das Mass aller Dinge und realisieren nicht, dass es verschiedene Ansichten eines Gegenstandes von unterschiedlichen Perspektiven aus gibt (Aspektzentrierung und Statik des Denkens). Entsprechend ihrer Sichtweise übertragen Kinder eigene Erfahrungen in magischer, animistischer Art und Weise auf ihre gesamte Umwelt (Montada, 1982, S. 381ff.). Piagets Theorie kann durch eine Vielfalt von experimentellen Befunden belegt werden. In unserem Zusammenhang ist der Gebrauch des Wortes `Lüge` interessant: während 4-jährige `lügen` als `unwissentlich die Unwahrheit sagen` definierten, war dies bei 8-jährigen nicht mehr der Fall (Hommers, 1989, S.100). Die strafrechtliche Immunität im präoperativen Alter ergibt sich aus der Natur der dargestellten Weltsicht.

Ungefähr im Schulalter setzt dann die konkret-operative Phase ein, in der prozesshafte Entwicklungen allmählich verstanden und mehrere verschiedene Aspekte einer Sachlage allmählich berücksichtigt werden können. Es wird erkannt, dass die Innenwelt und die Aussenwelt unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten unterworfen sind. Trotzdem ist das Kind beim Denken auf die konkret gegebene Information angewiesen, Abstraktionen können nur in sehr beschränktem Mass gemacht werden (Montada, 1982, S. 391ff.). Für juristische Belange ist die in diesem Alter experimentell bestätigte Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zentral. Ein Unrecht gegenüber anderen kann unter Umständen als solches erkannt werden; entsprechend wird die zivilrechtliche Altersgrenze hier angesetzt. Die Beurteilungskompetenz hängt in diesem Alter jedoch noch stark von situativen Gegebenheiten ab und ist keineswegs objektiv.

In diesen Altersabschnitt fällt auch die Aufgabe der sozialen Integration unter Gleichaltrigen. Die peer-group wird zu einem zentralen Referenzpunkt des Kindes, insofern als dass hier neue soziale Rollen übernommen werden und damit zusammenhängende Verhaltensweisen eingeübt werden. Das Lernkind (Herzka, 1995, S. 112) wird mit der Erwachsenenwelt konfrontiert und entwickelt allmählich sein eigenes Weltbild.

Ungefähr mit dem 12. Altersjahr beginnt sich die formal-operative Phase zu entwickeln, die durch systematisches, abstraktes, vom Augenschein losgelöstes Denken charakterisierbar ist (Montada, 1982, S.399 ff.). Die Fähigkeit, die Zuschauerperspektive einzunehmen und gleichzeitig verschiedene Standpunkte zu berücksichtigen, wird erworben. Ein Verständnis für soziale Regeln beginnt sich erst jetzt zu entwickeln. "Während am Anfang soziale Regeln wegen drohender Sanktionen oder erwarteter Vorteile beachtet wurden, wurde vom Alter von 10 Jahren ab zunehmend häufiger der Wert der Regeln darin gesehen, dass die Regeln das Zusammenleben der Menschen möglich machen" (Hommers, 1989, S. 105). Es handelt sich hier jedoch um eine Entwicklung, die auf eine Idealnorm hinsteuert, die von vielen wohl nur teilweise erreicht wird. Die Festlegung der strafrechtlichen Belangung auf das 14. Altersjahr (mit der ausdrücklichen Bedingung der Reife), sowie die Anwendung eines speziellen Jugendstrafrechtes versuchen diesem schwer zu bewältigenden Prozess Rechnung zu tragen. Die uneingeschränkte Verantwortlichkeit gilt erst mit 18 Jahren, das allgemeine Strafgesetz mit 21 Jahren, also deutlich nach der Pubertät.

2. Delinquenz bei Kindern

2.1. Charakteristika und Formen

Während ein Grossteil der Erwachsenenkriminalität durch ökonomische Überlegungen (geringer Aufwand, grosser Ertrag) zustande kommt, ist die Jugenddelinquenz meist ungeplant und weitgehend durch Rollenunsicherheiten sowie der damit einhergehenden Anerkennungs- und Statusthematik bedingt.

Im Kindesalter können gelegentliche delinquente Handlungen als normal, ja sogar als pädagogisch funktional erachtet werden: durch entsprechende Zurechtweisungen lernt das Kind die Befolgung und Begründung von Normen (Sieverts & Schneider, 1998). Die Handlungen entstehen spontan und stehen in einem fliessenden Übergang zum Spiel. Märchenwelt, Unfug, Übermut und Wirklichkeit sind noch nicht so klar voneinander abgegrenzt. "Ein Grossteil der Kinderdelinquenz entspricht ganz normalem kindlichen Verhalten (...)" (Kaiser, 1996, S.491). Wenn wir uns an die Eigenheiten kindlichen Denkens und Fühlens erinnern, und uns die durch Erlebnisdrang motivierten Handlungen vergegenwärtigen, kommen wir zu dem Schluss, dass die Beurteilung kindlichen Verhaltens nach Deliktkategorien dieses massiv entfremdet.

Der grösste Teil der Kinder ist einmalig delinquent und nicht von negativen Nachwirkungen betroffen, die prognostische Relevanz von Kinderdelinquenz ist als äusserst gering zu beurteilen und greift nur bei notorischen Wiederholungstätern (vgl. Pongratz & Jürgensen, 1990). Doch "eine sehr kleine Gruppe von kindlichen Serientätern ist (...) für einen Grossteil der Kinderdelikte verantwortlich" (Sieverts & Schneider, 1998, S. 472). In diesem Zusammenhang stellen Sieverts und Schneider (ebd.) folgende Typologie kindlicher Delinquenz vor:

1. Delinquenz aus sorgloser, naiver Abenteuerlust
2. Delinquenz als Ausdruck einer seelischen Spannung; z.B. infolge eines Schulwechsels, Tod eines Haustieres usw.
3. Delinquenz als Protest gegen die kindliche Machtlosigkeit, oft im Zusammenhang mit elterlichem Missbrauch; gleichzeitig schlechte Schulleistungen, Schwänzen usw.
4. Delinquenz als sekundäres Symptom einer psychiatrischen Störung

Während der erste Typus bedenkenlos ist und zahlenmässig die meisten Kinder umfasst, sind die folgenden drei Muster kindlicher Delinquenz Ausdruck einer ernstzunehmenden Not, auf die es zu antworten gilt. Wir werden im nächsten Kapitel näher auf die Entstehungsbedingungen von Delinquenz eingehen.

Obwohl es keine Dichotomie "Delinquenz - Nichtdelinquenz" gibt, ist das delinquente Verhalten unter den Kindern ungleichmässig verteilt. 25% der delinquenten Handlungen werden von lediglich 3% der Kinder begangen (Kaiser, 1996, S. 491). Diese sogenannten Intensivtäter entsprechen meist dem dritten dargestellten Typus.

Die Formen, welche die kindliche Devianz annimmt, sind oftmals von symbolischer Bedeutung. Der Kinderanteil in den einzelnen Deliktgruppen beläuft sich bei Brandstiftungen auf 22%, bei Sachbeschädigungen auf 8%, bei Diebstählen (vor allem Laden- und Fahrraddiebstahl) auf 8% und bei Erpressung auf 7%. Körperliche Misshandlungen und Gewaltdelikte sind bei Kindern selten anzutreffen, steigen im Jugendalter jedoch sprunghaft an (Kaiser, 1996, S. 490).

2.2. Häufigkeit des Auftretens

Tabelle 2 (in Anlehnung an Schwind, 1997, S.53) zeigt die Prävalenz delinquenten und kriminellen Verhaltens aufgrund der ermittelten Anzahl von Tatverdächtigen in der BRD im Jahr 1996. Die Tabelle ist nach Alter, Geschlecht und Nationalität aufgeschlüsselt. Es fällt auf, dass

- Mädchen erheblich weniger delinquente Taten begehen als Knaben.
- die nichtdeutschen Tatverdächtigen überrepräsentiert sind, insbesondere wenn man bedenkt, dass die BRD 1996 einen Ausländeranteil von lediglich 9% aufwies. Dies zeigt interkulturelle Probleme auf, die wir weiter unten noch einmal kurz aufgreifen werden.
- die Kriminalität im Kindes- und Jugendalter allmählich ansteigt und bei den Heranwachsenden einen Gipfel erreicht. Die hauptsächliche Zunahme im Vergleich zum Vorjahr geschah jedoch bei Kindern im Alter von 10-14 Jahren, also gerade um das Einsetzen der Pubertät. Im Vergleich zu den übrigen Altersgruppen weisen auch die 6-10 jährigen und die Jugendlichen eine Zunahme auf, die beinahe zweimal so gross ist wie der Durchschnittswert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Struktur der Tatverdächtigen in der BRD im Jahr 1996 (in Anlehnung an Schwind, 1997, S. 53).

Die vorliegenden Zahlen verweisen auf die brisante Aktualität der Thematik. Die Entwicklung der kindlichen Delinquenz nimmt bedenkliche Ausmasse an, insbesondere wenn wir berücksichtigen, "dass das Dunkelfeld der Kinderkriminalität überdurch-schnittlich hoch liegen dürfte" (Schwind, 1997, S. 58).

3. Entstehungsbedingungen der Kinderdelinquenz

Delinquenz entsteht im Spannungsfeld von individueller Eigenart und sozialen Erwartungen, im Kontext von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Lernprozessen. Die im folgenden dargestellten Theorien wurden in individuumszentrierte und soziologische Ansätze gegliedert, je nachdem welchem dieser dialogischen Pole sie ein stärkeres Gewicht beimessen. Die Zusammenstellung der ausgeführten Ansätze beschränkt sich auf zentrale Positionen. Die individuumszentrierten Theorien stützen sich im wesentlichen auf Brisch (1992), die soziologischen Theorien auf Lamnek (1993).

3.1. Individuumszentrierte Ansätze

Nach Winnicotts Deprivations-These ist der spätere "Räuber" ein in seiner früheren Entwicklungszeit "beraubtes Kind", das in seiner Kindheit einer positiv erlebten Bezugsperson entbehrte, eine Deprivation erlitten hat. In seinen dissozialen Handlungen drückt das Kind die Hoffnung aus, die verlorene frühe Beziehung wiederzufinden und macht seine Umgebung auf sein Suchen aufmerksam. Die Deprivations-These bildet die Grundlage für weitere psychologische Spezifizierungen.

Nach Herzka (1991, S.202) geht das aus der emotionalen Deprivation entstehende Unvermögen, tragende zwischenmenschliche Beziehungen und Bindungen einzugehen, einher mit einem Mangel an Empfinden für Eigentum und Besitz. Die Aneignung verschiedener Güter hat somit oft eine Ersatzfunktion und soll gewissermassen die entbehrte menschliche Zuwendung wettmachen.

Eine emotionale Deprivation hat gemäss der Objektbeziehungspsychologie zur Folge, dass keine stabile Objektrepräsentanzen von Bezugspersonen entwickelt werden können. Daraus resultieren archaische Abwehrmechanismen, wie Projektion oder Spaltung in "gute" und "böse" Teilobjekte .

Die Ich-Psychologie betont, dass delinquente Kinder erhebliche Ich-strukturelle Defizite aufweisen. Sie sind daher nicht in der Lage, andrängende Triebimpulse zu integrieren und damit angemessen umzugehen. Die Realitätswahrnehmung ist eingeschränkt, so dass wenig Gespür für das Übertreten von Normen und Regeln besteht. Auch die Über-Ich-Entwicklung ist wenig ausgereift: das Über-Ich wird typischerweise auf die Autoritäten der Aussenwelt projiziert, ein Mechanismus der die eigene Person entlasten soll.

Das Ich-Ideal ist dabei oft extrem hochgeschraubt, ein Aspekt, der in Kohuts Selbst- Psychologie besonders betont wird. Defizite in der narzistischen Entwicklung bedingen eine Fixierung auf der Ebene des `grandiosen Selbst`: Delinquente hegen sich gegenüber Erwartungen, die sie in Realität niemals legal erfüllen können. Kränkungserlebnisse werden durch erneute grandiose, realitätsfremde Vorstellungen abgewehrt, was den pathogenen Kreislauf aufrechterhält.

Positiv an diesen Theorien ist, dass sie pädagogische und therapeutische Ansatzpunkte aufzeigen, die konkret sind und praktisch angegangen werden können. Andererseits stellt die individualistische Ausrichtung für die Betroffenen wohl eher eine Be-, als eine Entlastung dar. Der Erwartungsdruck der Sozialarbeiter und Therapeuten lastet nun auch noch auf den delinquenten Kindern, was leicht zu Reaktanz-Phänomenen führen kann.

3.2. Soziologische Ansätze

Die mikrosoziologische Theorie der differentiellen Identifikation von Glaser steht, indem sie den Lern- und Prozesscharakter der Delinquenz betont, den individuumszentrierten Ansätzen sehr nahe. Sie postuliert, dass delinquentes Verhalten gelernt wird, wozu (direkte oder indirekte) Kontakte bzw. Identifikationen mit sich entsprechend verhaltenden Personen notwendig sind. Damit wird einerseits auf die Medien, das Internet usw. verwiesen (indirekter Kontakt), andererseits schliessen hier die zahlreichen Subkulturtheorien an (direkter Kontakt). Die für das mittlere Kindesalter typische Beobachtungsgabe (Herzka, 1995, S. 111) macht die genannten Prozesse, als Mechanismen die zu "Soziosen" führen (Herzka, 1991, S. 194), besonders bedeutsam.

Subkulturen, die auch peer-groups beinhalten, sind als kollektive Reaktionen auf Anpassungsprobleme, die aus gesellschaftlich ungleichen Lagen entstehen, zu verstehen. Die in unserer Kultur zunehmende soziale Differenzierung schafft neue, divergierende Normen, die in spezifischen Gruppen vertreten werden. Zusammenschlüsse in der Art von Subkulturen haben eine kompensierende Funktion, indem sie die verlorene soziale Integration und Geborgenheit wiederherstellen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wird oft durch eine demonstrative Abgrenzung zur herrschenden Kultur gestärkt. Delinquenz kann damit im Rahmen einer Subkultur zu einem Verhalten werden, das dem sozialen Zusammenhalt, zumindest innerhalb der Gruppe, förderlich ist.

Die makrosoziologische Theorie Mertons löst sich in ihrem Fokus vollständig vom individuellen Schicksale ab, indem sie auf eine Divergenz zwischen der kulturellen und der sozialen Struktur verweist. Nach Merton resultiert Delinquenz aus einer Diskrepanz zwischen kulturell angestrebten Zielen und dem mehr oder weniger verhinderten Zugang zu institutionalisierten Mitteln. Dieses Missverhältnis zwingt weniger privilegierten Schichten ein soziologisches Rollenverhalten auf: entweder nehmen sie ihre unattraktive Arbeiterrolle an, oder sie setzen sanktionierte Mittel für die Erreichung ihrer Ziele ein.

Die soziologischen Theorien legen den Fokus auf problematische Aspekte gesellschaftlicher Normsetzung und entlasten somit die Delinquenten vorerst. Andererseits sind die daraus ableitbaren Handlungsimplikationen im allgemeinen schwierig angehbar und zeigen ihre Wirksamkeit erst innerhalb von längeren Zeiträumen.

Wichtig für das Zustandekommen der in ökonomisch schlecht gestellten Schichten gehäuft festgestellten Delinquenz ist die Spannung, die sich aus der wirtschaftlichen Not ergibt, die bewirkt, dass die Eltern auch in der Erziehung ungeduldig und unzufrieden sind. Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, in denen sie zuwenig Zuwendung erhalten, empfinden leicht die Gesellschaft als Ganzes als feindselig und ungerecht und nehmen gewissermassen mit ihr den Kampf auf.

Obwohl es eine gesicherte Tatsache ist, dass Zusammenhänge zwischen der sozialen Schicht und der registrierten Kriminalität bestehen, so muss doch festgehalten werden, dass eine solche Schichtzugehörigkeit keine befriedigende Erklärung für die Delinquenz darstellt. Mit Nachdruck weist Herzka (1993, S. 204) darauf hin, "dass sowohl emotionale Entbehrung als auch Delinquenz genauso in Wohlstandsverhältnissen verhältnissmässig häufig vorkommen." In der Realität interagieren wohl alle genannten pathogenen Faktoren miteinander und spielen im Einzelfall eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Sie sind aber im einzelnen weder notwendige noch hinreichende Bedingungen für das komplexe, multikausale Phänomen der kindlichen Delinquenz.

3.3. Effekte der Stigmatisierung

Innerhalb der Labeling-Theorie wird eine konstruktivistische Sichtweise der Realität vertreten, dies im Gegensatz zu den beiden genannten positivistischen Positionen. Das konkrete Postulat dieses Ansatzes ist, dass es delinquentes Verhalten per se nicht gibt. Die konkrete Bedeutung einer Handlung muss vielmehr erst in einem Interaktionsprozess ausgehandelt und von einer sozialen Instanz als delinquent definiert werden. Delinquenz wird als das Resultat eines Zuschreibungsprozesses innerhalb eines Machtgefälles verstanden. Eine solche Attribuierung reduziert den Verhaltensspielraum der stigmatisierten Person entscheidend, so ist es beispielsweise viel schwieriger von einer Erziehungsanstalt aus eine Lehrstelle auf dem freien Markt zu finden. Zudem wird die ursprüngliche Fremddefinition meistens auch allmählich in das Selbstbild integriert, was den Teufelskreis schliesst. Der Ettiketierungs-Ansatz ist keine eigentliche ätiologische Theorie, hier wird nicht nach präzedenten Ursachen von Delinquenz gesucht, vielmehr interessieren interaktionistische Mechanismen im Hier und Jetzt. So konnte Müller (1980) zeigen, dass Akten von Sozialarbeitern und Psychologen, die unter Umständen auch vom Gericht beigezogen werden, viel eher Definitionen als Informationen beinhalten. Z.B. ist ein wesentlicher Bestandteil aller Berichte (und dies gleich in der Einleitung) die Zusammenfassung alter Akten: auf diese Weise entstehen objektive, zeitüberdauernde Tatsachen, deren situationale Bedingtheit nicht reflektiert wird. Ähnliche Mechanismen konnten auch im Polizei- und Justizwesen festgestellt werden.

Die Labeling-Theorie ist in ihrer kritischen Haltung äusserst positiv zu beurteilen, sie hat wohl einige Reflexion angeregt. In einer konsequenten Weise vertreten resultiert aus diesem Ansatz jedoch ein fataler Non-Interventionismus. Als gemässigte Interventionsstrategie lässt sich eine allgemeine Ressourcenorientierung und eine gründliche Eigenreflexivität ableiten.

4. Präventive und therapeutische Massnahmen

Der im letzten Abschnitt festgestellten Multikausalität ist bei der Vorbeugung und Behandlung von Delinquenz besondere Beachtung zu schenken. Eingriffe in einzelne isolierte Problembereiche reichen nicht aus. Nur ein breiter, möglichst viele Lebens- und Problembereiche umfassender Fokus ermöglicht dauerhafte Veränderungen. Da in diesem Handlungsfeld die präventiven Massnahmen nur schlecht von den therapeutischen abgegrenzt werden können, werden beide im folgenden unter dem Begriff der Intervention subsumiert und abgehandelt.

Parallel zum Kapitel der Entstehungsbedingungen wird auch hier das ökopsychologische Vokabular zur Kategorisierung der Massnahmen verwendet. Das dialogische Spannungsfeld `Individuum - Gesellschaft` entfaltet sich noch einmal.

4.1. Makrosystemische Angebote

Jedes Kind hat ein gesetzlich festgelegtes "Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" (Schäfer, 1989, S.1). Es gehört also zu den Aufgaben des Staates darüber zu wachen, dass die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung gerecht werden. Falls diese nicht wahrgenommen wird kommt öffentliche Hilfe zum Einsatz. Die steigenden Zahlen der Delinquenz sind kein gutes Zeugnis für den Staat als Anwalt des Kinderwohls. Andererseits ist es gerade im Feld der öffentlichen Fürsorge äusserst schwierig angemessene Handlungsformen zu finden, welche die gegebene Situation nicht noch verschlimmern, beispielsweise durch eine Stigmatisierung oder durch eine möglicherweise traumatisierende Trennung von den Eltern usw. Im allgemeinen wird das Recht des Kindes auf Erziehung wohl am besten durch die eigene Familie gewährleistet.

Der Staat bietet allgemeine Fördermassnahmen an, die heute zwar institutionalisiert sind, sich aber aus einer Funktion der Nothilfe heraus entwickelt haben. Zu nennen wären hier der Kindergarten als eine die Familie unterstützende Erziehungshilfe, die Schule als Sozialisationsinstanz, der Hort als schulbezogene Kinderhilfe usw. (Schäfer, 1989). Auch Heime stehen mit unserem Thema eher in indirektem Zusammenhang. Wenn sich Kinder in Heimen befinden, ist dies nicht aufgrund ihrer Delinquenz (wie es etwa bei Jugendlichen anzutreffen ist), vielmehr ist die elterliche Unfähigkeit, für das Kind zu sorgen, er ausschlaggebende Grund.

Als Unterstützung bei spezifischen Problemlagen ist das Netz der sozialen Beratungsstellen zu nennen. Über diese Stellen kann einerseits materieller Beistand, andererseits aber auch Erziehungshilfe angefordert und vermittelt werden. Solche sozialpädagogischen Familienhilfen haben in der Regel einigen Erfolg zu verzeichnen (Schäfer, 1989, S.5) und können als klassische Milieutherapie bezeichnet werden. Die Schwelle, die es zu überwinden gilt, bevor man sich an eine solche Beratungsstelle wendet, ist aber oftmals, wenn auch aus irrationalen Gründen, ziemlich hoch.

Die kantonal getragenen schulpsychologischen Dienste können auch unter dieser Kategorie von Dienstleistungen subsumiert werden. Die hier initiierten Massnahmen betreffen mit Stütz- und Fördermassnahmen6 meistens das Mesosystem der Schule. Weiter werden Therapien angeregt, auf die unter den mikrosozialen Interventions-strategien eingegangen wird.

4.2. Mesosystemische Interventionsstrategien

In den USA wurde in den 80er Jahren eine intensive Forschungstätigkeit zur Wirksamkeit von Interventionen bezüglich der Delinquenz von Kindern lanciert. Die Gründe dafür waren die enormen Kosten, welche die jährlich über 1.75 Millionen inhaftierten Jugendlichen verursachten, zusätzlich kostet alleine der Vandalismus in den Schulen jährlich 200 Millionen $ (Zigler, Taussig & Black, 1992, S. 997). Es zeigte sich dabei, dass spezifisch auf Kinderdelinquenz zugeschnittene Programme generell keinen Erfolg zeigten. Im Gegensatz dazu erwiesen sich diejenigen Programme, die eine allgemeine Verhinderung von negativen Schulkarrieren in Risikopopulationen anstrebten, in mehreren Längsschnittstudien bezüglich der Verminderung der Kinderdelinquenz als erfolgreich (ebd., S. 998). Den erfolgreichen Projekten gemeinsam war ein ganzheitlicher, umweltbezogener Fokus. Das bedeutet konkret der Einbezug von Schule und Eltern, häufige Hausbesuche der Lehrer, monatliche Elternräte, psychologische Referate für Erzieher usw.

Die Erfolge zeigten sich in verbesserten Interaktionen zwischen Schule und Familie, in einer gesteigerten sozialen Kompetenz der Kinder sowie in einer Verbesserung der Erziehungsfähigkeit der Eltern. Je früher die Programme ansetzten, desto wirksamer waren sie (ebd., S. 999ff.). Positive Einstellungen führen zu positivem Verhalten und entsprechenden Rückmeldungen, eine Rückkopplungsschleife, die sich auch in die andere Richtung drehen kann. Insgesamt führten diese Faktoren eine wesentliche Veränderung des kindlichen Umfeldes herbei und ermöglichten so eine verbesserte emotionale und soziale Entwicklung des Kindes (ebd., S. 1002).

Kritisch zu beurteilen ist jedoch der enorme Aufwand, den diese Projekte fordern. Der Zeitraum erstreckt sich teilweise über Jahre hinweg, Hausbesuche von Lehrern sind im Schulrahmen praktisch nicht zu leisten usw. Kriseninterventionsmodelle, die sich über zwei bis drei Monate erstrecken, sind eine (zwar noch unerforschte) willkommene Alternative dazu. Das Programm von Guggenbühl (1997, S. 104ff.) integriert Kinder, Eltern und Lehrer und enthält somit die wesentlichen erfolgversprechenden Interventionselemente. Zur Ergänzung dieses Kapitels wird auch noch kurz auf Interventionsmöglichkeiten hingewiesen, die problemlos in den schulischen Alltag integrierbar sind und unter dem Schlagwort `Erlebnisunterricht` subsumierbar sind. Dieser Begriff beinhaltet eine spezifische Form der Aneignung des Wissens, die man als aktiv, explorativ und prozessbetont charakterisieren könnte und die damit den Stärken der Kinder vollumfänglich gerecht wird. Das soziale Lernen, z.B. in Form von Gruppenarbeiten, ist eine Form des Erlebnisunterrichts, die stark auf die Vermittlung von Wertorientierungen und sozialen Handlungsfähigkeiten abzielt (Spanhel, 1989, S. 14). Das Spiel als Möglichkeit der integrativen Entwicklung von sozialen, kognitiven, affektiven und physischen Fähigkeiten ist ein anderes Mittel der konkreten Umsetzung (Unterweger, 1989, S. 113ff.). Nach Herzka (1995, S. 128f.) bedeutet die Kombination von Spiel und Schule auch die Chance einer Integration zweier in diesem Lebensalter grundlegenden dialogischen Pole.

4.3. Mikrosystemische Ansätze

Diese spezifischen Formen der Intervention konzentrieren sich ausschliesslich auf die Person des delinquenten Kindes, wobei hier zum ersten Mal von Therapie gesprochen werden kann. Dieser individuelle Fokus kann trotz der verquickten multikausalen Pathogenese von Delinquenz in einzelnen Fällen durchaus sinnvoll sein. Indiziert wäre eine einzeltherapeutische Betreuung bei Kindern, die

- neben dem delinquenten Verhalten andere Symptomen, wie Teilleistungsschwächen zeigen oder die zu Hause eine schwierige Situation zu bewältigen haben (entspricht dem dritten Täterbild, der auf S.6/7 vorgestellten Typologie).
- eine gleichbleibende stereotype Form der Delinquenz wählen. Hier liegt der Verdacht einer neurotischen Störung nahe.
- an einer anderen, primären psychiatrischen Störung leiden, bei denen das delinquente Symptom sekundär auftritt.

Im allgemeinen sind Familientherapien, bei gegebener Kooperationsbereitschaft der Eltern, als sehr erfolgversprechend zu beurteilen. Das delinquente Kind kann hier in seiner Suche nach einer geeigneten Lebensform aktiv von nahen Bezugspersonen unterstützt werden, und gemeinsame Lösungen können erarbeitet werden. Ansonsten sind auch Spieltherapien oder das Psychodrama geeignete Behandlungstechniken, da sie gleichzeitig die Aufarbeitung eines Konfliktes und das Einüben neuer Verhaltensmuster ermöglichen.

Die Wahl der Methode ist jedoch von der individuellen Eigenart und der spezifischen Zugänglichkeit des delinquenten Kindes abhängig und muss im konkreten Kontext getroffen werden.

5. Fallbeispiel: Oliver Twist

5.1. Bedingungsanalyse der Delinquenz

Charles Dickens hat 1836 in seinem weltbekannten Buch `Oliver Twist` erstmals die Not und Verkommenheit der Londoner Elendsviertel beschrieben. Der Roman wird im Hinblick auf typische disponierende Elemente kindlicher Delinquenz kurz aufgerollt7.

Emotionale (und materielle) Deprivation, geringer sozialer Status: Oliver Twist wurde unter keinen guten Umständen geboren: in einem Armenhaus - und seine Mutter starb noch im Kindbett. "Der Arzt beugte sich über die Tote und hob ihre linke Hand empor. ·Die alte Geschichte`, sagte er kopfschüttelnd, ·kein Trauring, wie ich sehe`" (7). Oliver wuchs in einem Waisenhaus auf, "wo zwanzig bis dreissig andre jugendliche Übertreter des Armengesetzes tagsüber auf dem Fussboden herumtollten, ohne von Kleidung und Nahrung allzusehr belästigt zu werden, unter der mütterlichen Aufsicht einer ältlichen Frau. Sie führte den grösseren Teil des wöchentlichen Kostgelds ihrem eignen Gebrauch zu" (8/9).

Genetische, protektive Faktoren:

"Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstag ein blasses, schmächtiges Kind, zurückgeblieben im Wuchs und kümmerlich im Umfang. Aber Natur oder Vererbung hatten Oliver ein starkes Herz in die Brust gesetzt" (10). Die zahlreichen Forschungsarbeiten zu biologischen Faktoren der Delinquenz wurden in dieser Arbeit nicht referiert. Einerseits sind die empirischen Belege dazu sehr kontrovers, andererseits lassen sich daraus keine relevanten Interventionsimplikationen ableiten.

Aggressives Verhalten, Ich-strukturelle Defizite:

Oliver fand eine Lehrstelle, das heisst er arbeitete für kärgliche Kost bei einem Leichenbestatter. Oliver wurde vom gleichaltrigen Sohn seines Meisters oft gemein gehänselt: "Flammend vor Wut sprang Oliver auf, warf Stuhl und Tisch um, fasste Noah an der Kehle schüttelte ihn mit der Kraft der Wut, (...) und nahm dann alle seine Kräft zu einem Streich zusammen, der den anderen zu Boden warf" (57). Oliver musste daraufhin fliehen.

Divergenz zwischen sozialer und kultureller Strukur: Oliver ging nach London, denn er wusste, "dass kein geschieter Junge in London Not zu leiden brauche und dass es in dieser ungeheuren Stadt Mittel und Wege gebe, (...) von denen sich die auf dem Land Aufgewachsenen keinen Begriff machten" (69).

Peer-group, Subkultur, differentielle Identifikation:

Oliver lernte dort zwei Altersgenossen kennen, denen er sich anschloss. "Wie gross waren Olivers Schrecken und Abscheu, als er aus einer Entfernung von wenigen Schritten mit eigenen Augen (...) sah, wie Dawkins seine Hand in die Tasche des alten Herrn steckte (...) und wie gleich darauf beide Junge eiligst um die Ecke rannten" (90).

Etikettierung:

Oliver wurde irrtümlicherweise für den Dieb gehalten und inhaftiert. "·Vorwärts, junger Galgenstrick!` Dies war die Aufforderung an Oliver, durch eine Tür zu treten, (...) die in eine kleine ausgemauerte Zelle führte" (96). Von hier an lernte er immer mehr dubiose Gestalten (Einbrecher usw.) kennen und passte sich dieser Welt an.

Episodenhafter Charakter kindlicher Delinquenz:

Die Geschichte endet mit der Integration Olivers in wohlgeordneten, gutbürgerlichen, christlichen Verhältnissen.

5.2. Historischer Bezugsrahmen

Die Zeit in der dieser Roman geschrieben wurde (1836), war beladen mit sozialen Problemen. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution fand eine richtige Landflucht statt. Einerseits gab es auf dem Land plötzlich keine Arbeit mehr, denn die Gutsbesitzer hielten auf ihrem Land nun selbst Schafe, um sich auch einen Anteil an der blühenden Textilindustrie zu sichern. Andererseits wirkten die Städte mit den neu entstehenden Fabriken wie Magnete. Während um 1800 noch 90% der Bevölkerung in ländlichen Regionen lebte, waren es 1900 gerade noch 10%! Zudem verdoppelte sich die Gesamtbevölkerung von 1750 bis 1850, eine wahre Bevölkerungsexplosion fand statt (Alter, 1984, S.118). Doch auch in den Städten war es, durch die zunehmende Automatisierung, schwieriger geworden, eine Arbeit zu finden. Die zunehmende Massenverelendung sowie die strukturelle Arbeitslosigkeit dieser Zeit laufen unter dem Stichwort `Pauperismus`. Gleichzeitig zerfiel in den unteren Schichten die Familienstruktur. Männer, Frauen und Kinder arbeiteten wo immer sie konnten, oft für den Lohn einer allzu knapp bemessenen Mahlzeit. In solchen Kinderfabriken herrschte eine hohe Sterblichkeitsrate, die bis zu 25% ging (ebd.).

Die Unterschicht erreichte zahlenmässige Ausmasse, die eine ernsthafte revolutionäre Gefahr bedeuteten. Dies veranlasste die Abkehr vom mittelalterlichen Almosenwesen, in dem den Bettlern eine gesellschaftliche Position zugebilligt wurde. Die Armen sicherten im Mittelalter das Seelenheil der Oberschicht, welches durch fromme Gaben erworben werden konnte. Die staatlichen Sozialhilfe, die zwar Mehrkosten verursachte, jedoch auch die Möglichkeit der sozialen Kontrolle bot, wurde geschaffen. Mit diesem Rollenwechsel der Armen wurde die individuelle, moralische Schuldfrage zentral. Ab 1860 entwickelten sich dann sukzessive die Verbote der Kinderarbeit, die Schaffung betriebliche Unterstützungskassen und Unfallversicherungen usw. Die gesetzliche Verankerung dieser Leistungen fand in Deutschland dann 1888 unter Bismarck statt. Die Fürsorgeleistungen waren zwar kein Akt der Gnade mehr, aber dennoch mit einer starken Stigmatisierung behaftet. Erst viel später, nämlich 1922 wurde in Deutschland dann auch der Bildungsanspruch gesetzlich verankert, Kindergärten wurden institutionalisiert usw. (Baron & Landwehr, 1991). Die Zeit in der dieser Roman geschrieben wurde schlägt nicht nur in den Beschreibungen der Verhältnisse durch. Die Epoche der Romantik zeigt sich zum Beispiel auch in der Idealisierung der Natur, die das göttliche verkörpert und in der gleichzeitigen Verteufelung der vom Menschen künstlich erschaffenen Umwelt, ihren sozialen, architektonischen, technischen Auswüchsen usw. Die Absolutheit dieser Dichotomisierung zeigt sich auch darin, wie Oliver Twist, das göttliche Kind, den Weg durch den zivilisatorischen Sumpf unbeschadet zurücklegt und schliesslich in das Ideal der heilen, harmonischen Welt gelangt - mit dem rechten Glauben und Willen scheint alles möglich zu sein.

Die heutige Zeit, mit den raschen strukturellen Veränderungen auf allen Gebieten ist anfällig auf ähnliche idealistische, nostalgische bzw. regressive Abspaltungen, die zu Verdrängungen oder entfremdenden Verzerrungen von sozialen Notlagen und den damit verbundenen Problemen führen können.

Literaturverzeichnis:

Alter, P. (1984). Industrielle Revolution und soziale Frage. In: Sösemann, B.; Steinbach, P.; Alter, P.; Hufnagel, G. & Würfel, M., Grundriss der Geschichte, Bd. 2, (S. 114-140). Stuttgart: Klett Verlag.

Baron, R. & Landwehr, R. (1991), (Hrsg.). Geschichte der Sozialarbeit. Basel: Beltz Verlag.

Brisch, K.-H. (1992). Das dissoziale Syndrom des Jugendlichen. In: Biermann, G. (Hrsg.), Handbuch der Kinderpsychotherapie, Bd. 5, (S. 136-148). München: Reinhardt Verlag.

Dauner, I. (1997). Jugenddissozialität, Delinquenz und Verwahrlosung. In: Remschmidt, H. (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie, (S. 303-309) Stuttgart: Thieme Verlag.

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Hommers, W. (1989). Die Entwicklung der Einsicht in das Delikt. In: Bäuerle, S. (Hrsg.), Kriminalität bei Schülern, Bd. 1, (S. 97-116). Stuttgart: Verlag für angewandte Psychologie.

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Lamnek, S. (1993). Theorien abweichenden Verhaltens. München: Fink Verlag.

Leuthard, M. & Ochsner, H. (1994). Die integrative Schulung von

Schülerinnen und Schülern mit Schulschwierigkeiten. Zürich: Pädagogische Abteilung der kantonalen Erziehungsdirektion.

Montada, L. (1982). Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets. In: Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.), Entwicklungspsychologie, (S. 375-424). München: Urban & Schwarzenberg Verlag.

Müller, S. (1980). Aktenanalyse als Methode der Sozialforschung. Weiheim: Beltz Verlag.

Pongratz, L. & Jürgensen, P. (1990). Kinderdelinquenz und kriminelle Karriere. Pfaffenweiler: Centaurus Verlag.

Remschmidt, H. (1997). Die Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen auf verschiedenen Altersstufen. In: Warnke, A.; Trott, G.-E. & Remschmidt, H. (Hrsg.), Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie, (S. 14-19). Bern: Hans Huber Verlag.

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Zigler, E.; Taussig, C. & Black, K. (1992). Early Childhood Intervention. American Psychologist, 47 (8), 997-1006.

[...]


[1] Aus dem lateinischen `de vius` (abseits vom Wege, verirrt, unstet, töricht).

[2] Die Pubertät beginnt aus medizinischer Sicht mit der Ausbildung der sekundären Geschlechtsorgane, die bei Mädchen zwischen 10 und 12 Jahren, bei Jungen zwischen 12 und 14 Jahren einsetzt. Damit einher gehen weitere tiefgreifende Veränderungen körperlicher (Wachstums- und hormoneller Schub), seelischer (Labilität, psychische Integration) und sozialer Art (Rollenwechsel und -suche).

[3] Aus dem lateinischen `crimen` (Vorwurf, Verbrechen, Schuld)

[4] Aus dem Lateinischen `delictum` (Vergehen, Fehler); Partizip Perfekt von `delinquere`

[5] Aus dem Lateinischen `mos` (Wille, Denkart, Gewohnheit, Vorschrift)

[6] Glücklicherweise kommt man mit dem Konzept der integrativen Schulung (Leuthard & Ochsner, 1994) von einer zusätzlichen Segregation der sozial schon schlecht integrierten Kinder wieder ab.

[7] Die Zitate beziehen sich auf Dickens (1990). Es wird jeweils nur noch die Seitenzahl in Klammern angegeben.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Delinquenz vor der Pubertät
Hochschule
Universität Zürich
Autor
Jahr
1998
Seiten
21
Katalognummer
V99348
ISBN (eBook)
9783638977920
Dateigröße
485 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Delinquenz, Pubertät
Arbeit zitieren
David Rudolf (Autor:in), 1998, Delinquenz vor der Pubertät, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99348

Kommentare

  • Gast am 20.8.2001

    Delinquenz.

    Dieser Bericht hat mich mal wieder schlauer gemacht.

    Na ja Jedes Ding muß ja nun mal einen Namen haben. Ich fand diese Störung als schwererziehbar und nicht pflegeleicht.

    Gruß

    Goldiboss

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