Die Wahrnehmung als Konstrukt der Realität


Skript, 1998

15 Seiten


Leseprobe


Wahrnehmung

Nach einem Vorschlag von Rohracher (1970) kann man die psychischen Phänomene in zwei grosse Gruppen aufteilen: in solche, die ein Ziel setzen (Motive, Triebe, Interessen, Gefühle) und solche, mit deren Hilfe das Ziel erreicht wird (Wahrnehmung, Lernen, Denken). Die einen stellen eine treibenden Kräfte dar, die anderen sind deren Funktionen, und dienen der Zielerreichung.

Solche Aufteilungen der psychischen Kräfte und Funktionen dienen lediglich dazu, die psychischen Phänomene geordnet und überschaubar beschreiben und erfassen zu können. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass zwischen Kräften und Funktionen gegenseitige Abhängigkeiten bestehen; wie wir noch sehen werden, bedingen sie sich sogar gegenseitig.

1. Bottom-up: datengesteuerte Verarbeitung - Welche Informationen stehen uns zur Verfügung?

Unser Zentralnervensystem wird durch verschiedene Rezeptoren über die Vorgänge im Körperinneren und in der Aussenwelt informiert. Wir verarbeiten dabei nur einen geringen Teil der tatsächlich existierenden Reize.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(aus Wendt ,1989, S. 112)

Unter bottom-up Prozessen wird die Bearbeitung von physikalischen oder chemischen Reizen verstanden. Unter dieser Perspektive sieht Wahrnehmung wie eine lineare, feste Abfolge physikalischer und neurophysiologischer Schritte aus; konkret am Beispiel des Sehens eines Gegenstandes:

1. Licht fällt auf einen Gegenstand und wird auf unsere Augen, in Form eines strukturierten Lichtwellenmusters reflektiert.
2. Auf der Netzhaut wandeln Rezeptoren das Licht in Aktionspotentiale (bioelektrische Spannung) um. Schwellenwerte filtern die Information: ist die Intensität zu gering, wird die Information nicht weitergeleitet.
3. Die bioelektrischen Signale werden über Neuronen (Nervenzellen) weiter-geleitet. Die Information der insgesamt 110 Mio. Sehrezeptoren wird in insgesamt 1 Mio. Sehnervenzellen weitergeleitet. Die Information im Zentrum des Gesichtsfeldes ist detaillierter, weniger stark gebündelt.
4. In der Sehrinde werden die Signale in komplexen Netzwerken von Neuronen weiterverarbeitet, das Seherlebnis (Qualität) entsteht.

In der erkenntnistheoretischen Philosophie entspricht die Position dieser Forschungsrichtung in ihrem Extrem dem Empirismus. Der Empirismu s behauptet, dass alles Wissen über die Wirklichkeit Wissen (Begriffe, Konstrukte, Theorien, etc.) aus der Sinneserfahrung stammt.

Aber: In den Erregungszuständen der Nervenzellen ist nicht die physikalische Natur (Qualität) der Erregungsursache kodiert. Kodiert wird lediglich die Intensität (Quantität) der Erregungsursache, also ein wieviel , aber nicht ein was !

Wie bringt unser Gehirn die überwältigende Vielfalt dieser schillernden Welt hervor?

2. Top-down: hypothesengeleitete Verarbeitung -Was konstruieren wir?

Unsere Wahrnehmung ist ohne die Berücksichtigung physikalischer und chemischer Aspekte nicht zu verstehen; die Wahrnehmung darf aber nicht als ein passiver Akt verstanden werden, bei dem wir Reize aufnehmen und objektiv abbilden. Wahrnehmung ist vielmehr ein aktiver, konstruktiver Prozess, der durch die Lerngeschichte des Organismus, durch Gestaltgesetze, sowie durch den motivationalen Zustand des Organismus gesteuert wird. Obwohl Wahrnehmung in der Regel gewohnheitsmässig und unbewusst abläuft, vollziehen wir in jedem Moment Wahrnehmungsleistungen, die Informationen in Sekundenbruchteilen organisieren, integrieren und interpretieren.

Ein top-down Prozess bezeichnet kognitive Einflüsse auf die Wahrnehmung (z.B. Vorwissen, Erwartung), die aus früheren Erfahrungen stammen und in sogenannten Schemata gespeichert sind. Unter einem Schema wird eine kognitive Struktur verstanden, die organisiertes Wissen über einen Reiz repräsentiert und Wahrnehmung, Gedächtnis und Schlussfolgerungs prozesse beeinflusst.

“Die Theorie bestimmt, was wir sehen können.” (Albert Einstein) Wir reagieren nicht auf die Welt, wie sie ‘in Wirklichkeit‘ist: dieselbe Situation wird von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert.

In der Erkenntnistheorie wird die konsequente Anwendung dieses Forschungs-programms als Konstruktivismus bezeichnet. Der Konstruktivismus vertritt den Standpunkt, dass es keine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit gibt, es gibt keine objektive Wahrheit, lediglich subjektive Wahrhaftigkeiten. Was wir als quasi-objektive und unabhängige Realität ausserhalb von uns erfahren ist eine Konstruktionsleistung unseres Gehirns. Es können dabei folgende Ebenen unterschieden werden:

- Lerngeschichte des Organismus (Phylogenese und Ontogenese) “Gehirne - so lautet meine These - können die Welt grundsätzlich nicht abbilden; sie müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl in ihrer funktionalen Organisation, als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in seiner Umwelt überleben kann. Dies letztere garantiert, dass die vom Gehirn erzeugten Konstrukte nicht willkürlich sind, auch wenn sie die Welt nicht abbilden. ” (Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S.21) Das menschliche Gehirn hat sich in der Evolution auf einen bestimmten Ausschnitt von ‘Realität‘ spezialisiert, andere Spezien (Fledermäuse, Hunde, Schlangen) leben in anderen Welten, die alle gleich wahr und objektiv sind.

Auch die soziokulturelle Identität prägt unsere Wahrnehmung beträchtlich. “Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und Bewertungen (...) geführt. Sie sind daher als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten der Welt. ” (Whorf, 1963, S.20) Beispielsweise habe die Eskimos sehr viele Wörter für unterschiedliche Arten von Schnee, während wir dafür nur etwa 4 unterschiedliche Begriffe haben. Zudem trägt die individuelle Geschichte auch zu den unterschiedlichen Lebenswelten bei (siehe Psychoanalyse, Behaviorismus).

- Gestaltgesetze

Die Gestaltpsychologie versucht die Gesetze zu beschreiben, nach denen die wahr-genommenen Reize strukturiert werden. So unterscheiden wir bei der Wahrnehmung zwischen Figur und Grund, wir heben das als wichtig bewertete hervor und lassen den Rest in den Hintergrund treten. So werden die Buchstaben dieser Seite automatisch zur Figur, das Weiss des Papiers zum Grund. Assimilation (z.B. verschiedene Schattierungen derselben Farbe werden einander angeglichen) und Kontrastierung (der Ring erscheint vor dem dunklen Hintergrund heller) tragen zu diesem Effekt bei.

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Kippfiguren verdanken ihren Effekt der Konkurrenz von Figur und Grund; so z.B. beim Rubinschen Becher, oder beim Malteserkreuz, wo diagonales und senkrechtes Kreuz konkurrieren.

Ein anderer Mechanismus gliedert die Reize in möglichst einfache Figuren. Dieses Phänomen wird als Prägnanztendenz bezeichnet. So nehmen wir hier zwei Quadrate und nicht ein Dreieck und zwei unregelmässige geometrische Figuren wahr (Tendenz zur guten Gestalt ).

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Wir neigen auch dazu, unvollendete Gestalten als geschlossen wahrzunehmen und erkennen hier deshalb einen Hund, obwohl die Reize dies objektiv nicht darstellen. Das entspricht der Tendenz der Geschlossenheit. (Siehe auch unten, Experiment zum blinden Fleck.)

Die nebenstehende Strichanordnung beschreiben wir als drei Paare und einen Einzelstrich. Es ist das Gesetz der Nähe, das uns diese Gruppierung nahelegt, aus der dann unsere Beschreibung resultiert.

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Die Grössen- und Farbkonstanz bezeichnet das Phänomen, dass wir einen Menschen in 6m Entfernung genauso gross erleben, wie in einer Distanz von 2m, obwohl das auf der Netzhaut abgebildete Reizmuster um ein mehrfaches grösser ist. Ebenso wird ein Stück weisser Kreide auch bei schwacher Beleuchtung als weiss erlebt, obwohl es dabei dunkler ist, als ein Stück Kohle in der Mittagssonne. Trotz unterschiedlicher Reizbedingung können bekannte Gegenstände und Farben als konstant erlebt werden.

Die Reize werden also immer relativ zu ihrem Umfeld wahrgenommen, die Beschaffenheit der Gesamtsituation fliesst immer in den Wahrnehmungs-prozess mit ein. Zudem haben wir eine starke Tendenz komplizierte Reizkonstellationen zu vereinfachen und in für uns überschaubaren Bildern zu gestalten. Dabei kann es auch zu Fehlern kommen, wie die

- Motivationaler Zustand des Organismus

Entsprechend unserer Interessen- und Motivationsstruktur findet eine Selektion, Organisation und Akzentuierung der Umweltreize statt. Bei diffusem Reizmaterial nehmen wir das wahr, was unserem aktuellen Motivationszustand entspricht. Dieser Mechanismus wird in der psychologischen Diagnostik im Rahmen der projektiven Testverfahren genutzt. Anhand von Interpretationen mehrdeutiger Bilder kann auf dominierende Motive oder Probleme geschlossen werden. Der Einfluss von Interessen, Motiven und Einstellungen auf die Wahrnehmung zeigt sich in vielen sozialpsychologischen Experimenten; ein Beispiel:

Erwin (1941) spielte 144 Studenten einen Vortrag über das Wirtschaftsprogramm des damaligen Präsidenten Roosevelt vor. Der Vortrag war so aufgebaut, dass er zur Hälfte aus positiven und negativen Aussagen über das Programm bestand. Die Studenten wurden vor der Untersuchung über ihre Einstellung zum Wirtschaftsprogramm befragt und konnten nach ihren Äusserungen in drei Gruppen eingeteilt werden (pro, contra, neutral). Nach dem Vortrag erhielten die Studenten ein Formular, in welchem sie die Aussagen aus der Rede ankreuzen sollten, an die sie sich noch erinnerten. Die Befürworter des Programms erinnerten sich vorwiegend an die positiven, die Gegner an die negativen Aussagen, die ‘Neutralen‘kreuzten etwa gleich häufig positive und negative Aussagen an - die Resultate deuten auf eine interessengesteuerte, selektive Wahrnehmung hin.

- Soziale Wahrnehmung

Im zwischenmenschlichen Bereich sind die Wahrnehmungsverzerrungen nochmals ausgeprägter. Zudem bringen sie hier weitreichende Konsequenzen mit sich. Auch hier laufen die Verzerrungen automatisch, auf einer unbewussten Ebene ab, das heisst: es braucht bewusst Anstrengung sie zu korrigieren. Folgende verfälschenden Mechanismen sind auf dieser Ebene aktiv:

1. Primacy-Effekt: Die Wahrnehmung anderer Personen besteht nicht aus einer Reihe beziehungsloser Wahrnehmungsmomente, vielmehr werden die einzelnen Eindrücke zu einem vereinheitlichten Bild integriert, das für die gesamte Persönlichkeit stehen soll. Auffällig ist, dass wir schon nach wenigen Informationen einen ersten Eindruck von einer anderen Person gewinnen. Dieser wird aufgrund einiger weniger, persönlicher Kriterien gewonnen, die der Einzelne im Laufe seiner individuellen Geschichte entwickelt hat: Kleidung, Statur, Sprechweise, usw. Dies läuft zudem meist unbewusst ab. Die nachfolgenden Eindrücke orientieren sich an diesem ersten Eindruck.

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Die Problematik liegt darin, dass der erste Eindruck, obwohl durch ganz spezifische und zufällige Umstände entstanden, sehr stabil und bestimmend für die weitere Wahrnehmung und Beziehung zu einem anderen Menschen sein kann. Dieser Effekt lässt sich nur schwer korrigieren, der Bezugsrahmen, in den alle weitere Information eingepasst wird, hat sich gebildet.

2. Halo-Effekt: Ein Halo ist ein Lichtkranz um den Mond oder die Sonne, der diese grösser erscheinen lässt. In unserem Zusammenhang ist damit die Tendenz gemeint, dass wir von zentralen Eigenschaften ausgehend andere Eigenschaften in diesem Sinn verzerren: Schemen werden aktiviert, aufgrund derer der gesamte bisherige Eindruck neu gewertet wird.

Beispiel: eine Ergotherapeutin legt Wert auf selbstdiszipliniertes, nicht klagendes Verhalten beim Patienten und stellt fest, dass ein Patient eine lange, schmerzhaft Untersuchung ohne Klagen über sich ergehen lässt. Sie wird aufgrund dieser einen Eigenschaft die anderen positiver gewichten.

Die Experimente zu diesem Phänomen sind denen des Primacy-Effektes ähnlich: Person 1 ist: intelligent, fleissig, entschlossen, praktisch, warm, geschickt.

Person 2 ist: intelligent, fleissig, entschlossen, praktisch, kalt, geschickt.

Die 2. Person wird allgemein als weniger kompetent, sympathisch, usw. gewertet. Der Effekt hat hier mit dem zentralen Wert der menschlichen Wärme zu tun.

3. Naive Persönlichkeitstheorien: Stereotypisierung und Vorurteile: Ein Stereotyp ist ein sozial geteiltes, vereinfachtes Schema. Die Problematik eines Stereotyps liegt darin, dass in einer übervereinfachenden und übergeneralisierenden Weise Angehörige einer bestimmten sozialen Kategorie (z.B. Frauen/Männer, Gastarbeiter, Ärzte) gleichartige Eigenschaften zugeschrieben werden. Wenn zu dem Stereotyp noch eine emotionale Wertung kommt, entstehen Vorurteile, als sozial erworbene und sozial geteilte, wertende Stellungnahmen. Der Begriff der naiven Persönlichkeitstheorie ist für diese Phänomene ein Oberbegriff. Es bezeichnet die Tendenz, gewisse Persönlichkeitsmerkmale in Verbindung zueinander zu setzen. Ausgehend von einer bekannten Eigenschaft werden zusätzliche Merkmale, entsprechend der implizierten Persönlichkeitstheorie zugeschrieben. Z.B. löst das Wissen ‘diese Person hat eine psychische Krankheit‘ Assoziationen aus, wie ‘dann ist sie auch aggressiv, nicht vertrauenswürdig, kann nicht arbeiten, usw. ‘

Die bisher genannten Mechanismen haben eine Orientierungsfunktion: sie sollen uns helfen, uns in der komplexen Welt zu verhalten. Die kognitiven Abkürzungen sind nicht bloss negativ zu werten, ein Verallgemeinern und Einordnen ist nicht ohne weiteres mit Vorurteilsbildung gleichzusetzen. Der entscheidende Unterschied liegt im Grad der Flexibilität: wie starr oder veränderungsfähig sind die vorgenommenen Kategorisierungen?

4. Rosenthal-Effekt oder self-fulfilling-prophecy: Suche und du wirst finden:

“Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist eine Annahme oder Voraussage, die rein aus der Tatsache heraus, dass sie gemacht wurde, das angenommene, erwartete oder vorhergesagte Ereignis zur Wirklichkeit werden lässt und so ihre Richtigkeit bestätigt. Wer z.B. - aus welchen Gründen auch immer - annimmt, man missachte ihn, wird sich eben deswegen in einer überempfindlichen, unverträglichen, misstrauischen Weise verhalten, die in den anderen genau jene Geringschätzung hervorruft, die seine schon immer gehegt Überzeugung erneut ‘beweist‘. ” (Watzlawick, 1985)

Rosenthal führt ein erstaunliches Experiment an einer High-School durch: an einer Volksschule mit 18 Lehrern und 650 Schülern wurden alle neuen Schüler einem Intelligenztest unterzogen. Den Lehrern wurde mitgeteilt, dass neben dem IQ auch die 20% der Schüler pro Klasse ermittelt wurden, die, unabhängig von dem momentanen IQ, überdurchschnittliche Leistungsfortschritte machen würden (die Namen dieser Schüler waren zufällig gewählt). Tatsächlich wurde nach einem Jahr bei diesen Schülern eine überdurchschnittliche Leistungssteigerung festgestellt. Der Unterschied bestand lediglich im Kopf der Lehrer! Unsere alltäglichen Erwartungen, Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen haben die Kraft von Placebos mit einer wirklichkeitsschaffenden Langzeitwirkung - aber nur, wenn sie geglaubt, für real gehalten werden.

5. Kontexteinflüsse: Der Kontext in welchem die wahrgenommene Person steht bedingt die Interpretation ihrer Eigenschaften. Dieselbe Person wird in einer psychiatrischen Klinik, auf einem Flughafen, oder in einer Direktionskantine völlig unterschiedlich wahrgenommen. Der Psychologe Rosenhan hat völlig gesunde Personen in verschiedene psychiatrische Kliniken eingeschleust, um zu untersuchen, ob ihre Normalität in dieser Umgebung überhaupt festgestellt werden könne. Seine Ergebnisse schlugen ein wie eine Bombe - keiner der Versuchsteilnehmer wurde als normal erkannt, sie wurden Opfer einer ‘sich selbst erfüllenden Diagnose‘. In einer Situation, abnormes Verhalten Norm und Erwartung ist, kann Normalität nur sehr schwer festgestellt werden.

3. Zusammenfassung

Eine Trennung von wahrnehmendem Subjekt, wahrgenommenem Objekt und dem Akt der Wahrnehmung entspricht nicht der Realität. Subjekt, Objekt und Tat bilden immer eine Einheit, sie bedingen sich im Wahrnehmungszyklus gegenseitig.

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Unsere Wahrnehmungen sind

1. relative Konstrukte, sie können im strengen Sinn nicht objektiv sein;
2. unvollständig, wir stützen uns nicht auf die gesamte verfügbare Information, wir nehmen einen begrenzten, vereinfachten Ausschnitt der Situation wahr; und damit lediglich eine Version der Wirklichkeit, die neben zahlreichen anderen steht.

Diese Tatsachen legen eine tolerante, respektvolle Haltung gegenüber anderen Wahrnehmungen nahe. In der professionellen sozialen Arbeit bedeutet das z.B. regelmässige Inter- oder Supervisionen, die den Einfluss unserer blinden Flecken zu relativieren vermögen.

Experiment blinder Fleck: Halte dieses Blatt mit etwas ausgestreckten Armen vor das Gesicht, schliesse dein rechtes Auge zu und fixiere mit deinem linken das Kreuz. Wenn du den Abstand des Blattes zum Gesicht verringerst, verschwindet ab einer gewissen Distanz der schwarze Punkt rechts vollständig - obwohl er jetzt eigentlich gerade vor unserer Nase liegt.

Der blinde Fleck ist die Stelle auf unserer Netzhaut, an der sich keine Rezeptoren befinden. An diesem Punkt verlässt der Sehnerv die Netzhaut. Durch unser beidäugiges Sehen bemerken wir diese Lücke nicht. Aber auch bei einäugigem Sehen ist uns der blinde Fleck eigentlich nicht bewusst - das Wahrnehmungssystem retouchiert die Informationslücke, eine wahrlich konstruktive Leistung.

“Wenn wir alles bezweifeln wollen, weil wir nicht alles mit Gewissheit erkennen können, so handeln wir ungefähr so weise wie derjenige, der seine Beine nicht gebrauchen wollte, sondern still sass und zugrunde ging, weil er keine Flügel hatte.” (John Locke)

Beobachtung

Die Fähigkeit zu beobachten ist eine wesentliche Voraussetzung zur Ausübung eines therapeutischen Berufes. Für die Ergotherapie ist die Beobachtung eine zentrale Methode, welche die Erfassung von Situationen, Ressourcen, Bedürfnissen, usw. ermöglicht. Beobachtung ist während einer einzelnen Behandlungsstunde, sowie während allen Behandlungsphasen (Erfassung, Planung, Durchführung, Evaluation) wichtig. Wegen ihrer zentralen Bedeutung wird Beobachtung auch in verschiedenen weiteren Fächern innerhalb der Ausbildung thematisiert werden (Geriatrie, Pädiatrie, Psychiatrie, usw.).

3. Beobachtung baut auf der Wahrnehmung auf, es ist geplante, zielgerichtete Wahrnehmung, sie entspringt einer Absicht und verfolgt ein Ziel.

3. Beim Beobachten richten wir die Aufmerksamkeit auf ausgewählte Einzelphänomene.

1. Bei der Beobachtung ist die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung und Person von grosser Bedeutung: Beobachtung soll so objektiv wie möglich sein. In einem professionellen Rahmen heisst das, dass wir unsere Beobachtungen stets auch mit dem Bezugssystem anderer (des Patienten, des Supervisors, der Arbeitskollegen) konfrontieren sollen. Insbesondere das Bezugssystem des Patienten ist von grosser Bedeutung, erst auf diesem Hintergrund können wir die für den Patienten gültige Wirklichkeit verstehen lernen.

Beobachtung meint also eine aktive, differenzierte, relativierte Wahrnehmung, die möglichst ohne Interpretation bleibt. Wie schwierig ein unvoreingenommener Blick auch für professionelle Therapeuten sein kann belegt ein Experiment von Langer & Abelson (1974). Sie untersuchten die Frage, welchen Einfluss die theoretische Ausrichtung von Psychotherapeuten auf die Beurteilung eines Menschen haben. Sie spielten einer Anzahl von Psychoanalytikern und Verhaltenstherapeuten ein Video vor, das einen bärtigen Professor im Gespräch mit einem 25 jährigen Mann zeigt. Zuvor hatte man diesen jungen Mann beiden Gruppen je zur Hälfte als Stellenbewerber, oder als psychiatrischen Patienten beschrieben. In Wirklichkeit wurde der junge Mann über eine Zeitungsannonce gefunden, eine ganz normale, neutrale Person. Das Video zeigte einen langen biographischen Monolog des jungen Mannes, er schilderte seine früheren Anstellungen und liess sich über Schwierigkeiten mit Bürokraten aus. Sein Verhalten war in keiner Weise auffällig.

Alle Therapeuten mussten danach die psychische Gesundheit der beobachteten Person via Fragebogen einschätzen. Während der ‘Stellenbewerber‘ von allen als unauffällig beurteilt wurde, ergab sich ein signifikanter Unterschied bei den Patienten :

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Die Psychoanalytiker (PA) be-urteilten den Patienten als signifikant gestörter als den Stellenbewerber: wenig flexible, defensiv eingestellte Persön-lichkeit, etc. Die Verhaltenstherapeuten (VT) hingegen beschrieben den Patienten als realistisch, offen,

4. Allein das Etikett ‘Patient‘ löste beim grössten Teil der Versuchspersonen eine massive Wahrnehmungsveränderung aus.

5. Die beiden therapeutischen Schulen benutzen unterschiedliche Bezugssysteme, auf deren Hintergrund sie abnormes Verhalten feststellen. In der PA lernt der Therapeut, dass hinter dem manifesten Verhalten unbewusste Konflikte liegen. Die VT legt das Augenmerk auf das beobachtbare Verhalten, Spekulationen über unbeobachtbare psychische Prozesse werden abgelehnt.

6. Die PA begannen aufgrund von ihrer Theorie zu interpretieren: sie gingen über die beobachtbaren Tatsachen hinaus und verknüpften das Wahrgenommene mit ihrer Theorie.

Nach Schulz von Thun (1981) laufen bei einem Beobachter Vorgänge auf verschiedenen Ebenen, die es auseinanderzuhalten gilt:

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Die grösste Fehlerquelle beim Beobachten liegt in der Interpretation. Interpretieren heisst, das Beobachtete mit einer Bedeutung versehen, den Blick als abwertend, das Stirnrunzeln als Missfallen zu verstehen. Diese Interpretation kann richtig oder falsch sein. Es geht nicht darum, Interpretationen zu zensurieren, damit ginge möglicherweise ein Stück wertvoller Intuition verloren. Vielmehr geht es um das Bewusstsein, dass es sich bei Interpretationen um ein subjektives Konstrukt handelt, das daher richtig oder falsch sein kann. In der Regel sind wir nicht geübt die verschiedenen Ebenen auseinanderzuhalten.

7. Beobachtung: Oft erkennbar am Gebrauch von Verben: Peter führt den Malstift nur in der linken Hand, Astrid sagt:”ich helf dir gerne”.

8. Beurteilung: Oft erkennbar am Gebrauch von Adjektiven: Peter ist Linkshänder, Astrid ist hilfsbereit.

9. Bewertung: Erkennbar an werthaltigen Adjektiven: Peter ist motorisch gestört, Astrid ist sympathisch.

Verfassen von Berichten

Verlaufs- und Übergabeberichten kommt in der sozialen Arbeit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Anhand von solchen Berichten wird ein erster Eindruck geformt, Personen werden beschrieben und definiert. Der sogenannte labelling.- oder Etikettierungsansatz kritisiert das Führen von Akten aufs heftigste: die Zuschreibungen von Diagnosen abweichenden Verhaltens macht ebendieses Verhalten in der Zukunft nur noch wahrscheinlicher. Ist einmal eine primäre Devianz aufgetreten, erfasst und protokolliert worden, hat dies sehr oft eine sekundäre Devianz zur Folge. Das meint die identifikatorische Übernahme einer Rolle eines Menschen, der ohnehin schon einen eingeschränkten Verhaltensspielraum hat. Die zugeschriebene Rolle beinhaltet per definitionem Devianz und wirkt damit im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Forschung in diesem Gebiet konnte nachweisen, dass Akten meistens mit einer Zusammenfassung der alten Berichte beginnen. Damit wird der Vergangenheit ungebührend viel Platz gewürdigt und der Gegenwart und Zukunft eine grosse Anzahl von Möglichkeiten abgesprochen.

Auf was ist bei schriftlicher Berichterstattung zu achten, um die Erschaffung von überdauernden Wirklichkeitskonstrukten zu verhindern? Wir arbeiten immer im Auftrag des Klienten und müssen letztlich ‘nur‘ ihm gerecht werden. Ein Bericht sollte daher:

4. systemorientiert sein. Anstatt einer personenzentrierten Beschreibung sollen Zusammenhänge und das Beziehungsverhalten zwischen der betreffenden Person und ihrer Umwelt (Personen, Situationen, Zeit, ...) ausgeführt werden.

5. Fähigkeiten und gezeigtes Verhalten thematisieren. Anstelle einer Zuschreibung von Eigenschaften (Defiziten, Schwächen) sollen Stärken, Bedürfnisse, Wenn - dann - Beziehungen, usw. beschrieben werden.

6. prozesshaft sein. Möglichkeiten der Veränderung, Ressourcen, Definition von Zielen sollten unbedingt statischen Diagnosen, Klassifizierungen und Etikettierungen vorgezogen werden.

2. konkret beschreibend sein. Gezeigtes typisches Verhalten und konkrete Episoden gestatten jedem Leser eine eigene Meinungsbildung, Interpretationen und Zuschreibungen von abstrakten Eigenschaften haben einen stark prägenden Einfluss auf die Urteilsbildung.

5. auftragsorientiert sein. Es soll nur zu Themen Stellung genommen werden, die für den aktuellen Auftrag relevant sind.

Der Begriff der Förderdiagnostik fasst die genannten Punkte zu einem prägnanten, klingenden Namen zusammen.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Wahrnehmung als Konstrukt der Realität
Hochschule
Universität Zürich
Autor
Jahr
1998
Seiten
15
Katalognummer
V99346
ISBN (eBook)
9783638977906
Dateigröße
421 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrnehmung
Arbeit zitieren
David Rudolf (Autor:in), 1998, Die Wahrnehmung als Konstrukt der Realität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99346

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