Städtische Unruhen im Vergleich: Verfassungskonflikte in Lübeck im 17. Jh und der Fettmilchaufstand in Frankfurt


Hausarbeit, 2000

15 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft in Lübeck
a) Die Konflikte um den Bürgereid 1598-
b) Das Aufbegehren der Bürger gegen die Oligarchisierung des Patri- ziats 1661-

c) Bewertung

III. Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft in Frankfurt („Fettmilchaufstand“)
a) Der Ablauf des Aufstandes
b) Bewertung

IV. Fazit

I. Einleitung

Die frühe Neuzeit ist in Kontinentaleuropa - oberflächlich betrachtet - nicht die Zeit der großen politischen Reformen gewesen. Dennoch gibt es in der Geschichtswissenschaft eine Diskussion, ob und inwieweit bestimmte Ereignisse und Entwicklungen innerhalb dieser Epoche erste Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit zeigten oder gar einen frühen republikanischen Geist atmeten.

Besonders die Unruhen in den Städten, die es im 16. und 17. Jahrhundert auch im deutschen Reich in einer großen Zahl gab, dienen hier häufig als Beleg für die verschiedensten Thesen.

So vertritt Otto Brunner die Ansicht, daß die Bevölkerung bei den Protesten zwar keine revolutionären Ideen verfolgte, sondern vielmehr mit reaktiven Protest alte Besitzstände zurückzuerlangen versuchte1. Dennoch gesteht er den Aufständischen zu, daß infolge der Unruhen die Rechtsbeziehungen innerhalb der Stadt verbindlicher wurden, da die opponierende Bürgerschaft oft die verstärkte Einsetzung von Juristen und damit ein Ende der Patrizierwillkür erreichte.

Heinz Schilling dagegen sieht in den städtischen Unruhen einen Beleg dafür, daß die Bürger nicht nur ein genossenschaftliches Selbstverständnis hatten, sondern ihr Streben nach Partizipation zudem eine Art frühneuzeitliche Form des Republika- nismus offenbarte2. Freilich ist dieser Republikanismusbegriff bei Schilling nicht mit dem des 18. oder 19. Jahrhunderts zu vergleichen, sondern eher relativ zu der sonst recht absolutistischen Entwicklung während der frühen Neuzeit zu sehen.

Andreas Würgler wiederum betont einen anderen Aspekt: Die opponierenden Bür- ger haben seiner Ansicht nach zur Etablierung einer „politischen Öffentlichkeit“ geführt, da sie sich bemühten, nicht nur zur „Veröffentlichung“ des städtischen Regiments beizutragen, sondern auch selbst durch zahlreiche Flugschriften erreich- ten, daß der politische Diskurs die ganze Stadt erfaßte und mobilisierte3. Außerdem war in den Forderungskatalogen der Aufständischen immer wieder der Ruf nach einem freien Versammlungsrecht, der Beteiligung an Wahlverfahren und der Veröffentlichung von wichtigen Gesetzen und der Stadtfinanzen zu finden, was für Würgler nicht nur ein Zeichen von „Bürokratisierung und Versachlichung“ (Brunner) war, sondern dazu führte, daß die Revolutionen der folgenden Zeit eine schon „politisch sensibilisierte Gesellschaft erfaßte“4.

Im Rahmen dieser Diskussion sollen in dieser Hausarbeit in der gebotenen Kürze die Unruhen in zwei deutschen Städten untersucht werden: Frankfurt und Lübeck. Beide haben mit dem Status als Reichsstadt als besonders nahrhafter Boden für die Patizipationsforderungen der Bürger gedient, da sie außer dem Kaiser keinen Herrn über sich duldeten und ihnen damit das städtische Regiment selbst oblag. Besonderes Augenmerk soll auf das sich in den Unruhen besonders deutlich her- auskristallisierende Verhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft gelegt werden. Wel- che Machtbefugnisse werden angezweifelt, welches Obrigkeitsverständnis hat der Rat, und wie „öffentlich“ und „sachlich“ ist er? Fühlen sich die opponierenden Bürger nur als Untertanen, denen lediglich die gegenwärtige Politik widerfährt, oder haben sie tatsächlich darüberhinausgehende, „republikanische“ Ideen?

II. Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft in Lübeck

a) Die Konflikte um den Bürgereid 1598-1605

Die Stadt Lübeck war am Ende des 16. Jahrhunderts eine zwar wirtschaftlich schwächer werdende, aber immer noch mächtige Stadt. Sie hatte ca. 30.000 Ein- wohner und war damit eine der größten Städte im Reichsgebiet5. Die Einwohner mit Bürgerrecht, rund 2800, teilten sich in unterschiedliche Kompanien auf, unter denen wiederum die Zirkelgesellschaft (Junkerkompanie) und die Kaufleutekompa- nie die einflußreichsten waren und die auch den Großteil der Ratsleute stellten. Sozial am schwächsten gestellt waren die Gewandschneiderkompanie (Tuch- händler), die Krämerkompanie, die Brauerzunft, die Schiffergesellschaft und vor allem die Handwerker, welche sich wiederum in Ämtern (ähnlich den Zünften) aufteilten6. Gerade die Handwerker hatten nicht viel von ihrem Bürgerrecht, denn sie hatten überhaupt keinen Zugang zu den Machtzirkeln und mußten bzw. sollten Gesetze, die vorrangig ihnen galten, klaglos hinnehmen7.

Die Initialzündung für die Unruhen um die Jahrhundertwende war die Tatsache, daß der Rat, ohne die Bürger zu konsultieren, sich in den schwedischen Thronfol- gerkrieg eingemischt hatte. Dieses hatte nun, nachdem sich der Herzog von Sö- dermannland durchgesetzt hatte und nicht der vom Lübischen Rat unterstützte entmachtete, rechtmäßige König, zur Folge, daß die Schweden alle Schiffe lübecki- scher Kaufleute beschlagnahmten, die sie auf der Ostsee aufbringen konnten8.

Als die Bürger, insbesondere die betroffenen Fernhändler, von der Eigenmächtig- keit erfuhren, entstand in der Stadt große Unruhe, und die einzelnen Kollegien be- rieten über die Politik des Rates in ihren Versammlungshäusern, was der Rat an sich schon als eine Anmaßung ansah9. So entwickelte sich der Konflikt von der rein politisch, auf den aktuellen Gegenstand bezogenen Kritik (größtenteils Forderun- gen wirtschafts- und steuerpolitischer Art) zu einem Verfassungskonflikt10. Die Gemütslage in der Stadt war zudem mittlerweile so explosiv, daß sich auch die kritische Oberschicht Sorgen machte. So vermerkte der an den Unruhen maßgeb- lich Beteiligte und spätere Bürgermeister, Heinrich Brokes in seinem Tagebuch:

„ ...also daßein seltsamer Zustand zu Lübeck war, und es sich ansehen ließ, als wenn es zu Grunde gehen wollte und Herr Omnis zusammentreten würde und ein Parlament anfangen.11

Deshalb bildete sich ein Ausschuß, in dem hauptsächlich Bürger aus den reichen, noch nicht am Regiment beteiligten Familien, vertreten waren. Dieser Ausschuß hatte den Zweck, den Protest zu kanalisieren, denn an einer Herrschaft des Pöbels („Herr Omnis“) waren auch die Fernhändler nicht interessiert. Aus dem gleichen Grunde akzeptierte auch die Mehrheit des Rates, wenn auch nur widerwillig, dieses Gremium.

Die Konfliktlinie verlief im Folgenden zwischen diesen beiden Institutionen. Die Oppositionellen im Ausschuß, insbesondere der Anführer des Aufstandes, der Rechtsanwalt Dr. Heinrich Reiser, warfen dem Rat vor, ein falsches Selbstver- ständnis zu haben. Besonders wurde dies am Streit um den Bügereid deutlich. Während die Bürger der Meinung waren, die Formulierung des bei der Einbürge- rung zu leistenden Eides sei „Das ich einem Erbarn Rade und dieser Stadt will trew holdt unnd gehorsam sein...“, bestand der Rat darauf, daß es „...einem Erbarn Rade dieser Stadt...“ heiße. Das ließ natürlich unterschiedliche Interpretationen zu, denn die von den Bürgern bevorzugte Version könnte ein Widerstandsrecht zulassen, wenn es um das Wohl der gesamten Stadt ginge.

Nach einigen scharfen Auseinandersetzungen, die sogar in Besetzungen des Rates gipfelten, gab der Rat nach und akzeptierte die oppositionelle Position. Zudem zeigte sich der Rat auch in anderen Fragen einsichtig (Mitverwaltung der Armenhäuser und Hospitäler durch die Bürger, gerechteres Steuersystem) und wählte schließlich sogar einige Honoratioren der bisher nicht beteiligten Kompanien - und damit der Oppositionellen - in den Rat12.

Ihren endgültigen Abschluß fanden die Konflikte mit dem Rezeß von 1605. Dieser kam jedoch erst zustande, als der den Zugeständnissen mißmutig gegenüberstehen- de Bürgermeister Gotthard von Höveln hinter dem Rücken des Rates Hilfe beim Reichsoberhaupt suchte und ein kaiserliches Mandat inklusive der Ankündigung einer kaiserlichen Kommission, die die verbleibenden Konfliktpunkte klären sollte, erwirkte13. Das Mandat stellte aber sogar die bisherigen Kompromisse in Frage, so daß beide Konfliktparteien, auch weil eine kaiserliche Kommission kostspielig und letztendlich auch einen Eingriff in die wohlbehütete Autonomie bedeutete, sich zusammenrauften und eine endgültige Regelung fanden.

Der Rezeß gestand den Bürgern demnach die schon erreichten Übereinkünfte zu. Überdies wurden noch verschiedene Regulierungen des Handels vereinbart, womit hauptsächlich die an dem Konflikt beteiligten Kaufleute zufrieden gestellt wurden. Die Handwerker, die bei den Unruhen auf der Straße und bei der Besetzung des Rathauses eine wichtige Rolle gespielt hatten, gingen jedoch leer aus. Man ging auf ihre Forderungen nicht ein, im Gegenteil: Der Rat beschloß, noch schärfer gegen die „Faulheit“ der Handwerker vorzugehen14.

b) Das Aufbegehren der Bürger gegen die Oligarchisierung des Patriziats 1661- 1669

Im Jahre 1661 kam es wieder zu Spannungen. Unter anderem in Folge des 30jährigen Krieges war die Stadt finanziell so ruiniert, daß der Rat glaubte, nicht mehr um Steuererhöhungen herumzukommen. Er konsultierte daraufhin die Bürger

(!), was diese jedoch veranlaßte, eine einheitliche Stadtkasse zu fordern, die von Rat und Bürgerschaft gemeinsam kontrolliert würde. Sie betonten zwar, daß man damit nicht in die Autorität des Rates eingreifen wolle („...begehren die Cassa nicht als domini, sondern als blosse administratores...“15 ), aber ein großes Mißtrauen gegenüber den Ratsherren wurde doch deutlich. Der Rat lehnte das Ansinnen folg- lich ab. Die (in den Augen der Bürger) eigenmächtige Einführung einer Akzise für Rotbrauer scheiterte, weil die betroffenen Handwerker dagegen erfolgreich streik- ten und führte zudem zu noch größerer Verärgerung über den Rat. Die Bürger- schaft argumentierte, daß der Rat bei Steuerfragen erst ihre „vota“ einzuholen habe und nicht das Recht habe, „absoluta potestate“ Abgaben einzuführen16.

Als der Rat in seiner Hilf- und Machtlosigkeit einen Ratsherren zum Kaiser schick- te, um ihm von den Vorkommnissen zu berichten, schlossen sich auch alle übrigen Handwerkerämter den Protesten an, die damit natürlich auf eine breite Basis gestellt werden konnten und über eine Vielzahl von Druck ausübenden Akteuren ver- fügten. Die (wahrscheinlich ungeplante) Arbeitsteilung war denn auch folgende: Die Fernhändler kümmerten sich um die höhere Politik, also Verhandlungen mit dem Rat und die juristischen Argumentationen, die Handwerker hingegen gingen waren für den Protest auf der Straße zuständig. Die militantesten Aktionen waren wieder Rathausbesetzungen und diesmal auch Plünderungen und Zerstörungen der Anwesen der Landbegüterten, deren Gruppe einen Großteil der Ratsherren stellten. Die dabei von den Handwerkern geäußerte und von den Fernhändlern offenbar aus Zweckmäßigkeit tolerierte Begründung, es ginge um die Bekämpfung des - tat- sächlich existenten - illegalen Handwerks auf den Gütern, war aufgrund der Ag- gressivität des Vorgehens kaum glaubhaft, auch wenn man anfangs den Schein der Rechtmäßigkeit zu wahren versuchte und Marstall-, Gerichts und Wettediener mit- nahm17.

Aber auch die politischen Forderungen der Fernhändler wurden radikaler: Sie kriti- sierten nun auch die Sitzverteilung im Rat, die ihnen zu unausgewogen war18. Dar- an konnte auch die zwischenzeitliche Einigung auf finanzpolitischem Gebiet, dem Kassarezeß von 1665 nicht viel ändern. Dieser führte zwar die geforderte einheitli- che Kasse ein, an deren Kontrolle auch die Bürger beteiligt wurden. Und auch an- deren Ansinnen, vor allem in puncto Steuergerechtigkeit, wurde nachgegeben19. Das Drängen auf personelle Veränderungen im Rat jedoch blieb. Zwar wurde nicht am Selbstergänzungsrecht des Rates gerüttelt, aber man übte, unter anderem mit weiteren, gewalttätigen Aktionen, aber auch mit juristischer Argumentation Druck auf die Ratsherren aus20. Der Rat gab diesem Druck zunächst teilweise nach und wählte bei der Neubesetzung von vier Ratsplätzen zwei Kaufleute aus den bisher nicht eingebundenen Kollegien. Wenig später wurde sogar einer der Oppositionel- len zu einem der vier Bürgermeister gewählt. Dieses ging den Aufständischen je- doch nicht weit genug, denn sie hatten eine umfassendere Reform im Auge: Es sollten mehr Juristen in den Rat und zudem die Selbstergänzung aus dem näheren Familienkreis untersagt werden.

In der Folgezeit kam es so zu weiteren Unruhen, auch weil die Stadtkasse nicht so funktionierte, wie die Bürger dies wünschten. Es kam zu vielfältigen Ausschreitun- gen, darunter zu einer Besetzung des Rathauses mit 1000 Mann und auch zu Ge- waltaktionen seitens des Rates21. Diese Turbulenzen bewegten nun auch den Kai- ser, endgültig eine Kommission nach Lübeck zu schicken, damit in die Stadt wieder Ruhe einkehre.

Die mit der Kommission beauftragten Delegierten, Abgesandte des Herzogs von Braunschweig und des Kurfürsten von Brandenburg, stellten sich aber, zur Überra- schung aller Beteiligter, sehr schnell auf die Seite der opponierenden Bürger. So wurden viele Forderungen dieser erfüllt: Nahe Familienangehörige durften nun nicht mehr bei den Selbstergänzungen des Rates berücksichtigt werden, die Rats- sitze wurden nach Berufsgruppen quotiert, so daß die Dominanz der beiden patri- zischen Kompanien stark beschränkt wurde, und außerdem mußte fortan in wichti- gen Angelegenheiten (Steuern, Abschluß von Bündnissen, Veränderungen des Stadtrechts) mindestens die Hälfte der Kollegien zustimmen, um einem Rats- beschluß Gültigkeit zu verschaffen22. Die Handwerker hatten also, obwohl zahlen- mäßig das weitaus größte Kollegium stellend (rund 90% der Bürger waren Hand- werker), nur eine von zwölf Stimmen in dieser (de facto) zweiten Kammer. Aber da das illegale Handwerk in seine Schranken gewiesen wurde, waren offensichtlich auch sie zufrieden; eine Forderung nach stärkerer Partizipation am städtischen Re- giment ist jedenfalls nicht bekannt.

c) Bewertung

Auffallend bei beiden Unruhen ist, daß die Bürger sich stets auf alt hergebrachtes Recht beriefen und nie wirkliche Verfassungsänderungen forderten. Sie zweifelten offiziell nie die Obrigkeit des Rates an, wollten aber dem Unvermögen und den Oligarchisierungstendenzen der alteingesessenen Patrizierschicht entgegenwirken, indem sie die städtische Verwaltung modernisierten bzw. die Anfänge einer solchen durch die stärkere Heranziehung von Juristen legten. Zudem wurde durch die Ein- führung der verschiedenen Ausschüsse die Arbeit des Rates zwar nicht transparen- ter, denn die Öffentlichkeit blieb ja ausgeschlossen, aber das Vertrauen in das städtische Regiment war durch die Integration mehrerer Kollegienvertreter - auch in den Rat - wieder hergestellt. Trotz der oft gewaltsamen Auseinandersetzung ging es also im Wesentlichen um Korrekturen der städtischen Politik und um die Anpas- sung des alten Systems an neue Zeiten - nicht aber um einen System wechsel.

III. Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft in Frankfurt („Fettmilchauf- stand“)

a) Der Ablauf des Aufstandes

Die Frankfurter Aufstände hatten einen recht unspektakulären Ursprung. Nach dem Ende der Herrschaft Rudolfs II. wurden die Bürger Frankfurts, in deren Stadt ja die Kaiserwahl durchgeführt wurde, zum in der goldenen Bulle vorgeschriebenen Eid auf die Kaisertreue zusammengerufen23. In diesem Eid war die Rede davon, daß die Bürger, wenn sie den Kurfürsten keinen Schutz gewähren, den „Verlust aller Rechte, Freiheiten, Privilegien, Gnaden und Hulden“ erleiden würden24. Die über den patrizischen Rat schon vorher verärgerten Bürger nahmen dies zum An- laß, bei der Stadtaristokratie, die de facto nur aus einer einzigen Gesellschaft, den Limpurgern, bestand, die Offenlegung eben dieser, bisher unbekannten Privilegien zu verlangen. Zugleich stellten sie aber auch Forderungen praktischerer Art. So drangen sie darauf, den „Judenwucher“, also die hohen (durch den Rat festgesetz- ten) Zinssätze der Kredite, welche es nur bei den im Ort ansässigen Juden gab, zu minimieren. Außerdem wünschten sie die Einrichtung eines Kornmarktes, um die Versorgung mit Mehl zu akzeptablen Preisen zu gewährleisten.

Ähnlich wie in Lübeck entwickelt sich aber auch in Frankfurt der Konflikt zur Grundsatzfrage: Worin besteht die Legitimation der Patrizierherrschaft? Auf diese verfassungsrechtliche Diskussion und die Verlesung der Privilegien wollte der Rat aber nicht eingehen.25 Auch massiver Druck - z.B. einer Rathausbesetzung seitens der Aufständischen, die mittlerweile einen Ausschuß gebildet hatten, dessen Spre- cher der Lebküchler Vincenz Fettmilch war, konnte den Rat nicht beeindrucken. Diese Kompromißlosigkeit erzürnte die Bürger natürlich noch mehr. Da aber der

Kaiser kein Interesse an schweren Unruhen in seiner Wahl- und Krönungsstadt hatte, konnte er mit der Hilfe von Delegierten zunächst den Konflikt schlichten, indem er Ende des Jahres 1612 einen Bürgervertrag erwirkte26. Darin wurde vor allem die Zusammensetzung des Rates zugunsten der nichtpatrizischen Bürger ver- ändert. 18 neue Ratsherren aus der Bürgerschaft wurden gewählt. Zudem durften die Bürger nun Zünfte und Gesellschaften gründen, was ihnen auch legale Podien der Diskussion bot.

Lange hielt der Frieden jedoch nicht, vor allem die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen wurden nicht erfüllt. Daher radikalisierte sich die Bürgerschaft: Die Autorität des Rates wurde nun nicht mehr beachtet, Steuern nicht mehr bezahlt und die alten Ratsherren zeitweise eingesperrt und gefoltert. Der immer noch existierende Bürgerausschuß übernahm nun das Regiment und insbesondere Fettmilch erhielt vielfältige, fast diktatorische Kompetenzen27.

Ein weiterer, radikaler Höhepunkt der Unruhen war die Plünderung der Judengasse 1614. Diese, auch als Symbol des Hasses auf die gesamte städtische Oberschicht ausgeführte Tat, versetzte demzufolge auch alle Patrizier und die wohlhabenden Bürger in Angst und Schrecken, so daß viele von ihnen die Stadt verließen. In dieser radikalisierten Phase hatten auch die Gemäßigten unter den Aufständischen keinen Einfluß mehr auf das Geschehen28.

Der Kaiser wollte nun diese Umstände nicht länger dulden und verkündete eine Reichsacht gegen die Anführer der Revolte. Dies führte zu einer beachtlichen Dis- ziplinierung der Gemüter. Sehr schnell „parierten“ viele der Aufständischen, unter ihnen auch die zwischenzeitlich aus der Mitte der Bürgerschaft gewählten Interims- räte. Die restaurativen Kräfte gewannen so schnell die Oberhand und nach einiger Zeit erreichten sie die Festnahme Fettmilchs und der anderen Anführer29.

Den Abschluß bildet die vollkommene Restauration der alten Machverhältnisse. Auch die in dem als zwischenzeitlichen Kompromiß formulierten Bürgervertrag erkämpften Neuerungen galten nun nicht mehr. Fettmilch und die übrigen wurden hingerichtet und die Limpurger übernahmen wieder das Regiment.

b) Bewertung

Wie in Lübeck spielte auch in Frankfurt ein Eid eine wichtige Rolle bei der Entste- hung der Konflikte. Aber auch in Frankfurt waren diese verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen mit wirtschafts- und finanzpolitischer Unzufriedenheit ge- paart. Es ist also nicht ganz einfach zu beurteilen, welches Problem den größeren Antrieb stellte. Die Plünderung der Judengasse läßt aber erahnen, daß es ohne wirtschaftliche Not wohl auch kaum zu rein verfassungspolitischen Diskussionen oder gar durch ebendiese hervorgerufene Unruhen gegeben hätte. Das Anzweifeln der Legitimation war nur ein Mittel, um praktische politische Forderungen durch- zusetzen, notfalls dadurch, daß man selbst die Macht - mit der entsprechenden ju- ristischen Rechtfertigung - übernahm. Einen weiteren Schatten auf die hehren, vor- republikanischen Absichten dürfte außerdem die persönliche Involvierung der An- führer des Aufstandes werfen. Denn sowohl Fettmilch, wie auch einige seiner Mit- streiter, hatten vor allem ein sehr persönliches Interesse, den Aufstand zu entfachen und am Leben zu halten. Sie waren verschuldet - bei den von Ihnen aus vorgeblich politischen Gründen bekämpften Juden - und wurden außerdem während des Auf- standes von der Bürgerschaft nicht zu knapp für ihr Engagement bezahlt30. Dies hätte nach einer friedlichen Übereinkunft der Konfliktparteien natürlich ein Ende gehabt.

Vielleicht ist auch dies einer der Gründe dafür, daß der Aufstand in Frankfurt sehr viel radikaler ablief, als die beiden in Lübeck. Die Radikalität hat in Frankfurt vor allem dazu geführt, daß die Restauration genau so radikal war wie der Aufstand selber: Die durchgesetzten Veränderungen wurden allesamt zurückgenommen und die Anführer gar hingerichtet. In Lübeck hatte man zwar nicht ganz so viele Ver- änderungen erreichen können, wie sie zeitweise in Frankfurt durchgesetzt werden konnten, jedoch hatten die Lübecker Übereinkünfte dafür einen längeren Bestand.

IV. Fazit

Die beiden Unruhen unterscheiden sich nicht nur im Ergebnis. Bei den Lübecker Unruhen ist zu beobachten, daß die verfassungspolitische Diskussion trotz aller sonstiger politischer Unzufriedenheit ernsthafter war. Die Bürger untermauerten ihre Forderungen mit juristischen Argumentationen und setzten sich zudem für eine frühe Form der Verwaltungsmodernisierung ein, indem sie die Wahl von Juristen in den Rat verlangten. Diese sollten für einen geregelteren und weniger willkürlichen Umgang mit den städtischen Finanzen sorgen. Sie sorgten damit für eine „Bürokra- tisierung und Versachlichung“ (Brunner) der Rathauspolitik. Jedoch wurde nie wirklich die Autorität des Rates in seinen Grundfesten erschüttert. So wurden kei- ne demokratischen, republikanischen Forderungen heutiger Vorstellung laut, die Vormacht der Oberschicht letztendlich auch nicht gebrochen. Auch eine prinzipiel- le Veröffentlichung der Vorgänge im Rathaus wurde nicht gefordert. Die Einset- zung von Kontrollgremien - ebenso nichtöffentlich wie bisher der Rat - wurde ge- wünscht und reichte aus, um das Mißtrauen gegenüber dem Rat abzubauen. Die Interessen der nichtbürgerlichen Schichten spielten in den Unruhen keine Rolle, auch wenn diese nicht unmaßgeblich an den Aufständen beteiligt waren. Die Ein- wohner ohne Bürgerrecht waren, ähnlich wie die Handwerker, nur willfährige Hel- fer im Streit der oberen Kaufmanns- und Fernhändlergeschlechter.

Auch in Frankfurt ging es letztendlich nur darum, die Vorherrschaft der zwei Patri- zierfamilien zu brechen, nicht aber republikanische Vorstellungen durchzusetzen. Die fast diktatorische Interimsherrschaft Fettmilchs macht dies besonders deutlich. Außerdem zeugt das schnelle Aufgeben nach der Androhung der Reichsacht nicht gerade von revolutionärem Geist. In Frankfurt stand also noch weniger als in Lü- beck das Herrschaftssystem an sich im Mittelpunkt des Konfliktes - auch wenn es zwischenzeitlich vollkommen zum Erliegen kam, sondern vielmehr die Unzufrie- denheit darüber, was die an diesem Regiment Beteiligten in ihrer Funktion ent- schieden und bewirkten.

So bleibt festzustellen, daß trotz einiger Ansätze diese Unruhen nicht als Vorstufe eines europäischen Republikanismus gelten können, wie ihn die französische Revo- lution begründete. Jedoch kann festgehalten werden, daß sich durch diese und an- dere städtische Unruhen die städtische Politik, besonders durch das Erreichen von mehr juristischem Sachverstand, in Richtung öffentlicher Verwaltung gewendet hat.

Literaturverzeichnis

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Würgler, Andreas: Das Modernisierungspotential von Unruhen im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der politischen Öffentlichkeit in Deutschland und der Schweiz, in: Geschichte und Gesellschaft, 21, 1995, S. 195-217.

[...]


1 Brunner, Otto: Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968², S. 249-321.

2 Schilling, Heinz: Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen „Republikanismus“? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, in:Koenigsberger, Helmut G., unter Mitarbeit v. Müller-Luckner, Elisabeth (Hrsg.): Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 101-143.

3 Würgler, Andreas: Das Modernisierungspotential von Unruhen im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der politischen Öffentlichkeit in Deutschland und der Schweiz, in: Geschichte und Gesellschaft, 21, 1995, S. 195-217.

4 Würgler, S. 216, Brunner, S. 6.

5 Hauschild, Wolf-Dieter: Frühe Neuzeit und Reformation: Das Ende der Vormachtstellung und die Neuorientierung der Stadtgemeinschaft, in: Graßmann, Antjekathrin (Hg.): Lübeckische Geschichten, Lübeck 1988, S. 341 u. 348/349.

6 Krabbenhöft, Günter: Verfassungsgeschichte der Stadt Lübeck, Lübeck 1969, S. 18; Asch, Jürgen: Rat und Bürgerschaft in Lübeck 1598-1669, Lübeck 1961, S. 22.

7 Ebenda.

8 Graßmann, Antjekathrin: Lübeck im 17. Jahrhundert: Wahrung des Erreichten, in: dies. (Hrsg.): Lübeckische Geschichte, Lübeck 1988, S. 440-443.

9 Asch, S. 56/57.

10 Graßmann, S. 442/443.

11 Zit. n. Pauli, C.W.: Aus dem Tagebuche des Lübeckischen Bürgermeisters Heinrich Brokes, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde (ZVLG) Nr. 23 (1951), S. 181-183.

12 Asch, S. 72 u. 92; Brokes Tagebücher, zit. n. Pauli, S. 183.

13 Asch, S. 92.

14 Asch, S. 92/93.

15 Zit. n. Wehrmann, C.: Die obrigkeitliche Stellung des Raths in Lübeck, in: Hansische Geschichtsblätter Nr. 13 (1888), S. 66.

16 Asch, S. 101.

17 Graßmann, S. 455; Asch, S. 112.

18 Bruns, Friedrich: Der Lübecker Rat. Zusammensetzung, Ergänzung und Geschäftsführung von den Anfängen bis ins 19. Jh., ZVLG Band 32 (1951), S. 7.

19 Wehrmann, S. 67; Graßmann, S. 457; Asch, S. 117-122.

20 Asch 128/129 u. 131.

21 Asch, S. 135/136.

22 Rezeß bei Becker, Johann Rudolph: Eigenthümliche Geschichte der freien und Hansestadt Lübeck, Band 3, S. I-XXVI (Anhang), Lübeck 1889.

23 Karasek, Horst: Der Fedtmilch-Aufstand, Berlin 1979, S. 45.

24 Zit. n. Karasek, S. 45.

25 Karasek, S. 63.

26 Meinert, Hermann: Frankfurts Geschichte, Frankfurt/Main 1984 (6. Auflage), S. 57-59.

27 Karasek, S. 79/80.

28 Karasek, S. 103.

29 Meinert, S. 63; Karasek, S. 102-106; Bothe, Friedrich: Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt/Main 1929 (3. Auflage), Faksimiledruck Frankfurt/Main 1977, S. 169.

30 Bothe, S. 159/160 u. 163.

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Details

Titel
Städtische Unruhen im Vergleich: Verfassungskonflikte in Lübeck im 17. Jh und der Fettmilchaufstand in Frankfurt
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
15
Katalognummer
V99086
ISBN (eBook)
9783638975353
Dateigröße
361 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Städtische, Unruhen, Vergleich, Verfassungskonflikte, Lübeck, Fettmilchaufstand, Frankfurt
Arbeit zitieren
Lars Brücher (Autor:in), 2000, Städtische Unruhen im Vergleich: Verfassungskonflikte in Lübeck im 17. Jh und der Fettmilchaufstand in Frankfurt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99086

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