Die Soziale Sinngebung menschlichen Handelns


Hausarbeit, 2000

16 Seiten


Leseprobe


0. Einleitung

Versucht man das menschliche Handeln zu verstehen und zu analysieren, sieht man sich mit einer Fülle von unterschiedlichen Erklärungsansätzen konfrontiert. Zahlreiche Wissenschaften haben versucht, die komplexen Strukturen der menschlichen Natur und des menschlichen Verhaltens zu untersuchen und dessen Ursachen und Wirkungen zu bestimmen. Neben der Psychologie, der Philosophie, der Theologie widmet sich in besondere Weise die Soziologie diesem Themenkomplex. Durch ihren fachspezifischen Blick beleuchtet die Soziologie einen bestimmten Teilaspekt menschlichen Handelns und kann sich so von dem Untersuchungsschwerpunkt der anderen Wissenschaften abgrenzen und ihren besonderen Beitrag für eine nähere Bestimmung des Menschseins liefern.

In dieser Arbeit soll eben dieser fachspezifische Beitrag näher definiert werden. Zu Anfang wird das spezifische Menschenbild der Soziologie in Abgrenzung von anderen Wissenschaften dargestellt. Auf der Basis des soziologischen Forschungsblicks soll dann die soziale Sinngebung menschlichen Verhaltens und dessen Strukturen und Charakteristika definiert und illustriert werden. Schlußendlich soll der Versuch unternommen werden, einen Bezug zwischen den soziologischen Blickwinkel und der Pädagogik herzustellen.

1. Das Menschenbild der Soziologie

Wenn man aus soziologischer Perspektive den Menschen als interagierenden Akteur in Gruppen und Gesellschaften untersucht, stellt sich sowohl die Frage nach dem spezifisch soziologischen Menschenbild als auch nach der Beziehung zwischen dem individuellen Einzelnen und der gesellschaftlichen Umwelt.

1.1. Ist der Mensch ein gesellschaftliches Produkt oder ein Individuum ?

Bei dem Versuch einer Definition des Menschenbildes bieten sich verschiedene Determinanten und Deutungsangebote. Um die Eigenschaften und Strukturbesonderheiten des spezifisch Menschlichen zu bestimmen, betrachten wir den Menschen zum einen als ein rationales, unabhängig handelndes Individuum und zum anderen als ein durch askriptive Merkmale, wie Geschlecht, Rasse oder Nationalität, und soziale Prägungsmuster determiniertes ,,Produkt".

Auch das fachspezifische Menschenbild des soziologischen Ansatzes orientiert sich an diesen beiden Erklärungsmustern. In der fachlichen.

Auseinandersetzung mit dem soziologischen Menschenbild kam es hierbei zu schwierigen und zum Teil widersprüchlichen Diskussionen. Insbesondere in der älteren Soziologie wurden zentrale philosophische Debatten über die grundsätzliche Definition des Menschen und dabei insbesondere über die Legitimität einer soziologischen Betrachtungsweise dieser Frage geführt. In diesem Zusammenhang kann die Diskussion des Begriffs ,,soziales Handeln" bei den Klassikern der Soziologie gesehen werden1.

Die Kontroverse lag in den als zum Teil antagonistisch empfundenen Begriffen, wie ,,Person" und ,,Gesellschaft", ,,Individuum" und ,,Gemeinschaft", ,,Ich" und ,,Kollektiv". Bei der einen Betrachtungsweise stand das individuelle ,,Ich", das als außer- oder übersozial interpretiert wurde, im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die andere Sichtweise sah den Forschungsmittelpunkt bei der Gesamtgesellschaft und dessen Teilaggregaten und negierte das sozial losgelöste, individuelle Potential der ,,Person". In der späteren und auch in der heutigen modernen Soziologie hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß die Begrifflichkeiten des ,,Individuums" und der ,,Gesellschaft" nicht antagonistisch sondern komplementär zueinander stehen. Der so definierte Mensch besitzt also sowohl individuelle als auch sozial determinierte Komponenten. ,,Der Mensch stellt einerseits ein kleines Stück Gesellschaft dar, während die Gesellschaft andererseits aus Individuen besteht, die in ihr wirken und sie teilweise bewahren, teils verändern. So gibt es ebensowenig ein Individuum ohne Gesellschaft wie eine Gesellschaft ohne Individuum." 2

Aus dieser Sichtweise resultiert die Aufgabe für die Soziologie, sich der sozialen Einflüsse, die auf den Einzelnen wirken, anzunehmen und diese in ihren Strukturen und Wirkungen näher zu durchleuchten. Somit kann die Soziologie durch diese Vorgehensweise den spezifisch soziologischen Teilabschnitt des Menschseins näher ergründen. Sie bleibt zwar damit nur auf einen Ausschnitt der menschlichen Realität beschränkt, doch sie ist als einzige Wissenschaft für diesen prädestiniert.

Neben den anderen an einer Definition des Menschenbildes interessierten Wissenschaften bildet sie somit einen Teil eines konkurrierenden Erklärungssystems. Jede Wissenschaft nimmt sich eines spezifischen Teilaspekts des Menschseins an und versucht diesen erschöpfend zu ergründen und zu illustrieren. Der Philosoph fragt hierbei nach dem ,,Wesen" des Menschen, der Psychologe3 bezieht seine Untersuchungen auf die Bewußtseinsstruktur des Individuums und der Theologe versucht das spezifisch Menschliche in der Wechselwirkung mit Gott zu begreifen. Das spezifisch soziologische Erkenntnisinteresse richtet seinen Blick auf das soziale System und seine Auswirkungen auf das Handeln der Menschen.

1.2. Die unterschiedliche Akzentuierung in der soziologischen Analyse

Trotz dieser gemeinsamen Basis der Forschungsperspektive, variieren innerhalb der Soziologie die Beurteilungen dieser Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese verschiedenen Ermessensresultate resultieren jedoch aus unterschiedlichen außerwissenschaftlichen Wertanschauungen, wie z.B. der politischen Philosophie. Während beispielsweise Ralf Dahrendorf die individuellen autonomen Entscheidungsoptionen als vordergründig akzentuiert und die Gesellschaft als eine Gefahr für diese interpretiert, versteht Talcott Parsons die Willkür des Einzelnen als Bedrohung für die Ordnung der gesellschaftlichen Strukturen und als Ursache der Fragilität dieser.

Aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen entstehen auch Folgen für die Analyseansätze der verschiedenen Soziologen. Das Augenmerk der Forschung richtet sich somit entweder eher auf die Auseinandersetzungen und Spannungen, die durch Herrschaft, Macht oder Zwang ausgelöst werden können oder auf den gesellschaftlichen Konsens, der auf der Basis der Einhaltung der sozialen Spielregeln und Konventionen durch die Gesellschaftsmitglieder erhalten werden soll.4

Unabhängig von diesen unterschiedlichen Akzentuierungen liegt jedoch das gemeinsame Forschungsinteresse der Soziologie bei den sozialen Wechselwirkungen und deren Wirkungen.

2. Die Spezifika des soziologischen Menschenbildes

Es stellt sich nun die Frage welche die speziell soziologischen Determinanten des Menschenbildes sind und wie sich diese entwickeln.

2.2. Ein Vergleich zwischen Mensch und Tier

Um die Unterschiede5 zwischen tierischem und menschlichen Verhalten näher zu bestimmen wird oftmals der Begriff des Instinkts herangezogen. Das tierische Verhalten ist in überwiegendem Maß von Instinkten geprägt. Es gibt zwar auch in der Tierwelt Verhaltensweisen, die erst erlernt und somit von ,,sozialen" Beziehungen abhängig sind, doch sind diese eher die Ausnahme. Der Mensch hingegen ist ein von Instinktarmut bzw. Instinktreduktion geprägtes Wesen. In der postnatalen Phase der Menschwerdung liegt der entscheidende Unterschied des Menschen zum Tier in der Notwendigkeit der Einbindung des Kindes in ein Geflecht sozialer Beziehungen.6

2.2. Die sozial-kulturelle Geburt

Der Mensch besitzt kaum eine genetisch originäre Verhaltensweise oder Strategie, um seine Wünsche zu befriedigen oder an der gesellschaftlichen Interaktion teilzunehmen. Vielmehr sind all diese Befähigungen nach soziologischer Auffassung Resultate eines Lernprozesses der sozialen Interaktion. Der Mensch muß also diese Fähigkeiten auf der Basis seines spezifischen genetischen Potentials in einem komplexen Wechselspiel mit seiner sozialen Umwelt erst erlernen. Im postnatalen Zeitraum empfindet der Säugling zwar auch rein körperliche Gefühle, wie Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Behagen und Unbehagen, doch auch diese Gefühle werden von anderen Menschen beeinflußt. Diese Menschen stillen zum Beispiel den Hunger und den Durst des Kindes auf eine ganz bestimmte Weise und nach ganz bestimmten Zeitplänen, die kulturell determiniert sind. Auf diese Art und Weise werden genuin unangepaßte Affekte des Menschen über soziale Interaktionen durch kulturelle Elemente überformt.

Der Säugling verfügt also über bestimmte biologische und genetische Veranlagungen, anthropologische Konstanten wie Weltoffenheit und Modifizierbarkeit der Instinkte, die als ursprünglich menschliche Natur interpretiert werden können. Diese ,,Ausstattung" impliziert jedoch nur wenige Einstellungen, Erwartungen und Handlungsziele. Um nun den Säugling zu einem handlungsfähigen Menschen zu machen, bedarf es der Vermittlung von Normen, Lebenseinstellungen und Handlungsweisen. Diese Vermittlung wird Sozialisation genannt. Es bedarf also einer zweiten sozial-kulturellen Geburt des Menschen durch die sozialisierende Interaktion mit der ihn umgebenden Umwelt. Erst diese sozial-kulturelle Geburt befähigt den Menschen, eine sozial-kulturelle Persönlichkeit auszubilden und dementsprechend zu handeln. Handeln wird hierbei nicht im Sinne des bloßen Tuns begriffen, sondern als ein sinn- und bedeutungsgeladenes Agieren verstanden7.

,,Erst im ,,sozialen Mutterschoßder Familie werden in vielfältiger Weise und Ausprägung die passiven und Aktiven Voraussetzungen für die Entwicklung grundlegender menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten geschaffen" 8 Es soll jedoch noch festgestellt werden, daß der Begriff der sozial-kulturellen Persönlichkeit nicht in der Lage ist, die Gesamtheit der menschlichen Natur zu erfassen. Er beschreibt nur die Summe der relativ konstanten Motiv-, Denk,- Gefühls,- und Verhaltensstrukturen, die die Persönlichkeit besitzen muß, um die Erwartungen der sozialen Umwelt erfüllen und an ihr produktiv teilhaben zu können.

2.3. Die sozial-kulturelle ,,Totgeburt"

Die fundamentale Notwendigkeit der sozial-kulturellen Einflußnahme für die Entwicklung des Menschen zeigt sich in einer Abstinenz dieser. Eine bloße physische Aufzucht ohne jede gefühlsmäßige Zuwendung und Sprachanleitung resultiert in keinem Fall in einer Entwicklung der sozial-kulturellen Persönlichkeit bzw. substanzieller menschlicher Fähigkeiten.9

Dies zeigt sich in den Darstellungen der Lebensweise und dem Entwicklungsstand von Kindern, die ohne Einwirkungen von Mitmenschen, sozialer Interaktionen, Sprache und kulturellen Institutionen heranwuchsen. Als Beispiel kann hierfür das Schicksal der Kinder Kamala und Amala herangezogen werden. In Indien wurden diese Kinder 1920 in der Gesellschaft von Wölfen entdeckt. Sie konnten weder aufrecht gehen noch hatten sie in irgendeiner Weise sprachliche Fähigkeiten aufbauen können. Es war ihnen also nicht möglich spezifisch menschliche Befähigungen auszubilden. Im Gegensatz zu isoliert aufgewachsenen Tieren konnten sie jedoch auch nicht instinktive Mechanismen der Verhaltenssteuerung entwickeln bzw. auf sie zurückgreifen.

Ähnliche Beobachtungen kann man Kindern machen, die früh von ihren Eltern getrennt wurden und über eine längere Dauer in Krankenhäusern, Heimen oder Anstalten ohne feste Bezugspersonen untergebracht wurden. Nach längerer Zeit führt dieser Zustand oftmals zu weitreichenden psychischen und auch physischen Entwicklungsstörungen (Hospitalismus). Durch die fehlenden individuellen und emotionalen Bezugsmöglichkeiten zu festen Zuneigungspersonen und durch das geringe Maß an sozialen Konnexionen kann das Kind nur reduzierte entwicklungsfördernde taktile und visuelle Reize erfahren. Hierdurch kommt es meistens zu irreversiblen Schäden kognitiver und affektiver Art in Zusammenhang mit psycho-somatischen Effekten.

3. Die Struktur der sozialen Sinngebung des menschlichen Handelns

Zu klären ist nun wie die Gesellschaft ihre Mitglieder zu sozial-kulturellen Persönlichkeiten ,,erzieht". Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach den innergesellschaftlichen Mechanismen der Vermittlung und deren Basis.

3.1. Die sozialen Regelmäßigkeiten menschlichen Handelns

Das zwischenmenschlichen Verhalten und Handeln ist in hohem Maße von bestimmten Regelmäßigkeiten und Gleichförmigkeiten geprägt. Der Einzelne denkt über viele Dinge und Handlungen des alltäglichen Lebens, die er allein oder mit anderen Menschen tut, nicht mehr nach. Dieses Phänomen ist das Resultat der Tatsache, daß das einzelne Individuum die Regeln der jeweiligen Kultur in sich aufgenommen hat und so gleichsam Teil seiner Selbst geworden ist. Dies erlöst den Einzelnen von der Aufgabe im Alltag über situationsadäquate Verhaltensweisen zu suchen und fortwährend entscheiden zu müssen. Dieser Sachverhalt versetzt uns auch in die Lage bestimmte Handlungsweisen von anderen Mitgliedern erwarten zu können und selbst auf der Basis einer gewissen Selbstverständlichkeit und Konsistenz handeln zu können.

Das alltägliche Handeln besteht somit aus gewohnten, eingelebten und traditionalen Verhaltensweisen. Dieses traditionalen Verhaltensweisen läuft zumeist unbewußt, vor allem aber unhinterfragt in den Bahnen des Gewohnten ab und wirft als solches keinerlei aktuelle Probleme der Handlungsführung auf.10 Es ist ,,sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize." 11

3.2. Die Basis der sozialen Regelmäßigkeiten menschlichen Handelns

Die oben beschriebenen Erwartungen der Gesellschaft an die Handlungsweise ihrer Mitglieder werden Normen genannt. Diese Normen veranlassen den Einzelnen in sozialen Situationen bestimmten Erwartungen an andere Mitglieder der Gesellschaft und an sich selbst zu stellen und daran seine Verhaltens- und Denkmuster zu orientieren.

Die sozialen Normen fundieren auf einem System von Leitbildern und Vorstellungen der Mehrheit einer bestimmten Gruppe oder der Gesamtgesellschaft. Diese in der Soziologie als Werte bezeichneten abstrakten Ideen beinhalten die grundlegenden, kulturellen und gemeinschaftlichen Zielsetzungen. Diese kollektiven Ziele sind nicht immer ausschließlich rationaler Natur, sondern fußen oftmals auf triebhaften, emotionalen, religiösen, moralischen oder ästhetischen Grundsätzen.

Die sozialen Normen können in Hinblick auf mehrere Kriterien unterschieden werden.

3.2.1. Unterscheidung nach dem Grad des Bewußtseins

Bei sozialen Normen in Form von Gepflogenheiten, Gewohnheiten oder Bräuchen laufen die Handlungen zumeist sehr unreflektiert und unhinterfragt ab. So ist z.B. das Grüßen von bekannten Personen eine Selbstverständlichkeit, über die nicht nachgedacht und deren Sinn nicht in Frage gestellt wird. Als eine weitere Art der Norm gilt die Sitte. Sie ist eine Handlungsvorschrift, die bewußter und auch sinngeladener erfüllt oder eben nicht erfüllt wird. So versuchen viele Menschen öfters zu spenden oder sonst etwas Gutes zu tun. Eine solche Sitte ist im Gegensatz zur Gewohnheit nicht bloß tatsächliches Handeln auf der Basis einer unhinterfragten Konvention, sondern begründbares, ansatzweise überlegtes Tun. Die Norm mit dem höchsten Bewußtseinsgrad ist das Recht bzw. Gesetz. Diese Vorschriften wurden von den Menschen hinsichtlich bestimmter Zwecke bewußt erschaffen und in Form der Rechtsvorschriften kodifiziert. Auch diese Verhaltensregeln können sich zu Selbstverständlichkeiten entwickeln. Sie sind jedoch in ihrer Begründung im Prinzip umfassend, detailliert und primär bewußt strukturiert.12

3.2.2. Unterscheidung nach dem Grad der Ausdrücklichkeit

In Hinblick auf den Grad der Ausdrücklichkeit sozialer Normen werden Kann,- Soll,- und Muß-Vorschriften unterschieden. Kann-Vorschriften sind Handlungsvorschläge zu denen man nicht nachhaltig aufgefordert wird. Beispielhaft kann man hierfür die kulturell bestimmten Essenszeiten nennen. Im Gegensatz dazu stehen die Muß-Vorschriften. Sie sind zwingend vorgeschriebene Handlungsgrundsätze, die in der Regel schriftlich fixiert sind und den Charakter einer Rechtsvorschrift haben. Das vorgeschriebene Halten des Verkehrsteilnehmers an roten Ampeln zum Beispiel ist schriftlich fixiert, rechtlich kodifiziert, durch Staatsorgane überwacht und bei Nichtbeachtung negativ sanktioniert13. Die Ausdrücklichkeit und Geltungskraft sozialer Normen läßt sich auch an der Tatsache festmachen, inwiefern diese mit postiven oder negativen Sanktionen belegt sind. Entsprechen wir nicht den jeweiligen Erwartungen sind oftmals negative Sanktionen die Folge. Diese können sich entsprechend dem Grad und der Art der Abweichung als Klatsch, Verachtung, Spott bis hin zu direkten physischen Druck oder ,,Repressalien, Diskriminierungen, Strafen"14 darstellen. Im Gegensatz hierzu zieht die Befolgung der Norm positive Sanktionen nach sich. Diese können z.B. Ansehen, Prestige, oder ein ,,guter Ruf" sein.

3.2.3. Die Kategorie der institutionalisierten Norm

Eine spezielle Kategorie der sozialen Normen bilden solche Verhaltensvorschriften, die in einer Gesellschaft als existentiell gelten und das grundlegende Funktionieren einer dieser ermöglichen (auch ,,mores" genannt: William Graham Sumner). Diese komplexen Normensysteme beanspruchen gesamtgesellschaftliche Gültigkeit und regeln in festgelegter Art und Weise unsere Verhaltensformen. Die Normen dieser Kategorie sind in der Form der organisierten Institutionen gesellschaftlich etabliert.

Institutionalisierte Normen beziehen sich somit auf zentrale gesellschaftliche Bereiche, deren eindeutige Regelungen für die Existenz und die Funktionsweise der Gesellschaft unabdingbar sind.

Institutionen werden somit als ,,Vermittlungsinstanzen kultureller Sinnproduktion, durch welche Wertungs- und Normierungsstilisierungen verbindlich gemacht werden"15 gesehen.

So reguliert die Institution der Ehe die sexuellen Handlungen, die Institution der Familie die Reproduktion und Erziehung und die Institution der Schule die Nachfrage der Gesellschaft nach Bildung und politischer Integration. ,,Institutionen befriedigen somit fundamentale Bedürfnisse, die in jeder Gesellschaft und Kultur abgesättigt werden müssen."16

Die institutionelle Ausgestaltung der existentiellen Normen variiert in den verschiedenen Gesellschaften. Sie unterscheidet sich in Hinblick auf die Konkretisierung, Akzentuierung und Koordination. Während in der einen Gesellschaft die Familie bzw. das Verwandschaftssystem die zentrale Institution darstellt, spielen in der anderen Gesellschaft staatliche Institutionen die überragende Rolle. Für wieder andere Gesellschaften kann die pluralistische Natur der institutionellen Struktur charakteristisch sein.17

Die institutionelle Umwelt in einer Gesellschaft ist jedoch nicht rein statisch, sondern kann durch sozialen Wertewandel verändert werden. Institutionen können ihre ursprünglichen Funktionen an anderen, neue Institutionen verlieren oder ihre normative Regulierungskraft einbüßen. Es ist auch möglich, daß die Wertesystem der einzelnen Institutionen in zunehmenden Widerspruch zueinander geraten.

4. Die Charakteristika der sozialen Sinngebung des menschlichen Handelns

Die sozialen Normen, Werte und Institutionen einer Gesellschaft sind grundlegende Erfordernisse des Zusammenlebens und bilden somit die anthropologische Voraussetzung menschlichen Handelns. Die Alternative wäre die irreale Möglichkeit der totalen Regellosigkeit, Beliebigkeit und Instabilität. Die sozialen Normen sind somit die Kompensation der Instinktarmut des menschlichen Wesens und geben seinem Handeln die nötige Spezialisiertheit, Richtung und Stabilität. Damit lenken sie die biologische Weltoffenheit des Menschen in gesellschaftskonforme Bahnen.18

Oder wie Niklas Luhmann es formuliert: Normen, Werte und Institutionen sind notwendige Bedingung für menschliches Handeln, da sie die Aufgabe der ,,Reduktion von Komplexität" erfüllen.

4.1. Normabweichungen, Wertekonflikt und sozialer Wandel

Obwohl durch die vorgegebene Normierungen sozialen Handelns und deren Institutionalisierung das Verhalten des Menschen bestimmt und auch bestimmbar wird, bestehen Tendenzen der Abweichung von vorhandenen Normen, des Normen- und Wertekonflikts. Die daraus resultierende mögliche Unberechenbarkeit des sozialen Handelns zeigt, daß durch Normen präformiertes Verhalten nicht als völlig automatisiertes Handeln verstanden werden kann.

Im gesellschaftlichen Leben werden fortwährend Normen verletzt, Werte verändern sich und Institutionen stehen in Konflikt zueinander. Es besteht somit eine immerwährende Spannung und ein Dissens zwischen den unterschiedlichen Normen und Werten in einer Gesellschaft. Dies gefährdet zwar die Stabilität einer Gesellschaft in Form einer Bewahrung des status quo, doch liegt in dieser ,,Konfliktsituation" auch ein Element gesellschaftlicher Dynamik. Das Phänomen der Subkultur zeigt, daß es von der Mehrheitskultur abweichende Verhaltensweisen geben kann, die das Leben und das alltagspraktische Handeln des dieser Teilgruppe angehörenden Einzelnen maßgeblich beeinflußt. Diese subkulturellen Erscheinungen finden sich z.B. bei bestimmten jugendlichen Gruppierungen, Sekten, diskriminierten Minderheiten usw.

Emil Durkheim wies auf einen weiteren Sachverhalt hin, als er feststellte, daß bei strikter Normenkonformität eine Gesellschaft zum Stillstand kommen und der soziale Spielraum verschwinden würde. Weiterhin erkannte er, daß ein Zustand der Normlosigkeit, d.h. ein Bedeutungsverlust aller existentiellen Normen, der Gesellschaft schwer schaden würde. Zum einen würde versucht werden den Bedeutungsverlust der bisherigen Normen durch eine Verschärfung der Sanktionen rückgängig zu machen und zum anderen würden die normdevianten Gesellschaftsmitglieder versuchen, ihr Verhalten als ,,neue Norm" zu etablieren.

Gemäß Emil Durkheim zeigt sich somit in der Normdevianz die Antizipation einer zukünftigen Normgeltung.

Ein solcher Prozeß des sozialen Werte,- Normen,- und Institutionenwandels vollzieht sich oftmals sehr langsam. Kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem Werte,- Normen,- und Institutionenwandel und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, so erfüllt die Normenstruktur weder die Bedingung der Anpassung an die Konditionen des Alltags noch die Funktion der gesellschaftlichen Integration. In diesem Fall wird sie als ,,dysfunktional" bezeichnet. Festzuhalten bleibt, daß Werte, Normen und Institutionen keine statischen, unveränderbaren sozialen Tatsachen darstellen, sondern in einem direkten Zusammenhang und in einer Wechselbeziehung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen stehen.

Oder wie es H. Jager und A.L. Mok formulierten: ,,Für die empirische Soziologie gibt es Werte, Normen und Institutionen nur insofern und solange es Menschen gibt, die diese anerkennen und nach ihnen leben."

5. Reflexion

Abschließend soll nun geklärt werden, welchen Bezug ein solcher soziologischer Blickwinkel zur Pädagogik und zur praktischen pädagogischen Arbeit hat.

Zuallererst ist zu bemerken, daß diese soziologische Sicht des Menschen und dessen Handelns die Bedeutung der Pädagogik in besonderem Maße hervorhebt. Als zukünftige Mitglieder der Institution Schule, repräsentieren wir die institutionalisierte Norm der ,,Notwendigkeit und Bedeutsamkeit des Bildungserwerbs". Diese Norm ist gerade in Deutschland tief verankert und ist ein grundlegender Bestandteil der Ziel- und Wertvorstellung der Gesellschaft. Auch innerhalb der Institution Schule lassen sich Strukturen erkennen, die auf der Grundlage der Werte und Normen einer Gesellschaft, erschaffen wurden. So ist zum Beispiel die Fächerstruktur der Schule nicht nur nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes ausgerichtet, sondern spiegelt auch die Wertvorstellungen der Gesellschaft wieder. Dies zeigt sich am Beispiel des katholischen und evangelischen Religionsunterrichts. Auch der Wertewandel und die daraus resultierenden Folgen für die Institutionen lassen sich im Schulsystem erkennen. So kann die Einführung der Gesamtschule Mitte der Siebziger Jahre als Versuch interpretiert werden, den in der Gesellschaft als zunehmend wichtig erkannten Wert der Chancengleichheit institutionell zu etablieren. Dieser Versuch ist jedoch weitgehend gescheitert. Fraglich ist ob dieses Scheitern durch innerstrukturelle Probleme zu erklären ist oder ob wiederum ein Wertewandel für die Aufgabe dieses Projekts verantwortlich war.

Eine Aufgabe des praktischen pädagogischen Arbeitens, die aus der soziologischen Sichtweise resultiert, liegt in dem Versuch, sozial-kulturelle Defizite der Institution Familie und der Institution Kindergarten gerade im Grundschulbereich auszugleichen. Ob diese Aufgabe bei der derzeitigen personellen und finanziellen Situation der Grundschulen erfüllt werden kann, ist natürlich höchst fraglich. Festzuhalten bleibt, daß die soziologischen Gesichtspunkte des menschlichen Handelns für die Pädagogik von enormer Erklärungskraft und Wichtigkeit sind.

Literaturverzeichnis

1. Grundlage

- H.P. Henecka

Grundkurs Soziologie, 6. Auflage Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen, 1997.

2. Hinzugezogene Sekundärliteratur

- Alfred Bellebaum

Soziologische Grundbegriffe. Eine Einführung für Soziale Berufe, 12 ergänzte Auflage Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1994.

- Karl-Siegbert Rehberg

Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen. in: Gerhard Göhler (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden Baden, 1994, S. 47-84.

- Georg Simmel

Über Geiz, Verschwendung und Armut, in: Dahme, Heinz-Jürgen und Frisby, Davis P. (Hg.): Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, Gesamtausgabe Bd.5, Frankfurt am Main, 1992, S.529-542.

- Charles Taylor

Der Irrtum der negativen Freiheit, in: Ders.: Negative Freiheit ? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt am Main, 1988, S. 118-144.

- Michael Walzer

Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: A. Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main / New York, S. 157- 180.

- Max Weber

Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen, 1976.

[...]


1 Anzumerken ist hierbei, daß auch in der bedeutenden Universalismus vs. Kommunitarismus - Debatte der angesprochene konkurrierende Definitionsansatz des Menschenbildes einen wichtigen Ansatzpunkt der Kontroverse darstellte. (vgl. Walzer S.163ff)

2 Henecka S.58

3 Anzumerken ist hierbei, daß die Aufgabe der Psychologie in der Untersuchung der oben erwähnten außer- oder übersozialen also der stringent individuellen Teilaspekte des Menschseins liegt. Aus dieser direkten Nachbarschaft der Psychologie zur Soziologie ergibt sich die Möglichkeit einer gewinnbringenden interdisziplinären Zusammenarbeit, wie z.B. in der Sozialpsychologie. Eine solche Zusammenarbeit und deren Erkenntnisse sind auch von großem Nutzen für die pädagogische Arbeit

4 Auch hier ist eine Parallele zur Universalismus vs. Kommunitarismus - Debatte zu sehen. Vor allem in der Diskussion über die ,,positive" bzw. ,,negative" Freiheit zeigt sich wie der gleiche Sachverhalt durch die unterschiedlichen zugrundeliegenden Wertanschauungen in verschiedener Art und Weise interpretiert wird. Die Parallele zeigt sich vor allem in den gewählten Begriffen: ,,freedom to" (die Freiheit kann nur in einer Gesellschaft und einer Beziehung mit ihr verwirklicht werden);,,freedom from" (die Freiheit wird rein als die Abwesenheit von gesellschaftlichem Zwang definiert) (vgl. Charles Tayler S.188ff)

5 Anzumerken ist hierbei, daß der Mensch anders als das Tier ein zwecksetzendes Wesen, das über das direkte Wollen und Genießen hinaus lebt, und versucht, seine Ziele und den Endzweck in einer teleologischen Zweckreihe zu erreichen. Und je ausgeprägter diese System von Mitteln ist, das vor den Endzweck gesetzt wird, desto spezifisch menschlicher wird dieses System. Durch diesen indirekten Aufbau, den der Mensch selbst entwickelt hat, wird er zum indirekten Wesen. Dieses spezifisch menschliche teleologische Zweckreihensystem entwickelt sich aus dem engen Geflecht der sozialen Beziehungen, das den Menschen vom Tier unterscheidet. (z.B.: Prozesse der Arbeitsteilung usw.) (vgl. Simmel S.529)

6 Bellebaum S. 19ff

7 Bellebaum S. 65f

8 Henecka S.62

9 Bellebaum S. 66

10 Weber S.12f

11 Weber S.12

12 Bellebaum S.41f

13 Bellebaum S.42f

14 Bellebaum S.43

15 Rehberg S.57

16 Henecka S.67

17 Wie oben schon beschrieben, fußt diese Unterschiedlichkeit der institutionellen Ausgestaltung der Normen auf den gemeinhin als wichtig erachteten Zielvorstellungen der Mehrheit der Gesellschaft. Diese kulturell verschiedenen Zielvorstellungen beeinflussen die Beurteilungen, welche Normen als existentiell angesehen werden und strukturieren so die gesellschaftlichen Institutionen.

18 Bellebaum S.36f

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Die Soziale Sinngebung menschlichen Handelns
Autor
Jahr
2000
Seiten
16
Katalognummer
V98937
ISBN (eBook)
9783638973878
Dateigröße
429 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale, Sinngebung, Handelns
Arbeit zitieren
Stephan Rammelt (Autor:in), 2000, Die Soziale Sinngebung menschlichen Handelns, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98937

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