Nachrichtenwert-Theorie


Seminararbeit, 2000

27 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Anfänge der Nachrichtenwert-Forschung
2.1 Die ersten Forschungen in den Vereinigten Staaten
2.2 Der Beginn der europäischen Forschungstradition

3. Die erste umfassende Theorie

4. Die Arbeiten nach Galtung und Ruge
4.1 Øystein Sande
4.2 Karl Eric Rosengren
4.3 Winfried Schulz
4.4 Joachim Friedrich Staab

5. Nachrichtenwert und Rezeption

6. Die Theorie in journalistischen Praxisbüchern

7. Zusammenfassung

8. Literatur

1. Einleitung

“All the reporters in the world working all the hours of the day could not witness all the happenings in the world. There are not a great many reporters. And none of them has the power to be in more than one place at a time. Reporters are not clairvoyant, they do not gaze into a crystal ball and see the world at will, they are not assisted by thought- transference. Yet the range of subjects these comparatively few men manage to cover would be a miracle indeed, if it were not a standardized routine.”1Walter Lippmann Die New York Times hat ein simples Motto: „All the news that fit to print.” Nicht mehr und nicht weniger könne der Leser in dem Blatt erwarten. Der Slogan ist eben so griffig wie nichtssagend. Die Zeitung drucke alle Neuigkeiten, die es wert sind, gedruckt zu werden. Doch wann wird ein Ereignis zur Nachricht? Und wann ist sie es wert, in der Zeitung zu stehen? In Deutschland liefert der Basisdienst der Deutschen Presseagentur täglich zwischen dreihundert und fünfhundert Meldungen an die Redaktionen. Die Agentur Reuters schickt täglich etwa 450, die amerikanische Associated Press ungefähr 250 Meldungen in deutsche Redaktionsbüros. Agence France Press ergänzt das Angebot mit immerhin noch durchschnittlich 220 Meldungen je Tag.2 Dazu kommen die Nachrichten von ddp und von kleineren Agenturen sowie Meldungen aus den Themendiensten für Sport, Religion und Wirtschaft. Die Fülle an Nachrichten, die deutsche Journalisten über Agenturen erreicht, ist bereits vorsortiert. Es handelt sich um eine Auswahl, nicht um das Abbild des Weltgeschehens. Die Redakteure bei den Tageszeitungen und Rundfunksendern reduzieren das Material erneut. Auch hier stellt sich die Frage: Nach welchen Gesichtspunkten wählen Journalisten Nachrichten aus?

Eine Erklärung, wann Journalisten ein Ereignis für berichtenswert halten, liefert die Nachrichtenwert-Theorie. Sie führt die Entscheidung zur Veröffentlichung einer Nachricht auf bestimmte Eigenschaften von Ereignissen zurück. Nicht die subjektive Auswahl des Journalisten, sondern die quasi objektiven Eigenschaften eines Ereignisses bestimmen nach dieser Theorie, was in der Zeitung steht und was nicht. Prominenz, Elite und Negativität sind nur drei der in der Theorie benannten Eigenschaften, die eine Nachricht für den Journalisten interessant machen.

Diese Arbeit stellt die Nachrichtenwert-Theorie vor. Sie gibt einen Überblick über die wichtigsten Forschungen bis 1999. Dabei berücksichtigt sie sowohl die Auswirkungen der Theorie auf die Arbeit von Journalisten als auch den Zusammenhang zwischen Nachrichtenwert und Rezeption und sie erwähnt mögliche Folgen für das politische System. Behandelt werden vor allem die umfangreichen Thesen von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge und ihre wichtigsten Kritiker wie Karl Eric Rosengren, Winfried Schulz und Joachim Friedrich Staab. Letzterer versuchte, das apolitische Modell der Nachrichtenwerttheorie in das Konzept der „Instrumentellen Aktualisierung“ von Hans Mathias Kepplinger zu integrieren. Er vermutete, dass Journalisten einigen Ereignissen Nachrichtenwert zuschreiben, um damit ihre subjektive Auswahl zu legitimieren. Ergänzend zur Überblicksdarstellung wird im letzten Kapitel dargelegt, inwieweit sich die Thesen der Sozialwissenschaftler in einer Auswahl journalistischer Lehrbücher wiederfinden.

2. Anfänge der Nachrichtenwert-FFoorrsscchhuunngg

2.1Die ersten Forschungen in den Vereinigten Staaten

Bereits 1922 stellte der Amerikaner Walter Lippmann in seinem Buch „Public Opinion“ die These auf, dass die Wirklichkeit wegen ihrer Komplexität weder vollständig erkannt noch dargestellt werden kann. Auch die Nachrichten in den Tageszeitungen seien nicht mit der Realität identisch. „All the reporters in the world working all the hours of the day could not witness all the happenings in the world“3, schrieb Lippmann. Aber selbst das, was die Reporter wahrnehmen, spiegele sich nicht komplett in den Nachrichten wieder. Vielmehr beruhten Nachrichten auf Selektion und Interpretation der Journalisten. Eine Zeitung bringe nur stereotypisierte Ausschnitte von Realität. „Without standardization, without stereotypes, without routine judgements, without a fairly ruthless disregard of subtlety, the editor would soon die of excitement.”4 Lippmann fragte sich, welche Kriterien Ereignisse erfüllen müssen, damit Journalisten sie aufgreifen und zu Nachrichten machen. Er verwendete für die Beantwortung seiner Frage den Begriff „news value“. Darunter versteht er Merkmale von Ereignissen, die ihre Wahrscheinlichkeit zur Veröffentlichung erhöhen. Anhand einzelner Beispiele nannte Lippmann einige Eigenschaften, die nach seiner Ansicht den Nachrichtenwert bestimmen. So führte er an: räumliche Nähe, Prominenz, Sensationalismus, Etablierung, Dauer, Relevanz, Schaden, Nutzen, Struktur sowie institutioneller Einfluss. Je mehr Kriterien auf Ereignis zutreffen und je ausgeprägter sie sind, desto größer ist nach Lippman die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Nachricht wird.5

Lippmanns Grundkonzept wurde in einigen amerikanischen Büchern zur Journalistenausbildung übernommen, ohne dass deren Autoren direkt auf ihn Bezug nahmen. In den Darstellungen treten sechs Faktoren fast immer hervor. Hierzu gehören Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeit, Konflikt und Bedeutung.6 James Buckalew und Robert Clyde haben in Input-Output-Analysen nachweisen können, dass die in den Lehrbüchern genannten Faktoren tatsächlich die Auswahl der Nachrichten von Journalisten beeinflussen.7 Anju Chaudhary stellte neun Faktoren auf und wies in Experimenten nach, dass amerikanische und indische Journalisten die Publikationswürdigkeit von Nachrichten ähnlich beurteilen.8 Unabhängig von den Amerikanern entwickelte sich eine europäische Forschungstradition, die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden soll.

2.2Der Beginn der europäischen Forschungstradition

Der Osloer Friedensforscher Einar Östgaard fragte sich Mitte der sechziger Jahre, warum es im internationalen Nachrichtenwesen keinen „free flow of news“ gibt. Östgaard hatte zahlreiche Inhaltsanalysen gesammelt und war zu der Überzeugung gelangt, dass es im weltweiten Nachrichtenfluss zu Verzerrungen kommt. Er versuchte, die Ursachen für diese Verzerrungen zu systematisieren. Neben externen Faktoren wie politischer Zensur oder ökonomischen Zwängen, stellte er auch drei interne Faktoren auf. Östgaard glaubte, manche Ereignisse beinhalten bestimmte Aspekte, die das Interesse eines Journalisten wecken.

Als ersten Aspekt nannte er Simplifikation. Simplifikation beschreibe die Tendenz der Nachrichtenmedien, möglichst einfache, leicht verständliche Inhalte zu vermitteln. Diese Tendenz führe dazu, dass Journalisten einfache Nachrichten komplexen Nachrichten vorziehen und dass sie dazu neigen, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen. 9

Unter dem Aspekt Identifikation fasste Östgaard die Tendenz der Nachrichtenmedien zusammen, bevorzugt über bereits bekannte Themen oder aus einem bekannten Umfeld zu berichten, um eine Identifikation des Rezipienten mit dem Medium herzustellen. Dies schlage sich nieder in der Berichterstattung aus zeitlicher oder räumlicher Nähe oder der Berichterstattung über prominente Staaten und Personen sowie in jeder Form der Personalisierung.10

Als dritten Aspekt nannte Östgaard die Tendenz der Medien zu Sensationalismus. Medien würden versuchen, über dramatische und emotional erregende Sachverhalte Aufmerksamkeit zu erregen. Dies betreffe sowohl die „soft news“ über Kuriositäten, Unglücke und Gesellschaftsklatsch als auch die „hard news“ über Konflikte und Krisen auf nationaler und internationaler Ebene.11

Außerdem ging Östgaard davon aus, dass die Medien oft nur über das Tagesgeschehen oder über Ereignisse des Vortages berichten können. Dies führe dazu, dass nur Teilereignisse aufgegriffen werden können. Deswegen hätten es kurzfristige Ereignisse leichter zur Nachricht zu werden. Andererseits habe ein langfristiges Ereignis, das einmal die „Nachrichtenbarriere“ übersprungen habe, größere Chancen erneut aufgegriffen zu werden, da das Thema dann etabliert sei.12

Aus seinen Überlegungen leitete Östgaard drei Hypothesen ab, die er empirisch aber nicht untersucht hat. Massenmedien würden erstens dazu tendieren, die Bedeutung individueller Handlungen der politischen Führer und Elitenationen zu verstärken. Zweitens würden sie dazu neigen, die Welt konfliktreicher zu beschreiben, als sie tatsächlich ist. Und schließlich äußerte Östgard die Vermutung, dass Massenmedien die Teilung der Welt in Staaten mit höherem und niedrigen Status aufrecht erhalten, wenn nicht sogar verstärken.13

3. Die erste umfassende Theorie

Nach Einschätzung des Publizistikwissenschaftlers Joachim Friedrich Staab ist die Darstellung Östgaards unbefriedigend. „Zum einen bleibt das Verhältnis zwischen externen und internen Nachrichtenfaktoren ungeklärt, zum anderen gehen in die Explikation und Differenzierung der internen Nachrichtenfaktoren logisch verschiedene Dimensionen ein, die nicht voneinander abgegrenzt werden.“14 Wesentlich umfassender, systematischer und differenzierter sei die Theorie über die Nachrichtenfaktoren von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge, die am gleichen Osloer Institut für Friedensforschung arbeiteten wie Einar Östgaard. Auch sie befassten sich mit den Nachrichten der internationalen Politik und bauten die Grundidee Östgaards zu einem umfassenden theoretischen Gebäude aus. Wie Walter Lippmann gingen Galtung und Ruge davon aus, dass es unmöglich ist, die gesamte Welt in ihrer Komplexität zu erfassen. „Since we cannot register everything, we have to select, and the question is what will strike our attention.“15 Nach ihrer Einschätzung erregen acht wahrnehmungspsychologisch begründbare Faktoren von Nachrichten die Aufmerksamkeit von Journalisten.

- Frequency (Frequenz)

Als erstes nennen die Wissenschaftler den Faktor „Frequenz“. Die Wahrscheinlichkeit, dass über ein Ereignis berichtet wird, hänge stark davon ab, ob die Dauer des Ereignisses mit der Erscheinungsfrequenz des Mediums korrespondiert. Kurze Ereignisse haben demnach bessere Chancen in der Tageszeitung zu stehen als langfristige, die eher für wöchentlich oder monatlich erscheinende Periodika interessant sind. Ein Ereignis, das sich über einen langen Zeitraum erstreckt, werde kaum in der Tageszeitung veröffentlicht, außer es erreicht zwischendurch einen dramatischen Höhepunkt.16

- Threshold (Aufmerksamkeitsschwelle)

Als zweiten Faktor nennen Galtung und Ruge den Schwellenwert. Jedes Ereignis müsse eine Aufmerksamkeitshürde überwinden, um zur Nachricht zu werden. Je stärker die Intensität eines Ereignisses ist, desto leichter überwinde es die Aufmerksamkeitsschwelle. „The more violent the murder the bigger the headlines it will make.“17

- Unambiguity (Eindeutigkeit)

Die Eindeutigkeit eines Ereignisses ist nach Galtung und Ruge der dritte Faktor, der ein Ereignis zur Nachricht machen kann. Je einfacher und klarer strukturiert ein Ereignis sei, um so eher werde es veröffentlicht.18

- Meaningfulness(Bedeutsamkeit)

Als vierten Faktor nennen die Autoren die Bedeutsamkeit. Sie unterscheiden zwei Aspekte. Zum einen würden Massenmedien um so eher über ein Ereignis berichten, je relevanter es für das Leben des Rezipienten ist, unabhängig davon, wie weit entfernt das Ereignis passiert ist. Auf der anderen Seite werde ein Ereignis automatisch bedeutsam, je deutlicher die kulturelle Nähe zum Rezipienten zu erkennen ist.19

- Consonance (Konsonanz)

Dem fünften Faktor liegt die Annahme zu Grunde, dass Menschen Vorstellungen davon haben, was passieren könnte oder sollte. Geschieht tatsächlich das Erwartete oder Gewünschte, würde dies die Aufnahme und Verarbeitung des Ereignisses beim Rezipienten begünstigen. Deswegen würden Medien besonders über Ereignisse berichten, die den Erwartungen und Wünschen ihrer Leser entsprechen. Galtung und Ruge nennen diesen Faktor „Konsonanz“. Nachrichten haben demnach eine gewisse Bestätigungsfunktion. In diesem Zusammenhang könne man auch sagen, „news are actually olds“.20

- Unexpectedness (Überraschung)

Der sechste Faktor, die Überraschung, beschreibt die Annahme, dass Medien besonders gern über Kurioses, Unvorhersehbares oder Seltenes berichten. Der Faktor sei ein Korrektiv für die Faktoren Bedeutsamkeit und Konsonanz. Es sei nicht ausreichend, dass eine Ereignis bedeutsam und absehbar ist. Es müsse auch überraschend sein. Etwas Überraschendes aber könne nur innerhalb von bedeutsamen und für den Rezipienten erwarteten Geschehensabläufen erkannt werden.21

- Continuity (Kontinuität)

Wenn ein Ereignis es zum erstmals geschafft hat, Schlagzeilen zu machen, dann hat es nach Galtung und Ruge gute Chancen, erneut von Journalisten aufgegriffen zu werden. Diese Annahme beschreibt der Faktor Kontinuität. Was einst unerwartet war und deshalb zur Nachricht wurde, ist nun bekannt und deshalb eindeutig. Der Faktor Kontinuität stehe deshalb in engen Zusammenhang mit den Faktoren Überraschung und Eindeutigkeit.22

- Composition (Variation)

Variation ist der achte Faktor. Er beschreibe die Tendenz der Medien, möglichst vielfältig zu berichten. Auch ein unbedeutendes innenpolitisches Ereignis könne veröffentlicht werden, wenn die innenpolitische Nachrichtenlage sehr dünn ist und derzeit außenpolitische Ereignisse überwiegen. Denn wenn einen Redakteur ständig außenpolitische Nachrichten erreichen, sei die Aufmerksamkeitsschwelle für unbedeutende innenpolitische Informationen wesentlich geringer.23

Nach Galtung und Ruge wirken diese acht Faktoren überall auf der Welt und deswegen auch in jedem Glied der Nachrichtenkette – vom Ereignis bis zur Schlagzeile. Doch es gibt in ihrer Theorie auch Faktoren, die nur im nordwestlichen Kulturkreis zum Tragen kommen. Die Wissenschaftler beschreiben insgesamt vier dieser Faktoren:

- Reference to elite nations (Bezug zu Elite-Nationen)

Da die Handlungen von Eliten größere Konsequenzen haben als die Handlungen anderer, veranlasse das die Medien dazu, besonders über Elite-Staaten zu berichten. Diesen Bezug der Medien zu Elite-Nationen beschreibt der neunte Faktor.24

- Reference to elite people (Bezug zu Elite-Personen)

Die Begründung des zehnten Faktors ist im Grunde ähnlich der des Faktors neun. Die Handlungen von Elite-Personen seien folgenreicher als von Durchschnittsbürgern. Außerdem böten Elite-Personen wie Elite-Nationen die Möglichkeit zur Identifikation. Ereignisse, in denen sie vorkommen, seien daher für Medien interessant.25

- Reference to personification (Interesse an Personalisierung)

Dieser Faktor beschreibt die Tendenz der Medien, über Ereignisse zu berichten, die sich eindeutig auf das Handeln einzelner Personen zurückführen lassen. Nach Galtung und Ruge habe diese Tendenz mehrere Ursachen. So sei Personalisierung Ausdruck des kulturellen Ideals vom Menschen als dem Gestalter des eigenen Schicksals. Außerdem erleichtere sie die Identifikation der Leser. Die Handlungen einer Personen ließen sich viel leichter erklären als komplexe, strukturell bedingte Ereignisse. Personalisierung könne als Ausdruck des Faktors Frequenz gewertet werden: Eine Person könne in bestimmten Zeitabschnitten handeln, die mit dem Erscheinungsrhythmus des Mediums übereinstimmten. Sie sei oft auch Ausdruck der Konzentration auf Eliten. Zu guter Letzt korrespondiere die Personalisierung gut mit der Nachrichtenpräsentation in Zeitungen, denn „it is easier to take a photo of a person than of a structure.“26

- Reference to something negative (Interesse an Negativismus)

Der letzte und zwölfte Faktor beschreibt die Tendenz der Medien, lieber über negative als positive Ereignisse zu berichten. Als Ursache nennen die Autoren die größere Übereinstimmung negativer Ereignisse mit der Erscheinungsfrequenz der Medien, da sie meist plötzlich und schnell passieren. Außerdem würden negative Ereignisse unerwarteter passieren als positive und unsere pessimistischen Erwartungshaltungen und Ängste bestätigen.27

Die Auswahl von Nachrichten ist laut Galtung und Ruge eng an den genannten zwölf Faktoren orientiert. Je mehr Faktoren auf ein Ereignis zuträfen, um so leichter werde es zur Nachricht (Selektionshypothese). Bei einem Ereignis, das einmal das Interesse des Journalisten geweckt hat, würden in der Berichterstattung genau die Faktoren betont, die für seine Beachtung gesorgt haben. Damit würde das eigentliche Ereignis verzerrt wiedergegeben (Verzerrungshypothese). Selektion und Verzerrung würden sich auf allen Stufen der Nachrichtenkette wiederholen, so dass die Effekte verstärkt würden (Wiederholungshypothese).28

Wie vereinzelt schon dargelegt, wirken die Faktoren nicht isoliert voneinander, sondern es bestehen laut Galtung und Ruge zwischen ihnen enge Beziehungen. Je mehr Faktoren auf ein Ereignis zuträfen, um so eher werde es zur Nachricht (Additivitätshypothese). Allerdings seien die Faktoren untereinander komplementär. Das Fehlen eines Faktors könne durch einen anderen kompensiert werden (Komplementaritätshypothese).29

Galtung und Ruge haben ihr komplexes Modell nie empirisch untermauert. Allerdings versuchten sie, in einer Inhaltsanalyse der Berichterstattung norwegischer Zeitungen über die Krisen im Kongo, in Kuba und in Zypern die Komplementarität der kulturabhängigen Faktoren zu belegen. Insgesamt vier Ergebnisse hat ihre Untersuchung ergeben. Je größer die Entfernung der Nation war, um so deutlicher wurde das Handeln von Elite-Personen in den Vordergrund gestellt.30 Je geringer der soziale Status der handelnden Personen war, um so negativer wurde über das Ereignis berichtet.31 Die zunehmende kulturelle Entfernung einer Nation hatte entgegen der Annahmen der Wissenschaftler keine Auswirkung auf die Negativität der Berichterstattung.32 Allerdings wurde mit wachsender kultureller Entfernung des Ereignis-Ortes, die Relevanz des Ereignisses für den Rezipienten betont.33

„Diese wenigen Befunde stehen in keinem rechten Verhältnis zu Umfang und Reichweite der von Galtung/Ruge entworfenen Theorie, so daß man wohl kaum davon sprechen kann, daß die Autoren ihre Hypothesen bestätigt haben“, urteilte 1976 der Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz. Dennoch sei die Theorie der bisher bedeutendste Beitrag zur Nachrichtenforschung überhaupt.34 Ähnlich äußert sich die Wissenschaftlerin Christiane Eilders.35 Friedrich Staab kritisierte vor allem, dass Galtung und Ruge nicht zwischen objektiven ereignisinhärenten Nachrichtenfaktoren und subjektiven Zuschreibungen von Nachrichtenfaktoren unterschieden haben: „Wenn die Nachrichtenfaktoren – zumindest teilweise – Ereignissen bzw. Meldungen subjektiv zugeschrieben werden, kann man die Nachrichtenwert-Theorie nicht mehr als ein Konzept betrachten, das die Nachrichtenauswahl der Massenmedien auf der Grundlage objektiver Kriterien erklärt; die Nachrichtenfaktoren müssen in diesem Fall vielmehr als ein Bezugssystem für subjektive Selektionsentscheidungen betrachtet werden.“36 Zudem bleibe der Unterschied zwischen Selektions- und Additivitätshypothese unklar. Andererseits seien Additivitäts- und Komplentaritätshypothese identisch. „Beide zielen auf denselben Sachverhalt ab, nämlich darauf, daß alle Nachrichtenfaktoren, die auf ein Ereignis oder eine Meldung zutreffen, die Publikations- und Beachtungswürdigkeit dieses Ereignisses oder dieser Meldung bestimmen.“37

4. Die Arbeiten nach Galtung und Ruge

Nach Veröffentlichung des Aufsatzes von Galtung und Ruge haben zahlreiche Wissenschaftler versucht, die Richtigkeit der Theorie zu überprüfen. Christiane Eilders resümierte 1997, dass „das Konzept der Nachrichtenauswahl nach Nachrichtenfaktoren insgesamt zweifellos als bestätigt angesehen werden kann.“ Es herrsche unter den Wissenschaftlern allerdings hinsichtlich der Bedeutung einzelner Nachrichtenfaktoren teilweise Uneinigkeit.38 Im Folgenden sollen die wichtigsten Forschungen und Weiterentwicklungen der Theorie nach Galtung und Ruge vorgestellt werden.

4.1 Øystein Sande

Schon kurz nach Veröffentlichung des Aufsatzes von Galtung und Ruge überprüfte Øystein Sande mit einer Inhaltsanalyse die Theorie der Nachrichtenfaktoren. Er untersuchte an fünfzehn Tagen im Jahr 1964 die Auslandsberichterstattung des norwegischen Rundfunks und drei norwegischer Tageszeitungen.39 Er konzentrierte sich auf die Faktoren Elite- Nation, Elite-Person, Negativismus, Personifizierung, Kontinuität und Variation. Parallel zur Inhaltsanalyse führte Sande eine Bevölkerungsumfrage durch, um die Beziehung zwischen Berichterstattung und dem Bild des Publikums vom politischen Geschehen zu untersuchen. Die Befragten sollten antworten, was für sie am Vortag die wichtigste Auslandsnachricht gewesen sei.

Die Inhaltsanalyse konnte die Selektions-Hypothese von Galtung und Ruge weitestgehend bestätigen. Ereignisse, in denen Elite-Personen oder Elite-Nationen vorkamen, die negativ oder personenzentriert waren sowie an Bekanntes anknüpften, wurden überdurchschnittlich beachtet. Am Wirkungsvollsten waren hier die Faktoren Negativismus und Kontinuität, keine Wirkung ergab sich beim Faktor Variation. Als zweites konnte Sande die Additivitätshypothese belegen: Je mehr Faktoren auf ein Ereignis zutrafen, um so stärker wurde es beachtet. Die Komplementaritätshypothese bestätigte Sande für die Faktoren Elite-Nation, Elite-Person und Negativismus. Jeder dieser Drei konnte jeden anderen in seiner Wirksamkeit ersetzen.40

Die Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage zeigten, dass das Publikum solche Nachrichten aus den Zeitungen und dem Radio besonders häufig als wichtigste Nachrichten des Vortages einstufte, auf die Nachrichtenfaktoren zutrafen. Damit könne gesagt werden, dass die Nachrichtenfaktoren auch die Vorstellungen des Publikums vom politischen Geschehen bestimmten.41

4.2Karl Eric Rosengren

Umfassende methodologische Kritik an den Arbeiten von Johan Galtung, Mari Holmboe Ruge und Øystein Sande äußerte der Wissenschaftler Karl Eric Rosengren. Er bemängelte, dass es im Grunde unmöglich sei, etwas über das Verhältnis von Realität und ihrem Bild in den Nachrichtenmedien zu sagen, wenn man ausschließlich die Nachrichten untersucht. Man könne mit dieser Methode maximal etwas über Umfang und Platzierung von Nachrichten anhand von Nachrichtenfaktoren aussagen, keinesfalls aber die Additivitäts- und die Komplementaritätshyothese von Galtung und Ruge bestätigen. Rosengren forderte, die Berichterstattung in den Medien, die sogenannten Intra-Media-Daten, mit unabhängigen realitätsgetreuen Extra-Media-Daten zu vergleichen.42 Nach seiner Einschätzung waren amtliche Quellen, Statistiken oder Archive in der Lage, ein unabhängiges Bild von der Realität zu vermitteln und sollten diese Extra-Media-Daten liefern. Da nicht zu allen Ereignissen der Realität solche Daten existieren, müsse sich die Forschung auf einige Bereiche beschränken. Rosengren nannte als Beispiele Parlamentswahlen, Regierungswechsel, Vertragsabschlüsse, Zinsänderungen, Unfälle und Katastrophen, wissenschaftliche Kongresse und internationale Sportereignisse. Er selbst untersuchte in einer vergleichenden Inhaltsanalyse der Times (London) mit dem Neuen Deutschland (Ost-Berlin) und der Dagens Nyheter (Stockholm) 272 Parlamentswahlen in 167 Staaten zwischen 1961 und 1970. Die Berichterstattung der Zeitungen verglich er mit statistischen Daten aus „Keesington’s Contemporary Archives“ und anderen offiziellen und halboffiziellen Publikationen.43

Rosengren zeigte in seiner Untersuchung, dass über viele Parlamentswahlen überhaupt nicht berichtet wurde. Über Wahlen, in denen ein Regierungswechsel erfolgte, wurde wesentlich häufiger berichtet als über Wahlen, in denen sich die parlamentarischen Mehrheiten nicht veränderten, obwohl letztere weitaus häufiger waren. Außerdem zeigte Rosengren, dass die Berichterstattung stark von ökonomischen Faktoren abhing. Je höher das Bruttosozialprodukt, Import und Export eines Landes waren, um so intensiver wurde über seine Parlamentswahlen berichtet.44 In der Konsequenz forderte Rosengren das Konzept der psychologisch begründeten Nachrichtenfaktoren aufzugeben und es durch eine politisch ökonomische an physikalischen, soziologischen und wirtschaftlichen Daten ausgerichtete Nachrichtentheorie zu ersetzen.45

Nach Rosengren verglichen weitere Wissenschaftler die Berichterstattung von Massenmedien mit Extra-Media-Daten. „Der wissenschaftliche Ertrag dieses Forschungszweiges ist bislang gering. Der Anspruch, die Berichterstattung an der Realität zu messen, kann nicht eingelöst werden“, resümierte 1997 Christiane Eilders.46

4.3Winfried Schulz

Besonders der Medienwissenschaftler Winfried Schulz setzte sich kritisch mit Rosengrens Ansatz auseinander. Er habe Zweifel, ob Jahrbücher, Kataloge, Archive, Statistiken oder offizielle Dokumentationen mehr Realitätstreue besitzen als Nachrichten. „Selbst bei wohlwollender Zurückhaltung in der Quellenkritik kann man diesen Informationsträgern auch nur den Charakter von Selektion und Interpretation dessen, was die jeweiligen Herausgeber als ,Realität’ sehen oder ausgeben möchten, zubilligen.“47 Zudem enthielten diese Quellen nicht die Spezifika, die Nachrichten ausmachten, nämlich eine Einordnung der Auswirkungen und Ursachen eines Ereignisses. Für Schulz konstruierte die von Rosengren aufgeworfene Frage, ob psychologische oder politisch-ökonomische Faktoren die wirklichen Einflussgrößen bei der Nachrichtenauswahl sind, die falsche Alternative. Er forderte ebenfalls eine theoretische Neuorientierung.48

Zunächst warf Schulz die Abbild-Theorie, nämlich den Glauben, Nachrichten würden Realität widerspiegeln, über Bord. Da die Realität an sich nicht messbar sei, seien auch Nachrichten nur eine Interpretation unserer Umwelt und würden Realität erst konstituieren.49 Damit sei die Frage, ob die Nachrichtenrealität mit der faktischen Realität übereinstimmt, ein falscher Ansatz. Wenn man davon ausgehe, dass Nachrichten nur eine von vielen Definitionen der Realität seien, müssten die Ausgangsfragen der Nachrichtenforschung wie folgt lauten: „Mit welchen Merkmalen ist die von den Nachrichtenmedien konstituierte Welt ausgezeichnet? Welches sind die Kriterien der Selektion, Interpretation und Sinngebung von Realität?“50

Nachrichtenfaktoren sind für Schulz nicht die Merkmale von Ereignissen, sondern journalistische Hypothesen von der Realität. Als zentralen Indikator für die Bedeutung der Nachrichtenfaktoren betrachtete er den Nachrichtenwert von Ereignissen, den er als „eine journalistische Hilfskonstruktion zur Erleichterung der notwendigen Selektionsentscheidungen“ definiert.51 Je größer der Nachrichtenwert eines Ereignisses sei, um so eher werde es von Journalisten berücksichtigt, um so größer sei der Umfang der Meldung und desto prominenter ihre Platzierung. Die Untersuchung von Schulz beruhte auf der Hypothese, „je mehr eine Meldung dem entspricht, was Journalisten für wichtige und mithin berichtenswerte Eigenschaften der Realität halten, desto größer ist ihr Nachrichtenwert.“52 Demnach erhalte man, wenn man die Nachrichtenfaktoren von Meldungen mit hohem und niedrigem Nachrichtenwert vergleicht, Aufschluss darüber, welche Definitionskriterien für Realität Nachrichtenmedien anwenden.

Schulz überarbeitete den Katalog der Nachrichtenfaktoren von Galtung und Ruge, um den Zusammenhang zwischen Nachrichtenfaktor und Nachrichtenwert einer empirischen Untersuchung zu unterziehen. Er gab zu Bedenken, dass bei der Nachrichtenvermittlung nicht nur psychologische sondern auch soziale, politische, ökonomische und technische Faktoren beteiligt seien und teilte insgesamt achtzehn Faktoren in sechs Dimensionen ein:

- Zeit

Unter der ersten Dimension fasst SchulzDauerundThematisierungzusammen. Unter Dauer versteht er die Zeitspanne eines Geschehens, unter Thematisierung die Etablierung eines Themas.53

- Nähe

Zu dieser Dimension gehören laut Schulzräumliche Nähe, kulturelle Näheundpolitische Nähe. Außerdem sortiert er hier den FaktorRelevanzein, also die Betroffenheit und existentielle Bedeutung eines Ereignisses.54

- Status

Hier hat Schulz die bei Galtung und Ruge genannten Faktoren Elite-Person und Elite- Nation in vier Einzelfaktoren aufgegliedert. Schulz nennt mit derregionalen Zentralitätdie ökonomische Bedeutung der Ereignisregion bei innerdeutschen Ereignissen und mit dernationalen Zentralitätdie wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärische Bedeutung bei internationalen Ereignissen. Unterpersönlichen Einflussversteht er die Macht der beteiligten Personen bei politischen Meldungen und unterProminenzdie Bedeutung von Personen bei unpolitischen Ereignissen.55

- Dynamik

Hierzu gehörenÜberraschungundStruktur. Unter Überraschung versteht Schulz genau wie Galtung und Ruge die Erwartbarkeit eines Ereignisses. Mit Struktur meint er das, was Galtung und Ruge Eindeutigkeit nennen. Als Merkmal aller von ihm operationalisierten Faktoren verweist Schulz unter dieser Dimension noch auf den

Aspekt der Intensität, da er eine Intensitätsabstufung der einzelnen Faktoren vornehmen wolle.56

- Valenz

Hier differenziert er den Faktor Negativität in die AspekteKonflikt, KriminalitätundSchaden. Zusätzlich ergänzt er die Gruppe um einen Aspekt von Positivismus mit dem FaktorErfolg.57

- Identifikaion

Unverändert übernimmt er hier von Galtung und Ruge den Faktor derPersonalisierung. Außerdem ergänzt er die Gruppe um den FaktorEthnozentrismus. Darunter versteht Schulz den Bezug eines Ereignisses auf die Bevölkerung eines Landes, in dem das jeweilige Medium erscheint.58

In einer Inhaltsanalyse von zehn Tageszeitungen, den Hauptnachrichtensendungen auf ARD und ZDF, je eines Hörfunkprogramms der Landesrundfunkanstalten, des Deutschlandfunks und des dpa-Basisdienstes im Juni 1975 versuchte Schulz, die Wirksamkeit dieser Faktoren nachzuweisen und seine Thesen zu bestätigen. Kodiereinheit war ein Nachrichtenbeitrag, dessen Beachtungsgrad Schulz in einer vierstufigen Skala festhielt. Je prominenter platziert eine Nachricht war, um so höher stufte der Wissenschaftler ihren Beachtungsgrad ein.59

Als Determinanten für einen hohen Nachrichtenwert ermittelte Schulz die Faktoren Thematisierung und Relevanz. In der internationalen Berichterstattung kamen persönlicher Einfluss und Erfolg hinzu. In der innerdeutschen Politik beeinflussten besonders die Faktoren Überraschung, Konflikt und Schaden den Beachtungsgrad. Schulz stellte in seiner Inhaltsanalyse fest, dass sich die Mehrzahl der erfassten Nachrichten auf das Inlandsgeschehen bezieht. Die Berichterstattung über die DDR und den Ostblock war im untersuchten Zeitraum allerdings geringer als die Berichterstattung über die Länder Westeuropas. „Politische Grenzen hemmen den Nachrichtenfluß wesentlich stärker als geographische Entfernungen“, resümierte Schulz.60

Starke Beachtung finde der Faktor Elite-Person. Nach Schulz’ Einschätzung wird politisches Geschehen vorwiegend am Handeln der Exekutive dargestellt. Dies sei besonders bei Nachrichten aus der internationalen Politik der Fall. „Etwas pointiert könnte man sagen, daß die Politik des Auslands aus den Geschäften und Verlautbarungen der jeweiligen Regierungen und Machthaber besteht.“61 Ein erheblicher Teil der erfassten Nachrichten referierte verbale Äußerungen, Interpretationen und Spekulationen.

Das Bild der Welt in den Nachrichtenmedien erscheint nach Schulz überwiegend „einfach, eindeutig und klar konturiert“.62 Einige besonders umfangreich herausgestellte Ereignisse mit hohem Nachrichtenwert seien jedoch auffallend komplex, mehrdimensional und vielschichtig. Schulz wertete dies als einen Versuch der Medien, wenigstens in einem begrenzten Ausschnitt etwas von der prinzipiellen Vieldeutigkeit und Komplexität realen Geschehens zu vermitteln. Demzufolge erscheint der Faktor Komplexität bei Schulz im Widerspruch zu den Annahmen Galtung und Ruges, die glaubten, dass einfach strukturierte Ereignisse den komplexen grundsätzlich vorgezogen würden. Der Wissenschaftler Joachim Friedrich Staab vermutet, dass es sich bei Schulz’ Annahme um einen Artefakt handelt. Umfangreiche Beiträge besäßen per se eine komplexere Struktur als Kurzmeldungen. Es sei deshalb nicht auszumachen, ob die Komplexität einer Meldung die Ursache für ihren Umfang oder ihr Umfang Ursache für ihre Komplexität ist.63

Winfried Schulz schätzte insgesamt ein, dass unter Journalisten ein ausgeprägter Konsens bestehe, welche Ereignisse zu Nachrichten werden und welche nicht. „Die Definition von Realität, wie sie uns von den Nachrichtenmedien dargeboten wird, orientiert sich an einem weitgehend allgemeinverbindlichen Kanon von Selektions- und Interpretationsregeln.“64 Schulz bewertet die Selektions- und Aufmerksamkeitskriterien der Massenmedien grundsätzlich als funktional, also als systemerhaltend. So erhöhe die Fokussierung auf eine begrenzte Zahl von Themen eine übereinstimmende Nachrichtenkenntnis vieler Menschen und eine gemeinsame Vorstellung davon, was geschieht. Unter dem Gesichtspunkt einer begrenzten Aufmerksamkeit der Menschen sei auch die Strukturdifferenzierung der Medien in komplexe und einfache Konturen als funktional zu bewerten. Kritisch betrachtet Schulz den hohen Nachrichtenwert von Statusfaktoren wie persönlicher Einfluss und Zentralität sowie die mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber Ländern außerhalb Westeuropas.65

In einer zweiten Untersuchung hat Schulz den Katalog der Nachrichtenfaktoren noch einmal modifiziert und versucht, den Einfluss der Nachrichtenstruktur auf die politische Informiertheit der Rezipienten zu ermitteln.

4.4Joachim Friedrich Staab

Nach seiner Kritik an einigen Punkten der Forschungen von Winfried Schulz entwickelte Joachim Friedrich Staab mit einer eigenen Untersuchung die Nachrichtenwert-Theorie weiter. Staab fragte sich, ob das bislang propagierte unpolitische Kausalmodell, das die Ursache für die Auswahl von Nachrichten in „objektiven“ Ereignismerkmalen sucht, angemessen ist, oder ob es nicht durch ein Finalmodell ergänzt werden muss, das die Intentionen der Journalisten bei der Nachrichtenauswahl berücksichtigt.66 Staab vermutete, dass Journalisten einigen Ereignissen Nachrichtenfaktoren bewusst oder unbewusst zuschreiben, um damit ihre, auf politischen Einstellungen oder Absichten basierende, Auswahlentscheidung zu legitimieren. Er integrierte mit dieser Hypothese die Nachrichtenwertforschung in das Konzept der „Instrumentellen Aktualisierung“ von Hans Matthias Kepplinger, der davon ausging, dass Journalisten nicht nur über Themen berichten, weil sie eine natürliche Relevanz haben, sondern weil sie mit der Berichterstattung bestimmte Ziele und Zwecke verfolgen.

Staab untersuchte, inwieweit das apolitische Kausalmodell allgemeine Gültigkeit hat und prüfte, ob die von ihm vorgeschlagene finale Betrachtungsweise angemessen ist. Die Grundlage seiner Forschung bildeten mehrere quantitative Inhaltsanalysen, die auf einem von Hans Mathias Kepplinger überarbeiteten Katalog von 22 Nachrichtenfaktoren beruhten67. Typische Schwächen der bisher verwendeten Kategoriensysteme, wie mangelnde Trennschärfe und ungenügende Differenzierung sollten mit dem neuen Katalog beseitigt werden. Staab unterschied in zwei Klassen von Faktoren: die indizierbaren (quasi- objektiven) und die konsensbedingten (subjektiven). Erstere sind nach Ansicht von Staab intersubjektiv feststellbar und beziehen sich auf die räumliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Nähe eines Ereignisses oder den Status eines Ereignisortes oder Ereignisregion. Zu den konsensbedingten Faktoren zählt Staab persönlichen und

institutionellen Einfluss, Prominenz, Personalisierung, Kontroverse, Aggression, Demonstration, Überraschung, Reichweite, Schaden, Nutzen, Zusammenhang mit Themen, Etablierung und Faktizität. Wie schon Winfried Schulz differenzierte er den Nachrichtenwert in vier Intensitätsstufen. Neben den Nachrichtenfaktoren erfasste Staab auch den Umfang, die Platzierung und das Thema von Beiträgen aus zwei Zeiträumen im Jahre 1984.

Die Ergebnisse zeigten, dass sich Umfang und Platzierung von Beiträgen auf Nachrichtenfaktoren zurückführen ließen. Der Einfluss der Faktoren auf die Platzierung war allerdings wesentlich schwächer als ihr Einfluss auf den Umfang eines Beitrages. Staab beobachtete zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Mediengattungen. „Insgesamt bestätigen diese Befunde damit zwar das Kausalmodell der Nachrichtenwert-Theorie, die geringe Erklärungskraft der Nachrichtenfaktoren für die Plazierung von Beiträgen sowie Unterschiede zwischen einzelnen Mediengattungen und verschiedenen Themenbereichen relativieren jedoch dessen Verallgemeinbarkeit“, resümierte Staab.68 Die besonders hohe Gesamtintensität von Nachrichtenfaktoren bei umfangreichen Beiträgen war nach Ansicht Staabs vor allem darauf zurückzuführen, dass diese Beiträge besonders viele verschiedene Faktoren enthielten statt weniger besonders stark ausgeprägter. Staab nahm daher an, dass die Entscheidung, über ein Ereignis umfangreich zu berichten, auch die Ursache dafür sein kann, dass viele verschiedene Teilaspekte thematisiert werden. Staab untersuchte auch, wie unterschiedlich vier überregionale Qualitätszeitungen über die gleichen Themen berichten. Er kam zu dem Ergebnis, dass alle ausgewerteten Zeitungen in ihren Texten eine sehr unterschiedliche Nachrichtenfaktorenstruktur aufwiesen. Staab führte das darauf zurück, dass die Journalisten einzelne Faktoren unterschiedlich stark gewichten.

Zwar konnte Staab damit seine Vermutung, dass Journalisten Ereignissen Nachrichtenfaktoren explizit und implizit zuschreiben, nicht empirisch bestätigen, mit den beiden aufgeführten Untersuchungen kam er aber zu dem Ergebnis, dass eine rein kausale Betrachtungsweise der Nachrichtenfaktoren nicht haltbar sei. „Das Finalmodell, das die möglicher Nutzen, tatsächlicher Schaden, möglicher Schaden, Zusammenhang mit Themen, Etablierung von Themen, Faktizität

Nachrichtenfaktoren auch als Folgen von Publikationsentscheidungen betrachtet, erwies sich in zumindest gleicher Weise zur Interpretation ihrer Bedeutung geeignet.“69

5. Nachrichtenwert und Rezeption

Bereits Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge nahmen an, dass die Nachrichtenfaktoren nicht nur Auswahlentscheidungen von Journalisten beeinflussen, sondern auch die Entscheidung des Rezipienten für oder gegen einen Beitrag steuern. Sie begründeten diese Annahme damit, dass Nachrichtenfaktoren allgemein-menschliche Selektionskriterien seien, die sich wahrnehmungspsychologisch erklären ließen. Deswegen seien sowohl die Auswahl eines Beitrages als auch die besondere Hervorhebung bestimmter Aspekte in allen Teilen der Nachrichtenkette vom Ereignis bis zum Leser auf Nachrichtenfaktoren zurückzuführen. Auf dieser Annahme basierte die Wiederholungshypothese der beiden Friedensforscher. „The journalist scans the phenomena and selects and disorts, and so does the reader when he gets the finished product, the news pages, and so do all the middle-men.“70 In dieser Kette entstünden dann immer stärkere Verzerrungen, die dazu führten, dass die Nachricht immer weniger mit dem realen Ereignis zu tun habe.

Trotz dieser schon früh geäußerten Vermutung, spielte die Forschung über die Auswirkungen der Nachrichtenfaktoren auf das Bild des Rezipienten lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Eine erste umfassende Studie zu diesem Thema stellte 1997 Christiane Eilders vor. Sie untersuchte nicht nur, wie der von Joachim Friedrich Staab benutzte Katalog von 22 Nachrichtenfaktoren die Auswahl steuert, sondern auch, welchen Einfluss die Faktoren auf die Erinnerung an einen Beitrag haben. Ihre Untersuchung basierte auf Daten aus dem DFG-Projekt „Realitätsvermittlung durch Massenmedien“, das 1984 begann und 1994 mit der gleichnamigen Veröffentlichung von Werner Früh abgeschlossen wurde.

In einem ersten Schritt prüfte Eilders, an welchen Nachrichtenfaktoren sich Journalisten besonders stark orientieren, um so festzustellen, welche Ereignisse von ihnen besonders akzentuiert werden. „So werden vor allem Beiträge zu etablierten und kontroversen Themen, mit prominenten Personen und vielen Betroffenen durch Umfang, Plazierung und Überschriftengröße hervorgehoben“, analysierte Eilders.71 Diese Schwerpunktsetzung

steuere maßgeblich auch das Verhalten der Rezipienten, die sich nach Eilders stark an den Vorgaben der Journalisten orientieren. So würden vor allem Umfang, Platzierung und Überschriftengröße die Nutzung eines Beitrages bestimmen. Darüber hinaus stellte Eilders fest, dass etablierte und kontroverse Themen signifikant stärker beachtet werden als andere. „Die Faktoren Etablierung und Kontroverse hatten sich bereits als wichtige Auswahlkriterien für Journalisten gezeigt. Diese beiden Faktoren scheinen somit tatsächlichallgemein-menschliche Auswahlkriterienzu sein“, fasste Eilders ihre Ergebnisse zusammen.72 Einen negativen Einfluss erkannte Christiane Eilders beim Faktor Nutzen: Je mehr positive Aspekte in einem Beitrag thematisiert wurden, desto geringer war seine Chance, komplett gelesen zu werden.

Der Faktor Nutzen wirkte auch bei der Beitragserinnerung entgegen der Verzerrungshypothese von Galtung und Ruge, nach der jeder Nachrichtenfaktor auf jeder Stufe des Informationsflusses noch stärker zum Tragen kommt. Positive Meldungen wurden weniger erinnert als negative. Eilders kam zu dem Ergebnis, „daß im Publikum das Bedürfnis nach guten Nachrichten offenbar nicht so groß ist wie häufig behauptet.“73 Ein übereinstimmender Einfluss auf Beitragsausauswahl und –erinnerung ergab sich außer beim Nutzen nur beim Faktor Kontroverse. Fördernd für eine Erinnerung aber ohne nachweislichen Einfluss auf die Auswahl eines Beitrages sind nach Eilders zudem die Faktoren Einfluss beziehungsweise Prominenz, Personalisierung, Schaden und Überraschung. Faktizität und Reichweite wirkten sich neben dem bereits erwähnten Nutzen negativ auf eine Beitragserinnerung der Testpersonen aus.

Ihre Probanden teilte Christiane Eilders nach der Untersuchung in vier Gruppen: die Erhöher, die Konzentrierer, die Verringerer und die Nivellierer. Letztere Gruppe war mit weniger als zehn Prozent die kleinste. Nivellierer erinnern hauptsächlich die niedrig ausgeprägten Nachrichtenfaktoren, während sie die hoch ausgeprägten vernachlässigen. Bei ihnen bestätigten sich demnach die Wiederholungs- und Verzerrungshypothese von Galtung und Ruge nicht. Auch bei den Verringerern, die etwa 15 Prozent aller Testpersonen ausmachten, hat sie keine Gültigkeit, da sie alle Faktoren insgesamt als weniger bedeutsam wahrnehmen.

Weit über die Hälfte aller Probanden erinnerte sich besonders an die stark ausgeprägten Faktoren wohingegen sie die schwach ausgeprägten vernachlässigten. Sie gehören zur

Gruppe der Konzentrierer. Die Erhöher, die 17 Prozent der Stichprobe ausmachten, maßen allen Faktoren eine starke Bedeutung bei. Bei beiden zuletzt genannten Gruppen wurden somit Wiederholungs- und Verzerrungshypothese bestätigt, nach denen die Nachrichtenfaktoren auf jeder Stufe des Nachrichtenflusses noch stärker zum Tragen kommen, wohingegen andere Aspekte immer mehr vernachlässigt werden.

Interessant an der Aufteilung von Christiane Eilders ist vor allem, dass besonders gut gebildete Personen sich am wenigsten an den Nachrichtenfaktoren orientierten. „Sie sind entweder auf die Relevanzvorgaben der Journalisten nicht angewiesen oder stehen diesen skeptisch gegenüber: Sie vertrauen eher ihren eigenen Relevanzzuweisungen als den medialen Vorgaben.“74 Eine Ausnahme machten nur die Journalisten selbst, die obwohl sie zu den besser Gebildeten zählen, sich besonders stark an den Nachrichtenfaktoren orientierten.

Eilders fasste zusammen, dass Nachrichtenfaktoren neben der journalistischen Entscheidung für oder gegen einen Beitrag auch die Verarbeitung der Rezipienten steuern. Allerdings müsse es zu denken geben, dass die Vorstrukturierung der Beiträge über Nachrichtenfaktoren an den Bedürfnissen der gut informierten Rezipienten vorbei gehe, obgleich sie den weniger informierten eine nützliche Orientierungshilfe seien.75

In einem zweiten Experiment untersuchte Christiane Eilders zusammen mit Werner Wirth das Zusammenwirken der Faktoren bei der Rezeption und Verarbeitung von Nachrichten. In dieser Studie sollte der Einfluss von Umfang, Platzierung und Größe der Überschrift eines Beitrages ausgeschlossen werden. Den Testpersonen wurden jeweils fiktive gleich lange Meldungen vorgelegt, die sie später erinnern sollten.

Die Autoren vermuteten, dass einzelne Faktoren in den Beiträgen nicht nur prinzipiell stärker wirken als andere, sondern dass manche ihre volle Wirkung nur in Kombination mit anderen entfalten. Diese Vermutung konnten sie weitgehend belegen. Für die Faktoren Personenstatus, Personalisierung und Überraschung bestätigten Eilders und Wirth das uneingeschränkte Additivitätsmodell. Sie haben unabhängig vom Gesamtnachrichtenwert einer Meldung zu einer Verbesserung der Erinnerung beigetragen. Bei den Faktoren Reichweite und Kontroverse zeigte sich, dass sie lediglich als Begleitfaktoren, also zusammen mit anderen Faktoren eine starke Erinnerungswirkung entfalteten. Beim Faktor

Überraschung zeigte sich ein deutlicher Schwelleneffekt. „Erst bei Ereignissen mit hohem Nachrichtenwert (begleitende Faktoren sind stark ausgeprägt) entfalten in der Meldung enthaltene Überraschungsmomente ihr Wirkungspotential.“76

Die Ergebnisse der Untersuchung veranlassten Eilders und Wirth zu dem Schluss, dass sich die Vorstellungen, die sich Rezipienten von den in den Medien berichteten Ereignissen machen, stark an Nachrichtenfaktoren orientieren. „Journalisten bereiten Nachrichten im Großen und Ganzen so auf, wie es den Relevanzstrukturen des Publikums entspricht.“ Fraglich bleibe aber, welchen Anteil an der Übereinkunft tatsächlich evolutions- und wahrnehmungspsychologische Ursachen und welchen Anteil Sozialisationsprozesse und Gewohnheitseffekte hätten.77

6. Die Theorie in journalistischen Praxisbüchern

Bereits nach der Veröffentlichung des BuchesPublic Opinionvon Walter Lippmann 1922 übernahmen amerikanische Bücher zur Journalistenausbildung dessen Grundkonzept und nannten hauptsächlich sechs Faktoren, die ein Ereignis zur Nachricht machen können. Das waren Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeit, Konflikt und Bedeutung.78 Auch die beiden auflagenstärksten deutschen Handbücher zur Journalistenausbildung nennen Faktoren, die ein Ereignis interessant und deshalb berichtenswert machen.

Nach Walther von La Roche müssen Nachrichten „Aktualität“ besitzen und „Allgemeines Interesse“ wecken.79 Unter Aktualität bei La Roche kann man im weitesten Sinne das Verstehen, was Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge als Frequenz und Kontinuität in die Nachrichtenwertforschung eingeführt haben. Aktualität meine „die Veränderung, die innerhalb des Berichtszeitraumes (wenige Stunden bei Radionachrichten, 24 Stunden bei Tageszeitungen, sieben Tage bei Wochenzeitungen) eingetreten ist.“80 La Roche unterscheidet zwischen zeitlicher Unmittelbarkeit, selbstgeschaffener Aktualität und der erweiterten Aktualität. Unter selbstgeschaffener Aktualität versteht er Themen, die Journalisten selbst aufgegriffen und recherchiert haben. Es wird also nicht über ein Ereignis berichtet, sondern ein Journalist hat einen Verdacht, recherchiert weiter und indem er sein Material veröffentlicht, macht er das Thema aktuell. Eine erweiterte Aktualität liegt laut La

Roche dann vor, wenn ein Thema eingeführt und etabliert wurde, so dass es erneut aufgegriffen werden kann. Aktualität sei nicht nur die einzelne Veränderung sondern auch das, was in der Öffentlichkeit als Thema gerade wichtig erscheint.

Allgemeines Interesse wecken Ereignisse laut La Roche vor allem dann, wenn sie folgende Bestandteile beinhalten: Folgenschwere oder Wichtigkeit, Nähe, Fortschritt, Konflikt, Kampf, Dramatik, Prominenz, Liebe und Sex, Kuriosität, ungewöhnlicher Ablauf und Gefühl.81 In dieser Liste finden sich zumindest einige der Faktoren aus der sozialwissenschaftlichen Forschung wieder.

DasABC des Journalismus, herausgegeben von Claudia Mast, druckt im zweiten Kapitel die Faktorenliste von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge ab, ohne auf die Weiterentwicklung durch Winfried Schulz oder Joachim Friedrich Staab einzugehen.82 Im Kapitel „Bearbeiten“ wird noch einmal auf den Nachrichtenwert eingegangen. Demnach definiere sich der Nachrichtenwert entweder über die Bedeutung einer Sache an sich oder über das Interesse des Publikums an der Information. Die Bedeutung erkenne man vor allem anhand des Ausmaßes eines Ereignisses und dessen Konsequenzen unter dem Aspekt der Reichweite. Das Publikumsinteresse werde beispielsweise beeinflusst durch den Ort eines Ereignisse und seine Wichtigkeit für das Publikum (Nähe), den Bekanntheitsgrad involvierter Personen (Prominenz), den Neuigkeitswert und die Aufgeschlossenheit für ein Thema (Aktualität) sowie über menschliche beziehungsweise emotionale Aspekte eines Ereignisses (human interest).83

Die Empfehlungen beider Bücher zur Journalistenausbildung decken sich grob mit dem, was Wissenschaftler an Nachrichtenfaktoren in journalistischen Beiträgen ausgemacht haben. Die Frage, ob die sozialwissenschaftliche Forschung die Lehrbuchautoren beeinflusst oder die Anwendung der Ratschläge durch Journalisten zu den Ergebnissen in der sozialwissenschaftlichen Forschung beigetragen hat, muss offen bleiben.

Um seinen Katalog zu veranschaulichen hat La Roche eine Nachricht erfunden, die alle Faktoren in sich vereint: „Der Industrielle Bob Miller (Prominenz) aus unserer Stadt (Nähe) übergibt auf dem Sterbebett (Gefühl) seiner Geliebten (Sex) die Konstruktionspläne (Fortschritt) einer Wunderwaffe (Folgenschwere und Wichtigkeit), die er trotz wiederholter verlockender Angebot und Erpressungsversuche (Konflikt, Kampf) und eines Einbruchs in seinem Safe (Dramatik) bis heute verwahrt hat (Gefühl); jetzt aber taugen sie, weil überholt, nur noch zum Bau von Kinderspielzeug (Kuriosität, ungewöhnlicher Ablauf).“

7. Zusammenfassung

Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge haben mit ihrer Veröffentlichung über die Zusammenstellung ausländischer Nachrichten und der damit verbundenen Nachrichtenwert-Theorie zu zahlreichen Untersuchungen angeregt. Insgesamt gilt ihre These als bestätigt, dass bestimmte Merkmale von Ereignissen das Interesse von Journalisten wecken. Uneinigkeit herrscht in der Forschung darüber, wie stark einzelne Merkmale beziehungsweise Nachrichtenfaktoren wirken.

Die Forderung von Karl Eric Rosengren, man müsse Nachrichten mit der Realität vergleichen, um über die Wirksamkeit der Nachrichtenfaktoren etwas aussagen zu können, wurde von Winfried Schulz zurückgewiesen. Schulz gab zu bedenken, dass die Realität gar nicht messbar sei und die Nachrichtenfaktoren deshalb nur etwas darüber aussagen können, was für Ereignisse Journalisten in ihrer Vorstellung von der Realität für wichtig halten. Dieser Ansatz wurde von Joachim Friedrich Staab ausgebaut zu der Annahme, dass Journalisten bestimmten Ereignissen Nachrichtenfaktoren erst zuschreiben, um damit ihre subjektive Auswahlentscheidung zu legitimieren. Staab konnte diese These zwar nicht belegen, kam aber zu dem Ergebnis, dass sie nicht weniger glaubwürdig sei wie eine Betrachtungsweise, welche die Ursachen einer Auswahl von Nachrichten in objektiven Ereignismerkmalen sucht.

Wie Nachrichtenfaktoren die Auswahl des Rezipienten bestimmen und welchen Einfluss sie auf die Erinnerung an einzelne Beiträge haben, analysierte ausführlich Christiane Eilders. Sie konnte zeigen, dass sich auch der Leser stark an Nachrichtenfaktoren und der Vorgabe der Journalisten orientiert. Über die Hälfte ihrer Untersuchungsteilnehmer akzentuierte in ihrer Erinnerung besonders die Aspekte mit Nachrichtenfaktoren. Damit konnte Christiane Eilders die Wiederholungs- und Verzerrungshypothese von Galtung und Ruge belegen. Insgesamt kam sie zu dem Ergebnis, dass Nachrichtenfaktoren tatsächlich allgemein gültig und wahrnehmungspsychologisch zu begründen seien.

Sowohl Winfried Schulz als auch Christiane Eilders sehen positive und negative Aspekte der Nachrichtenfaktoren für das politische System. Beide heben die Vorstrukturierung der komplexen Welt durch Journalisten als positiv hervor. Eilders kritisiert aber, dass die Vorstrukturierung an den gut informierten Rezipienten offenbar vorbei geht. Schulz bemängelt den hohen Einfluss von Statusfaktoren und die geringere Beachtung von Ereignissen außerhalb der westlichen Welt.

Eine endgültige Bewertung, in welchem Ausmaß Nachrichtenfaktoren positiv oder negativ für das politische System sind, ist schwierig, da sie viele andere medienwissenschaftliche Theorien tangieren. So muss man sich fragen, ob das Wissen von Politikern über Nachrichtenfaktoren nicht Ursache für die Inszenierung von Politik ist. Politiker können versuchen, journalistische Auswahl zu steuern, indem sie Nachrichtenfaktoren in ihren Statements und Pressemeldungen berücksichtigen. Etwas Emotion, Anknüpfung an bereits Bekanntes und eine möglichst klare Struktur in einer politischen Botschaft würden die Chance, dass sie zur Nachricht wird, begünstigen.

Letztlich ist es wichtig zu wissen, dass Nachrichten nur eine Auswahl und Interpretation von Realität darstellen. Und dass hinter der Auswahl möglicherweise Absichten stecken – von Politikern oder Journalisten, die Ereignissen Nachrichtenfaktoren erst zuschreiben. Je mehr Menschen sich dessen bewusst sind, um so schwächer wirken einige disfunktionale Aspekte von Nachrichtenfaktoren.

8. Literatur

- Eilders, Christiane und Wirth, Werner: Die Nachrichtenwertforschung auf dem Weg zum Publikum: Eine experimentelle Überprüfung des Einflusses von Nachrichtenfaktoren bei der Rezeption, in: Publizistik, 44. Jahrgang, Heft 1, 1999, S. 35-57

- Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information, Opladen 1997

- Galtung, Johan & Ruge, Mari Holmboe: The structure of Foreign News, in: Sociology, A Reader, London 1970, S. 259-297

- La Roche, Walther von: Einführung in den praktischen Journalismus, München und Leipzig 1992

- Lippmann, Walter: Public Opinion, New York 1949

- Mast, Claudia (Hrsg.): ABC des Journalismus, Ein Leitfaden für die Redaktionsarbeit, Konstanz 1998

- Meyn, Hermann: Massenmedien in Deutschland, Konstanz 1999

- Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, in: Journal of Peace Research, 1/1965, Oslo 1965, S. 39-63

- Rosengren, Karl Eric: International news: methods, data and theory, in: Journal of Peace Research, 2/1974, Oslo 1974, S. 145-156

- Sande, Øystein: The Perception of Foreign News, in: Journal of Peace Research, 3- 4/1971, Oslo 1971, S. 221- 237

- Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg/München 1990

- Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, Formale Struktur und empirischer Gehalt, Freiburg/München, 1990

[...]


1 Lippmann, Walter: Public Opinion, S. 338

2 Alle Angaben nach Auskunft der Chefredaktionen oder Geschäftsführungen von 1997, veröffentlicht in Meyn, Hermann: Massenmedien in Deutschland, S. 262

3 Lippmann, Walter: Public Opinion, S. 338

4 Lippmann, Walter: Public Opinion, S. 352

5 Lippmann, Walter: Public Opinion

6 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 49

7 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 49-52

8 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 54

9 Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, S. 45

10 Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, S. 46-48

11 Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, S. 48-51

12 Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, S. 51

13 Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, S. 55

14 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 58

15 Galtung, Johan & Ruge, Mari: The structure of foreign news, S. 261

16 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 262-263

17 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 263

18 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 263

19 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 263-264

20 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 264

21 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 264

22 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 264

23 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 264-265

24 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 266

25 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 266

26 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 266-267

27 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 267-268

28 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 270

29 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 270-271

30 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 277-280

31 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 280-282

32 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 282-283

33 Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 283-285

34 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 20

35 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 27-28

36 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 64

37 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 64

38 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 57

39 Øystein Sande wählte den Aftenposten, das Dagbladet und die Nordlys

40 Sande, Øystein: The Perception of Foreign News, S. 228-231

41 Sande, Øystein: The Perception of Foreign News, S. 231

42 Rosengren, Karl Eric: International News, S. 146-147

43 Rosengren, Karl Eric: International News, S. 151

44 Rosengren, Karl Eric: International News, S. 152-154

45 Rosengren, Karl Eric: International News, S. 154 wörtlich: „Replace the psychological theory of Galtung & Ruge by an economic, political and sociological theory of flow and structure of international news.“

46 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 50

47 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 25

48 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 27

49 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 28

50 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 28

51 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 30

52 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 30

53 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 32

54 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 33

55 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 33

56 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 33-34

57 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 34

58 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 34

59 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 38

60 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 53

61 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 116

62 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 115

63 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 91

64 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 117

65 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, S. 121

66 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 96

67 Staab arbeitete mit folgenden Faktoren: räumliche Nähe, politische Nähe, wirtschaftliche Nähe, kulturelle Nähe, Status der Ereignisnation, Status der Ereignisregion, institutioneller Einfluss, persönlicher Einfluss, Prominenz, Personalisierung, Kontroverse, Aggression, Demonstration, Überraschung, Reichweite, tatsächlicher Nutzen,

68 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 212

69 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 214

70 Galtung & Ruge: The structure of foreign News: S. 270

71 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 212

72 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 213

73 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 260

74 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 266

75 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, S. 267-268

76 Eilders, Christiane und Wirth, Werner: Die Nachrichtenwertforschung auf dem Weg zum Publikum, S. 52

77 Eilders, Christiane und Wirth, Werner: Die Nachrichtenwertforschung auf dem Weg zum Publikum, S. 55

78 Staab, Joachim Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie, S. 49

79 La Roche, Walther von: Einführung in den praktischen Journalismus, S. 61-64

80 La Roche, Walther von: Einführung in den praktischen Journalismus, S. 68

81 La Roche, Walther von: Einführung in den praktischen Journalismus, S. 69-75

82 Mast, Claudia (Hrsg.): ABC des Journalismus, S. 45-46

83 Mast, Claudia (Hrsg.): ABC des Journalismus, S. 226-227

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Nachrichtenwert-Theorie
Hochschule
Universität Leipzig
Veranstaltung
Massenmedien und Politik
Autor
Jahr
2000
Seiten
27
Katalognummer
V98805
ISBN (eBook)
9783638972567
ISBN (Buch)
9783656693857
Dateigröße
447 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nachrichtenwert-Theorie, Massenmedien, Politik
Arbeit zitieren
Ralf Geissler (Autor:in), 2000, Nachrichtenwert-Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98805

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