Die schillernde Figur Heinrich V.


Seminararbeit, 2001

15 Seiten, Note: 1-


Leseprobe


A. Einleitung

Die Historie The Life of Henry the Fifth, die von William Shakespeare im Jahr 1599 geschrieben wurde, beschäftigt sich sowohl mit der historischen Person Heinrich V. als auch mit den soziohistorischen Hintergründen, die Heinrich zu dem Idealherrscher erhoben, als der er sogar noch heute gefeiert wird. Heinrich V. wurde im August 1387 in Monmouth als Sohn und Nachfolger Heinrich IV. in ein England voller Unruhe, Aufstände und Widerstand gegen den König, der als Usurpator verachtet wurde, geboren. Nach einem anfangs sehr zügellosen Leben wurde er zu einem beliebten Herrscher, der während des Hundertjährigen Krieges in England eine ungewöhnliche Atmosphäre schuf: Eine Atmosphäre der Ruhe und Loyalität gegenüber dem Königshaus. Es gelang ihm, Frankreich in der Schlacht bei Agincourt zu besiegen und Aufstände der religiösen Sekte der Lollards zu vereiteln.

Seit dem Jahr 1980 jedoch geriet das perfekte Bild des Monarchen allmählich ins Wanken. Forscher warfen die Frage auf, ob Heinrich V. nicht doch mehr machiavellistische Züge vereinte als die des idealen Herrschers. Bis zu dieser Zeit bestand kein Zweifel daran, daß der in der Elisabethanischen Zeit aufgekommene Tudor Mythos von Heinrich V. verkörpert wurde.

Diese Arbeit soll die schon weit verbreitete Bewunderung für diesen jungen Herrscher nochmals beleuchten und darüber hinaus auch verdeutlichen, wie es Shakespeare gelang, die Vielseitigkeit dieses Mannes in seinem Drama darzustellen, was ich an einigen Textbeispielen und zwar vor allem an der Rede zum St. Crispian’s Day zeigen werde.

Allerdings liegt dieser Arbeit nicht nur die einseitige Sichtweise zugrunde, die durch den Tudor Mythos begründet wurde, ich möchte außerdem auf andere Interpretationsweisen deuten, die in den letzten Jahren vertreten wurden. Ziel dieser Arbeit soll es daher sein, diesen schmalen Grat, der die Forscher scheidet, zu beleuchten, um am Ende zu einer gefestigten Meinung zu kommen.

1. Die jungen Jahre

Bevor Heinrich nach dem Tod seines Vaters 1413 den Thron bestieg und sich zu dem bewunderten Idealherrscher entwickelte, war er nicht mehr als ein rebellischer ‚Hooligan‘, eine Schande für seinen Vater, ein rückgratloser Nichtsnutz. Schon in den Dramen Henry IV Part 1 und Part 2 tritt der zukünftige König Heinrich V. auf, jedoch als zügelloser Trunkenbold und Dieb, dem nichts an den politischen Ereignissen in seinem Land zu liegen scheint. Prinz Hal verbringt den Großteil seiner Zeit in der Gesellschaft von Falstaff und dessen Kumpanen in einer Kneipe in Eastcheap, anstatt sich um seine Verpflichtungen im Parlament zu kümmern.

a) Die Zeit mit Falstaff

Falstaff ist eine der Figuren, die auf den zukünftigen König einen großen Einfluß ausüben. Prinz Hal wird in die Gruppe Trunkenbolde eingereiht, mit denen er Feste feiert und auf Raubzüge geht. Falstaff wird zu einer Art Ersatzvater für den jungen Prinzen, der permanent versucht, den Jungen zu erziehen und zu verführen. Falstaff ist Shakespeares berühmteste Verführer-Figur (vice) der mittelalterlichen Moralitäten. Es folgt ein erbitterter Kampf um Prinz Hal, der von der Tugend auf der einen Seite und dem komisch-teuflischen Laster auf der anderen Seite ausgetragen wird. Zu Anfang des ersten Teils von Henry IV scheint es, als würden Falstaffs Erziehungsmethoden Früchte tragen, jedoch wird dem Leser gleich nach dem ersten Akt bewußt, daß Prinz Hal wohl seine eigenen Vorstellungen durchsetzen wird. Trotz seines für einen Prinzen unüblichen Lebenswandels ist er sich seiner Zukunft als Herrscher vollkommen bewußt. Dieses wird immer wieder durch die verächtlichen und spöttischen Gespräche deutlich, die er mit Falstaff führt. Falstaff hingegen ist der Meinung, daß sich ihm und seinem jungen mächtigen Freund nichts in den Weg stellen wird, daß nichts die Freundschaft zerstören wird. Doch schon in Shakespeares Henry IV Part 1 läßt der Prinz hindurchscheinen, daß seine Freundschaft mit Falstaff nicht für die Ewigkeit bestimmt ist:

Sir John: [...] shall there be gallows standing in England when thou art king, and resolution thus fubbed as it is with the rusty curb of old father Antic the law? Do not thou when thou art king hang a thief. Prince Harry:No, thou shalt.1 Akt 1,Szene 2 (58-62)

Falstaff versucht, sich zu vergewissern, daß die bevorstehende Krönung den Prinzen nicht verändern wird und daß er seine Freunde nicht im Stich lassen wird. Falstaff erhofft sich sogar Vorteile von dem einflußreichen Hal. Hal jedoch legt sich auf nichts fest und die Aussage „No, thou shalt.“ gibt Falstaff keine eindeutige Antwort.

Am Ende des ersten Aktes rechtfertigt Hal sein Verhalten vor dem Publikum:

Yet herein will I imitate the sun, Who doth permit the base contagious clouds To smother up his beauty from the world, That when he please again to be himself, Being wanted he may be more wondered at By breaking through the foul and ugly mists Of vapour that did seem to strangle him.

[...]

My reformation, glitt’ring o’er my fault, Shall show more goodly and attract more eyes Than that which hath no foil to set it off. I’ll so offend to make offence a skill, Redeeming time when men think least I will. Akt 1,Szene 2 (194-214)

Er bringt klar zum Ausdruck, daß er sich eines Tages zum Guten wandeln wird und dadurch allen Skeptikern, vor allem seinem Vater zeigen wird, daß er seines Amtes würdig ist. Hal ist der Meinung, daß er durch die Verwandlung vom Lebemann zum verantwortungsbewußten Herrscher noch mehr Lob und Bewunderung erlangen wird.

In der bezeichnenden Spiegelszene im zweiten Akt sagt es Hal ohne Umschweife. Falstaff und Hal üben Hals Auftreten vor dem König. Falstaff, der zum Schluß den Hal spielt, bittet Hal, der seinen Vater spielt, Falstaff und seine Freunde nicht zu verlassen, worauf Hal gefühllos erwidert: „I do, I will!“ (Akt 2, Szene 5 (286)). Dadurch werden Hals Absichten mehr als deutlich, die Freundschaft zwischen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

den beiden wird Hals Krönung nicht überdauern. Der an dieser Stelle bedauernswerte Falstaff wird in Shakespeares Henry V an diesem Kummer zugrundegehen.

b) Des Vaters Leid

Von den Wandlungsplänen seines Sohnes weiß Heinrich IV. nichts. Er sieht nur den Nichtsnutz, der seine Zeit mit „Asozialen“ in Kneipen verbringt. Nachdem Heinrich IV. Richard II. gestürzt und somit unrechtmäßig den Thron bestiegen hat, wird er von Schuldbewußtsein gequält, er setzt deshalb seine ganze Hoffnung auf seinen Nachfolger Prinz Hal, die nicht erfüllt wird: „The hope and expectation in thy time is ruined, and the soul of every man prophetically do forethink thy fall.“ (Akt 3, Szene 3 (36-38)). Da dieser aber seinen exzessiven Lebensstil nicht aufgibt, glaubt Heinrich IV., das sei die Vergeltung für seine Sünden:

But thou dost in thy passages of life Make me believe that thou art only marked For the hot vengeance and the rod of heaven To punish my mistreadings. Akt 3, Szene 3 (8-11)

Er ist so verzweifelt, daß er selbst seinen schlimmsten Feind dem Sohn vorzieht. Hotspur wäre seiner Meinung nach der ideale Sohn: „He hath more worthy interest to the state than thou, the shadow of succession...“ (Akt 3, Szene 3 (98- 99)).

Der Earl of Warwick jedoch versucht, den enttäuschten König zu besänftigen, denn er scheint hinter die Fassade des Prinzen zu blicken und seine Pläne zu durchschauen; er ist der einzige, der schon in Hals jungen Jahren seine Führungsqualitäten erkennt:

The Prince but studies his companions, Like a strange tongue, wherein, to gain the language, ‘Tis needful that the most immodest word Be looked upon and learnt, which once attained

[...] The Prince will in the perfectness of time Cast off his followers, and their memory Shall as a pattern or measure live By which his grace must mete the lives of other, Turning past evils to advantages. Akt 4, Szene 3, (67-78)

Warwick rät dem König, die Laster seines Sohnes nicht zu ernst zu nehmen, denn seiner Meinung nach erforscht der Prinz nur sein zukünftiges Volk, als ob er eine Fremdsprache lernen würde, die ihm später von Nutzen sein wird. Bei Zeiten wird er seine Freunde schon verstoßen und das jetzige Übel in seinen Vorteil verwandeln. Im Krieg mit Frankreich wird Heinrich V. die Vorteile dieser „Schule“ nützen können, indem er sich als Herrscher des Volkes präsentiert und nicht als ein Herrscher der Adelsinteressen. Das wird sich besonders in der Rede zum St. Crispian’s Day zeigen.

c) Der junge Krieger

Trotz seines Vaters Mißgunst und Skepsis weiß sich Hal zu beweisen, denn er ist ein geschickter Soldat und versteht es, sich auf dem Schlachtfeld gegen seine Feinde zu behaupten. Schon im Alter von 14 Jahren kommandiert er die englischen Truppen im Kampf gegen die von Owen Glendower angeführte walisische Revolte.

Mit 16 muß er sich seinem Widersacher Hotspur stellen. Die beiden treffen in der Schlacht bei Shrewsbury im Jahre 1403 aufeinander. Hal führt die königliche Armee an, die die Percy Familie besiegt.

Hotspur ist nicht nur sein politischer Feind, sondern auch sein privater Widersacher, denn in allem wird Hal mit Hotspur verglichen. Insofern kann der Sieg, der mit dem Tod Hotspurs endet, als doppelter Sieg gesehen werden. Zum einen hat er dadurch seinem Land gedient und zum anderen die Erwartungen seines Vaters erfüllen können.

2. König Heinrich V.

Nachdem sein Vater seiner langjährigen Krankheit erlegen ist, besteigt Hal als Heinrich V. 1413 den Thron. Aus dem zügellosen Prinzen wird über Nacht ein fähiger und bewunderter Herrscher. Wie Heinrich V. seinen Freunden schon in der Spiegelszene im ersten Teil von Henry IV angedroht hat, verstößt er sie und vor allem Falstaff nach der Krönung mit den Worten: „I know thee not old man. Fall to thy prayers!“ (Akt 5, Szene 3, (47-48)). Nicht nur, daß er die Freundschaft zu ihnen leugnet, er verbannt sie sogar auf Lebenszeit und es wird ihnen bei Todesstrafe angedroht, sich ihm bis auf zehn Meilen zu nähern. Seine schon angekündigte Verwandlung hat nun stattgefunden: „For God doth know, so shall the world perceive. That I have turned away my former self; So will I those that kept me company.“ (Akt 5, Szene 3, (57-59))

Es besteht die Möglichkeit, daß die Geschichten von Heinrichs zügelloser Jugend und seiner prompten Besserung eine Erfindung von Shakespeare sein könnten. Jedoch lassen sich die Geschichten über Heinrichs junge Jahre bis 1440 zurückverfolgen. Natürlich darf man die Realität nicht mit den Übertreibungen des Elisabethanischen Theaters gleichsetzen.

a) Der Idealherrscher

Nach der mittelalterlichen Herrschaftsauffassung mußte ein idealer Herrscher, welcher durch Gottesgnadentum auserwählt war, weise, gerecht und verantwortungsbewußt mit seinem Volk umgehen. Er mußte nach Gotteswillen handeln und nicht nach seinem eigenem. So wurde sichergestellt, daß der König seine Macht nicht ausnützen würde.

Nach der damaligen Vorstellung eines Herrschers vereinigte Heinrich V. all die Eigenschaften, die einen idealen Herrscher ausmachten. Er hatte „Sinn für Gerechtigkeit, aber auch die notwendige Härte, politisches Verantwortungsbewußtsein und Fürsorgepflicht; staatsmännisches Augenmaß bei der Abwägung zwischen politischen Interessen und Bindungen; Bewährung in kriegerischen Auseinandersetzungen.“2

Wie kann nun die Verwandlung des Königs gedeutet werden? Entweder hat ihm der Tod seines Vaters die Augen für seine wahren Verpflichtungen geöffnet oder aber er hat sich über einen gewissen Zeitraum zu einem verantwortungsbewußten Menschen entwickelt.

Ich bin der Meinung, daß Heinrich V. seine überraschende Wandlung schon lange geplant hat, wie ich es oben beschrieben habe. Er hatte nie die Absicht, seine Freundschaft mit der Kneipengesellschaft aufrechtzuerhalten, wie er es selbst schon in Henry IV angekündigt hat.

Dies läßt den so beliebten König in einem sehr berechnenden und kaltblütigen Licht erscheinen. Berechnend insofern, als er durch plötzliche Tugendhaftigkeit noch mehr Bewunderung erfahren kann. Allerdings war sein Benehmen seinen Freunden gegenüber - von den elisabethanischen Verhaltensstandards aus gesehen - sogar moderat und gerecht.3 Heinrich war als „kalküler und beherrschter Mensch bekannt: Ein Eisblock im Vergleich zum hitzigen Hotspur. Er war ein effizienter König und militärischer Führer, sein komplexes Inneres bleibt verborgen. Jedoch steckt auch Leidenschaft und Anlage zur Wut in ihm, wie er nach dem Massaker der Jungen bei Agincourt zeigt.“4

b) Die Schlacht bei Agincourt

Das historische Bild Heinrich V. ist besonders durch seinen Ruf als Soldat und seine militärischen Erfolge geprägt. Es gelang ihm, durch spektakuläre Erfolge in Frankreich den außenpolitischen Einfluß der englischen Krone zu stärken und die innenpolitische Stimmung nach einer Zeit der Entbehrungen zu stärken. Heinrich V. konnte aufgrund seiner Verwandtschaft mit Edward Black Prince of Wales Ansprüche an die französische Krone stellen. Nachdem der junge König von der Gegenseite mit einer Sendung von Tennisbällen verspottet und nicht ernst genommen wurde, zog dieser Konsequenzen. Er setzte 1415 den Hundertjährigen Krieg mit Frankreich fort. Frankreich, das durch einen Konflikt mit Burgund und Orleans geschwächt war, wurde von den Engländern noch im Jahr 1415 bei Harfleur und vernichtend in der Schlacht von Agincourt geschlagen. Obwohl die Engländer in der Unterzahl waren und durch die Anstrengungen der bisherigen Kämpfe geschwächt, waren sie in der Lage, die Übermacht der Franzosen zu schlagen. Diese hatten das enge Schlachtfeld bei Agincourt gewählt, was ihnen und ihren sperrigen Rüstungen zum Verhängnis wurde.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Schlacht bei Agincourt war eine der herausragenden Leistungen des jungen Königs. Er bewies kriegerisches Geschick und strategisches Können. Darüber hinaus verstand er es, eine demoralisierte und geschwächte Truppe neu zu mobilisieren:

This day is called the Feast of Crispian. He that outlives this day and comes safe home Will stand a-tiptoe when this day is named And rouse him at the name of Crispian. He that shall see this day and live t’old age Will yearly on the feast his neighbours And say, ‘Tomorrow is Saint Crispian.‘ Then will he strip his sleeve and show his scars And say, ‘These wounds I had on Crispin’s Day‘. Old men forget; yet all shall be forgot, But he’ll remember, with advantages, What feasts he did that day.

[...] This story shall the good man teach his son, And Crispin Crispian shall ne’er go by From this day to the ending of the world But we in it shall be rememberèd, We few, we happy few, we band of brothers.5 Akt 4, Szene 3 (40 - 60)

In dieser Rede, die als Rede zum St. Crispian’s Day bekannt ist, zeigt Heinrich sich als Kamerad und Bruder anstelle eines höhergestellten Herrschers. Er setzt sich mit seinen Soldaten auf die gleiche Stufe.

c) Der Tudor Mythos

Der Streit zwischen den englischen Adelshäusern Lancaster und York, der als Rosenkriege in die Geschichte einging, hatte für England ruinöse Folgen. Die Urschuld dieser Auseinandersetzung beginnt mit der illegitimen Absetzung König Richard II. durch Heinrich IV. im Jahre 1399. Seine Regentschaft war aufgrund fehlender Legitimität von Aufständen und Unruhen begleitet. Sein Sohn Heinrich V. wird nach seinem Lotterleben zum Idealherrscher, wohingegen sein Nachfolger, Heinrich VI., zum Spielball politischer Mächte wird, was den totalen Niedergang zur Folge hat. Richard III. war ein Herrscher von unglaublicher Grausamkeit und Gewalt. Erst nach dessen Tod und der Einsetzung des TudorHerrschers Heinrich VII. kehrt wieder Ruhe in England ein.

Diese Ereignisse gehören nach damaligem Glauben alle in den Schuld-Sühne- Zyklus, der von Heinrich IV. ausgelöst wurde. Könige waren von Gott auserwählt, sie unterstanden dem Gottesgnadentum. Wurde die Krone, wie durch Heinrich IV. durch Usurpation erlangt, hatte das ein göttliches Strafgericht zur Folge. Bei Heinrich VII. allerdings wurde diese Reihe unterbrochen und er war daher unweigerlich das Objekt göttlicher Gerechtigkeit. Dieser erste Herrscher der Tudor-Dynastie hatte nicht in Verbindung mit den Häusern Lancaster oder York einen Anspruch auf den Thron, denn er war ein Nachfahre des walisischen Owen Tudor, Mann der Witwe Heinrich V.. So konnte er auch den alten Aberglauben schüren, daß König Arthur nicht tot sei, sondern zurückkehren werde, um England in das goldene Zeitalter zu führen.

Tatsächlich schafften die Jahre der Tudor-Herrschaft ein England, daß reicher, vereinter, nationaler und moderner als das übrige Europa war und ausgerüstet, eine führende Rolle in der Welt des 16. Jahrhunderts zu spielen.

An dieser Theorie wird auch die Herrschaft Heinrich V. gemessen, denn auch während seiner Regentschaft setzte der Schuld-Sühne-Zyklus aus und es gelang ihm, England zu einer einflußreichen Weltmacht zu machen.

Die weitere Blüte Englands scheiterte an seinem frühen Tod und an der Inkompetenz seines unmündigen Sohnes.

d) Idealer Herrscher oder Tyrann?

Seit einiger Zeit werden Zweifel an dieser idealen Herrschaft laut. Nicht alle Shakespeare-Forscher sind der Meinung, der Tudor-Mythos würde auch auf Heinrich V. zutreffen. Im Gegenteil, er wird sogar häufig als Tyrann kritisiert. Einige sehen in Heinrich V. den absoluten idealen Monarchen, der alle Tugenden wie Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit in sich vereint. Manche von ihnen glauben sogar, daß Shakespeares Tribut an den König nicht ausreichend sei.

Andere Forscher sehen ihn als einen idealen Herrscher, allerdings ideal in einem machiavellistischen Zusammenhang gesehen. Im 20. Jahrhundert wird das Drama Henry V mehr als ein ironisches oder satirisches Stück gesehen, daß ebenfalls ein schlechtes Licht auf den Monarchen werfen soll. In diesem Punkt muß ich mich Joan Lord Hall anpassen, die der Meinung ist, „man könne Shakespeares wahre Gefühlsstimmung unmöglich rekonstruieren. In der heutigen Zeit wird Ironie in viel Literatur hineingelesen, es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, daß Shakespeare absichtlich ein feindliches Bild dieses Königs malen wollte.“6

Belege für die These eines machiavellistischen Tyrannen kann man in Shakespeares Historie leicht finden. Die Zurückweisung Falstaffs, die Hinrichtung der Verräter und die Exekution Bardolphs während des Krieges in Frankreich lassen nicht darauf schließen, daß Heinrich ein idealer Herrscher war, sondern lassen ihn in einem kaltblütigen und despotischen Licht erscheinen. Jedoch mußte sich meiner Meinung nach der junge König, der anfangs nicht ernst genommen wurde, durchsetzen können. Es herrschte Krieg mit Frankreich und jeder, der diese ‚Mission‘ gefährden würde, würde auch die Zukunft Englands gefährden. Genausowenig kann ein Soldat im Krieg rauben und plündern, wenn es das Kriegsgesetz verbietet. Selbst Fluellen, ein bewunderter Captain, befürwortet die Hinrichtung Bardolphs. Wäre Heinrich V. nachsichtig mit seinem Freund gewesen, hätte das der Moral der kleinen Truppe geschadet. Heinrich mußte also ein Exempel statuieren, denn er konnte sich es nicht leisten, seine Männer an die Unmoral und Habgier zu verlieren.

We would have all offenders so cut off, and we here give express charge that in our marches through the country there be nothing compelled from the villages, nothing taken but paid for, none of the French upbraided or abused in disdainful language. For when lenity and cruelty play for a kingsom, the gentler gamester is the soonest winner. Akt 3, Szene 6 (108-114)

Diese Rede nach dem Tod Bardolphs ist Beweis dafür, daß bei dieser Handlung machiavellistische Züge ausgeschlossen werden können. Denn ein Machiavelli hätte dafür gesorgt, daß die Städte geplündert werden und die Bevölkerung leiden muß, das sah dieser als Pflicht eines siegenden Herrschers.

Man muß außerdem zwischen den beiden Körpern eines Königs unterscheiden. Ein König besitzt einen natürlichen und einen politischen Körper. Der natürliche Körper ist sterblich und allen Anfechtungen ausgesetzt wie jeder Mensch, wohingegen der politische Körper unsichtbar ist und nur aus Politik und Regierung besteht. Er lenkt das Volk, ist frei von jedem Mangel und für die Ewigkeit. Bei Heinrich V. kann man die beiden Körper sehr klar voneinander abgetrennt sehen. Sein Lotterleben als Hal führte der natürliche Körper, als er jedoch zum König gekrönt wurde, wurde ihm auch die Last des politischen Körpers aufgebürdet. Somit lassen seine politischen Entscheidungen, die für den einen oder anderen grausam wirken mögen, nicht auf den tatsächlichen Charakter Heinrich V. schließen.

3. Sympathielenkung im Drama

Im Laufe der letzten Jahre haben sich die Shakespeare-Forscher in zwei Lager geteilt. Auf der einen Seite stehen die, die in Heinrich V. immer noch den idealen Herrscher sehen, auf der anderen Seite die Kritiker dieser Theorie. Beide Seiten wurden von unterschiedlichen Faktoren beeinflußt, sei es durch das Drama oder dessen Verfilmungen.

Im folgenden soll also beschrieben werden, wie Shakespeare die Sympathien in seinem Drama lenkte. Als Vertreter der Verfilmungen habe ich die Fassung von Kenneth Branagh gewählt.

a) In Shakespeares Drama

Ein sympathielenkendes Element in Shakespeares Henry V ist der Einsatz des Chorus. Er faßt chronologisch weit auseinanderliegende Ereignisse zum besseren Verständnis des Lesers knapp zusammen. Das macht ihn außerdem zu einem einheitsstiftenden Element. Neben dieser erzählenden Position erfüllt der Chorus auch die Funktion, die Geschehnisse zu glorifizieren. Er vermittelt dem Leser bzw. dem Zuschauer seine Bewunderung für den König: „Small time, but in it most greatly lived this star of England. Fortune made his sword, by which the world’s best garden he achieved!“ (Epilogue (5-7))

In Shakespeares Drama wird Heinrich von einer Fülle von anderen Rollen bewundert und verehrt und somit in den Mittelpunkt der Sympathie gerückt. Sei es von den Franzosen oder seinen Soldaten, von jedem erhält der junge Herrscher Lob und Respekt. Montjoy, der Bote der Franzosen, würdigt Heinrich immer wieder: „That island of England breeds very valiant creatures. Their mastiffs are of unmatchable courage!“ (Akt 3, Szene 7, (137-138))

Als Heinrich verkleidet durch sein Lager in Frankreich schleicht, um die Stimmung seiner Gefolgsleute zu erfahren, trifft er auch auf Pistol, einen der verschmähten Freunde, der ebenfalls nur Gutes über den König zu sagen hat:

The King is a bawcock and a heart-of-gold, A lad of life, an imp of fame, Of parents good, of fist most valiant. I kiss his dirty shoe, and from heartstring I love the lovely bully. Akt 4, Szene 1, (45-49)

b) In der Branagh Verfilmung

Im Gegensatz zu Oliviers kriegsbeschönigenden Verfilmung zur Motivierung der englischen Truppen im zweiten Weltkrieg wird Branaghs Interpretation Henry V eher als ein Antikriegsfilm gesehen. Er zeigt das Leid und die Grausamkeit, um daran zu erinnern, das derartige Dinge nicht wieder geschehen sollen. Die Sympathie wird vor allem auf König Heinrich gelenkt, der von Branagh selbst mit einer unglaublichen Sensibilität dargestellt wird. Er zeigt einen über Verräter erzürnten und über das Massaker der Jungen in Agincourt bitter weinenden Heinrich. Im Gegensatz zu Oliviers „Strahlemann“ ist hier Heinrich verwundbar und nicht unsterblich. Die Schlacht bei Agincourt wird unheimlich dunkel, schmutzig und blutig gezeigt.

Immer wieder hat man als Zuschauer sogar Mitleid mit dem König, den die Last der Krone sehr belasten muß. Geschwächt von den Anstrengungen bricht er vor Harfleur zusammen, weint bei der Hinrichtung seines Freundes und trägt ehrfurchtsvoll den kleinen Diener Falstaffs über das Schlachtfeld bei Agincourt. Mit diesen Mitteln macht es Kenneth Branagh einem unmöglich, an machiavellistische Züge zu glauben, die viele Heinrich V. andichten wollen.

C. Schluß

Die Zweifel an der Idealherrschaft haben sich bei mir im Laufe dieser Arbeit schnell verflüchtigt. Wie es der Chorus am Ende des Dramas ausdrückt: Er war eine Ausnahme, die England für kurze Zeit in eine bessere Welt führte. Von einem machiavellistischen Tyrannen kann nicht die Rede sein, wenn man den verwundbaren und sensiblen Herrscher bei Agincourt betrachtet. Raphael Holinshed hat Heinrich den V. in einigen wenigen, jedoch sehr treffenden Worten beschrieben:

This Henry was a king, of life without spot, a prince whom all men loved, and of none disdained, a captain against whom fortune never frowned, nor mischance once spurned, whose people him so severe a justicer both loved and obeyed (and so humane withal) that he left no offence unpunished, nor friendship unrewarded; a terror to rebels, and suppressor of sedition, his virtues notable, his qualities most praiseworthy.7

[...]


1 William Shakespeare, The History of Henry the Fourth Part 1. The Complete Works, Hg. Stanley Wells [u.a.]. (Oxford: Clarendon Press, 1988), 453-481.

2 Doris Manschke, „Shakespeare: Henry V,“ in Kindler Neues Literaturlexikon, 1988 ed.

3 E.M.W. Tillyard, Shakespeare’s History Plays. (London: Chatto & Windus, 1961), 266.

4 Joan Lord Hall, Henry V: A guide to the play. (Westport: Greenwood Press, 1997), 48.

5 William Shakespeare, The Life of Henry the Fifth. The Complete Works, Hg. Stanley Wells [u.a.]. (Oxford: Clarendon Press, 1988), 567-597.

6 Joan Lord Hall, Henry V: A guide to the play. (London: Greenwood Press, 1997), 49 ff.

7 Internet: http://www.eb.com

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die schillernde Figur Heinrich V.
Hochschule
Technische Universität München
Note
1-
Autor
Jahr
2001
Seiten
15
Katalognummer
V98743
ISBN (eBook)
9783638971942
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Figur, Heinrich
Arbeit zitieren
Stefanie Heyduck (Autor:in), 2001, Die schillernde Figur Heinrich V., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98743

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