Organisation als psychisches Gefängnis


Seminararbeit, 1999

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Ulrike Hinrichs

Organisation als psychisches Gefängnis

I. Einleitung

Das Thema "Organisation als psychisches Gefängnis" beinhaltet eine Betrachtung von Organisation unter dem Blickwinckel einer Metaper. Die Bedeutung sprachlicher Bilder ist sehr viel weitreichender als es zunächst scheint. Dem Gebrauch von Metaphern sind Denkund Sichtweisen immanent, die auf unser allgemeines Verständnis der Welt schließen lassen. Metaphern werden immer dann eingesetzt, wenn der Bestandteil einer Erfahrung in den Begriffen einer anderen Erfahrung zu erfassen versucht wird. Hervorzuheben ist, daß die Metapher stets einen bestimmten Aspekt besonders in den Vordergrund hebt und andere Interpretationen unterdrückt (z.B. "Die Frau ist schön wie eine Blume", hier wird allein die Schönheit, Empfindlichkeit und Zartheit betont).

Die Betrachtung von Organisationsstrukturen unter dem Blickwinkel bestimmter Metaphern eröffnet einem ganz neue Denkweisen über Organisationen. Metaphern schaffen die Möglichkeit, Organisationen sehr viel differenzierter aber andererseits auch nur ausschnittweise zu betrachten, je nachdem auf welche Metapher man gerade Bezug nimmt. Unter diesen Gesichtspunkten soll auch die hier in Rede stehende Metapher verstanden werden.

Der Gedanke des psychischen Gefängnisses wurde erstmals in Platons Bildnis "Der Staat" aufgegriffen.1 Morgan hat in seinem Buch "Bilder der Organisation" neben sieben weiteren Metaphern die Organisation als psychisches Gefängnis beschrieben.2 Zunächst möchte ich - in Anlehnung an Morgan - kurz die Metapher Organisation als psychisches Gefängnis unter dem Aspekt bevorzugter Denk- und Sichtweisen skizzieren. Im Vordergrund wird aber der Einfluß des Unbewußten auf Organisationsstrukturen stehen. Dabei wird darzustellen sein, wie unbewußte Prozesse sowohl auf die formellen Bereiche (beispielsweise Regeln, Prinzipien, Verfahren, Aufbau) als auch auf die informelle Ebene (Gefühle, Einstellungen, Verhalten) der Organisation einwirken.3

In diesem Zusammenhang werden einige wichtige psychoanalytische Theorien dargestellt und der Bezug dieser Theorien zu der hier in Rede stehenden Metapher aufgezeichnet. Zuletzt wird der praktische Nutzen und die Grenzen einer solchen Betrachtungsweise für Organisationen bzw. Management dargestellt werden.

II. Organisation als psychisches Gefängnis

Wie eingangs erwähnt hat Platon in dem Gleichnis "Der Staat" die Metapher des psychischen Gefängnisses erstmals skizziert.

Sokrates spricht darin die Beziehung zwischen Erscheinung, Wirklichkeit und Wissen an. Er beschreibt eine Höhle, in deren einziger Öffnung ein Feuer brennt. Zwischen Höhlenöffnung und Feuer führt ein Transportweg entlang, der täglich von vielen Menschen begangen wird. In der Höhle sind Menschen Zeit ihres Lebens an die Mauerwände gekettet. Aufgrund ihrer Bewegungsunfähigkeit sehen sie nur die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand, die von dem Feuer mit den Schatten der Menschen und Gegenstände belebt wird, die die Höhlenöffnung passieren. Die Höhlenbewohner erkennen in diesem Gleichnis nicht, daß das was sie sehen nur die Schatten der Außenwelt sind. Sie geben den Schatten Namen, sprechen über sie und bringen sogar Geräusche von außerhalb der Höhle mit ihnen in Verbindung.

Würde - wie Sokrates schildert - ein Gefangener die Höhle verlassen dürfen, hätte er zunächst große Schwierigkeiten sich an die ihm unbekannte Außenwelt zu gewöhnen. Er würde im Laufe der Zeit jedoch erkennen, daß das Schattenleben in der Höhle nur ein sehr begrenzter und verzerrter Teil der Realität ist. Der befreite Höhlenbewohner könnte deshalb nie wieder wie zuvor in der Höhle leben. Sollte er in die Höhle zurückkehren und versuchen, sein neues Wissen den Gefangenen zu vermitteln, würden diese ihn wegen seiner Behauptungen und Ansichten wahrscheinlich verlachen oder sein Wissen sogar für sehr gefährlich halten. Sie würden die Welt außerhalb als eine Bedrohung empfinden, die man eher meiden sollte. Denn für die Gefangenen wäre ihre Realität der begrenzten Höhlenwelt viel bedeutungsvoller als irgendeine für sie abstrakte Geschichte über eine unbekannte Welt außerhalb der Höhle. Das Bildnis zeigt, daß viele Menschen die Wirklichkeit begrenzt wahrnehmen, weil ihre Realitätswahrnehmung eingeschränkt und fehlerhaft ist. So erliegen sie im täglichen Leben vielen Illusionen. Die Reise in diesem Bildnis zeigt, wie ein Ausbruch aus dieser begrenzten Realitätswahrnehmung gelingen kann und was er bewirkt.

Wenn der Einzelne nämlich seine beschränkte Sichtweise erkennt und unter die Oberfläche schaut kann er versuchen, sich von dieser zu befreien.

Diese Allegorie besagt aber auch, daß vielen Menschen die Bereitschaft zu diesem Schritt fehlt. Für sie erscheint es einfacher in ihrer begrenzten Welt zu bleiben, als sich mit einer neuen Sichtweise zu befassen, die ihr Weltbild durcheinander bringen könnte.4 Platons Beschreibung des Höhlenlebens veranschaulicht sehr eindrucksvoll, worum es bei dieser Metapher geht. Mangelndes Wissen bzw. wissen wollen, beschränkte Wahrnehmung der Realität und bevorzugte Sichtweisen, aber auch der Einfluß des Unterbewußten auf das eigene Verhalten begrenzen unser Denken und Handeln.

1. Bevorzugte Denk- und Sichtweisen

Bevorzugte (unreflektierte) Denk- und Sichtweisen können die Wahrnehmungsfähigkeit so einschränken bzw. verzerren, daß man - wie die Höhlenbewohner in Platons Allegorie - Gefangener ihrer selbst wird. Diese Realitätsverzerrung bezogen auf Organisationen veranschaulichen folgende Beispiele:

a) Die Falle Erfolg

"Erfolg macht blind", eine ausdrucksstarke Metapher für die von Morgan titulierte Erfolgsfalle.5 Ein Beispiel dafür läßt sich an der amerikanischen Autoindustrie nach der Ölkrise im Jahr 1973 konstatieren. Zu dieser Zeit begann die japanische Autoindustrie mit Kleinwagen den nordamerikanischen Markt zu erobern. Die großen U.S. amerikanischen Produzenten waren der japanischen Konkurrenz zu dieser Zeit nicht gewachsen, da sie auf ihre jahrelange Überlegenheit vertraut und sich am Markt für große Autos orientiert hatten. Das Potential von sparsamen Kleinwagen wurde dabei vernachlässigt. Dies verhalf den Japanern zum Durchbruch und führte zu erheblichen Einbußen der amerikanischen Autoindustrie, die hätten verhindert werden können, wenn die Industrie sich durch ihren jahrzehntelangen Erfolg in diesem Bereich nicht hätte blenden lassen.

Ein weiteres Beispiel liefert die Computerindustrie, in der Anfang der 1980er Jahre IBM eine dominierende Rolle eingenommen hatte. Das Unternehmen konzentrierte sich zu dieser Zeit hauptsächlich auf den Bereich der Hardware und Entwicklung großer Computersysteme. Die Fixierung auf diesen Bereich führte dazu, daß Bill Gates´ Microsoft und andere Anbieter eine Marktlücke füllen konnten, indem sie den vernachlässigten Bereich "Software und Network" für Personelcomputer ausfüllten.6

b) Die Falle der zu nachlässigen Organisation

Eine weitere Gefahr im Hinblick auf eine begrenzte Realitätswahrnehmung besteht in dem Festhalten an herkömmlichen Prinzipien der Geschäftspolitik, die im Laufe der Zeit nicht weiter überprüft werden.7 Hierzu kann folgendes Beispiel aufgeführt werden: Leitende Prinzipien von Produktions- und Organisationssystemen waren (und sind in der Regel auch noch) die Schaffung von Sicherheit durch Produktion auf Lager und die Akzeptanz eines bestimmten Prozentsatzes an Ausschuß als Norm (Fehlertoleranz). Durch diese Unternehmenspolitik können zwar Unsicherheiten im Produktionsablauf ausgeglichen werden, auf der anderen Seite ist eine solche Produktion aber extrem teuer.

Darüber hinaus kann die Schaffung von Sicherheit auch ein Spielraum für nachlässiges Arbeiten und für das Verbergen von Fehlern sein.

Zu dieser Unternehmenspolitik gab es in Europa lange keine denkbare Alternative bis abermals japanische Unternehmen ein sogenanntes "Just-in-Time-Management" und eine "Null-Fehler-Politik" als neuen Weg aufzeigten. Bei dieser Unternehmenspolitik müssen grundlegende Probleme auf der Stelle ausfindig gemacht und gelöst werden. Sie erfordert ein Höchstmaß an Zusammenwirken zwischen den Arbeitenden untereinander und mit dem Unternehmen verbundenen Zulieferern.

c) Die Falle der Gruppenprozesse

Auch die von Irving Janis 8 als "Gruppendenken" beschriebenen Prozesse können die Wahrnehmung erheblich beschränken. Das Gruppendenken kann zur Entwicklung von gemeinsamen Illusionen und Handlungsnormen führen, die die kritische Denkfähigkeit und die Überprüfung der Realität beeinflussen. Ein sicheres Gefühl eines vorausgesetzten Konsens führt dazu, daß die Beteiligten ihre Zweifel nicht zum Ausdruck bringen. Dies wird durch einen dominanten Gruppenführer verstärkt, der die Macht des Wortes hat und Kritik unterdrückt. Ein solches Gruppendenken führt dazu, daß ein Einheitsgruppendenken erwünscht und gefördert und das Zulassen anderer Meinungen unterdrückt wird.

2. Organisation und das Unbewußte

Im weiteren soll die Komponente des Unbewußten unter psychoanalytischer Betrachtung und ihr Einfluß auf menschliche Verhaltensweisen (und damit auch auf Organisation) dargestellt werden.

Den Einfluß, den dieses Unbewußte auf Organisationen ausüben kann, haben Delahanty und Gemmill eindrucksvoll als schwarzes Loch bezeichnet, eine Metapher aus der Physik, die unsichtbare, aber sehr intensive Gravitationsfelder beschreibt, die die gesamte sich annähernde Materie einfangen.9 Diese Metapher verdeutlicht wie stark und indifferent der Einfluß des Unbewußten auf Organisationen sein kann.

a) Geschichte der Psychoanalyse

Unterschiedliche Erklärungsansätze für die Definition des Unbewußten kommen aus der Psychoanalyse. Aufbauend auf den gemeinsam mit J. Bremer bei Untersuchungen zur Hypnosebehandlung gewonnenen Erkenntnissen über den Unterschied zwischen bewußten und unbewußten seelischen Zuständen entwickelte Sigmund Freud Ende der 1890er Jahre die Grundzüge der Psychoanalyse. Den Begriff verwendete Freud erstmals 1896. Die Theorie Freuds wurde im Laufe der Zeit von anderen übernommen bzw. weiterentwickelt. Es bildete sich ein Kreis von sogenannten Neo- Freudianern, für die eine Betonung der Umwelteinflüsse und eine weitgehende Ablehnung der Libidotheorie Freuds charakteristisch ist. Ferner entwickelte sich die Individualpsychologie, die sich mit menschlichem Verhalten und diesem zugrundeliegenden Bedingungen befaßt. Seit dem 2. Weltkrieg läßt sich eine Tendenz zur Vereinheitlichung psychologischer Theorien erkennen.

b) Allgemeine Grundsätze der Psychoanalyse

Gemeinsame Voraussetzung der unterschiedlichen Theorien zur Psychoanalyse ist die Annahme, daß ein Großteil der als selbstverständlich vorausgesetzten Realität des täglichen Lebens auf unbewußten Ängsten und Vorurteilen des Einzelnen beruht.10 Das Unbewußte ist ein Speicher verdrängter Impulse, die der Mensch im Laufe seiner (insbesondere frühkindlichen) Entwicklung unter Kontrolle zu bringen hat. Menschliches Verhalten muß deshalb im Zusammenhang mit der versteckten Struktur der Psyche gesehen werden, um es ganz zu verstehen.

c) Freud und Neo-Freudianer

aa) Organisation und unterdrückte Sexualität

Nach Freud bewegen das Individuum zwei Hauptantriebe: der Sexualtrieb, dessen psychische Energie (Libido) verschiedene Stadien in der frühkindlichen Phase durchläuft11 (vgl. Abb. 1), und der Destruktionstrieb, der sich in zerstörerischer Aggression äußert. Psychische Vorgänge werden nach dem Lustprinzip gesteuert. Ihnen liegt der in die drei funktional zusammenhängenden Strukturen "Es", "Ich" und "Über-Ich" gegliederte psychische Apparat12 zugrunde.

In der frühkindlichen Entwicklung muß das Kind lernen, die mit der jeweiligen Libidophase einhergehenden Triebregungen zu kontrollieren, damit sie gesellschaftliche Akzeptanz finden (Kontrolle durch das "Ich" und "Über-Ich"). Durch diese Reglementierung werden viele Impulse und Wünsche ins Unterbewußtsein verdrängt. Das Unbewußte wird damit zu einem Speicher verdrängter Impulse, die jederzeit in sublimierter13 Form (in Form der Umleitung eines unbefriedigten Geschlechtstrieb in gesellschaftlich akzeptierte Leistungen) wieder in Erscheinung treten können. Charakterzüge des Erwachsenen beruhen nach Freud daher insbesondere auf Erfahrungen aus der Kindheit, die mit der Fähigkeit der Kontrolle sexueller Bedürfnisse zusammenhängen.14 Durch diese Kontrolle wird die Umleitung sexueller Energien institutionalisiert, indem sie offen ausgedrückte genitale Sexualität unterdrückt, während sie anale Sexualität in sublimierter Form zuläßt und fördert. Nach Freud ist das Unbewußte damit die versteckte und Kultur die sichtbare Form der Unterdrückung von Triebregungen bedingt durch die menschliche Gemeinschaftsfähigkeit. Der erwachsene Mensch wendet verschiedene Abwehrmechanismen an, wenn die verdrängten Bestrebungen an die Oberfläche treten wollen (vgl. Abb. 2).

Insofern stellt sich die Frage, wie man Organisation als eine externe Manifestation von unbewußten Bestrebungen betrachten kann.

Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Leben von Frederick Taylor, der Begründer des Wissenschaftlichen Management.15 Er befaßte sich schon in seiner Kindheit ausschließlich mit der Kontrolle seiner Umwelt. Sein Erfindungsgeist und sein Hang zu exakten Methoden prägte sich früh aus. Als Kind litt er unter Alpträumen, die nach seinen Beobachtungen aber nur auftraten, wenn er auf dem Rücken lag.

Daher konstruierte er als zwölfjähriger eine Alptraum-Vermeidungsmaschine, die ihn aufweckte, sobald er sich im Schlaf auf den Rücken drehte. Er liebte Ballspiele, war bei seinen Mitspielern aber deshalb verhaßt, weil er die Regeln extrem genau nahm und kaum intuitiv war. Beispielsweise vermaß er vor jedem Spiel das Spielfeld millimetergenau. Er versuchte beim Laufen genau zu berechnen, mit welchen Schritten er die größte Distanz mit dem geringsten Energieaufwand zurücklegen konnte. Alle seine Aktivitäten waren bis in Detail geplant und wurden von ihm streng befolgt.

Auch das von ihm ins Leben gerufene wissentschaftliche Management war von diesen Strukturen geprägt. Im Vordergrund stand die optimale Organisation der Arbeit, wobei die Bedürfnisse des Arbeiters völlig außer acht gelassen wurden.

Aus Freudscher Sicht war der ständige Versuch Taylors seine Welt zu kontrollieren und bis ins Detail zu planen letztendlich ein ständiger Versuch, sich selbst zu organisieren und zu kontrollieren. Dies wiederum ist als Ausdruck seiner frühen (ins Unterbewußtsein verdrängten) Kindheitserfahrungen in seiner Familie zu verstehen, die durch puritanische Disziplin gekennzeichnet war. Denn Ordnung, Regelmäßigkeit, Korrektheit, Gehorsam, Pflichtbewußtsein und Pünktlichkeit sind nach Freud direkte Folgeerscheinungen dessen, was das Kind während der frühen analen Erfahrungen lernt und unterdrückt. Deshalb sind auch bürokratische Organisationsstrukturen16, die nach strengen Regeln funktionieren und die Überwachung menschlicher Tätigkeiten hervorheben, ferner auf der exakten Planung und Terminierung der Arbeit und auf der Bedeutung von Produktivität, der Befolgung von Regeln, Disziplin, Pflicht und Gehorsam beruhen, nach Freud ein Anzeichen unterdrückter Sexualität.

Genauso kann man aber auch modernere Unternehmen unter die Lupe nehmen, bei denen der kreative, formlose Stil im Vordergrund steht. Die Freudsche Theorie würde besagen, daß die Unternehmenskultur dieser Organisation häufig Ausdruck der Sublimierung verschiedener Kombinationen oraler, phallischer und genitaler17 Sexualität ist. Je nach Organisationsstruktur werden dann die entsprechenden Verhaltensweisen von den Unternehmen eher belohnt und gefördert und andere unterdrückt.

Ein weiteres Beispiel für die dargestellten Grundsätze wäre der sogenannte Workaholismus, der nach Freud als ein Ausdruck unterdrückter genitaler Sexualität verstanden werden kann. Unterdrücktes sexuelles Triebverhalten ist auch zwischen Organisationen und ihrem Umfeld, in Beziehung zu Konkurrenten oder zwischen Firmen, die fusionieren wollen oder übernommen werden zu erkennen.

bb) Organisation und Patriachart

Es ist allgemein bekannt, daß viele Kritiker Freuds meinen, dieser sei zu sehr auf Sexualität fixiert gewesen und habe in seiner Argumentation übertrieben.

Ein feministische Ansatz betrachtet Organisationsformen unter dem Aspekt der unbewußten Erweiterung von Familienbeziehungen. Danach sind insbesondere bürokratische Organisationsstrukturen Ausdruck patriarchaler Erziehungsmethoden.18 Diese seien geprägt von einem Gefühl der Impotenz, das mit Autoritätsangst und -abhängig-keit einhergehe. Solche Unternehmen stellen männliche Werte19 in den Vordergrund.20 Organisationsmitglieder unterwerfen sich der Autorität, wie das Kind sich den Vorschriften der Eltern bzw. insbesondere des Vaters in einer patriarchalen Familie beugt. Organisationsangehörige in Schlüsselpositionen nehmen oft eine solche Vaterrolle ein. Die Belege für eine patriachale Interpretation liegen auf der Hand. Blickt man auf die Geschichte zurück, so haben Frauen bis noch vor kurzer Zeit eher untergeordnete Positionen im Arbeitsleben eingenommen. Kritiker dieses Patriarcharts behaupten, daß die Organisationsrealität unter dem Einfluß weiblicher Werte weniger hierarchisch und sehr viel humaner und ganzheitlicher wäre, weil die Mittel über den Zielen stehen würden. Ferner gäbe es sehr viel mehr Toleranz gegenüber Verschiedenartigkeit und mehr Aufgeschlossenheit für Kreativität. Ansätze dafür finden sich in eher unbürokratischen Organisationsformen.

cc) Organisation und Todesangst

Ein weiterer psychoanalytischer Ansatz stammt von Ernest Becker, der konstatiert, daß die Menschen einen großen Teil ihres Lebens mit dem Bemühen verbrächten, die bevorstehende Realität des Todes zu verleugnen, indem sie ihre Todesangst ins Unterbewußtsein verdrängen. Die Todesangst führe dazu, daß der Mensch nach Dauerhaftigkeit und Kontinuität suche.21 Dabei gebe ihm die Schaffung von gemeinsamen Normen, Überzeugungen, Ideen und sozialen Gewohnheiten (Kultur) einen festen und dauerhaften Rahmen in dem er sich einordnen könne. In ruhigen Momenten könne sich das Bewußtsein über den eigenen Tod zwar wieder in den Vordergrund drängen. Das alltägliche Leben verbrächte der Mensch aber hauptsächlich in der von ihm geschaffenen künstlichen Realität. Diese Illusion von Realität helfe ihm, die unbewußte Todesangst zu bewältigen. Indem er sich persönliche Ziele oder Organisationsziele setze, erhielte er sich seine Zuversicht für die Zukunft. Indem er seine Zeit und Energie in ein ausgewähltes Projekt investiere, wandele er die dahineilende Zeit in etwas Konkretes und Dauerhaftes um.

Unter diesem Blickwinkel kann man Organisation und einen großen Teil des Verhaltens innerhalb von Organisation als Suche nach Unsterblichkeit verstehen. Indem der Einzelne sich durch die Schaffung von und die Integration in Organisation Handlungsstrukturen aufbaut, die über das eigene Leben hinausreichen und häufig mehrere Generationen überleben findet er Sinn und Dauerhaftigkeit in seinem Leben. Der Einzelne schafft sich dadurch eine Perspektive, das Leben in Anbetracht des Todes zu fixieren.

dd) Organisation und Objektbeziehungen

Ein weiterer Ansatzpunkt zur Erklärung unterbewußter Einflüsse von Melanie Klein und weiterentwickelt von Donald Winnicott geht davon aus, daß zahlreiche Störungen, die Freud der Sexualität zuschrieb, ihren Ursprung in früheren Verläufen von Objektbeziehungen haben.22

Danach bauen bestimmte Objekte (wie z.B. Teddybären, Kuscheldecken etc.) die Beziehung des Kindes zur Außenwelt auf. Sie sind bei der Entwicklung des Unterscheidungsvermögens zwischen dem ICH und NICHT-ICH von entscheidender Bedeutung. Wenn das Lieblingsobjekt des Kindes verändert wird (z.B. Teddy gewaschen) hat das Kind das Gefühl, daß seine Existenz dadurch bedroht wird.

Nach Winnicott bleibt die Beziehung zu solchen Objekten ein Leben lang bestehen, wobei die Kinderobjekte durch andere Gegenstände und Erfahrungen ersetzt werden. Diese Objekte und Erfahrungen spielen eine entscheidende Rolle als Bindeglied zur Realität. Erwachsene können, ebenso wie Kinder eine übertriebene Abhängigkeit vom Trost und von der Sicherheit entwickeln, die ihnen ihre Objekte geben.

Diese Theorie erleichtert einem den Einblick in die Praxis von Organisationsveränderung und -entwicklung, weil sie darauf aufmerksam macht, daß es nur zu Veränderungen kommen kann, wenn der Einzelne bereit ist, seine Objektbeziehungen zugunsten von etwas neuem zu verändern. Diese Sichtweise vermittelt uns ein besseres Verständnis dafür, daß viele Organisationsvorgaben als Übergangsphänomene dienen können. Wenn man dieser Theorie folgt, läßt sich beispielsweise sehr leicht durchschauen, wie es zu Widerstand gegen Veränderungen in Organisationen kommen kann (wenn nämlich die ausgewählten Übergangsobjekte verändert werden, stellt dies eine Gefahr für den Betroffenen dar). Ein typisches Beispiel für den Widerstand gegen Veränderungen läßt sich im Zusammenhang mit der Einführung neuer Computersysteme oder Software konstatieren. Die Geschäftsleitung möchte ein neues System einführen, fordert gegebenenfalls zu Schulungen auf und dennoch wird diese Neuerung von den Mitarbeitern nicht angenommen. Durch diese Veränderung könnte nach dieser Theorie der Einzelne einen drohenden Verlust seiner Objektbeziehung sehen, wenn nämlich das alte Objekt (z.B. Schreibmaschine oder andere Software) gegen ein neues ausgetauscht wird.

Auf Organisations strukturen übertragen kann man solche Objetbeziehungen ebenso vorfinden, wie beispielsweise in einem Familienbetrieb, der sich von einer veralteten Tradition nicht trennen kann und deshalb an einer überholten Geschäftspolitik festhält.

ee) Schatten der Organisation und Archetypen

Einen anderen Ansatz für die Erklärung des Unterbewußtseins und den damit verbundenen Ängsten und Verhaltensmustern hat Jung. Für ihn besteht das Unterbewußtsein aus dem oberflächlicheren persönlichen und dem auf einer tieferen Schicht liegenden kollektiven Unterbewußtsein (vgl. Abb. 3).

(1) Das persönliche Unterbewußtsein

Das persönliche Unterbewußtsein bezeichnet den Teil des Unbewußten, der durch persönliche bewußte Erfahrungen entstanden ist, die ins Unterbewußtsein verdrängt wurden. Die Inhalte des persönlichen Unbewußten sind hauptsächlich die gefühlsbetonten Komplexe. Jung verwendet den Begriff "Schatten" für unerkannte oder unerwünschte Triebe und Sehnsüchte. Diese Schatten stehen dem bewußten Ego als eine Art unterdrücktes Spiegelbild gegenüber und suchen nach Ganzheit mit diesem.23

Der Mensch steht nach Jung also immer im Spannungsfeld dieser beiden Pole. Die Fähigkeit zur vollständigen Entwicklung der Selbsterkenntnis und der menschlichen Persönlichkeit hängt nach Jungs Theorie von der Fähigkeit des Einzelnen ab, diese revalisierenden Elemente zu erkennen und die Gegensätze in Einklang zu bringen.

Auch Jung geht davon aus, daß viele ungelöste innere Spannungen auf andere Menschen und äußere Situationen projiziert werden.

Im "Schatten" von Organisation kann man demnach all die unterdrückten Kehrseiten der Rationalität finden, die darum kämpfen an die Oberfläche zu gelangen. So wie das Unbewußte des Individuums versucht eins zu werden mit dem Ego, kann nach Jung auch das schattenhaft Unbewußte in einer Organisation als etwas betrachtet werden, das um Anerkennung ringt. Es kann darauf aufmerksam machen, daß die Entwicklung und Förderung einer bestimmten Fähigkeit (beispielsweise zur Anwendung von technischer Vernunft) andere Fähigkeiten und Ideen unterdrückt.

Bei der Wahrnehmung der Realität unterscheidet Jung verschiedene Typen von Persönlichkeiten (vgl. Abb. 4). Folgt man diesem Ansatz, wird deutlich, daß je nach Dominanz bestimmter Persönlichkeitsmerkmale verschiedene Stile der Entscheidungsfindung entstehen und die beherrschenden Anteile die anderen unterdrücken. Wenn man solche Strukturen erkennt, kann man die unterdrückten Teile eines Individuums oder einer Organisation nutzbar machen.

(2) Das kollektive Unterbewußtsein

Das kollektive Unterbewußtsein existiert grundsätzlich unabhängig vom individuellen ICH (vgl. dazu Abb. 3). Es wird von Jung als kollektiv bezeichnet, weil dieses Unterbewußtsein nicht individueller, sondern allgemeiner Natur ist. Im Gegensatz zum persönlichen Unterbewußtsein, tritt das kollektive Unterbewußtsein nie ins Bewußtsein des Einzelnen. Es wird allein durch Vererbung weitergegeben.

Die Inhalte des kollektiven Unbewußten24 sind nach Jung die sogenannten Archetypen, die Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster. Vor allem elementarste menschliche Erfahrungen ( wie Geburt, Trennung, Tod etc.) haben in der Seele des Menschen eine archetypische Verankerung. Sie haben zu allen Zeiten und in allen Kulturen ähnliche Bilder vorgebracht und können als kollektive Menschheitserfahrung gelten.25 Jung bezeichnet den Archetypus als ein seelisches Organ, das neben anderen Organen wie Lunge, Herz und Leber existiert.26 Die in diesem Organ verankerten archetypischen Grundmuster bewirken, daß wir unsere individuellen Erfahrungen in ganz bestimmte Formen gießen. Diese Archetypen kann man beispielsweise in Mythen wiederfinden. Zu diesem Thema gibt es bisher noch sehr wenig Untersuchungen. Northrop Frye von der Universität Toronto hat herausgefunden, daß Mythologie und Literatur von einigen wenigen Grundmotiven beherrscht werden, nämlich apokalyptische, dämonische, romantische, tragische, komische und ironische Themen. Während sich Personen, Situationen und Handlungen ändern, bleiben die Abläufe immer ziemlich gleich.27 Wenn Jungs Theorie zutrifft, kann man also davon ausgehen, daß die Formen des Organisationslebens in Übereinstimmung mit den Strukturen gestaltet und neu geschaffen werden, die auch in der Mythologie und Literatur anzutreffen sind.

III. Chancen und Schwächen der metaphoren Organisationsanalyse

Wie eingangs bereits indiziert, kann die Betrachtung einer Organisation unter dem Aspekt einer Metapher dem Betrachter einen ganz neuen Blickwinkel verschaffen, der wegen der Metaphern immanenten Begrenztheit wiederum auf einen bestimmten Punkt fixiert ist. Die Metapher vom psychischen Gefängnis will uns sensibel dafür machen, verdeckte Bedeutungen von Alltagshandlungen zu erkennen. Sie kann im Organisationsaufbau und - ablauf dabei helfen, unterdrückte Potentiale an die Oberfläche zu bringen und unterbewußte Ängste aufzudecken. Findet eine Auseinandersetzung mit den unterbewußten Kräften statt oder ist jedenfalls ein Bewußtsein für ihre Existenz geschaffen, kann dies positiven Einfluß auf Führung, Innovation, gruppendynamische Prozesse und Veränderungsbereitschaft haben, wie in den einzelnen Abschnitten skizziert wurde. Denn Gefahren bedingt durch Gruppendenken, können erkannt und kontrolliert werden, Personalentscheidungen hinterfragt (beispiels-weise: Aus welchen Gründen spricht mich ein bestimmter Typ von Bewerbern an? Wieso habe ich ein gut strukturiertes Unternehmen aber keine innovativen Kräfte? Wo liegen die Ursachen für Probleme zwischen Mitarbeitern?) und Gründe für Abwehrhaltungen gegenüber Veränderungen überprüft werden.28 Diese Aufzählung soll keinen abschließenden Katalog der Nutzungsmöglichkeiten darstellen, sondern einige wichtige Beispiele wiedergeben.

Die Metapher des psychischen Gefängnisses zeigt uns ferner, daß Organisation ein sehr menschliches Phänomen ist, eine Seite die im Zusammenhang mit Organisation vernachlässigt wird. Unser Verständnis von Organisation ist in der Regel zu rational.29 Diese Erkenntnis kann dazu verhelfen, sein Augenmerk auf die allgemeinmenschliche Relevanz fast jedes einzelnen Aspektes von Organisation zu richten.

Die Grenzen der metaphoren Organisationsanalyse liegen in ihr selbst, da jede Metapher nur eine ausschnittweise Betrachtung erlaubt. Eine Analyse kann daher niemals erfolgreich unter dem Blickwinkel nur einer Metapher vorgenommen werden. Stets muß eine ganzheitliche Betrachtung angestrebt werden. Dem Betrachter muß immer bewußt sein, daß derselbe Aspekt unter vielen verschiedenen Metaphern beleuchtet werden kann und einem dynamischen Prozeß unterliegt. Eine falschverstandene (restriktive) Anwendung der hier dargelegten Grundsätze kann deshalb leicht zu Überinterpretationen der psychodynamischen Prozesse führen, wenn sie vom Laien schematisch angewendet werden. Weiterhin muß im Hinblick auf eine metaphore Betrachtungsweise kritisch angemerkt werden, daß Marktanforderungen und festgeschriebene Machtverhältnisse, die sichtbar erwünscht sind und bewußt nicht verändert werden sollen keine Berücksichtigung finden können. Beispielsweise kann der Markt erfordern (um konkurrenzfähig zu bleiben) eine Zertifizierung des Unternehmens nach DIN ISO 9001 vorzunehmen. Dies hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Struktur der Organisation. Diese Entscheidung ist aber aufgrund von Marktforderungen und nicht von unterbewußten Einflüssen durchgeführt worden. Dennoch bietet die Metapher des psychischen Gefängnisses auch hier wieder eine Chance, wenn es nämlich herauszufinden gilt, ob bzw. wie schnell eine solche neue Organisationsstruktur von den Mitarbeitern und dem Unternehmen angenommen wird. Abschließend läßt sich feststellen, daß eine Organisationsanalyse unter dem Blickwinckel der hier dargestellten Metapher Einflüsse und Potentalie aufdecken kann, die in der Regel bei einer wertenden Betrachtung von Organisation und den damit verbundenen Strukturen völlig vernachlässigt werden. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse können zusätzliche innovative Impulse für Organisationen und ihre Mitglieder geben.

[...]


[1] Platon, 7. Buch, S.269 ff.

[2] Morgan, Bilder der Organisation, S. 291 ff.

[3] Zu formellen/informellen Bereichen einer Organisation vgl. French/ Bell, S. 8.

[4] Siehe Morgan, Bilder der Organisation, S. 293.

[5] Vgl. hierzu Morgan, Bilder der Organisation, S. 293 f.

[6] Morgan, Images Of Organization, S. 217.

[7] Morgan, Bilder der Organisation, S. 294 f.

[8] Irving Janis, Victims of Groupthink.

[9] Delahanty und Gemmill, "The Black Hole in Group Developement".

[10] Morgan, Bilder der Organisation, S. 298; siehe auch Freud, Psychologie des Unbewußten, S. 29 f.

[11] Zu Freuds Begrifflichkeiten "anale, orale und phallische" Phase der Sexualität des Kindes, vgl. Bally, S. 38 ff.

[12] Das "Es" steht nach Freud für den Bereich der Antriebe, der einer bewußten Kontrolle entzogen ist; das "Über-Ich" vertritt die aus Familie und Gesellschaft übernommenen moralischen Maßstäbe, Werte und Einstellungen, während das "Ich" (das bewußte Ego) sich zwischen diesen beiden Instanzen bewegt.

[13] Zur Sublimierung und Latenzperiode: Freud, Sexualleben, S. 140; Bally, S. 48.

[14] Freud, Sexualleben, S. 81 ff.

[15] Vgl. Kieser, S. 75 f.

[16] Siehe zu dem Begriff: Kieser, Organisationstheorien, S. 39 ff.

[17] Zu den Begriffen vgl. Fußnote 11 und Abb. 1.

[18] Morgan, Bilder der Organisation, S. 308.

[19] Zu den Begriffen: Morgan, Bilder der Organisation, S. 309 f.; männliche Werte: Standfestigkeit, Mut, Heldentum in Verbindung mit Selbstverliebtheit, Entschlossenheit, Pflichtgefühl; weibliche Werte: bedingungslose Liebe, Optimismus, Vertrauen, Mitgefühl und die Fähigkeit zu Intuition, Kreativität und Glück.

[20] Zu "Männlichkeit der Organisation" vgl. Rastetter, S. 85 ff., 255 f.

[21] Becker, The Denial of Death.

[22] Donald Winnicott, Transitional Objects and Transitional Phenomena.

[23] Morgan, Bilder der Organisation, S. 329.

[24] Jung, Archetypen, S. 7.

[25] Jung, Archetypen, S. 46.

[26] Jung, Archetypen, S. 116.

[27] Vgl. dazu Morgan, Bilder der Organisation, S. 331.

[28] Beispielsweise wenn es um die Einführung eines neuen Computersystems geht, in vielen Betrieben ein Fakt, der Abwehrhaltungen unter den Mitarbeitern auslöst.

[29] Vgl. dazu: Morgan, Images Of Organization, S. 246, "The psychic prison metapher shows us that we have over-rationalized our understanding of organisation."

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Organisation als psychisches Gefängnis
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
14
Katalognummer
V98162
ISBN (eBook)
9783638966139
Dateigröße
432 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Organisation, Gefängnis
Arbeit zitieren
Ulrike Hinrichs (Autor:in), 1999, Organisation als psychisches Gefängnis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98162

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