Das Nibelungenlied - Die sozialen Verhältnisse im Nibelungenlied und ihr geschichtlicher Hintergrund


Facharbeit (Schule), 2000

35 Seiten, Note: 10 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Die Problematik einer Betrachtung

2. Inhalt und Form des Nibelungenliedes
2.1 Inhaltsangabe
2.2 Struktur und Form des Nibelungenliedes
2.3 Charakterisierung der Hauptpersonen

3. Umfeld und Ursprung des Nibelungenliedes
3.1 Die geschichtliche Wirklichkeit
3.2 Die Quellen des Nibelungenliedes
3.3 Der Autor des Nibelungenliedes
3.4 Der höfische Epos und seine christliche Verfälschung

4. Die germanischen Ursprünge und die Verhältnisse der Personen untereinander in deren geschichtlichen Hintergrund
4.1 Der Germane als Musterbild des Helden
4.2 Die Verhältnisse der Personen untereinander mit einer Betrachtung der 37. Aventiure
4.3 Fazit

5. Anhang

Vorwort

Thema dieser Facharbeit soll das Nibelungenlied mit spezieller Betrachtung der Verhältnisse der Personen und deren geschichtlicher Hintergrund sein.

Als primären Faktor, der mich zu der Wahl des Nibelungenliedes als Thema meiner Facharbeit beeinflusste, ist der Roman ,,Rheingold" von Stephan Grundy zu nennen. Sein 800 Seiten umfassendes Werk beschäftigt sich mit dem kompletten Stoff der ,,Völsungasaga", des ,,Siegfriedliedes" und des ,,Atliliedes", also mit dem gesamten Sagenkomplex um die Nibelungen.

Der Engländer Grundy studierte nordische Literatur in Cambridge und fertigte eine Doktorarbeit über den Göttervater Wotan an.

Er hielt sich in ,,Rheingold" stark an den ursprünglichen Stoff, was seinen Roman fast schon zu einem Fachbuch macht.

Die sozialen Verhältnisse der Personen und die geschichtlichen Faktoren, die diese beeinflussten zu untersuchen, beschäftigte mich seit der ersten Lektüre des Nibelungenliedes. Ich sehe es als eine Art Sozialstudie, die unschätzbar viele und genaue Informationen über die Weltanschauung, das Sozialverhalten und allgemein das Leben der Menschen der Völkerwanderungszeit, aber auch des Mittelalters, liefert.

Genauso interessant wie aber auch schwierig ist es, das Verhalten der Menschen dieser Zeit nachzuvollziehen und zu erfassen.

Ich halte es allerdings für wichtig zu verstehen, was die gesamte Weltanschauung unserer Vorfahren prägte, vor allem, um sich über den Wandel zu unserer heutigen Sicht der Dinge klarzuwerden.

Individualismus, wie er heute praktiziert wird, war für die Germanen des 5. Jahrhunderts ein Fremdwort. Ihre Einstellung zum Leben zu verstehen, heisst auch die Verhältnisse unter ihnen zu verstehen.

Ich will in dieser Arbeit versuchen, alle relevanten Informationen rund um das Nibelungenlied zu liefern, um auf das am Schluß behandelte Thema der sozialen Verhältnisse der Charaktere hinzuarbeiten.

1.1 Die Problematik einer Betrachtung

Der wichtigste Aspekt, der bei jedweder Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied bedacht werden muss, ist, dass die Forschung kaum eine ihrer Erkenntnisse über das Stück und seinen Ursprung mit Sicherheit beweisen kann und dass vieles noch immer im Dunkeln liegt. Es wurden fast ebenso viele Thesen wie Gegenthesen zu diesem Thema aufgestellt, was es unmöglich macht, von einer allgemeinen ,,Meinung der Wissenschaft" zu sprechen. Um einen wirklich objektiven Überblick über die Thematik zu erhalten, müsste man also jede jemals erschienene Publikation zum Thema Nibelungenlied gelesen haben, womit ich hier natürlich nicht aufwarten kann. Es bleibt also nur, den Konsens der verschiedenen Literaturwissenschaftler als sicher zu erachten und gelegentlich die Thesen der einzelnen zu erwähnen.

Nun fragt man sich als nächstes, woher diese Unsicherheit stammt. Hier seien zwei Hauptprobleme erwähnt, die die Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied schwieriger gestalten, als die mit vergleichbarer Heldendichtung aus der selben Zeit. Zum einen existiert kein Original des um 1200 entstandenen, mittelhochdeutschen Stückes. Es wurden allerdings 36 Abschriften gefunden, wovon zwei Fragmente sind, und es sich bei einer um eine Übersetzung ins Niederländische handelt. Die restlichen 33, für die Forschung brauchbaren Handschriften, sind alle im österreichisch-bayrischen Raum zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert entstanden1 ). Die Literaturwissenschaftler haben sich deshalb auf drei Handschriften geeinigt, welche nun Gegenstand ihrer Forschungen sind. Die Philologie nennt diese drei Abschriften die Redaktionen ,,A", ,,B", und ,,C", und sieht in ihnen die dem Original am nächsten stehenden. Die 30 anderen Nibelungenlieder sind fast alle Abschriften einer dieser Redaktionen und werden deshalb auch nach ihnen kategorisiert. Alle drei Urredaktionen sind Anfang des 13. Jh. entstanden.

Diese sind im einzelnen:

Redaktion A: Hohenems Münchener, aufbewahrt in München, die kürzeste der drei.

Redaktion B: Sankt Gallener, sie wird allgemein als die Beste erachtet.

Redaktion C: Donaueschinger, ihre Abschriften werden als ,,liet-Gruppe" zusammengefasst, die längste der drei. Sie wurde höfisch stark stilisiert.

Es ist wichtig zu wissen, dass ich mich auf Felix Genzmers Übersetzung der Fassung B stütze (erschienen im Verlag Philipp Reclam jun., 1992).

Eben diese Übersetzungen stellen ein weiteres Problem dar. Zu den 33 Abschriften existieren circa 50 Übersetzungen, die sich, genau wie die Abschriften, in ihrer Qualität und etwaigen Nähe zum Original erheblich unterscheiden. Rechnet man all diese Variablen zusammen, kann man sich vorstellen, wie weit wir heute mit unserer Fassung des Nibelungenliedes vom Original entfernt sind.

Das zweite oben angesprochene Problem ist die Zeitspanne, in welcher das Stück entstanden ist. Der uns unbekannte Dichter hat die Handlung des Epos nicht selbst erdacht, sondern vielmehr noch ältere Quellen im Nibelungenlied neu kombiniert und überarbeitet. Die schriftlichen Quellen reichen mindestens bis ins 10. Jh., und die Anmerkung: 1) zu den verschiedenen Handschriften siehe Anhang überlieferten wahrscheinlich bis in die Völkerwanderungszeit zurück, woraus sich Überschneidungen und Diskrepanzen ergeben haben.

2.1 Inhaltsangabe

Das Nibelungenlied besteht aus 39 Aventiuren1 ) , und kann in zwei unterschiedliche Handlungsstränge unterteilt werden. Zum einen das ,,Siegfriedlied", das sich auf die Aventiuren 1 bis 19 erstreckt, und das ,,Burgundenlied", von dem in den Aventiuren 21 bis 39 berichtet wird, wobei die 20. Aventiure ein Übergangskapitel darstellt2 ).

Das Stück beginnt mit der Vorstellung der Hauptpersonen des ersten Handlungskomplexes: Siegfried von Xanten und der Burgundin Kriemhild. Diese ist die Schwester von Gunther, Gernot und Giselher, die als Könige des Reiches Burgund eingeführt werden. Die wichtigsten Gefährten dieser drei Könige sind: Hagen von Tronje, sein Bruder Dankwart, Ortwin von Metz, Gere, Eckewart, Volker von Alzey, Rumold, Sinold und Hunold. Siegfried ist der Sohn von Sieglinde und König Siegmund von Xanten.

Der gerade erwachsen gewordene Siegfried beschließt um Kriemhild zu werben und reitet an den Hof der Burgunden nach Worms. Nach anfänglichen Provokationen seinerseits wird er dort herzlich willkommen geheißen und bleibt ein Jahr am Hof, allerdings ohne Kriemhild treffen zu dürfen. Erst nachdem Siegfried an der Seite der Burgunden gegen die Sachsen und Dänen gekämpft hat und diese so besiegt werden konnten, treffen sich die Beiden und verlieben sich. König Gunther beschließt nun seinerseits zu heiraten und will nach Island zur Feste Isenstein reisen, um dort um Königin Brünhild zu werben. Siegfried, der um die Gefahren dieser Werbung weiß, kann erst dann überredet werden mitzukommen, als Gunther ihm in Aussicht stellt, ihm Kriemhild zur Frau zu geben. Siegfried, der sich vor der Königin als Vasall ausgibt, unterstützt Gunther bei dem Bestehen der lebensgefährlichen Spiele, die jeder Bewerber gegen Brünhild bestehen muss, mit Hilfe seiner Tarnkappe. Diese hatte er in seiner Jugend dem Zwerg Alberich abgerungen, da sie ihren Träger unsichtbar macht und ihm die Kraft von zwölf Männern verleiht. Geschlagen wird Brünhild Gunthers Frau. Zurück in Worms heiraten auch Siegfried und Kriemhild. Brünhild verweigert sich Gunther allerdings in der Hochzeitsnacht und lässt ihren Mann erst dann gewähren, nachdem der unsichtbare Siegfried zum zweitenmal eingegriffen hat. Er stiehlt Brünhild bei diesem Kampf einen Ring und einen Gürtel und schenkt beides Kriemhild. Siegfried und Kriemhild ziehen dann nach Xanten, wo sie nach zwölf Jahren einen Sohn gebiert, der Gunther getauft wird. Auch König Gunther und Brünhild bekommen ein Kind, das im Gegenzug Siegfried heißen soll.

Auf Brünhilds Wunsch laden die Burgunden Siegfried und Kriemhild nach Worms ein. Dort jedoch geraten die beiden Königinnen in einen Streit, da Brünhild behauptet, dass Siegfried nur ein Vasall Gunthers sei. Kriemhild bestreitet dies, was dazu führt, dass sich die Frauen durch ihre Männern übertreffen wollen. Kriemhild gibt vor, dass

Anmerkungen: 1) (mhd.) Begegnung, Abenteuer

2) Hier sei zu beachten, dass in der vorliegenden Reclam-Fassung die 33. Und 34. Aventiure zusammen gefasst wurden, die sonst zwischen Strophe 2011 und 2012 getrennt sind.

nicht Gunther sondern Siegfried sie in jener Nacht zur Frau gemacht hätte und zeigt Brünhild ihren Ring. Diese bezichtigt sie des Diebstahls. Nun schreiten die Könige ein; Gunther spricht Siegfried allerdings von den Anschuldigungen frei, da andernfalls sein Betrug an Brünhild aufgedeckt werden würde. Hagen, Vasall Brünhilds, plant nun die Schmach seiner Herrin durch die Ermordung Siegfrieds zu rächen. Widerwillig stimmt Gunther zu. Durch eine List entlockt Hagen Kriemhild die Position der einzigen Stelle, an der Siegfried verwundbar ist. Diese befindet sich zwischen seinen Schulterblättern, wo ein Lindenblatt haften blieb, als der Held in seiner Jugend in unverwundbarmachendem Drachenblut badete. Hagen ermordet Siegfried während einer inszenierten Jagd, und trotz der Vertuschungsversuche seitens der Könige hat Kriemhild ihn sofort im Verdacht. Durch die Bahrprobe1 ) wird sie bestätigt. Erst Jahre nach Siegfrieds Bestattung ist Kriemhild zu einer oberflächlichen Versöhnung mit Gunther bereit. Als Siegfrieds Erbin verschafft sie sich den von ihm in seiner Jugend eroberten Nibelungenhort, um damit Freiwillige für die Rache an ihren Brüdern anzuwerben.

Um das zu verhindern, versenkt Hagen den sagenhaften Schatz im Rhein2 ), zwölf Jahre nach dem Tod Siegfrieds. Hier endet der erste Teil des Liedes.

Der verwitwete Hunnenkönig Etzel erfährt von Siegfrieds Tod und schickt Rüdiger von Bechelaren als Boten, um sie zu werben. Trotz Hagens Bedenken, Kriemhild könne sich mit Hilfe Etzels an den Burgunden rächen, erlaubt Gunther die Hochzeit. Die beiden heiraten und ziehen nach Etzelburg3 ), wo Kriemhild nach sieben Jahren einen Sohn gebiert, der Ortlieb genannt wird. Nach weiteren fünf Jahren lädt sie ihre Brüder zu sich ein, um endlich Rache an ihnen zu nehmen. Hagen rät ab, die Einladung anzunehmen, begleitet die drei Könige aber, nachdem ihm Feigheit vorgeworfen wird.

Nachdem Hagen auf dem Weg von einem Meerweib prophezeit wird, dass ausser dem Kaplan Gunthers niemand die Reise überleben wird, verweilen die Burgunden mit ihrer Streitmacht an Rüdigers Hof. Dort verlobt sich Giselher mit Rüdigers Tochter Gotelint. Vier Tage lang werden die Burgunden hier bewirtet und beschenkt, bevor sie nach Etzelburg weiterreisen.

Dort angekommen, versucht Kriemhild zweimal ihre Brüder und Hagen durch Schächer töten zu lassen, was aber misslingt. Erst Blödel, Etzels Bruder, kann genug Männer aufbringen, mit denen sich ein Angriff lohnen würde. Den Kampf, bei dem 9000 Burgunden und auch Blödel erschlagen werden, überlebt nur Dankwart, der seine Könige warnen kann, die mit ihrem Gefolge getrennt untergebracht sind. Daraufhin erschlägt Hagen das Kind Ortlieb. Für Kriemhild bzw. Etzel kämpfen nun ausser Rüdiger, der einen inneren Konflikt zu bestehen hat, noch Iring von Dänemark und Irnfried von Thüringen mit ihrem Gefolge. Diese werden alle getötet, bis Dietrich von Bern letztendlich die beiden letzten überlebenden Burgunden Gunther und Hagen gefangennehmen kann. Kriemhild, die von ihnen das Versteck des Nibelungenhortes wissen will, tötet beide, nachdem ihr klar wird, dass sie es nicht verraten werden. Daraufhin tötet Hildebrand, ein Gefolgsmann Dietrichs und damit auch Etzels

Anmerkungen: 1) Nach germanischer Vorstellung fangen die Wunden eines Ermordeten von neuem an zu Bluten, wenn sein Mörder an seine Bahre tritt.

2) Bei dem heutigen Lochheim

3) Wahrscheinlich das heutige Gran, Ungarn

Untertan, Kriemhild, die es als Frau nicht hätte wagen sollen, zwei Krieger zu töten. So endet das Nibelungenlied.

2.2 Struktur und Form des Nibelungenliedes

Wie bereits erwähnt, lässt sich das Nibelungenlied in zwei Hauptkomplexe gliedern. Zum einen das ,,Siegfriedlied" und zum anderen das ,,Burgundenlied". Ein dritter, aus mythischer Vorzeit stammender Handlungskomplex über die Jugendtaten Siegfrieds, wird lediglich angedeutet, so zum Beispiel in dem Bericht Hagens über ihn1 ). Jeder dieser Komplexe umfasst 19 Aventiuren, die durch die 20. Aventiure getrennt sind, in der Hagen den Hort versenkt. Diese beiden Hälften können weiter unterteilt werden: entweder nach Zeit- und Handlungseinheiten oder durch einen Ortswechsel.

So ergibt sich folgende Struktur:

Aventiuren 1 & 2: Einleitung; Beschreibung von Kriemhild und Siegfried

Aventiuren 3 bis 5: Siegfrieds Reise nach Worms; sein Leben am Hof

Aventiuren 6 bis 11: Reise nach Island und die folgende Doppelhochzeit; Kriemhild und Siegfried verlassen Worms und ziehen nach Xanten.

Aventiuren 12 bis 19: Die beiden kommen als Besucher zurück; der Streit der Königinnen; die Ermordung Siegfrieds; Hagen versenkt den Schatz

Aventiure 20: Verbindungsstück zwischen den zwei Komplexen; die Hunnen werden vorgestellt und Kriemhilds Reise zu ihnen vorbereitet

Aventiuren 21 bis 22: Kriemhilds Reise zu Etzel und ihre Hochzeit

Aventiuren 23 bis 27: Kriemhild lädt ihre Brüder ein; diese ziehen nach Etzelburg

Aventiuren 28 bis 31: Die Burgunden an Etzels Hof; erste Konflikte mit den Hunnen

Aventiuren 32 bis 39: Die Kämpfe; Tod fast aller Charaktere

Um eine Verbindung zwischen diesen Abschnitten herstellen zu können, benutzt der Dichter die Berichtform, wobei der überwiegende Teil des Liedes aus Dialogen und epischen Handlungsschilderungen besteht. Selten verfällt er in die erste Person, womit er zum Beispiel Verständnislosigkeit für die Handlungen der Personen ausdrückt2 ). An manchen Stellen haben seine Beschreibungen einen märchenhaften Charakter, zum Beispiel, wenn er die aus der Mythen und Märchenwelt stammenden Meerweiber beschreibt.

Um diese gewaltige Stoffmenge für den Leser, bzw. Hörer, interessant zu gestalten und auszuschmücken, hat der Dichter sich einige Stilelemente zu eigen gemacht, die immer wieder im Nibelungenlied auftauchen. So lockert er die zumeist geradlinig-

Anmerkungen: 1) 3. Aventiure, Strophen 87 bis 100

2) Zum Beispiel in der 10. Aventiure, Strophe 680

chronologische Handlungsabfolge oft durch Vorahnungen, Prophezeiungen oder Retrospektiven auf (z.B. Kriemhilds Falkentraum1 ), die Prophezeiung des Meerweibes2 ), oder Hagens Erzählungen zu den Jugendtaten Siegfrieds3 )).

Auch bedient er sich bisweilen melancholisch-ironischer Bemerkungen4 ), besonders in Szenen höchster Brutalität und Grausamkeit. Das verstärkt im heutigen Leser den Eindruck der Tragik des Stoffes, der dem mittelalterlichen Zuhörer allerdings fremd gewesen sein muss, da das Mittelalter den tragischen Konflikt, der unweigerlich in den Untergang führt, nicht kennt. Ein letztes Stilelement, dass das Nibelungenlied vor allen anderen auszeichnet, sind die detaillierten Beschreibungen des Dichters. Einerseits badet er förmlich in den Details von Kleidern, Gold und Geschmeide, andererseits beschreibt er Kämpfe in ihrer realistischen Blutigkeit (es ist davon auszugehen, dass beide Faktoren auf den Geschmack des höfischen Publikums ausgerichtet waren).

Auch bei diesen Beschreibungen offenbart sich die herausragende Fähigkeit des Dichters zur Szenenregie. Durch einfache Gesten vermag er dem Publikum komplexe Sachverhalte eindringlich und bildhaft darzustellen, was sich unter anderem im Steigbügeldienst5 ) Siegfrieds zeigt. Dieser stellt dar, was Vasallität einem König gegenüber heisst und wozu sie den Vasallen verpflichtet.

Das Nibelungenlied ist, wie fast jede mhd. Heldendichtung, in strophischer Form verfasst. Diese Strophen sind in ihrem Aufbau dem frühen höfischen Minnesang auffallend ähnlich. Die ,,Nibelungenstrophe" ist mit der Kürenbergerstrophe6 ) verwandt.

Eine Strophe besteht aus vier Langzeilen, von denen sich die erste mit der zweiten, und die dritte mit der vierten reimt. Jede Langzeile wird durch eine Zäsur7 ) geteilt, woraus zwei Halbzeilen entstehen. Rhythmisch besteht jede Langzeile aus vier An- und vier Abzeilen. Eine klingende Anzeile wird mir einer stumpfen Abzeile verbunden.

Das besondere, was eben diese ,,Nibelungenstrophe" auszeichnet, ist eine Abweichung von dieser Struktur. In unregelmäßigen Abständen hat der Hörer den Eindruck, dass eine Abzeile schon nach drei, statt nach vier Takten endet. Das resultiert daraus, dass der vierte Takt sozusagen stumm gehört wird, d.h., dass das Ende des dritten Taktes bis zum Ende des vierten klingt. Mit dieser Technik unterstützt der Dichter den Text der Strophe, wobei es sich fast immer um eine düstere Vorahnung oder ein Resümee handelt.

Anmerkungen: 1) 1. Aventiure, Strophe 13

2) 25. Aventiure, Strophe 1542

3) 3. Aventiure, Strophen 87 bis 100

4) So zum Beispiel in der 38. Aventiure, Strophe 2279: "Gunther der vielkühne, mit williger Hand empfing die hehren Helden aus Amelungenland." Es gehört zu. Gunthers königlichen Pflichten, Helden zu empfangen, was hier ins Gegenteil, nämlich Kampf, umgekehrt wird.

5) 7. Aventiure, Strophe 397

6) Nach ,,der von Kürenberg"; mhd. Lyriker Mitte des 12. Jh.

7) Feststehender Einschnitt

2.3 Charakterisierung der Hauptpersonen

Es fällt dem heutigen Menschen verständlicher Weise sehr schwer, die Motive und daraus den Charakter der handelnden Personen im Nibelungenlied objektiv zu beurteilen. Faktoren wie Lehnstreue, germanischer Fatalismus, höfische Wertvorstellungen und vielleicht sogar die christliche Weltanschauung, die die einzelnen Charaktere mehr oder weniger bestimmen, sagen uns nur noch wenig.

Auch der Dichter hält sich weitgehend von einer Wertung der Personen zurück; nur selten richtet er sich, wie in 1.3 erwähnt, damit an den Leser oder legt seine Meinung in den Mund einer Person1 ). Und er beschreibt in seinem Werk nicht einen makellosen Archetypen des germanischen Helden, sondern zeigt vielmehr ein breites Spektrum menschlicher Emotionen auf, das von Hass bis Liebe und von Habgier bis Freigebigkeit reicht. Aus eben diesem Grund kann man im Nibelungenlied auch heute noch viel über die sozialen Verhältnisse der Personen aus dieser Zeit lernen und aus den Erkenntnissen für sich selbst profitieren.

Siegfried von Xanten

Vom althochdeutschen sigu = Sieg, und fridu = Friede; auch Sigfrid, Seyfried, nordisch Sigurd; aufgrund der unverwundbarmachenden Hornhaut auch gehörnter Siegfried. Er stellt die Lichtgestalt des Epos, den ,,minniglichen" Helden, dar. Seine Fähigkeiten im Kampf sind herausragend und sein Charakter von edlen höfischen Zügen geprägt. Er ist angriffs- und abenteuerlustig, sprunghaft, spontan, tugendhaft und wohlerzogen. Vor allem Gunther gegenüber ist er jedoch in einer naiven Weise hilfsbereit, was ihn später das Leben kostet. Einige mal durchbricht er das Bild des makellosen Ritters, zum Beispiel, wenn er Kriemhild wegen ihrer Schwatzhaftigkeit durchprügelt2 ).

Kriemhild

Vom althochdeutschen grime = Helm, und hild, hiltja = Kampf, in den nordischen Quellen Gudrun oder Grimhild; wahrscheinlich ein Walkürenname

Der radikale Wechsel ihres Charakters nach Siegfrieds Ermordung ist der wichtigste Aspekt bei ihrer Betrachtung. Genau wie Siegfried wird sie als ,,minniglich" vorgestellt. Dies beinhaltet Tugendhaftigkeit (Jungfräulichkeit), Schüchternheit und Gefügigkeit. Nach Siegfrieds Tod wird sie jedoch zur Teufelin3 ); hat sie sich vorher durch Liebe leiten lassen, wird sie jetzt nur noch von dem Gedanken, Rache an ihren Brüdern zu nehmen, bestimmt. Dabei geht sie vollkommen gewissenlos vor, und schreckt auch nicht davor zurück, ihren Sohn Ortlieb für die Sache zu opfern.

Anmerkungen: 1) So zum Beispiel in: ,,wie die Freude gerne am Ende sich wandelt in Leid" (39. Aventiure, 2378. Strophe)

2) 15. Aventiure, Strophe 894

3) mhd. valandinne; z.B. 39. Aventiure, Strophe 2371

Gunther

Vom althochdeutschen gund = Kampf, und heri, hari = Heer, Gunther von Burgund, lat. Gundicarius und Gundaharius, nordisch Gunnar. Entspricht dem burgundischen König Gundikar oder Gundahar .

Das Siegfriedlied beschreibt die Demontage Gunthers als Mann. Bei dem Streit der Königinnen erniedrigt ihn Kriemhild und spricht ihm ab, Brünhilds erster Mann gewesen zu sein. Die logische Folge nach germanischer Vorstellung muss Siegfrieds Ermordung sein, der er zustimmt. Dass Hagen diese plant und ausführt relativiert, den Eindruck der Skrupellosigkeit, den wir heute von Gunther erhalten, nur leicht. Vorher zeigte er sich zwar als echter Freund Siegfrieds, was ihn jedoch nicht in seiner Stellung als Herrscher beeinflussen durfte.

Im zweiten Teil wird Gunther als etwas naiv in Bezug auf die Annahme von Kriemhilds Einladung, aber in den späteren Kämpfen gegen die Hunnen auch als tapfere Führungspersönlichkeit präsentiert.

Hagen von Tronje

Tronje wahrscheinlich nach dem westlich von Worms gelegenen Ort Tronege; nordisch Högni.

Hagens Denken und Handeln ist vollkommen seiner Lehnstreue zu Gunther und seiner Vasallität zu Brünhild untergeordnet. Ihre Aufträge, die er wie die Ermordung Siegfrieds teilweise selbst motiviert, erfüllt er mit Mut, Verschlagenheit, und gewaltiger Kampfstärke. Eine christliche Weltanschauung, wie sie die anderen Charaktere alle mehr oder weniger bestimmt, ist ihm völlig fremd. Dafür stellt er den Inbegriff eines germanischen Gefolgsmannes dar, für den weder ein Zaudern noch ein Zurück nach einer einmal getroffenen Entscheidung existieren.

Nur einmal bricht Hagen aus seinem alles bestimmenden Lehnsverhältnis zu Gunther aus, nämlich als er sich weigert gegen Rüdiger zu kämpfen1 ). Hier ist seine Maxime die Freundschaft, womit er seinen König zeitweise im Stich lässt; Hagen bleibt sich selbst immer treu und arbeitet sonst nur für das Wohl seines Volkes.

Rüdiger von Bechelaren

Vom althochdeutschen hruod = Ruhm, und ger = Speer; Bechelaren nach dem Ort Pöchlarn an der Donau, Rüdeger von Bechlarn.

Die Gestalt Rüdigers ist mit der Dietrich von Berns, die am stärksten christlich geprägte. So richtet er sich zum Beispiel in einem Hilferuf an den christlichen Gott2 ). Er sucht vor dem letzten Kampf den Kompromiss, und an der Erkenntnis, dass dieser nicht existiert, zerbricht Rüdiger. Der tragische Konflikt Rüdigers, bei dem er entscheiden muss, ob er nach dem Lehnseid zu Etzel und Kriemhild oder nach dem Gastrecht und der Schwägerschaft zu den Burgunden handelt, ist der emotional aufgeladene Kernpunkt des ,,Burgundenliedes"1 ). Er lässt das Lehnsverhältnis zu Etzel siegen, was seinem bis dahin gültigen Bild eines friedfertigen, christlichen Ritters widerspricht.

Anmerkungen: 1) 37. Aventiure, Strophe 2200

2) 37. Aventiure, Strophe 2154

Brünhild

Vom althochdeutschen brunna = (Brust-) Harnisch, und hild, hiltja = Kampf; Brunhild, Brunhilde, Brünhilde, nordisch Brynhildr, Brynhild Eine Frau mit übermenschlichen Kräften. Sie wird zwei mal von Siegfried bzw. Gunther gedemütigt (bei den Spielen und in der ersten Nacht), wobei sie beide Niederlagen mit Würde erträgt. Sie wird erst als edle und züchtige Maid beschrieben, was nach der Enthüllung des Betruges in Hass und Rachsucht umschlägt. In dem Streit mit Kriemhild erscheint sie, nachdem sie lange genug gereizt wurde, als neidvoll und arrogant.

3.1 Die geschichtliche Wirklichkeit

Den Stoff des Nibelungenliedes historisch zu belegen, ist die Aufgabe von Generationen von Historikern und Archäologen gewesen. Trotzdem hat die Wissenschaft, vor allem für das ,,Siegfriedlied", nur wenige Parallelen zu bewiesenen Fakten herstellen können. So ist zum Beispiel das Vorbild für die Gestalt Siegfrieds bis heute nicht eindeutig geklärt. Ich will hier deswegen nur einige Thesen zu seinem Ursprung kurz ansprechen. Am verbreitetsten ist die Vermutung, dass es sich bei ihm um den Frankenkönig Sigibert I. (Merowinger) handelt. Dieser heiratete 566 oder 567 Brunhild, Tochter des westgotischen Königs Athanagild. Sigiberts Bruder Chilprerich I. von Neustrien heiratete Brunhilds Schwester Galswintha. Fredegund, einstige Mätresse Chilprerichs, überredete ihn zum Mord an seiner Gemahlin. Danach heiraten Fredegund und Chilperich. Brunhild und Fredegund sind sich spinnefeind. Auf Brunhilds Drängen führt Sigibert Krieg gegen Chilperich. 575 stirbt Sigibert I., wahrscheinlich auf Wunsch Fredegunds. Die historische Brunhild würde jedoch eher zur Figur Kriemhilds passen und Fredegund eher zur Brünhild des Nibelungenliedes. Das die Namen allerdings so vertauscht wurden ist für Heldenepen untypisch.

Auch wird die These vertreten, bei Siegfried handele es sich um den vertriebenen Sohn eines ripuanischen Fürstenhauses, der im ersten Drittel des 5. Jh. am burgundischen Hof aufgenommen wurde (Helmut de Boor). Andere sehen in ihm den ostgotischen Heerführer Uraja oder den Cheruskerfürsten Arminius und wieder andere gehen davon aus, dass er komplett der Mythen- und Märchenwelt entspringt.

Belege für das ,,Burgundenlied" zu finden ist hingegen weitaus einfacher. Die aus dem Gebiet der mittleren Oder stammenden Burgunden gründeten ihr Reich um 270, das sich vom heutigen Marseille bis nach Orléans erstreckte und deren Mittelpunkt wohl in Worms lag. Sie wurden von den Römern recht schnell als Föderaten gewonnen (407), um die Rheingrenze gegen die Barbaren zu schützen.

Die Burgunden fühlten sich von Anfang an mit den Römern verwandt, behielten aber immer ihre eigene Identität. Ihr Stammvater war Gibica, den die Sage auch als Stammvater der Gibikungen in Erinnerung behielt. In der Liste seiner Nachfahren1 ) findet man auch einen Gundahar (Gunther; regiert um 400 bis 436) und einen Gislahar (Giselher). Burgund war zu dieser Zeit ein wohlhabendes Reich, was hauptsächlich aus den engen Beziehungen zu Rom resultierte.

Anmerkung: 1) 37. Aventiure

Gesellschaftlich war die freie burgundische Bevölkerung in drei Gruppe unterteilt:

Optimates: Adel

Mediocres personae: Gehobenes Kriegertum Leude s: Einfaches Volk

Als die Burgunden allerdings in die römische Provinz Belgica I vorzustoßen drohten, schlug der römische Heermeister Aetius 435 zurück und bereitete gleichzeitig die Zerschlagung des burgundischen Reiches vor. 436 griff er mit hunnischen Hilfstruppen an und Gundahar, und fast sein ganzes Volk, wurden getötet. Die meisten übriggebliebenen Burgunden wurden in das Gebiet südlich des Genfer Sees umgesiedelt und nahmen, wieder als römische Föderaten, 451 an der Hunnenschlacht auf den Katalaunischen Feldern teil. Danach näherten sie sich den Römern wieder an, bis die Burgunden 534 ihre letzte Schlacht gegen die Franken verloren und in deren Reich eingegliedert wurden. Attila (Etzel) wird 441 Alleinherrscher der Hunnen, nachdem er seinen Bruder Bleda (Blödel) ermorden ließ. Die Schlacht von 436 wird im Nibelungenlied mit der Schlacht auf den katalaunischen Feldern vermischt, wahrscheinlich, um das Lied um die Persönlichkeit Etzels und seiner Hunnen zu bereichern. 453 stirbt er in der Hochzeitsnacht mit seiner germanischen Geliebten Hildico (Hildchen; eventuell das

Vorbild Kriemhilds) an einem Blutsturz. König Theoderich der Große (Dietrich von Bern) wird erst ein Jahr nach Attilas Tod geboren und begründet auf den Trümmern des römischen Westreiches einen neuen gotischen Staat. Er stirbt 526 in Ravenna (Oberitalien).

3.2 Die Quellen des Nibelungenliedes

Wie bereits erwähnt, schöpft der Autor hauptsächlich aus älteren schriftlichen Quellen und verbindet diese mit eigenem und überliefertem Wissen zu einem neuen Werk. Diese Quellen lassen sich in solche nordischen (heutiges Skandinavien, Island, Dänemark) und mitteleuropäischen (heutiges Deutschland, Österreich) Ursprungs unterteilen. Ich will im folgenden die wichtigsten schriftlichen Quellen nennen.

In der aus Island stammenden ,,Lieder-Edda1 )" wurden um 1270 gesammelte ältere nordische Lieder und Sagen zusammengestellt. Diese enthält vor allem das ,,Alte Sigurdlied", und das ,,Alte Atlilied2 )". Diese beiden balladenartigen Lieder sind vor der Entstehungszeit des Nibelungenliedes bekannt gewesen und beschreiben auch grob den selben Stoff.

Aus der ,,Snorri-Edda", einem Dichterhandbuch des Isländers Snorri Sturluson, das dieser um 1220 verfasst hat, kann man Bezüge zu älteren Prosaabhandlungen herstellen. Diese behandeln zumeist kleine Auszüge aus dem Nibelungenlied, wie zum Beispiel Gudruns (Kriemhilds) Gattenklage oder ihr Sterbelied. Ferner beinhaltet sie die ,,Völsungasaga", in der Sigurds (Siegfrieds) Jugendtaten beschrieben werden.

Anmerkungen: 1) Auch ,,Codex Regius", oder ,,Ältere Edda"

2) Entstanden im 9. Jh.; Atli entspricht hier dem Etzel des Nibelungenliedes

Um 1250 stellt ein norwegischer Schreiber die ,,Thidreksaga" zusammen, in der die Geschichte Dietrich von Berns, und auch die des ,,Alten Sigurdliedes" und ,,Alten Atliliedes" erzählt wird.

Die älteste schriftlich erhaltene ,,deutsche" Quelle zum Nibelungenlied ist die ,,Waltharilied", die Ekkehart I. von Sankt Gallen um 930 verfasst hat. Aus ihr hat der Dichter wahrscheinlich Hagens Vorgeschichte entnommen, was zum Beispiel in der Strophe 2344 der 39. Aventiure durchklingt.

Weiterhin wird höchstwahrscheinlich auch eine ,,deutsche" Fassung des erwähnten ,,Alten Atliliedes" existiert haben, die sogenannte ,,Ältere Not". Andreas Heusler sieht in ihr das ,,Österreichische Burgundenepos", das gegen 1160 entstanden ist. Diesem legt er dann ein im 5./ 6. Jh. entstandenes ,,Fränkische Brünhildlied" und ein ,,Fränkische Burgundenlied" zugrunde. Ins 8. Jh. setzt Heusler ein ,,Bairisches Burgundenlied.

Keines dieser Lieder ist bis heute erhalten, man kann aber davon ausgehen, dass unser Dichter sich im Nibelungenlied auf die ,,Ältere Not" beruft.

3.3 Der Autor des Nibelungenliedes

Um ein Werk von allen Blickwinkeln aus interpretieren zu können, ist es natürlich auch ratsam, soviel wie möglich über seinen Autor zu erfahren. Dass der Autor des Nibelungenliedes nicht namentlich bekannt ist, macht eine Auseinandersetzung mit selbigem natürlich nicht einfacher, aber auch nicht schwerer als eine Analyse der meisten anderen Heldenepen. Es ist gewissermaßen Gesetz des Volksepos, dass sein Verfasser anonym bleibt. Dies wurzelt in der Auffassung, die der Dichter von seiner Arbeit hat. Er sieht sich nicht als jemanden, der ein neues Werk erdenkt und niederschreibt, sondern eher als Vermittler germanischer Traditionen und Sammler von Sagen und Liedern. Hätte er also seinen Namen unter das Nibelungenlied gesetzt, würde er sich damit sozusagen die Urheberrechte an dem Stück sichern, was er nicht kann. Auch hält er es nicht für nötig seinen Namen den Lesern und Hörern seines Werkes zu offenbaren, da dies seiner Meinung nach keinen Unterschied auf seine Wirkung machen würde. Der Dichter steht also vollkommen hinter seinem Werk zurück.

Trotzdem existieren natürlich viele Vermutungen über seine Person. Ich will hier einige nennen, da es sich, wie gesagt, für ein Verständnis des Nibelungenliedes als hilfreich erweisen kann.

Recht sicher kann man den Ort bestimmen, an dem der Dichter arbeitete und lebte. Verfolgt man nämlich die Reise der Burgunden zu Etzelburg aufmerksam, so fällt einem auf, dass die Gegend zwischen Passau und Wien sehr genau beschrieben wird; dem Dichter muss sie vertraut gewesen sein. Auch der Dialekt, in dem das Lied verfasst worden ist, deutet auf diese Gegend hin. Weiterhin erwähnt der Dichter lobend einen Bischof Pilgrim von Passau als Utes Bruder. Dessen Vorbild wird wahrscheinlich Wolfger von Erla (Ellenbrechtskirchen), Bischof von Passau gewesen sein (1191 bis 1204), der auch als Gönner fahrender Künstler bekannt war.

Auf diesen Fakten basierend hat sich deswegen die These etabliert, der Dichter könne ein Kleriker der Passauer Domschule gewesen sein. Andere Vermutungen, bei ihm handele es sich um Wolfram von Eschenbach, Wirnt von Grafenberg, Walther von der Vogelweide oder Heinrich von Ofterdingen konnten nicht bewiesen werden.

Auch zur Datierung des Stückes sind einige hilfreiche Fakten bekannt. So spielt zum Beispiel Wolfram von Eschenbach in seinem 1204/1205 entstandenen ,,Parzival" auf Rumolt, den Küchenmeister der Burgunden an. Das Amt des Küchenmeisters wurde allerdings erst 1198 von Philipp von Schwaben neu geschaffen, was noch einen Spielraum von sechs bis sieben Jahren lässt.

Behauptet man also heute, das Nibelungenlied wurde von einem gebildeten Bayer oder Österreicher um das Jahr 1200 geschrieben, kann man damit nicht sehr falsch liegen.

3.4 Der höfische Epos und seine christliche Verfälschung

Ich möchte nun, da ich in dieser Arbeit schon des öfteren den Begriff Epos für das Nibelungenlied verwendet habe, dieses Wort einmal erläutern.

Epos stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wort, Rede, Erzählung, Gedicht, und beschreibt eine lange, erzählende Dichtung, welche sich hauptsächlich durch Erhabenheit (in ihrer Thematik wie auch Stil) auszeichnet und meist in Versform verfasst wurde.

Entstanden ist der Epos hauptsächlich aus dem Bedürfnis heraus, sich mit höfischen, mythischen oder göttlichen Stoffen auseinanderzusetzen. Der Epos selbst beschäftigt sich dann fast immer mit dem Leben und Wirken großer historischer Persönlichkeiten oder Sagengestalten und zeichnet sich durch formale Geschlossenheit in Versmaß und Strukturierung aus. Man unterscheidet zwischen Volksepik und literarischer Epik. Da das Nibelungenlied einen Volksepos darstellt, will ich auf diesen genauer eingehen.

Der Volksepos mit germanischer Thematik entstand im 9. Jh. und bezieht sich oft auf ältere Quellen. Er entwickelte sich aus der Tradition der mündlichen Erzählung und des Erzählliedes, die durch Barden bis ins Hochmittelalter getragen wurde.

Der höfische Ritterepos entstand in Deutschland in der Mitte des 12. Jh.. Er resultierte aus einer Rückbesinnung des Adels auf alte germanische Werte, die zur Festigung des Lehns- und Vasallenverhältnisses des Volkes ihnen gegenüber diente. Ein mittelalterlich-christliches Rittertum wurde von den Dichtern in eine germanisch heidnische Umwelt transponiert. Dieses wurde dort romantisch übersteigert zum Exempel ritterlicher Tugenden und christlicher Werten.

Dieser Fakt stellt genau jene Diskrepanzen dar, die ich in 1.1 angesprochen habe. Der christliche Überzug, den der Dichter des Nibelungenliedes seinem Werk angeheftet hat wirkt nämlich nie überzeugend und auch oft fehl am Platz. Die Charaktere begehen zwar ab und an christliche Zeremonien1 ), zeichnen sich aber nie durch wirklich christliche Werte aus oder reflektieren ihr Handeln aus einer christlichen Sichtweise. Auf Rüdiger und Dietrich, denen so etwas unterstellt werden könnte, trifft dies meiner Meinung nach ebensowenig wirklich zu wie auf die anderen Charaktere. Ausserdem wirkt vor allem Rüdigers Konflikt, bei aller emotionalen und philosophischen Tiefe, auf mich sehr konstruiert; nämlich um Hagen nun als sympathischen Helden des ,,Burgundenliedes" präsentieren können, der christlich handelt, wie es Rüdiger hätte tun sollen.

Davon abgesehen kann die Gestalt des Rüdiger von Bechelaren eindeutig als Zutat des Autor ausgemacht werden, da sie absolut nicht in die Völkerwanderungszeit passt und sie auch nirgendwo geschichtlich belegt ist. Auch deswegen vermuten einige Literaturwissenschaftler, dass die christlichen Elemente im Nibelungenlied absichtlich so oberflächlich beigefügt worden sind, weil das Stück eventuell als eine kleine Auflehnung gegen die zu dieser Zeit alles beherrschende Religion verstanden werden kann. Die christliche Patina hätte dann nur eine Alibifunktion.

4.1 Der Germane als Musterbild des Helden

Um die Vorgänge innerhalb der Verhältnisse der Personen des Nibelungenliedes begreifen zu können, muss man ersteinmal die Lebenseinstellung der Germanen, denn bei allen Charakteren handelt es sich schließlich um Germanen, verstehen lernen. Hier seien ein paar Fakten zu den Germanen erwähnt, die auf die meisten Stämme zutreffen.

Der germanische Stamm war unterteilt in die kleine Sippe und den größeren Gau. Zu Beginn unserer Zeitrechnung hatten manche Gaue nur in Kriegszeiten einen Anführer; zur Zeit des Tacitus2 ) wählten einige Gaue auch schon für die Friedenszeiten ein Oberhaupt. Die Macht dieser Oberhäupter war nicht unumschränkt, sondern durch einen Rat der Adligen und eine Versammlung der Krieger eingeschränkt. Laut Tacitus setzte sich die germanische Gesellschaft aus Freien, Halbfreien und Sklaven zusammen. Die Freien stellten die Krieger, die in Gefolgschaften durch gegenseitigen Eid zusammengeschlossen waren und unter der Führung eines Fürsten standen. Den Fürsten verknüpfte ein enges Band mit seinem Gefolge. Einerseits war er dazu angehalten, sein Volk zu führen und zu versorgen, andererseits ist es die oberste Pflicht eines Kriegers, seinen Herren zu schützen und ihm was immer geschieht zu folgen. Das lohnt er ihnen dann mit Gelagen und Geschenken. Das Verhältnis zwischen Gefolgsmann und Herr beruht auf Dienst und Lohn.

Der Krieger selbst stellt nach germanischer Vorstellung den Höhepunkt der eigenen Rasse dar. Er ist Vorbild und scheut kein Opfer für seinen Herrn und seine Ideale.

Der Krieg war für die Germanen der Sinn ihrer Existenz, eine heilige Handlung, die sie ihren Göttern näher brachte. Folglich ist der Friede eine Unterbrechung ihrer Lebensbetätigung. Sie lenken sich dann meist mit der Jagd und dem Gelage vom Nichtstun ab.

Anmerkungen: 1) So besuchen die Burgunden zum Beispiel bevor die Kämpfe ausbrechen mit den Hunnen den Münster (31. Aventiure, Strophen 1850 bis 1867)

2) Tacitus, Publius Cornelius (um 55 bis ca. 115 n. Chr.), römischer Geschichtsschreiber

Auf dem Kriegszug war die Frau Genossin des Mannes; sie feuerte den Krieger zu neuem Widerstand an, pflegte die Verwundeten und starb den Heldentod mit dem vernichteten Heer. Die Germanen sahen in ihren Frauen etwas mystisch-heiliges. Sie konnten die Zukunft voraussehen, Zauber wirken und Dämonen unter ihren Willen zwingen. Sie war verehrenswert.

Das Leben war zu rauh, zu gefährlich, als dass die Germanen einen Sinn für die Feinheiten ihrer Existenz hätten entwickeln können; Liebe war folglich zu dieser Zeit noch kein Handlungsmotiv oder Triebkraft.

Über die wichtigsten Angelegenheiten in Friedenszeiten wurden in Volksversammlungen (dem Thing) abgestimmt. Dieser war gegliedert in Familie, Sippe, Dorfgemeinde, Gau und Hundertschaft. Hier wurden Rechtsurteile gesprochen und Staatsgeschäfte verhandelt.

Da der germanische König oder Häuptling keinen Autokraten darstellte, hatte im Thing jeder freie Mann das Recht zur Rede, wobei die Meinung der Alten und Weisen am meisten geachtet wurde. Das germanische Denken war von der Sitte bestimmt: Der allgemeine Brauch bestimmt das Denken und Handeln des einzelnen. Die Sitte war unverletzlich und wurde durch Zeremonien gefestigt und praktiziert.

Trotzdem waren die Germanen keine unterschiedslose Masse. Der Unterordnung unter die heilige Sitte stand ein ungebändigter Freiheitsdrang gegenüber, der im Germanen oft genug Konflikte mit der vorgegebenen Weltanschauung heraufbeschwor.

Diese sittlichen Vorgaben wurden von den germanischen Stämmen jedoch schnell vergessen, als das weströmische Reich unter ihren Angriffen zerfiel und es an ihnen lag, die Herrschaft über Europa an sich zu reissen.

Im Rausch der Macht wandelte sich Leidenschaft im Kampf zur wilden Grausamkeit, und Ruhmbegierde zur maßlosen Herrschsucht. Selbst Verwandtenmord war nichts aussergewöhnliches mehr. Der Mord wurde nicht als schweres Verbrechen geahndet, sondern konnte durch Wehrgeld gesühnt werden. Dem Feind gegenüber war alles erlaubt.

Das grundsätzlich paradoxe im germanischen Geist (auch in dem der Frau) war, dass seine Liebe zur Selbstverwirklichung Hand in Hand mit Maßlosigkeit und Übermut ging.

Religiös war der Germane zusätzlich gespalten. Einerseits glaubte er an ein allgemein gültiges System von Naturkräften und -geistern, andererseits hatte jeder Krieger eine persönliche Beziehung zu einem individualisierten, sagenumwobenen Gott. Auch änderten sich die Götter mit der Zeit. Es gab keinen festen Götterstab.

Allerdings ist der wichtigste, alle anderen selbst entwickelten oder vorgegebenen Anschauungen ausfüllende Aspekt der germanischen Existenz der Begriff des Schicksals. Das Schicksal konnte weder durch Helden noch durch Götter abgewendet werden und zeigte sich immer im Kampf. Alles was dem Germanen also eigentlich blieb, war immer ein vorbestimmtes Ende vor Augen bestmöglich gegenüber dem unabwendbaren zu handeln.

Seinem Schicksal ergeben, ist der Germane ein Fatalist.

4.2 Die Verhältnisse der Personen untereinander mit einer Betrachtung der 37. Aventiure

Die Beziehungen der Personen im Nibelungenlied sind durch viele Faktoren geprägt. Ich habe versucht die wichtigsten und allgemein gültigen aufzuzeigen und werde diese nun an einem Ausschnitt aus der 37. Aventiure konkretisieren und auf die handelnden Personen anwenden. Diese Aventiure ist deshalb so interessant, weil sie in allen Belangen den Höhepunkt des Stückes darstellt; ob emotional, erzähltechnisch oder im Bezug auf die christliche Veränderung des Stoffes durch den Autor. An ihr lassen sich wunderbar die verschiedenen Motive der Personen, die Bedeutung der Freundschaft bei den Germanen oder die höfische Lehnstreue aufzeigen.

Zur Vorgeschichte:

Kriemhild hat Blödel in der 32. Aventiure überreden können, die Burgunden anzugreifen. Das gesamte Fußvolk der Burgunden und auch Blödel sind bei dem Kampf ums Leben gekommen, doch Dankwart kann seine Herren und die Ritter, die mit Etzel und Kriemhild im Festsaal speisen, warnen. Die Schlacht im Festsaal beginnt, vor der sich Kriemhild und Etzel durch Dietrichs Hilfe in Sicherheit bringen können. Die Hunnen werden getötet und die Burgunden verschanzen sich im Festsaal. Nachdem die Burgunden auch noch den Markgraf Iring von Dänemark und Landgraf Irnfried von Thüringen mit ihrem Gefolge, und 20.000 Hunnenkrieger abwehren, bieten sie Etzel den Frieden, oder wenigstens das Fortsetzten der Kämpfe unter freiem Himmel an. Kriemhild wäre im Austausch gegen Hagen dazu bereit, den sie allerdings nicht bekommt. Daraufhin lässt sie den Saal anzünden. Die Burgunden löschen ihren Durst auf Anraten Hagens mit dem Blut der Gefallenen. 600 Burgunden überleben das Inferno. Kriemhild lässt noch einmal 1200 Hunnen den Saal anstürmen, die bis zum Morgen aufgerieben werden. Da Etzel nun keine eigenen Krieger mehr zur Verfügung stehen, bittet er und Kriemhild Rüdiger von Bechelaren mit seinen Kriegern die Burgunden anzugreifen.

2151-2154

Sie [Kriemhild] sprach: ,,Bedenke Rüdiger, der hohen Eide dein, der Festigkeit und Treue, daß du den Schaden mein immer wolltest rächen, sowie all mein Leid. Daran mahn ich dich heute, Degen kühn und kampfbereit."

Etzel der reiche, zu flehen auch begann. Sie warfen sich beide zu Füßen dem Mann. Den guten Markgrafen zu trauern Mann da sah. Der vielgetreue Recke sprach voll schweren Kummers da:

,,Wehe Gott, mir Armen!" sprach der treue Mann. ,,All meine Ehre muß ich geben dran, alle Zucht und Treue, die Gott mir gebot. Reicher Gott im Himmel, daß mir nicht wenden will der Tod!

Welches ich nun lasse, das andere zu begehn, stets ist durch mich Böses und Übeles geschehen. Laß ich aber beides, so schmäht mich alle Welt. Nun möge mich erleuchten, der ins Leben mich gestellt!"

Kriemhild erinnert Rüdiger an seinen Schwur, alles Übel, was ihr in Etzels Land angetan wird, zu rächen (20. Aventiure, Strophe 1257). Sie will das Versprechen, was er ihr aus Freundschaft und echter Überzeugung heraus gegeben hat, nun für ihre Rachepläne ausnutzen und weiss genau, dass sie Rüdiger dabei in einen tiefen seelischen Konflikt stürzt.

Das ist ihr allerdings egal, da sie für die Rache schon lange alle Moral und Skrupel abgelegt hat. Etzel beginnt darauf an zu flehen; er durchbricht hier höfisches Standesdenken und erniedrigt sich selbst vor einem Untertan. Dies macht seine Verzweiflung deutlich, wobei sie bei ihm wohl weniger auf dem Rachegedanken basiert, als vielmehr auf reinem Überlebenswillen. Werden die Burgunden nicht bald getötet, stellen sie für ihn eine große Gefahr da.

Rüdiger wendet sich in seiner Verzweiflung, wenn auch etwas verhohlen, an einen christlichen Gott. Einerseits hat er den Burgunden das Gastrecht gewährt, als sie bei ihm am Hof waren. Gastrecht impliziert zu dieser Zeit allerdings nicht nur das Recht des Gastes auf Unterkunft und Bewirtung, sondern auch Schutz durch den Gastgeber. Rüdiger müsste also eigentlich die Burgunden in seinem Reich, das bis zu Etzels Hof reicht, vor allen Gefahren schützen. Andererseits ist er Etzel durch seinen Lehnseid und Kriemhild durch das oben genannte Versprechen zum Schutz verpflichtet.

2157

Da sagte der Markgraf, Rüdiger, der kühne Mann:

,,Herr König nehmt nun wieder , was ich von euch gewann, Das Land und die Burgen; die will ich nicht mehr sehn. Ich will auf meinen Füßen ins Elend von hinnen gehen.

Der immer verzweifeltere Rüdiger unternimmt als letzten Versuch etwas, was von vorne herein zum Scheitern verurteilt ist. Er will das Lehnsverhältnis in dem er mit Etzel steht aufkündigen (sog. Diffidatio); ihm seine Burgen und sein Land zurückgeben und ins Elend (in die Fremde) gehen. Etzel ist aber genauso verzweifelt wie er, was den Versuch scheitern lässt.

2159

Da sprach der König Etzel: ,,Was hülfe dieses mir? Das Land und auch die Burgen, das gebe ich alles dir, rächst du mich, Rüdeger, an den Feinden mein; du sollst ein mächtiger König neben mir im Lande sein."

Standesgrenzen sind nach mittelalterlicher Vorstellung gottgegebene Grenzen. Etzel, in allergrößter Verzweiflung, schreckt selbst nicht mehr vor Gottes Gesetz zurück und will Rüdiger neben sich zum König der Hunnen machen.

Das Problem der Überschreitung der Standesgrenzen ist im Nibelungenlied allerdings nicht neu. Schon bei dem Streit der Königinnen in der 14. Aventiure wird dieses Problem deutlich. Kriemhild wirft Brünhild vor, sie sei die Kebse Siegfrieds gewesen1 ). Dabei ist das vorrangige Problem für Brünhild aber nicht, dass Gunther nicht ihr erster Mann gewesen ist (was allerdings für Gunther ein Problem wird), sondern das ihr vorgeworfen wird, ein Dienstmann Gunthers habe sie entjungfert (Siegfried hatte sich vor Brünhild als Vasall Gunthers ausgegeben2 )=Dienstmannfiktion).

Der etwas simple Etzel versteht allerdings Rüdigers Beweggründe nicht. 2162

Meine Tochter gab ich dem Degen Giselher. Auf Erden konnte nimmer Gutes sie finden mehr, galt es Zucht und Ehre, Treue oder Gut. Nie zeigte ein junger König solchen tugendreichen Mut."

Rüdiger beruft sich nun auf seine Schwägerschaft zu Giselher, um nicht gegen die Burgunden kämpfen zu müssen. Rechtlich gesehen hat er sich durch die Verlobung seiner Tochter mit den Burgunden versippt.

Hier sei noch zu erwähnen, dass im Mittelalter und auch davor die Verlobung die eigentlich wichtige Zeremonie darstellte. Durch sie wurden die Familien von Braut und Bräutigam zusammengeschlossen, d.h. versippt. Die eigentliche Heirat ist eher als eine logische Folge zu bewerten.

Man kann allerdings davon ausgehen, dass, wenn man die Spontaneität der Verlobung von Giselher und Gotelint betrachtet, die Burgunden diese Verbindung aus Kalkül arrangiert haben. Zum einen wussten sie von der drohenden Gefahr an Etzels Hof und erhofften sich wahrscheinlich Rüdigers Hilfe, zum anderen haben Gotelint und Giselher nicht den selben Stand, da sie Tochter eines Markgrafen und er ein König ist.

Kriemhild kann Rüdiger allerdings nun überreden, seinen Widerstand aufzugeben. 2163

Zu dem edeln Weibe sprach da Rüdeger: ,,So muß ich mit dem Leben es entgelten nunmehr, was ihr und mein Herrscher mir Liebes habt getan. Dafür muß ich sterben; mir steht kein längeres Zögern an."

Diese Sätze Rüdigers spiegeln eben den in 4.1 erwähnten Fatalismus der Germanen wider. Theoretisch blieb Rüdiger noch eine andere Möglichkeit übrig, ausser sich für die Seite der Hunnen oder der Burgunden zu entscheiden: Er könnte fliehen und sich so dem Konflikt entziehen. Rüdiger zieht diese Möglichkeit aber von vornherein nicht einmal in Betracht, weil sich das Schicksal eines germanischen Kriegers immer im Kampf zeigt und er, immer sein Schicksal vor Augen, bestmöglich in seinem Leben handeln muss. Würde er fliehen, würde Rüdiger in seinen Augen also den größten

Anmerkungen: 1) Strophe 839

2) 7. Aventiure, Strophe 386

Fehler begehen und sich seinem Schicksal entziehen. Dieser Punkt ist es, der im heutigen Leser den Eindruck des Fatalismus erweckt.

Natürlich ist dieser Begriff relativ und zur Zeit der Völkerwanderung hätte sich wahrscheinlich niemand als fatalistisch bezeichnet.

Der seelisch zerstörte Rüdiger hat sich also nun bereiterklärt die Burgunden anzugreifen und richtet vorher noch einige erklärende Worte an sie.

2175

Der edle Markgraf rief hinauf sogleich: ,,Nun wehrt euch, edle Recken vom Burgundenreich! Ich wollte Freud euch bringen, nun bring ich Leid herein. Einst waren wir Freunde, nun muß ich euer Feind sein."

Nach der rechtlich-ständische Diffidatio, die Rüdiger bei Etzel versuchte und dieser nicht zuließ, will er nun mit den Burgunden eine sittliche Diffidation. Um allen Beteiligten den unvermeidbaren Kampf einfacher zu machen, will er den Burgunden die Freundschaft kündigen, was ihm offensichtlich sehr schwer fällt.

Giselher entgegnet:

2180

Wir sollten es stets entgelten, was ihr uns gegeben, ich und meine Magen, lasset ihr uns am leben, die herrlichen Gaben, da ihr und Euere Mannen uns in Freundschaft führtet zu dieser Festlichkeit von dannen."

Giselher weist Rüdiger hier auf das oben erwähnte Gastrecht hin, aber auch auf eine andere Verpflichtung seinerseits.

Die Burgunden erhielten an Rüdigers Hof Geschenke, so bekam Hagen zum Beispiel einen Schild und Gernot ein Schwert. Nach germanischer Vorstellung wohnt Geschenken etwas Magisches, fast Heiliges inne; es bindet den Beschenkten in die Verantwortung des Schenkenden. Gabe und Freundschaft sind hier identisch.

Persönliche Verhältnisse werden bei den Germanen wie auch im Nibelungenlied immer wieder durch Gesten verdeutlicht und klargestellt.

Giselher wird nun klar, dass sich Rüdiger nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt. 2191

,,Das wäre ich euch wohl schuldig", sprach Giselher, das Kind. ,,Meine edlen Magen [Freunde], die noch hier innen sind, sollen die durch Euch sterben, so muß geschieden sein die so feste Freundschaft mit Euch und mit dem Weibe mein."

Giselher stellt hier die Verhältnisse klar. Wenn Rüdiger die Burgunden angreifen sollte, wird er nicht zögern und seine Freunde verteidigen.

Giselher stellt seine Blutsverwandtschaft zu seiner Familie über die Sippenbindung zu seinem Schwiegervater Rüdiger.

Rüdiger steht nun kurz davor das Gespräch zu beenden und anzugreifen.

2193

,,Bleibt noch eine Weile, vieledler Rüdeger!" Also sprach da Hagen. ,,Wir wollen reden mehr, ich und meine Herren, da uns zwingt die Not. Was mag es Etzel helfen, trifft uns Fremde der Tod?

Ich stehe in großen Sorgen, vieledler Fürst so mild: Die Markgräfin gab mir diesen reichen Schild. Den haben die Hunnen zerhaun mir vor der Hand. Ich brachte ihn in Freundschaft her in König Etzels Land.

Das wollte Gott im Himmel", sprach weiter Hagen, ,,hätt ich einen so guten Schild hier zu tragen, wie du ihn hast am Arme, vieledler Rüdiger, so braucht ich wider die Hunnen keine Halsberge [Rüstung] mehr."

Hagen provoziert hier die Wiederholung des Geschenkaktes. Er will so Rüdiger einerseits doch noch dazu drängen nicht anzugreifen, ihm aber auch die Gelegenheit dazu bieten, als schenkender Freund und nicht als erbitterter Feind gegen die Burgunden anzutreten, wenn er denn muss. Vor allem durch diese und die folgenden Dialoge Hagens, wird er endgültig als sympathischer Held des ,,Burgundenliedes" eingeführt.

Rüdiger schenkt ihm seinen Schild, was die umstehenden Kämpfer und auch Hagen rührt.

2198-2002

Wie grimm auch Hagen wäre und wie hartgemut, doch erbarmt ihn die Gabe, die der Recke gut nahe seinem Ende hatte ihm angetan. Gar mancher edle Ritter mit ihm zu trauern begann.

,,Nun lohn euch Gott im Himmel, vieledler Rüdiger! Euresgleichen gibt es keinen andern mehr, der den fremden Recken so mild etwas gäbe. Gott soll es gebieten, daß eure Tugend immer lebe!

So lohn ich euch die Gabe", sprach Hagen der Degen, ,,ich lasse mich zu nichts Übelm wider euch bewegen, daß nimmer euch berühre im Kampfe meine Hand, erschlügt ihr auch alle, die aus Burgundenland."

Hier wird Hagens Veränderung nun endgültig klar. Er entbindet sich aus seiner Vasallität dem burgundischen Königen gegenüber und lässt seine Freundschaft zu Rüdiger siegen.

Eigentlich bedürfte er zu dieser gewaltigen Geste die Zustimmung seiner Lehnsherren. Er ist sich aber sicher, dass sie ihm diese gewähren werden, womit er auch Recht behalten soll.

Gunther, Gernot und Giselher handeln hier ganz genau so, wie es Etzel vorher Rüdiger gegenüber hätte tun sollen. Sie respektieren die (christliche) Nächstenliebe und Freundschaft Hagens zu Rüdiger und zwingen ihn nicht gegen ihn zu kämpfen, was sich sicher auch verheerend auf die Kampfstärke der Burgunden auswirkt.

Rüdiger, vorher der Inbegriff der christlichen Nächstenliebe und Hagen, vorher der Inbegriff des bis in den Tod treuen Lehnsmannes und Vasallen, tauschen hier also die Rollen. Hagen schafft es, trotz des nahenden Kampfes sich Rüdiger als Freund zu erhalten und verzeiht ihm durch seine Rede gewissermaßen seine ,,bösen" Absichten.

Hagen heilt hier das von Rüdiger gebrochene Gesetz der christlichen Nächstenliebe durch kompromisslose Freundschaft und nimmt dabei auch in kauf, seine Vasallität zu verraten.

Volker schließt sich sofort danach Hagens Angebot an Rüdeger an und verweigert auch den Kampf.

4.3 Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass, wenn man einmal von Volkers und Hagens Freundschaft und der Freundschaft der Burgunden Rüdiger gegenüber absieht, keine der Personen im Nibelungenlied durch wahre Freundschaft auffällt. Die meisten der Beziehungen der Personen sind vom Standesdenken oder ähnliches angeborenen Unter- oder Überlegenheitsdenken geprägt. Verletzt man diese natürlichen Grenzen, zieht das unweigerlich eine Blutrache nach sich (z.B. der Streit der Königinnen: Kriemhild verletzt durch ihre Anschuldigungen Brünhilds Stolz; Folge: Siegfried wird getötet).

Hagen und Volker sind die einzigen, die die Willensstärke und Treue zu sich selbst besitzen, um mit ihrer Freundschaft zu Rüdiger die vorprogrammierte, endlose Spirale der Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.

Einzig dort, wo keine ständischen Unterschiede zu finden sind, entsteht wahre, gegenseitige Freundschaft, z.B. bei Volker und Hagen. Volker hat die Position eines burgundischer Fürsten und Hagen ist Heerführer, Vasall und Minister der Könige, was sie rechtlich ungefähr auf eine Stufe stellt. Trotzdem lassen sich die inneren Beweggründe für das Verhalten einzelner Charaktere nicht immer nachvollziehen.

Was treibt zum Beispiel Hagen dazu, plötzlich Rüdiger gegenüber völlig seinen Charakter umzudrehen und seine Könige zurückzulassen, wenn vorher beschrieben wird wie er trotz immenser Zweifel mit ihnen zu Etzels Hof, also in den sicheren Tod fährt?

Vielleicht spielen hier Vorgeschehnisse aus der ,,Walthariussage" mit ein oder vielleicht ist der heutige Mensch auch einfach nicht mehr fähig solch eine Charakterentwicklung nachzuvollziehen, weil er niemals Situationen ausgesetzt sein wird, wie die Menschen vor 1500 Jahren.

Wieso flieht Rüdiger nicht vor dem Kampf, wenn er vorher Etzel schon angeboten hat, als Mittelloser in die Fremde zu ziehen1 )?

Weshalb unterstützt Gunther Hagen nicht, der verzweifelt gegen Dietrich kämpft2 )?

Warum fesselt Dietrich von Bern Gunther nach Beendigung der Kämpfe3 ), obwohl er weiß, dass diese Behandlung und Demütigung für einen König schlimmer ist als der Tod selbst?

Antwort: aus Lehnstreue, wegen seines fatalistischen Kriegerethos und wieder aus Lehnstreue.

Das Schema ist ganz einfach.

Für jede erdenkliche Situation in der man über sein Handeln entscheiden muss, gibt es Regeln: ständische, christliche, etc. Das diese in beeindruckender Weise zu durchbrechen sind beweisen Hagen und Volker.

Anmerkungen: 1) 37. Aventiure, Strophe 2157

2) 39. Aventiure, Strophe 2352

3) 39. Aventiure, Strophe 2361

Literaturverzeichnis

Primärtext:

Das Nibelungenlied

Übersetzung von Felix Genzmer. Um einen Anhang erweiterte Ausgabe. Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 1992

Sekundär- und Quellentexte

Gehse, Haro: Erläuterungen zu Nibelungenlied. Königs Erläuterungen und Materialien Band 94. C. Bange Verlag-Hollfeld, 1991

Nibelungenlied; Gelesen und Kommentiert von Peter Wapnewski. Der HörVerlag GmbH, München 1996

von See, Klaus: Edda, Saga, Skaldendichtung - Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters. Carl Winter - Universitätsverlag Heidelberg, 1956

Internet:

http://www.nibelungenlied.de.

,,Das Nibelungenlied - Vom Heldenlied zur Reimchronistik" Hausarbeit von Stephanie Junkers, 1997

,,Germanisch, christlich, ritterlich - Das Motiv der Versöhnung" Seminararbeit von Christian Bachmann, 1997

5.1 Anhang

Handschriften des Nibelungenliedes

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anmerkungen:

A-Z: Pergamenthandschriften des 12.-14. Jahrhunderts

a-n: Pergamenthandschriften des 15.-16. Jahrhunderts und Papierhandschriften

*: Fragmente

ausführliche Angaben in:

·Willy Krogmann, Ulrich Pretzel: Bibliographie zum Nibelungenlied und zur Klage Bielefeld: E.Schmidt Verlag, 4.erw. Aufl.1966, S.11-21

(Reihe: Bibliographien zur deutschen Literatur d. Mittelalters 1) ISBN: 3-503-00357-6

Otfrid Ehrismann: Das Nibelungenlied. Abbildungen, Transkriptionen und Materialien zur gesamten handschriftlichen Überlieferung

Göppingen: Kümmerle 1973 (Litterae 23)

Peter-Jörg Becker: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen Wiesbaden 1977 140-160

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Das Nibelungenlied - Die sozialen Verhältnisse im Nibelungenlied und ihr geschichtlicher Hintergrund
Note
10 Punkte
Autor
Jahr
2000
Seiten
35
Katalognummer
V97951
ISBN (eBook)
9783638964029
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Umfassende, eher allgemein gehaltene Arbeit über das NL und sein Umfeld mit einer Behandlung der sozialen Verhältnisse
Schlagworte
Nibelungenlied, Verhältnisse, Nibelungenlied, Hintergrund
Arbeit zitieren
Christian Baier (Autor:in), 2000, Das Nibelungenlied - Die sozialen Verhältnisse im Nibelungenlied und ihr geschichtlicher Hintergrund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97951

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