Phantastische Elemente der Kinder- und Jugendliteratur im Vergleich zur Erwachsenenliteratur


Magisterarbeit, 2002

109 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Definition des Begriffes Phantastik

3 Die kognitive und moralische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen
3.1 Das Entwicklungsmodell von Piaget
3.2 Das Entwicklungsmodell von Kohlberg
3.3 Das Entwicklungsmodell nach Erikson

4 Untersuchung ausgewählter Kinderbücher auf phantastische Elemente hin
4.1 Märchenhaft – phantastische Bücher
4.1.1 Die Geschichte und Herkunft der Märchen
4.1.2 Merkmale herkömmlicher Märchen im Vergleich mit Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren
4.1.3 Das Phantastische in Die Brüder Löwenherz
4.2 Komisch – phantastische Bücher
4.2.1 Phantastik und Komik
4.2.2 Komik in der phantastischen Kinderliteratur am Beispiel von Paul Maars Sams
4.2.3 Surrealismus und Nonsens als Möglichkeit der Komik in phantastischen Kinderbüchern
4.3 Realistisch – phantastische Bücher
4.3.1 Der Gurkenkönig als Problemliteratur
4.3.2 Das Phantastische und das Realistische und die Funktion des Phantastischen in Der Gurkenkönig

5 Untersuchung ausgewählter Jugendbücher auf phantastische Elemente hin
5.1 Abenteuer – Phantastik
5.1.1 Das Reisemotiv in Märchenmond als phantastisches Motiv
5.1.2 Gut und Böse als zentrales Element phantastischer Jugendliteratur und seine Funktion
5.2 Fantasy – Phantastik
5.2.1 Unterschiede zwischen Fantasy und Phantasik
5.2.2 Die Narnia Chroniken als phantastische Literatur oder Fantasy?
5.2.3 Der religiös – philosophische Aspekt in den Narnia – Chroniken Literatur für Erwachsene?
5.3 Unheimlich – düstere Phantastik
5.3.1 Der Sagengehalt von Preußlers Jugendroman Krabat
5.3.2 Die Funktion des Phantastischen – die Auseinandersetzung des jugendlichen Lesers mit der Entwicklung und dem Tod
5.3.3 Krabat als jugendlich – erwachsene Phantastik

6 Versuch einer Definition von Phantastik in Kinder- und Jugendliteratur
6.1 Die Veränderung der Funktion phantastischer Elemente in der Kinder- und Jugendliteratur zur Erwachsenenliteratur hin
6.2 Der Begriff der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur

7 Schlussbemerkung

8 Literaturverzeichnis
8.1 Quellen:
8.1.1 Kinderliteratur
8.1.2 Jugendliteratur:
8.2 Forschung:
8.2.1 Kinder- und Jugendliteratur:
8.2.2 Zur kognitiven und moralischen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen:
8.2.3 Zur Definition von Phantastik:

1 Einleitung

Die Phantastik ist eine der umstrittensten Literaturgattungen unserer Zeit. Der Beginn ihrer Entstehung wird von den meisten Forschern in der Zeit der Romantik angesetzt, als sich die Menschen der dunklen Nachtseite der menschlichen Seele in Literatur und Kunst zuwandten. Seit dem versuchen Literaturforscher eine Definition dieses Genres zu geben. Besonders die Franzosen sind auf diesem Gebiet weit vorgedrungen. Die Phantastik oder das Phantastische bedeutet immer etwas Unerwartetes, ein Auftauchen neuer, fremder Welten, das Ineinanderdringen zweier Sphären, von denen die eine uns, den Lesern und den Helden, unbekannt ist. Schließlich begann sich die Phantastik auch in der Literatur für Kinder und Jugendliche auszuweiten. Dabei wandelte sie sich aber von der erschreckenden, grauenerregenden Literatur zu einer kindgerechten Lektüre. Wir sehen heute bedeutende Unterschiede zwischen Kinder- und Jugendliteratur sowie Erwachsenenliteratur. Es ist an der Zeit gerade die Lektüre jüngerer Leser zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen zu machen.

Es ist eine Aufgabe der Kinder- und Jugendliteraturforschung zu untersuchen, ob die Genres der Kinder- und Jugendliteratur dieselben sind wie die Genres der Erwachsenenliteratur.[1]

Wie so oft wird auch das Phantastische in der Kinder- und Jugendliteratur vernachlässigt und als „trivial“ abgetan. Doch die jungen Leser von heute sind die erwachsenen Leser und Autoren von morgen. Es muss daher interessieren, was Kinder und Jugendlichen heute lesen, was sie zum Gegenstand und Inhalt ihrer jungen Leben machen. Die Forschung zur Kinder- und Jungendliteratur hat erst in den letzten Jahren wirklich Aufwind bekommen.

Das Faktum, das diese Art von Literatur erst in den letzten Jahrzehnten den vollen Durchbruch schaffte, dürfte auch damit zusammenhängen, daß dem kindlichen Denken mehr Aufmerksamkeit geschenkt und nicht wie bisher versucht wurde, im Kind lediglich den späteren Erwachsenen zu sehen.[2]

Bei Kindern wie auch Jugendlichen steht häufig die Phantasie im Vordergrund. Sie hilft zu vermitteln, befreit die Kinder von Zwang und Stress im Alltag und unterhält nicht, wie von vielen Forschern impliziert, auf niedrigem Niveau. Was ist an der Phantasie bedeutsam, dass sie so oft den Weg in die Bücher der Kinder und Jugendlichen macht? Welche Funktion hat sie bei den Lesern, welche bei den Erwachsenen? Inwiefern steht sie im Zusammenhang mit der Phantastik, an der sich erwachsene Leser mit wohligem Schauer erfreuen? Entwickelte sie sich aus dieser Gattung heraus, ist sie eine eigenständige Gattung und wie hängt sie mit anderen typischen Kinder- und Jugendliteraturgenres zusammen? Dies sind Fragen die diese Arbeit im Folgenden zu erklären versucht.

Zuerst soll eine kurze Definition von Phantastik gegeben werden, wie sie in der gegenwärtigen Forschung für die Erwachsenenliteratur gängig ist. An diese Definition werden wir uns halten, wenn wir die Kinder- und Jugendliteratur auf ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin untersuchen werden. Beschäftigt man sich mit Literatur für Kinder und Jugendliche, muss auch die Entwicklung der Leser berücksichtigt werden. Hierfür sollen verschiedene Theorien der kognitiven und moralischen Entwicklung von Kindern dargestellt und etwaige Verbindungen zwischen dem Stand der Entwicklung und dem Umgang der Leser mit der Literatur untersucht werden. Im Folgenden sollen einige Beispiele aus der Kinder- und Jugendliteratur konkret zum Untersuchungsgegenstand werden. Hierbei wird unterschieden werden zwischen Literatur für Kinder (ca. 6 – 12 Jahre) und Literatur für Jugendliche (12 – 18 Jahre). Der Übergang und die Unterschiede der erarbeiteten Ergebnisse zur Erwachsenenliteratur sollen schließlich kurz angerissen werden.

Zu den benutzten Primärtexten ist noch folgendes zu sagen: Sie entstammen alle aus der Kinder- und Jugendlektüre, die nach Hans – Heino Ewers als von Kindern und Jugendlichen freiwillig gelesene Texte darstellen. Ebenso treffen die meisten der Titel aber auch auf die intentionale Kinder- und Jugendliteratur zu, d.h. es sind Texte, die auch von Erwachsenen als für Kinder- und Jugendliche geeignet verstanden werden. Die weitere Unterteilung, die Ewers hier vornimmt, muss leider außer Acht gelassen werden.[3]

2 Definition des Begriffes Phantastik

Um einen Begriff der Phantastik für die Kinder- und Jugendliteratur entwerfen zu können, müssen wir von den gängigen Definitionen in der Erwachsenenliteratur ausgehen. Die Theorie von Tzvetan Todorov soll hier den Ausgangspunkt bilden.[4] Weitestgehend wird sich diese Arbeit an seinem Begriff von Phantastik orientieren. Einige Punkte seiner Arbeit sollen jedoch für den hier benutzten Begriff ausgeklammert oder durch Theorien anderer Kritiker ersetzt werden.

Nach Todorov muss Literatur insbesondere drei Kriterien erfüllen, um als phantastische Literatur bezeichnet zu werden. Als Erstes nennt er die Unschlüssigkeit, die der Text beim Leser auslösen soll und zwar dadurch, dass dieser die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen betrachtet. Weiterhin kann diese Unschlüssigkeit auch vom Helden der Geschichte selbst empfunden werden. Wichtig und unabdingbar für Todorov ist jedoch die Zurückweisung einer allegorischen oder poetischen Interpretation.[5]

Von Todorov ausgehend zeigt sich, dass in den Hauptmerkmalen phantastischer Literatur sich die Forschung im Großen und Ganzen einig ist. Bei den einschlägigen Werken wird Phantastik zumeist mit der Konfrontation zweier unterschiedlichen aber in sich stimmigen Welten definiert. So z. B. bei Callois[6], Vax[7], Zgorgelski[8] oder Marzin[9]. Auch das Merkmal, dass durch das Auftreten einer zweiten, bis dahin unbekannten Ebene, Gefühle wie Unschlüssigkeit, Angst, etc. auftreten sollen, ist bei den meisten der Kritiker zu finden, so bei Vax (S. 12), Callois (S. 46/56) und Zgorgelski (S. 61).

Nach Todorov währt das Phantastische aber nur so lange wie dieses Gefühl der Unsicherheit. Ein wenig uneinig ist sich die Forschung dann aber doch bei der Frage, bei wem diese Unsicherheit ausgelöst werden soll. Leser, Held oder beide?

Über die Themen, die das Phantastische behandeln oder behandeln sollte, lässt sich so einfach keine genaue Eingrenzung erzielen. Todorovs Theorie der Ich- und Du – Themen soll hier nicht zum Einsatz kommen, da diese (schon aufgrund ihres teils sexuellen Inhaltes) gerade bei der Kinder- und Jugendliteratur nicht anwendbar ist. Der größte Teil der Forschung begnügt sich damit, bekannte Themen und Motive phantastischer Literatur aufzuzählen, wie bei Vax oder Callois.

Spontan wird man wohl bei der Motivik ansetzen und das Phantastische vor allem in den ´irrealen´ Wesenheiten und ´kontraempirischen´ Vorgängen sehen wollen, also in den Marsmenschen, der revitalisierten Leiche und dem Jahrhundertschlaf. Wenn man ´Phantastik´ als allgemeine, Literatur, bildende Kunst und andere nichtsprachliche Medien umgreifende ästhetische Kategorie postulieren will, bleibt dies in der Tat der einzige Mögliche Ansatzpunkt. (...) Entscheidend kann aber eben nicht ihr (die phantastischen Elemente J.M.) bloßes Vorhandensein und der Grad ihrer Phantastizität sein, der sich ohnehin nicht absolut und isoliert bestimmen läßt, sondern, wie sie eingesetzt werden, ob sie bloß punktuelle oder temporäre Störungen in einer ansonsten ´realistischen´ Erzählwelt bewirken oder deren Grenzen grundlegend überschreiten und erweitern. (...) Das sind Wirklichkeitsbereiche, die – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen – aus dem rationalen Weltbild als nicht erfahrbar bzw. unbeschreibbar ausgegliedert worden sind. Sie werden deshalb in der ´normalen´ Literatur entweder gar nicht betreten (Zukunft, Weltraum) oder nur realistisch kolonisiert in die Erzählwelt aufgenommen (Unbewusstes).[10]

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass Phantastik sich vor allem durch ein Gefühl der Angst und/oder Unschlüssigkeit beim Leser (und auch beim Helden der Geschichte) definiert, das durch das Aufeinandertreffen zweier Welten entsteht, von denen eine die dem Leser (und auch dem Helden) bekannten Realität entspricht.

Die Phantastik hat viele verwandte Gattungen wie die Science Fiction, der Horror oder die Groteske:

Inhaltlich wird das Phantastische oft im Zusammenhang gesehen mit dem Grotesken, dem Manieristischen, dem Absurden, dem Unheimlichen und dem Wunderbaren.[11]

Doch können all diesen phantastischen Formen hier nicht einzeln Beachtung geschenkt werden. Die einzelnen Unterschiede der Forschung zur Phantastik hierzu (z. B. Marzins Bezeichnung der Welten als Handlungskreise, etc.) sollen hier erst einmal vernachlässigt werden. Poetische und allegorische Lesart soll vermieden werden sowie das Grauen, das die Phantastik hervorrufen soll, ins Lächerliche zu ziehen.

3 Die kognitive und moralische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen

Um darüber diskutieren zu können, welcher Phantastikbegriff bei der Literatur kindlicher und jugendlicher Leser geeignet scheint, muss vorangehend die geistige Entwicklung vom Kindesalter bis zum Erwachsensein betrachtet werden. Hierzu soll im Folgenden insbesondere die Forschung von Piaget über das Weltbild des Kindes sowie die Entwicklung des moralischen Urteils und darauf aufbauend die Diskussion über die sechs Stufen von Lawrence Kohlberg und die acht Phasen der Entwicklung von Erik Erikson herangezogen werden. Zuerst sollen die einzelnen Theorien kurz aufgezeigt und dann kritisch auf ihre Anwendung für diese Arbeit hin betrachtet werden.

3.1 Das Entwicklungsmodell von Piaget

Piaget untergliedert die geistige Entwicklung des Menschen in vier Hauptstadien (die Unterstufen sollen hier vernachlässigt werden) ein.

1. Sensumotorische Phase (0 bis ca. 2 Jahre)
2. Präoperationale Phase (2 bis ca. 7 Jahre)
3. Phase der konkreten Operationen (7 bis ca. 12 Jahren)
4. Phase der formalen Operationen (ab ca. 12 Jahren)

Zu 1. Auf der ersten Stufe kann das Kind infolge seiner begrenzten kognitiven Möglichkeiten nicht zwischen physikalischen Gesetzen und moralischen Regeln unterscheiden[12]. Es übt sich in den ihm durch Wahrnehmung (Sensualität) und Bewegung (Motorik) bekannten Regeln und beginnt dann diese auf neue Situationen hin zu erforschen. Piaget unterteilt dieses Stadium in: 1. Die Übung angeborener Reflexe; 2. primäre Reaktionen; 3. sekundäre Reaktionen; 4. Koordination und Anwendung der erworbenen Handlungsschemata; 5. tertiäre Reaktionen; 6. Übergang vom sensumotorischen Akt zu Vorstellungen.

Zu 2. Das Kind registriert in dieser Phase die Regeln in seiner Umwelt.

Seine Welt wird von der Idee beherrscht, die Dinge seien so, wie sie sein müssten, die Handlungen eines jeden entsprächen Gesetzen, die zugleich moralisch und physisch sind, kurz es gäbe eine universale Ordnung[13].

Die Regeln werden zwar grob befolgt, d.h. sie werden nachgeahmt, jedoch der tiefere Sinn bleibt noch unerkannt. Dies nennt Piaget den "Egozentrismus“ des Kindes. Weitere Merkmale die hier auftauchen sind u. a. die „unangemessene Generalisierung“. Kinder begreifen ihre Sicht der Dinge als die einzige und damit moralisch korrekte.

Zu 3. Beginnt für das Kind der Schulalltag, tritt es in die dritte Phase der Entwicklung ein. Jetzt lernt es die richtigen Vorstellungen von Zahlen, Zeit und Raum, begreift die Anordnung von Hierarchien und Beziehungen in der Klasse.

Es fehlt jedoch noch etwas Wesentliches [...] die Fähigkeit des Kindes, formal zu denken, d.h. mit den Regeln der Vernunft derart vertraut zu werden, dass es sie auf jeden beliebigen Fall, einschließlich der rein hypothetischen Fälle anwenden kann[14].

Bis jetzt wird das logische Denken nur auf konkrete und vorstellbare Ereignisse angewendet. Abstrakt Logik anzuwenden, ist dem Kind in diesem Alter noch fremd. Jedoch kommt es hier erstmals zu einer Aneignung des Prinzips der Gleichheit im sozialen Bereich.

Zu 4. Die letzte Phase bezieht Piaget auf die formale Operation des Kindes. Nun lernt es das abstrakte Denken und das Umgehen mit Hypothesen. Ebenso die Gedächtnisleistung nimmt zu und komplexere, neue Systeme zur Problemlösung stehen zur Verfügung. Hier soll sich die bisher einseitige Achtung hin zur Kooperation und zur gegenseitige Achtung entwickeln[15]. Dieses neue Regelbewusstsein geht einher mit der Überwindung des ursprünglichen Egozentrismus, mit der Entwicklung der Fähigkeit, andere Standpunkte von den eigenen zu unterscheiden und in der Meinungsbildung zu berücksichtigen[16].

Das Kind ist nun an einem sozialen Gleichgewicht und Gerechtigkeit interessiert. Sein moralisches Urteil hat sich von dem heterogenen der ersten Stufe zu einen autonomen entwickelt.

Im Verlauf der Entwicklung des Gerechtigkeitsgefühls finden Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen zunehmend mehr Beachtung und es werden komplexe Vorstellungen von Reziprozität und Gleichheit erkennbar[17].

Die Forschungsergebnisse Piagets erscheinen schlüssig und nachvollziehbar, jedoch muss man kritisieren, dass sie eventuell den heutigen Umständen nicht mehr entsprechen. Piaget führte diese Untersuchungen in den 20er Jahren und unter anderen gesellschaftlichen und erzieherischen Bedingungen durch. Insbesondere die Altersangaben, die Piaget zu seinen Probanden macht (siehe: Piaget, J.: Das Weltbild des Kindes. München. 1988.) erscheinen mir für heutige Verhältnisse zu hoch. Verschöbe man die Alter um drei bis fünf Jahre nach unten, könnten sie ein realistischeres Bild auch für den heutigen Stand abgeben. Dies ist natürlich eine Behauptung, die einer genaueren Untersuchung bedarf, für die es hier leider an Zeit und Raum mangelt.

3.2 Das Entwicklungsmodell von Kohlberg

Auf Piagets Theorie über die geistige Entwicklung des Kindes baut das Sechs-Stufen-Modell des moralischen Urteils bei Kohlberg auf. Lawrence Kohlberg geht bei der Bildung einer moralischen Urteilsfähigkeit von drei Niveaus mit jeweils zwei Stufen aus, die das Individuum durchgehen muss.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vgl.: Garz, Detlev: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Opladen. 1989. S. 156.

Stufe eins zeichnet sich durch das Fehlen eines tiefergehenden Moralverständnis aus. Das Kind versucht in erster Linie die (physische) Bestrafung zu vermeiden und befolgt alleine aus diesem Grund die Regeln. Einen anderen Standpunkt als seinen kennt das Kind nicht (egozentrischer Standpunkt).

Die Prinzipien zur Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung sind demzufolge der Gehorsam des Schwachen gegenüber dem Starken und die Bestrafung des abweichenden Schwachen durch den Starken. Den Gerechtigkeitsbegriff als solchen gibt es auf dieser Stufe noch nicht, sondern eine Handlung ist gut bzw. gerecht, wenn sie keine Bestrafung, sondern eine Belohnung nach sich zieht.[18]

Gerechtigkeit und Moral wird auf der nachfolgenden Stufe nach dem Prinzip „eine Hand wäscht die andere“ betrieben. Das Kind versucht durch Austausch und Handel zwar fair zu sein, ist aber doch auf seine Bedürfnisse ausgerichtet, die für sein Handeln den Ausschlag geben. „Richtig“ oder „gut“ zu handeln kann daher relativ sein, fällt es mit dem Handeln nach eigenen Wünschen zusammen, entstehen keine Konflikte. Das Kind wird sich aber hier erstmals Interessenunterschieden und der Notwendigkeit von deren Lösungen bewusst.

Tritt das Individuum in die konventionelle Ebene ein, beginnt es auf der dritten Stufe danach zu streben, mit der Befolgung der Regeln eine gewisse soziale Anerkennung zu erlangen. Das Gruppengefühl, das von dem Kind in dieser Zeit erfahren wird, ist eine wichtige Motivation, die moralische Entwicklung voranzutreiben. Der bis dahin herrschende Egozentrismus ist nun überwunden, das Kind kann sich auch in andere Personen hineinversetzen.

Fängt das Kind an, über die Beziehungen zu nächsten Verwandten oder Freunden hinaus zu denken, begreift es die Wichtigkeit eines sozialen Systems, die Gesellschaft. „Recht und Ordnung“ zu befolgen wird zur „Pflichterfüllung“ in eben diesem System (Law-and-Order-Orientierung). Nach Kohlberg soll das Kind auf der Stufe vier die gegebene soziale Ordnung um ihrer selbst Willen anerkennen. Sie wird nicht in Frage gestellt und es ist auch kein Streben nach einer Veränderung der vorhandenen Gesellschaft zu erkennen.

Befindet sich das Individuum auf dem postkonventionellem Niveau, kommt es gegebenenfalls erstmals zu Gewissenskonflikten durch die sture Befolgung herrschender Gesetze und Regeln. Diese werden jetzt nicht mehr einfach nur angenommen, sondern auch hinterfragt. Recht und Unrecht bekommt immer mehr „persönliche Werte“ oder „Meinungen“. Es soll ein Konsens gefunden werden, der den Bedürfnissen möglichst vieler Gruppen entspricht. Dafür steht ein „Sozialvertrag“, der nach den geltenden Regeln und Prinzipien aufgestellt wird, jedoch auch modifiziert werden kann.

Stufe sechs befähigt den Menschen seine moralische Entscheidung in Einklang mit universellen, ethischen Prinzipien zu bringen. Dieses Stadium ist das Ideal, das erreicht werden kann, es ist zu vergleichen mit Kants „kategorischem Imperativ“ (Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird!). Das moralische Denken beruht auf Abstraktion und sollte allgemeine Prinzipien wie Gerechtigkeit, Menschenrechte und –würde beinhalten.

Dieses Modell von Kohlberg mutet sehr idealistisch an. Die praktische Umsetzung dieser Theorie ist fraglich, insbesondere das postkonventionelle Niveau (und hier die letzte Ebene) wird nur selten wirklich anzutreffen sein. Zudem muss man sich die Frage stellen, auf welche Alter Kohlberg dieses Modell bezieht. Ob eine Moralentwicklung im Sinne des Kantschen Imperativs bei Kindern und Jugendlichen anzutreffen sei, möchte ich bezweifeln. Die Motive, die Kohlberg für das moralische Handeln beim Kind angibt, sind aber auch für die heutige Zeit anwendbar. Jedoch muss man berücksichtigen, dass es Motive für das moralische Handeln, nicht für die eigene moralische Meinung sind, die doch gebildet werden soll. Kohlberg gab seine Untersuchungen in den späten 70er Jahren heraus.

3.3 Das Entwicklungsmodell nach Erikson

Nach dem Psychoanalytiker und Psychiater Erik H. Erikson dauert die Entwicklung des Menschen sein Leben lang an. Unterteilt ist sie in acht unterschiedliche Phasen, die aufeinander aufbauen. Jede dieser Ebenen muss (länger oder kürzer) durchlaufen werden. Eine Phase kann erst durch Bewältigung einer „Krise“ verlassen werden. Im Folgenden sollen die acht Stadien kurz erläutert werden.

1. Ur-Vertrauen gegen Ur- Misstrauen

In der ersten Phase (Neugeborene) erfährt der Mensch entweder die Verlässlichkeit der Bezugsperson (Mutter, Amme) oder seine Vernachlässigung durch diese. Dies ist ein Eckstein der gesunden Persönlichkeit[19] nach Erikson. Das Gefühl, sich „blind“ auf jemanden verlassen zu können, in dessen Anhängigkeit man sich befindet, muss sich hier einstellen.

2. Autonomie gegen Scham und Zweifel

In der zweiten auch „muskulär-anal-Phase“ genannt, beschäftigt sich das Kind mit „Loslassen“ und „Festhalten“, den Grundmodalitäten. Durch Pedanterie, Konservatismus und übertriebener Reinlichkeit kann durch die Eltern ein dauerndes Scham- und Zweifelgefühl ausgelöst werden. Wird die Erziehung des Kindes jedoch zu diesem Zeitpunkt richtig gehandhabt, beginnt sich aus einer Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls ... ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz[20] zu entwickeln.

3. Initiative gegen Schuldgefühl

In dieser Ebene fängt eine ungebrochene Initiative als Grundlage eines hochgespannten und doch realistischen Strebens nach Leistung und Unabhängigkeit[21] in dem Kind an zu wirken. Dies entsteht durch die Nutzung der fast abgeschlossenen Entwicklung der Sprach- und Bewegungsfähigkeit beim Kind. Wird dieses aber darin gebremst, kann bei ihm ein Schuldgefühl entstehen, dass es selbst oder doch seine Triebe ihrem Wesen nach schlecht seien[22].

4. Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühle

Nach Erikson ist hier im Allgemeinen die Zeit des Eintritts in die Schule oder vergleichbare Institutionen vorzufinden. Hier soll das Kind gefördert werden und seiner Entwicklung dienlich ist es, wenn seine Leistungen auch als positiv angesehen und gelobt werden, sich also ein „Werksinn“ entwickeln kann. Geschieht dies nicht kann das Minderwertigkeitsgefühle, die die menschliche Entwicklung bremsen, zur Folge haben.

5. Identität gegen Identitätsdiffusion

In dieser pubertären Phase der beginnenden Jugendlichen ist es wichtig, dass sich eine (vorläufige) Identität bei dem Individuum einstellen sollte. „Einheitlichkeit und Kontinuität“ muss zusammengehalten werden und die Erwartungen an den Jungendlichen müssen erfüllt werden, soll eine Verwirrung der Identitätsgefühle vermieden werden.

6. Intimität gegen Isolierung

Beim Abschluss oder der letzten Phase des Jugendlichsein und beim Eintritt in das Erwachsenenalter sollte sich eine Fähigkeit zum Eingehen zwischenmenschlicher Beziehung gebildet haben. Das Gegenteil ist die Isolierung, die Abschirmung des Individuums zur Außenwelt hin.

7. Generativität gegen Selbstabsorption

Ab einem gewissen Alter hat der Erwachsene Interesse daran, Familie zu gründen und eine nächste Generation zu erziehen. Dies steht in Verbindung mit dem Wusch nach einer „schöpferischen Leistung“. Erikson nennt den Mangel an diesem Bedürfnis „Selbstabsorption“. Hat der Mensch auf dieser Stufe seine bisherige Entwicklung nicht ordentlich durchlaufen können, tritt hier eine Stagnation auf, ein Desinteresse oder Rückgang interpersoneller Beziehungen.

8. Integrität gegen Lebensekel

In der Reife sollte der Mensch fähig sein, seinem Leben einen Sinn zu verleihen. Es muss von ihm angenommen werden oder es entwickelt sich ein sogenannter „Lebensekel“, der bis hin zum Lebensüberdruss und Verweigerung und sogar zum Suizid führen kann.

Es ist schwer, Eriksons Unterteilung der geistigen Entwicklung des Menschen in acht Phasen so genau nachzuvollziehen. Die Übergänge sind fließend und die Darstellung der Wirkungen sind stark polarisiert. Man kann nur von Extrema sprechen. Die eigentliche Entwicklung läuft doch meistens irgendwo dazwischen ab und ist somit schwer in diese Phasen einzuteilen. Die Untersuchung von Erikson ist stark antiautoritär geprägt. Die gesellschaftlichen Umstände haben sich jedoch seitdem auch wiederum verändert und man muss sich die Frage stellen, ob die Erziehung, die Erikson für die richtige geistige Entwicklung des Kindes vorschlägt, ihre Ziele erreicht hat oder nicht vielleicht doch (zumindest zum Teil) revidiert werden müsste.

4 Untersuchung ausgewählter Kinderbücher auf phantastische Elemente hin

Im nun Folgenden sollen bestimmte Werke der zeitgenössischen Kinderliteratur auf ihre phantastischen Merkmale untersucht werden. Hierfür habe ich zwei Hauptwerke ausgewählt. Zum einen Die Brüder Löwenherz, von der schwedischen Autorin Astrid Lindgren und zum anderen Der Gurkenkönig von der österreichischen Autorin Christine Nöstlinger. Diese Wahl ergibt sich aus den ausgesuchten Themen zum Phantastischen. Bei der Lektüre für Kinder sind das u. a. die märchenhafte Phantastik und die realistisch – problemorientierte Phantastik oder die komische Phantastik. Diese Themen finden sich oft in Kinderbüchern der heutigen Zeit. Die Einteilung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur nach inhaltlichen Punkten findet sich u.a. auch bei Gerhard Haas[23]. Dieser unterteilt die Literatur in Themen wie

a) Reisemotiv

Hierbei unterscheidet Haas noch zwischen

die phantastische Reise in andere Zeiten und Orte;

hierzu zählen unsere ausgewählten Bücher Die Brüder Löwenherz, Märchenmond und die Narnia - Chroniken und

Die phantastische Reise zu sich selbst.

Hierunter kann ebenso Märchenmond fallen. Der wohl beste Repräsentant wäre die unendliche Geschichte von Ende.

b) Der Mythos von Licht und Dunkel und Gut und Böse

Hierunter fallen ebenfalls die o.g. Bücher. Dieses Motiv ist in den meisten phantastischen Kinder- und Jugendbüchern zu finden

c) Miniaturgesellschaften Der Gurkenkönig von Nöstlinger ist hierfür ausgewählt.

d) Andere Welten

Die Narnia –Chroniken, Märchenmond, Die Brüder Löwenherz weisen alle andere, der unseren Welt fremde Welten auf.

Weitere Motive für Haas sind

e) Gäste aus dem Unbekannten

Das Sams wird als solcher „fremder“ Gast gehandelt

f) Technik als Element der Phantasie

g) Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart

Auch Klingberg nimmt eine derartige Unterteilung der phantastischen Themen vor. Bei ihr ist ebenfalls das Motiv anderer Welten in Form von Miniaturgesellschaften oder etwa der immerwährende Kampf zwischen Gut und Böse zu finden. Das Motiv der Reise unterteilt Klingberg folgendermaßen[24]:

a) Personen aus der alltäglichen Welt werden in eine magisch – mythische Welt versetzt.

Hierunter sind mindestens die Hälfte aller unserer Beispiele zu nennen. Die Welten, in die unsere Helden versetzt werden, haben alle einen magisch – mythischen Charakter, z. B. Märchenmond, Narnia oder auch Nangijala in Die Brüder Löwenherz.

b) Personen aus der alltäglichen Welt werden in eine andere realistische, aber durch Raum oder Zeit getrennte Welt versetzt.

Hierunter können wir keines unserer Beispiele zählen. In allen ausgewählten Büchern geschehen auf der imaginären Ebene phantastische Dinge, die bloße Existenz einer zweiten Ebene, auch wenn diese nicht phantastisch ist, kommt hierbei nicht vor.

Jede Unterart des Phantastischen hat ihren bevorzugten Themen- und Motivbereich; im Märchen spielen Hexen und Riesen, hilfreiche Tiere und wunderwirkende Gegenstände eine besondere Rolle; in der Sage dominieren Bann, teuflische bzw. magische Mächte; in der phantastischen Geschichte im engeren Sinne bestimmt der unbegreifliche Einbruch dunkler Kräfte in die Existenz eines „normalen“ Menschen das Geschehen, und in den Fantasy – Texten vor allem angelsächsischer Herkunft, (...), erscheint vielfach eine mythische Welt, in der die Kräfte der Natur und des Menschen auf vorbewusste, vor – rationale Weise zusammenwirken oder wo der Urkampf guter und böser Mächte zum Austrag kommt.[25]

Die Themen phantastischer Kinderliteratur stimmen so gut wie niemals mit den Themen erwachsener Phantastik überein.

Kein Autor kann die „klassischen Themen“ der phantastischen Literatur, wie sie zum Beispiel Todorov umschreibt, zum zentralen Thema der Kinder- und Jugendliteratur machen.[26]

Die oben genannten Themen werden bei den Lesern kaum Grauen und Erschrecken hervorrufen. Eine wiederholte Prüfung dieser Behauptung muss bei der Untersuchung der Jugendbücher vorgenommen werden.

Seit Ende der 70er Jahre erlebt gerade die phantastische Literatur für Kinder einen wahren Boom. Den Anfang machte Michael Ende mit seiner unendlichen Geschichte, die unter dem Einfluss des bedeutenden Fantasy – Autoren John Ronald Reuel Tolkien stand. Von 1970 vervielfachte sich der Anteil phantastischer Literatur rasend schnell.

1970 – 5% 1975 – 20% 1981 – 60%[27]

In der Grundschule werden heute zu 80% Märchen oder Märchenähnliches gelesen. Mit 44% sind die Problembücher bei den 6 – 11jährigen eher wenig anzutreffen. Häufiger werden Tiergeschichten, Bilderbücher, Sachbücher oder Abenteuergeschichten von den Lehrern benutzt.[28]

Auf die Gestaltung reiner Sachthemen trifft man in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur nur noch selten.[29]

Daher mögen die stark unterschiedlichen Bücher mit ebenso unterschiedlichen Ansprüchen an ihre Leser für diese Arbeit interessant erscheinen. Schätzungsweise entspricht die Wahl der Themen auch den privat von den Kindern konsumierten Büchern. Das Alter der Kinder wird hier mit 6 – 12 Jahren angegeben. Der Gurkenkönig von Nöstlinger wird erst für die Kinder zwischen 9 – 12 Jahren interessant werden, während sich Die Brüder Löwenherz auch für die Jüngeren ab 6 Jahren eignet. Viele der jüngeren Kinder bekommen die Texte oft vorgelesen, von Eltern, Lehrern oder anderen Erwachsenen. Dennoch hat das Gehörte wohl zum größten Teil die gleiche Wirkung als das selbst Gelesene. Deshalb soll hier dieser Aspekt des Vorlesens vernachlässigt werden.

Das Problem bei der Bestimmung phantastischer Kinderliteratur besteht nicht selten im Alter der Kinder. Die Inhalte sind oft sehr komplex, während die Kinder die dafür nötige Lesekompetenz noch nicht aufweisen. Mit circa 10 – 12 Jahren sind Kinder bereit auch längere Texte konzentriert zu lesen und das Gelesene auch aufzunehmen und zu reflektieren. Oft ist dann aber der Inhalt nicht mehr altersgemäß.

Dabei spielt auch die Entwicklungstheorie Piagets eine große Rolle. Piaget spricht vom Egozentrismus des Kindes. Das Kind ist dann in einem Alter, in dem es Mittelpunkt der Welt ist und Gesetze, Logik und „Wahrheit“ spielen noch keine große Rolle. Mit dem Erreichen der Lesefähigkeit ist diese Phase aber meistens bereits überschritten. Dennoch verlässt das Kind sie nicht völlig. Grundstrukturen des Egozentrismus sind auch noch bei Kindern zwischen 6 – 10 Jahren vorzufinden. Piaget nennt die Phase des Egozentrismus auch die „Deformation der Realität“. Hier müssen wir anschließen, um eine Verbindung zur Diskussion über phantastische Literatur herzustellen. Was bedeutet diese „Deformation“ für das Phantastik – Verständnis beim Kind? Wolfgang Meissner stellt in seiner Abhandlung Phantastik in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart die Hypothese auf, dass, wenn auch der Zeitpunkt des Egozentrismus beim Kind schon überschritten ist, dieses bei der Lektüre phantastischer Texte auf das vertraute Muster zurückgreift und es sich zunutze macht.[30] Für ihn ist der Egozentrismus demzufolge einer der Grundfaktoren der phantastischen Kinderliteratur. Phantastische Literatur hat für Kinder damit eine andere Bedeutung als für Erwachsene. Kindern fällt es leichter Ungewöhnliches als gegeben zu akzeptieren. Hierbei helfen ihnen automatische Mechanismen, wie Artifizialismus, Partizipation und Animismus, die Piaget in seiner Arbeit eingehend erläutert. Das Kind hat sich noch keinen starren Realitätsbegriff gemacht. Durch Assimilation gleicht es die fremde Welt, fremde Wesen und Ungewöhnliches seinem Denken an und integriert es. Der „Riß“, den Callois für die Phantastik konstituiert, findet hier nicht statt. Das Wunderbare „schleicht“ sich meistens in die Realität der Kinder und kann so leichter akzeptiert werden. Im Folgenden wird gezeigt werden, dass die Bedingungen, die Todorov für seinen Phantastikbegriff verlangt, bei Kindern keinen Einfluss haben.

Durch die Disposition des kindlichen Lesers zu einem egozentrischen Denken können sich beim Kind im Akt des Lesens (jedoch) ganz andere Prozesse vollziehen, und die aus Erwachsenensicht vorgenommene Definition erweist sich dann als hinfällig. (...) Da das Kind nicht über eine starre Sicht der Realität verfügt, braucht es auch nicht die von Todorov verlangte „Unschlüssigkeit“, um Imaginäres zu akzeptieren. (...) Wer dies verkennt, kann nie verstehen, weshalb das Kind als Leser dem Imaginären so nahe steht.[31]

4.1 Märchenhaft – phantastische Bücher

Man mag den Begriff des Phantastischen für Kinder oft gleichsetzen mit Märchen für Kinder. Manchmal ergibt sich bei den beiden Genres eine Übereinstimmung, aber meistens sind dies zwei unterschiedliche Gebiete. Es soll nun untersucht werden, inwieweit es sich bei Phantastisches für Kinder auch um Märchen handeln kann, oder inwiefern märchenhafte Elemente dazu beitragen, das Werk phantastisch erscheinen zu lassen.

4.1.1 Die Geschichte und Herkunft der Märchen

Um mit einem Unterschied zwischen dem Begriff Märchen und Phantastik arbeiten zu können benötigen wir eine etwas genauere Vorstellung davon, was ein Märchen ausmacht, woran man es erkennt und an wen es sich richtet. Es soll hierbei allerdings darauf verzichtet werden eine zu sehr ins Detail gehende Definition aufzustellen, da dies aus Platzgründen hier nicht möglich sein wird. Der Begriff Märchen kommt vom ahd. Wort maer, was so viel heißt wie Erzählung, Bericht oder Kunde. Beim Märchen handelt es sich um eine der ältesten Erzählformen in der Literatur, von seiner Form her, wird es der Epik zugerechnet. Lange Zeit wurde das Märchen nur mündlich überliefert, seinen Weg in die schriftliche Form fand es erst Anfang des 17. Jh.

Schon im Altertum schien es eine dem Märchen ähnliche Erzählart zu geben. So gibt es Hinweise im Gilgamesch – Epos, der Etana –Erzählung und sogar einige Texte in der Bibel haben märchenähnliche Züge, denkt man an die Geschichten des Alten Testaments wie zum Beispiel die Arche Noah oder die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern.

Zum Mittelalter hin wandelte sich das Märchen von der Erzählung für höhere Schichten zum eigentlichen Volksmärchen. Hierbei erfreuten sich insbesondere die Schwankmärchen großer Beliebtheit. Seit dem 16.Jh. verbreitete sich das Märchen in Europa immer schneller. Es gibt Überlieferungen verschiedener Aschenputtelvarianten in unterschiedlichen europäischen Ländern in dieser Zeit. Später gewann vor allem die italienische Literatur mit Boccacios Decamerone an Einfluss. Im 19. Jh. nahmen sich dann die Brüder Grimm den Erzählungen an und sammelten insgesamt über 200 Märchen, die sie in den KHM (Kinder- und Hausmärchen) publizierten. Diese Sammlung von Märchen sollte programmatisch für den Begriff Märchen schlechthin werden. Zu dieser Zeit wandelte sich das Märchen von der ursprünglichen für Erwachsene gedachten Erzählung (so auch noch von den Brüdern Grimm gemeint) zu den noch heute meistens so verstandenen Kindermärchen (allerdings weniger unterhaltend als erzieherisch gedacht). Die bei den Kindern so beliebten Erzählungen hatten zu der Zeit an Ansehen eingebüßt. Sie galten als minderwertig und wurden von erwachsenen Lesern gering geschätzt. Hierauf weist auch das Verkleinerungssuffix –chen an dem eigentlichen Ursprungswort Maer hin, was nicht selten zu einer Lächerlichmachung führt.

Eigentlich waren die Märchen für die adulten Leser und Hörer eine Art „Idealbild“ der Welt, sog. „Seinsollensdichtung“. Damit wurde die mögliche und erwünschte Auseinandersetzung mit Konflikten in der Realität geschaffen. Märchen zeigten hierfür symbolisch Lösungen auf. Die Menschen konnten durch die Erzählungen träumen und sich eine Welt vorstellen, in der die gewöhnlichen Bauern oder Bürger sich für gewöhnlich nicht befanden. Diese Funktion ist auch in der heutigen Literatur noch enthalten, besonders in den sogenannten Bestsellern, die sich mit ihren Helden und auch mit der Handlung an das Idealbild der Leserschaft anzupassen versuchen. Selten findet man einen unattraktiven, dummen oder gemeinen Helden, der sich nicht im Laufe der Handlung zum Guten wandelt.

In früherer Zeit als das Märchen sich noch etablierte, bekam erst im weiteren Verlauf auch die Unterhaltung ihre Berechtigung. Für Kinder scheinen heute Märchen in erster Linie unterhaltend zu sein, doch auch hier lässt sich eine eindeutig belehrende und pädagogische Funktion herauslesen.

Wenn wir uns im Folgenden mit Märchen befassen wollen, sollten wir erst einmal gewisse Begriffe davon abgrenzen, die häufig mit der Bezeichnung Märchen in Verbindung gebracht werden. Gerade Kindern, meist die Adressaten des Stoffes, fällt hier eine Unterscheidung schwer. Oft setzen sie Märchen gleich mit allem, was übernatürlich oder seltsam erscheint. Beim Märchen handelt es sich aber weder um eine Sage, die sich auf wirkliche, historisch oft belegbare Ereignisse stützt, noch um Legenden, die den Sagen ähnlich sind und sich meist mit übernatürlichen Dingen beschäftigen, die hauptsächlich eine religiöse, heilige Deutung haben.

Unterscheiden muss man Märchen auch von dem Mythos, der sich fast ausschließlich mit Göttergeschichten befasst und die Welt und deren Ursprung schöpferisch zu erklären versucht. Ein interessanter Vergleich liegt auch bei Märchen und der wesentlich jüngeren Gattung der Fantasy vor. Nach Wilhelm Solms[32] entwickelte sich die Fantasy hauptsächlich aus der Sience – Fiction heraus. Die Welten, die in den Fantasy – Geschichten beschrieben werden, sind meistens sehr komplex und beruhen auf einem in sich logischen System, das sich mit dem unseren nicht vereinbaren lässt. Nicht selten findet der gesamte Handlungsablauf in dieser Welt statt[33]. In diesem Punkt stimmt die Fantasy mit dem Märchen überein.

4.1.2 Merkmale herkömmlicher Märchen im Vergleich mit Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren

In der Literatur der Erwachsenen zählt man Märchen nicht zur Phantastik in dem oben geklärten Sinn. Herausragendes Merkmal ist die fehlende realistische Ebene.

Während das Märchen also auf einer Ebene abläuft, braucht das Phantastische deren zwei.[34]

Märchen enthalten zudem keinerlei Moment der Unsicherheit oder der Furcht, weder des Helden noch des Lesers. Nach dem bekannten Märchenforscher Max Lüthi[35] gibt es drei besondere Merkmale, die das Märchen bestimmen. Zum einen ist das seine Eindimensionalität, d.h. die reale und die phantastische Welt stehen in keinem Widerspruch zueinander. Zum anderen ist die „Flächenheit“ des Märchens eines seiner wichtigen Merkmale, das bedeutet dass die Charaktere jeglicher tiefenpsychologischer Beschreibung entbehren. Als drittes Merkmal nennt Lüthi die „Isolation und Verbundenheit“ und den „abstrakten Stil“ des Märchen.

Im eindimensionalen Raum der Märchenwelt erzeugen übernatürliche Phänomene kaum Zweifel oder Überraschung. Es fehlt somit die Unschlüssigkeit, von der Todorov die Phantastik abhängig macht. (...) An seine (dieses Kriterium J.M.) Stelle rückte die Unterscheidung zweier einander widerstrebender Realitätsebenen, die in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur aufeinandertreffen.[36]

Die Absicht eines Märchen ist auch keineswegs mit der phantastischer Literatur zu vergleichen. Ein Märchen will unterhalten oder im früheren Verständnis auch erziehen und belehren. Das Wunderliche und Widernatürliche der Märchenerzählung hat nichts gemein mit der erschreckenden, manchmal morbiden Lust an dem Grauen, die den Leser der phantastischen Literatur bei seiner Lektüre begleitet. In der Kinderliteratur stoßen wir immer wieder auf Märchen und märchenähnliche Geschichten. Welche Einstellung des Phantastischen gegenüber kann man hier finden? Inwiefern prägt das Märchen mit seinen wunderlichen Begebenheiten den Begriff der Phantastik in der Kinderliteratur? Stimmt der Begriff, den man sich dabei von einem Märchen macht auch mit dem des eigentlichen Volksmärchen überein? Nehmen wir als Beispiel hierfür das Buch Die Brüder Löwenherz von der schwedischen Kinderbuchautorin Lindgren, das wohl viele als moderne Form des Märchens benennen würden, da es viele ähnliche Elemente enthält. Selbst die Autorin lässt ihren Protagonisten davon sprechen: Es ist fast wie ein Märchen, finde ich, und auch ein klein wenig wie eine Gespenstergeschichte, und doch ist alles wahr.[37] Im Folgenden wollen wir nun einige dieser Merkmale genauer überprüfen und dabei herausfinden, ob es sich tatsächlich um ein Märchen im “herkömmlichen“ Sinne handelt. Dazu wählen wir Motive, Themen, Elemente aus bekannten Kindermärchen (aus den KHM der Brüder Grimm entnommen[38] ) und vergleichen diese auf ihr Vorkommen in unserem Beispiel.

Merkmal 1: Ausgangslage ist ein Mangel oder Not

Die Helden der meisten Märchen befinden sich zu Anfang in einer misslichen Situation. Sie hungern, leiden unter den bösen Stiefmüttern oder unter ihrer sozialen Stellung. So zum Beispiel Schneewittchen (Nr. 53), die von der bösen Stiefmutter und Hexe im Wald ausgesetzt wird „Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leib herum, so hasste sie das Mädchen.“ Ebenso Hänsel und Gretel (Nr. 15), kindliche Helden im Märchen, die von ihren eignen Eltern im Wald ausgesetzt werden:

Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?“ – „Weißt du was, Mann“, antwortete die Frau, „wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer und geben jedem noch ein Stück Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus und wir sind sie los.“.

Betrachtet man nun die Ausgangslage der Brüder Löwenherz, so sehen wir auch hier eine Not, der kleinere der beiden, Krümel Löwe leidet unter einer unheilbaren Krankheit, an der er bald sterben wird. Als er dann noch seinen geliebten Bruder Jonathan bei einem Brand verliert, ist sein Elend um so größer.

Jonathan wusste, dass ich bald sterben würde, Ich glaube, alle wussten es, nur ich nicht. Sogar in der Schule wussten sie es, denn ich lag ja nur zu Hause, weil ich hustete und immer krank war. (...) Ja, Jonathan hatte mich gern und das war merkwürdig. Denn ich war schon immer einrecht hässlicher und ziemlicher dummer, ängstlicher Junge mit krummen Beinen. Ich fragte Jonathan, wie er einen so hässlichen und dummen Jungen mit krummen Beinen bloß gern haben könne.[39]

Wir sehen, auch hier befindet sich unser Held zu Beginn in einer Situation, ähnlich den Märchen, geprägt von Armut, Krankheit oder Unterdrückung, die sich durch den Eintritt in die imaginäre Ebene schließlich verbessert. Im Märchen erleben wir keinen Eintritt in eine imaginäre Ebene, beim Märchen handelt es sich um eine eindimensionale Erzählung. Dennoch hilft oft die Magie, das Wunderbare im Märchen den Helden, nicht selten Kinder, aus ihrer misslichen Lage heraus.

Merkmal 2: Fehlen der Orts- und Zeitangabe

In fast allen Märchen fehlt eine genau Angabe des Handlungsortes sowie der Zeit, in der das Märchen spielt. So beginnen die meisten der Erzählungen mit dem bekannten „Es war einmal ...“. Zudem wird meistens erwähnt, dass es sich bei dem Ort um ein „weit, weit entferntes Land“ handelt und die Geschichte „vor langer, langer Zeit“ stattfand. Beispiele hierfür: In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, ... (Der Froschkönig, Nr. 1); „Es ist nun schon lange her, da lebte ein König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war.“ (Die weisse Schlange, Nr. 17); Vor alten Zeiten als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, ... (Der Arme und der Reiche, Nr. 87); etc.

Ebenfalls typisch für die Volksmärchen sind die Allerweltsnamen der Personen. So heißt der Held oft Hans, die Heldin Suse, etc. Häufig wird der Name auch von Eigenschaften abgeleitet, wie Schneewittchen, Dornröschen, u. a..

Jonathan dagegen ist kein Allerweltsname, Karl hingegen kommt schon weniger selten vor. Die Personen in Nangijala haben Namen wie Sophia, Jossi, Hubert oder Fantasienamen wie Tengil oder Katla, die allerdings der bösen Seite zugerechnet werden. Der Nachname unserer Helden Löwe und später Löwenherz ist hier jedoch wieder als sprechender Name anzusehen.

Eine Einigung lässt sich hier nur schwer erzielen. Wir sehen Übereinstimmung wie auch Widersprüche bei diesem Merkmal.

Merkmal 3: Wachsen des Helden an dem Problem – Problemlösung und Belohnung

Viele der Märchen muten wie eine verkleinerte Form eines Bildungs- oder Entwicklungsromans an. Der Held lernt im Laufe seiner Abenteuer dazu, setzt nie geahnte Fähigkeiten ein und lernt moralisches Denken. Die eingebildete Prinzessin in König Drosselbart (Nr. 52) muss durch eine Lektion erst lernen, dass man Menschen nicht nur nach dem Äußeren beurteilen darf (was in den meisten Märchen allerdings programmatisch ist): „Fürchte dich nicht, ich und der Spielmann, der mit dir in dem elenden Häuschen gewohnt hat, sind eins: dir zuliebe habe ich mich so erstellt, und der Husar, der dir die Töpfe entzweigeritten hat, bin ich auch gewesen. Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen, und dich für deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspottest hast.“ Da weinte sie bitterlich und sagte: Ich habe großes Unrecht getan und bin es nicht wert, deine Frau zu sein.“.

Rotkäppchen (Nr. 26) lernt, auf die Ratschläge seiner Mutter zu hören und nicht vom Weg abzugehen.

Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rotkäppchen aber dachte: „Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir´s die Mutter verboten hat.“

Meist müssen die Helden sich in einem Kampf beweisen, einen Konflikt austragen oder ein Problem lösen um ein Volk zu befreien, die Prinzessin zu retten oder zu unermesslichem Reichtum zu kommen.

Bei unserem Lindgren – Klassiker wächst der kleine, schüchterne und kränkliche Junge Karl über sich hinaus und wirft alle Angst und Selbstzweifel ab und wird zum Helden, der mit seinem Bruder das Heckenrosental von dem Tyrannen Tengil befreit.

„Mein mutiger, kleiner Krümel, es ist ein Glück und ein Segen, dass du in den Bergen gewesen bist. Und ein noch größeres Glück ist es, dass du jetzt hier bist!“ – Es war das erstemal, dass mich jemand mutig nannte, und ich dachte, wenn ich so weiter mache, kann ich vielleicht Löwenherz heißen, ohne dass sich Jossi darüber lustig macht.[40]

Dies ermöglicht natürlich die märchenhafte Fantasiewelt Nagijala, in der Karl nicht mehr unter seinen Gebrechen leiden muss.

Statt dessen fingen wir an zu schwimmen. Ich habe nie schwimmen können, obwohl ich es mir immer gewünscht hatte, es zu können. Jetzt konnte ich es plötzlich. Ich schwamm richtig gut. „Jonathan, ich kann schwimmen!“ schrie ich. – „Klar kannst du schwimmen!“ rief Jonathan. Und da fiel mir etwas auf. „Jonathan, hast du was gemerkt?“ fragte ich. „Ich huste nicht mehr.“ – „Klar hustest du nicht mehr“, sagte Jonathan. „Du bist jetzt in Nagijala.“[41]

Auch hier finden wir einen Kampf wieder, in dem die Helden sich gegen das Böse beweisen müssen, um dann die Belohnung (Befreiung des Volkes und Hinübergehen nach Nangilima) zu erhalten.

Merkmal 4: Starke Polarisation des Gegensatzes „Gut gegen Böse“

In allen Märchen gibt es einen Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen. Im Märchen ist immer klar erkennbar, wer zur guten und wer zur bösen Seite gehört. Zudem sind die Gegner meistens durch Äußerlichkeiten zu erkennen, so ist Dornröschen (Nr. 50) unbeschreiblich schön An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, dass es jedermann, der es ansah, lieb haben musste., der rettende Prinz ein Bild von einem Mann. Rumpelstilzchen (Nr. 55) oder die Hexe in Hänsel und Gretel (Nr. 15) sind hässliche, missgebildete und bösartige Kreaturen. Das Märchen bedient sich auch gerne der Extrema. Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul., heißt es zum Beispiel in dem Märchen von Frau Holle (Nr. 24). Nie erkennen wir in der bösen Stiefmutter ein Fünkchen Mitgefühl oder Moral. Ebenso ist Schneewittchen ein Ausbund an Tugend und würde niemals jemandem ein Leid zufügen. Ein weiteres Merkmal ist die Menschlichkeit der Helden. Sie sind Personen wie die Leser und Zuhörer der Geschichten, während ihre Feinde, aber auch oft ihre Helfer aus dem Reich des Nichtmenschlichen stammen können. Der Kampf der edlen Ritter geht gegen einen Drachen, ein Fabelwesen oder eine böse Hexe. Helfer sind oft Feen oder sprechende Tiere.

Auch in Die Brüder Löwenherz haben wir es mit einem Kampf zwischen Gut und Böse zu tun. Krümel sowie Jonathan Löwenherz sind lieb und gut und äußerst moralisch. Auf der anderen Seite haben wir den grausamen Tengil, bei dessen Namen schon die Leute erzittern. Man bekommt ihn so gut wie nie zu Gesicht, aber dies und auch die schrecklichen Geschichten, die man über ihn erzählt, tun ihr Übriges um ihn als unbeschreiblich bösartig erscheinen zu lassen.

Und ich sah Tengil vortreten und sich in den Sattel schwingen und durch das Tor reiten, und plötzlich war er ganz in meiner Nähe, so dass ich sein grausames Gesicht und seine grausamen Augen sehen konnte. Grausam wie eine Schlange, hatte Jonathan gesagt, und so sah er auch aus, durch und durch grausam und blutrünstig. Und die Rüstung, die er trug, war rot wie Blut, und selbst sein Helmbusch war so rot, als hätte er ihn in Blut getaucht. Seine Augen starrten geradeaus, er sah die Menschen nicht, es war, als gäbe es für ihn niemand anders auf der Welt, niemand außer Tengil von Karmanjaka. Ja, er war unheimlich![42]

Hier ist die Polarisation ebenfalls sehr stark. Andererseits haben wir auch Charaktere wie Jossi, der Wirt oder Hubert. Hier ist anfangs nicht direkt klar, zu welcher Seite man die beiden zählen muss. Der Leser wird zu Anfang in die Irre geführt, indem die Autorin die Spuren legt. Schließlich entpuppt es sich genau andersherum, als man erwartet hat. Dies entspricht also nicht dem Märchen, das seine Karten offen auf den Tisch legt. Wir haben auch nichtmenschliche Gestalten gesehen, die zu den Gegnern der Helden gehören. Der Drache Katla oder der Lindwurm Karm sind zweifelsohne böse Wesen, werden auch von dem Tyrannen Tengil benutzt. Dieser ist ein Mensch, wirkt aber durch seine Grausamkeit nicht so.

4.1.3 Das Phantastische in Die Brüder Löwenherz

Zu Beginn hatten wir einen Begriff von Phantastik zusammengefasst, den wir hier benutzen wollen. Im Großen und Ganzen halten wir uns dabei an Todorov. Können wir diese Definition auch auf die Kinderliteratur, insbesondere unser Beispiel anwenden? Nehmen wir die grundlegenden Bedingungen für Phantastik:

Erste Festlegung war das Auftauchen eines Zweifels oder eines Gefühls von Angst beim Leser. Dieses Problem können wir nur lösen, wenn wir die Adressiertheit des Buches Die Brüder Löwenherz anschauen. Bei Kinderbüchern findet man oft eine Doppeladressiertheit. Ganz klar ist das Buch an die junge Leserschaft gerichtet, auf die es meistens in Sprache, Inhalt und Thematik zugeschnitten ist. Doch nicht selten ist das Buch auch an Erwachsene gerichtet. Das können die Eltern, Lehrer oder sonstige Adulte sein, denen die Lektüre Spaß macht. Durch die Doppeladressiertheit werden den Erwachsenen oft Verständnis für die Kinder, aber auch wichtige Ratschläge in der Erziehung mitgeteilt.

[...]


[1] Klingberg, Göte: Die phantastische Kinder- und Jugenderzählung. S. 226. In: Kinder- und Jugendliteratur. Zur Typologie und Funktion einer literarischen Gattung. Hrsg. Von Gerhard Haas. Stuttgart. 1974. S. 220 – 241.

[2] Meissner, Wolfgang: Phantastik in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Theorie und exemplarische Analyse von Erzähltexten der Jahre 1983 und 1984. Würzburg. 1989. S. 224.

[3] Anm.: Eine genauere Untersuchung, inwieweit sich Unterschiede ergeben, was das Phantastische angeht, bei beispielweise bei sanktionierter und nicht – sanktionierter Kinder- und Jugendliteratur, usw. wäre ein weiterer interessanter Gesichtspunkt, unter dem eine solche Arbeit laufen könnte. Dafür fehlt hier allerdings der Platz, diese Unterscheidung noch vorzunehmen. Zur Unterteilung der Kinder- und Jugendliteratur nach dieses Sparten vgl. Ewers, Hans – Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche: eine Einführung in grundlegende Aspekte des Handlungs- und Symbolsystems der Kinder- und Jugendliteratur, mit einer Auswahlbibliographie Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft. München. 2000.

[4] Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München. 1972.

[5] Vgl. ebd. S. 33.

[6] Callois, Roger: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: R. A. Zondergeld (Hrsg.),: Phaicon 1. Frankfurt. 1974. Callois definiert das Phantastische als ein „Ärgernis, ein Riß, ein befremdender, fast unerträglicher Einbruch in die wirkliche Welt.“ S. 45.

[7] Vax, Louis: Die Phantastik. In: R. A. Zondergeld (Hrsg.): Phaicon 1. Frankfurt. 1974. Nach Vax „findet das Phantastische gerade seinen Ursprung in den Konflikten zwischen dem Realen und dem Möglichen“. S. 12.

[8] Zgorgelski, Andrzej: Zum Verständnis phantastischer Literatur. In: R.A. Zondergeld (Hrsg.) Phaicon 2. Frankfurt. 1975. Nach Zgorgelski ist die Folge eines Bruchs der inneren Gesetze der fiktiven Welt das In – Erscheinung – Treten des Phantastischen. Vgl. S. 58.

[9] Marzin, Florian F.: Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie. Diss. Frankfurt. 1982. „Wesentlich ist jedoch die Interdependenzen zwischen den beiden Handlungskreisen, da das Vorhandensein des einen oder anderen allein noch keine phantastische Literatur entstehen lässt.“ S. 117.

[10] Jehmlich, Reimer: Phantastik – Science Fiction – Utopie. Begriffsgeschichte und Begriffsabgrenzung. S. 24 f. In: Phantastik in Literatur und Kunst. Hrsg. Von Christian W. Thomsen und Jens Malte Fischer. Darmstadt. 1980. S. 11 – 34.

[11] Penning, Dieter: Die Ordnung der Unordnung. Eine Bilanz zur Theorie der Phantastik. S. 34. In. Phantastik in Literatur und Kunst. S. 34 – 52.

[12] Colby, Anne / Kohlberg, Lawrence: Das moralische Urteil. Der kognitionszentrierte und entwicklungspsychologischer Ansatz. Frankfurt a. M. 1986. S. 138.

[13] Piaget. S. 96.

[14] Vgl. ebd. S. 45.

[15] Vgl. Franz, Karen: Handlungstheoretische Überlegungen zum „sechs – Stufen – Modell des moralischen Urteils“ von Lawrence Kohlberg. In: Europäische Hochschulschriften. Bd. 489. Frankfurt. a. M. 1996. S. 42.

[16] Ebd. S. 164.

[17] Ebd. S. 43.

[18] Ebd. S. 56.

[19] Erikson. S. 214.

[20] Ebd. S. 78.

[21] Ebd. S. 88.

[22] Ebd. S. 95.

[23] Vgl. Haas, Gerhard: Phantasie und Phantastik. In: Themen – Texte – Interpretationen. Hrsg. Von Hans Gerd Rötzer. Bd. 10. Kinder- und Jugendbuch. Von Gisela Wilkending. Bamberg. 1988 S. 220.

Diese Unterteilung ist häufig in der Forschung anzutreffen. Leider kann hier aus Platzgründen nicht für jedes Motiv ein Beispiel bearbeitet werden.

[24] Vgl. Klingberg, Göte: S. 233.

[25] Haas, Gerhardt: Phantasie und Phantastik. S. 216.

[26] Meissner, Wolfgang: S. 60.

[27] Mattenklott, Gundel: Zauberkreide. Kinderliteratur seit 1945.Frankfurt. 1994. S. 38.

[28] Diese Angaben stammen aus einer um 1995 in vier Bundesländern durchgeführten Umfrage. Hauptsächlich öffentliche Schulen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Nordrhein-Westfalen nahmen daran teil. Quelle: „d.w. – online“:http://www.dagmarwilde.de.

[29] Meissner, Wolfgang: S. 190.

Anm.: Findet man auch nur sehr selten phantastische Kinderliteratur, die die reine Wissensvermittlung zum Ziel hat, so gibt es doch einige Beispiele, in denen diese beiden unterschiedliche Bereiche zusammenfinden, so etwa in Selma Lagerlöfs Nils Holgersson, das als Geografie – Lehrbuch für Kinder dienen sollte.

[30] Vgl.: Meissner, Wolfgang S. 55 f.

Meissner versucht in dieser Arbeit eine Definition phantastischer Kinder- und Jugendliteratur aufzustellen. Viele seiner Hypothesen finden in dieser Arbeit Anschluss. Besonders der Einfluss der Entwicklungstheorie Piagets und seine Wirkung auf die Phantastik – Forschung in der Literatur für Kinder und Jugendliche nimmt bei Meissner einen hohen Stellenwert ein. Die für meine Arbeit ausgewählten Texte sind fast alle auch bei Meissner zu finden, der diese ebenfalls auf ihre phantastischen Elemente hin erforscht. Insgesamt untersuchte er 300 Bücher aus den Jahren 1983- 1984. Der Umfang dieser Lektüre ist notwenig, will man einen Gattungsbegriff aufstellen, wie Meissner den Versuch macht. Leider ist hierfür in dieser Arbeit nicht genügend Platz. Doch bedarf dieses Thema einer genaueren Untersuchung, gerade bei den neueren Büchern der späten 80ern und 90ern Jahre. Man denke an den enormen Einfluss, den phantastische Kinderbücher wie Harry Pootter derzeit auf die gesamte Kinderliteratur ausüben.

[31] Ebd. S. 58.

[32] Solms, Wilhelm: Einfach phantastisch. Von der Wundererzählung zur phantastischen Literatur. In: Phantastische Welten. Märchen, Mythen, Fantasy / Im Auftrag der Europäischen Märchengesellschaft. hrsg. Von Thomas LeBlanc und Wilhelm Solms. Regensburg. 1994.

[33] Als Beispiel hierfür kann der Klassiker von J.R.R. Tolkien gelten, Der Herr der Ringe, den man auch als einer der Gründer der Fantasy sehen kann. Ebenso viele Chroniken von Wolfgang Hohlbein, Ursula Guin oder Terry Prachett. Gerade im Bereich Fantasy erfreut sich der Stil der Chronik besonderer Beliebtheit.

[34] Wörtche, Thomas: Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meitingen. 1987. S. 28.

[35] Vgl. Lüthi, Max: Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender Dichtung. München. 1975.

[36] Meissner, Wolfgang. S. 68.

[37] Lindgren, Astrid: Die Brüder Löwenherz. Hamburg. 1973. S. 5.

[38] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm und Irische Elfenmärchen übersetzt von den Brüdern Grimm. Vollständige Ausgabe. Band I und II. München. O. J.

Die hier benutzten Märchen werden mit der entsprechenden Aufzählungsnummer zitiert.

[39] Astrid, Lindgren: Die Brüder Löwenherz. Hamburg. 1973. S. 5ff.

[40] Ebd. S. 102.

[41] Ebd. S. 21.

[42] Ebd. S. 121.

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Phantastische Elemente der Kinder- und Jugendliteratur im Vergleich zur Erwachsenenliteratur
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Deutsches Institut)
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
109
Katalognummer
V9779
ISBN (eBook)
9783638163934
ISBN (Buch)
9783638697835
Dateigröße
757 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phantastische, Elemente, Kinder-, Jugendliteratur, Vergleich, Erwachsenenliteratur
Arbeit zitieren
MA Julia Mann (Autor:in), 2002, Phantastische Elemente der Kinder- und Jugendliteratur im Vergleich zur Erwachsenenliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9779

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