Wallfahrtskirche St. Nikolaus in Bad Wilsnack


Seminararbeit, 2000

15 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhult

Einleitung

1. Die Baugeschichte

2. Baubeschreibung
2.1. Der Grundriss
2.2. Der Ostbau
2.2.1. Der Chor
2.2.2. Die Emporen mit den darunterliegenden Räumen
2.2.3. Die Vierung
2.2.4. Querschiff
2.3. Das Langhaus
2.4. Der Außenbau
2.4.1. Die Westseite

3. Besonderheiten des Baus
3.1. Zur ursprünglichen Lage der alten Dorfkirche
3.2. Vergleiche zu anderen Bauten

Resümee

5. Anhang

5.1. Bibliographie

Einleitung

Noch heute überwältigt St. Nikolaus in Bad Wilsnack durch seine Größe - weithin überragt die einstige Wallfahrtskirche den kleinen Kurort in der Westprignitz, der ehemals das fünftbedeutendste Pilgerziel des christlichen Abendlandes war: Eine Legende besagt, dass sich nach dem Niederbrennen des Dorfes Wilsnack im Jahre 1383 auf drei im Schutt entdeckten geweihten Hostien Blutflecken gebildet hätten. Die Kunde dieses heiligen Blutes verbreitete sich alsbald, bereits 1384 wurde mit dem Bau einer Wallfahrtskirche begonnen, zügig wurden vorerst die durch Ablassbriefe finanzierten Bautätigkeiten vorangetrieben. Das ,,Wilsnacklaufen" begann, die aus theologischer Sicht bis heute vielleicht umstrittenste, vom gemeinen Volk jedoch am stärksten frequentierte Wallfahrt.1

Heute ist diese umtriebige Zeit des ,,Wilsnacker Wunderblutes" fast vergessen, einzig die davon zeugende Monumentalität des nie vollendeten Gotteshauses erregt Aufmerksamkeit. Als Lichtdom konzipiert und errichtet, diente die Heiligblutkirche in erster Linie der angemessenen Inszenierung der wunderverheißenden Hostien. Je nach finanzieller Lage wurden Pläne abgeändert oder zeitweise ausgesetzt, so dass sich zwar eine in klassischer Kreuzform gehaltene spätgotische Backsteinhalle darbietet, deren Abmessungen jedoch oft in Unverhältnissen zueinander stehen.

Überdies wurden erst vor wenigen Jahren bei Grabungen im Presbyterium des Gebäudes Reste eines polygonalen Chorschlusses entdeckt, deutlich erkennbar sind in die Westfront Überreste eines weit älteren Turms integriert - neuere Forschungen vermuten, dass es sich bei St. Nikolaus gar um zwei ineinanderverwobene Bauten handelt,2 was neben der wechselvollen Baugeschichte und den formalen Aspekten des Grundrisses dieser Stiftskirche außerdem besondere Beachtung finden sollte.

1. Die Baugeschichte

Die 1996 erschienene Dissertation Folkhard Cremers hat die Diskussion erneut angefacht - die Baugeschichte des Wilsnacker Wunderblutes (Abb. 10) erscheint heute undurchsichtiger denn je. War man bis vor kurzem noch überzeugt, die Bauarbeit in drei Epochen beginnend 1384 unterteilen zu können, so tendieren aktuelle Vermutungen gar dazu, den Baubeginn um 1440 statt wie bisher angenommen auf 1384 zu datieren.

Folgt man Cremer, so wurde im Jahre 1384 zwar eine Wallfahrtskirche in Wilsnack begonnen - dies sei aber keineswegs der Bau, der sich heute präsentiert, sondern vielmehr eine Art provisorischer Vorgängerbau, der sich bald für die Pilgerströme als zu klein erweisen sollte. Folkhard Cremer versucht diesen Umstand mit der Tatsache zu erklären, dass gleich nach dem Brand mit dem Wiederaufbau der Dorfpfarrkirche begonnen wurde, für deren Status zu diesem Zeitpunkt noch nicht die späteren Dimensionen relevant gewesen seien.3 Cremers

Ansicht nach sind die Ostteile sowie das Querhaus zwischen 1396 und 1412 entstanden, aufgrund der massiven Kritik am Wunderblutkult sei das Langhaus erst Ende des 15. Jahrhunderts errichtet und um 1525 gewölbt worden.4 Da die Ostanlage frühzeitig beendet war, wurden zusätzliche Außenwände gezogen und als Wetterschutz ein Fachwerkgiebel über dem westlichen Vierungsgurt errichtet, um das Querschiff nutzen zu können. Dadurch konnte der Ostteil der Interimskirche abgetragen werden.

Friedrich Adler datierte bereits um 1863 den Chor auf 1447 bis 1470, das Querschiff auf 1470 bis 1480, das Langhaus sei nach langwährendem Baustopp erst zwischen 1500 und 1525 entstanden.5 An diesen Zahlen wird deutlich, dass schon Adler die Idee einer zwischen 1386 und 1396 entstandenen Interimskirche favorisierte. Zu umstritten sei der Kult gewesen, als dass vor Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Bau der eigentlichen Kirche hätte begonnen werden können.

Nach Cremer ersetzte späterhin der heute existente Ostbau dieses Provisorium, dessen Bestandteile vielfach in die eigentliche Wallfahrtskirche eingebaut worden seien. ,,Die Kunstdenkmäler der Westprignitz" (KDM) beschreiben Chor und Querhaus sowie untere Teile des Langhauses als zwischen 1384 und 1390 entstanden, das Langhaus dagegen soll erst um 1430 erbaut worden sein.6

Einigkeit herrscht lediglich zur ungefähren zeitlichen Einordnung des Westgiebels, der auf das Ende des 16. Jahrhunderts festgelegt werden kann. Ebenso soll laut ,,Kunstdenkmäler der Westprignitz" der an der Nordseite des Querhauses ansetzende Schwibbogen7 in dieser Phase entstanden sein.8 An anderer Stelle bezeichnen die Autoren der ,,Kunstdenkmäler" den Gang als zeitgleich mit dem Querhaus erbaut, der sich ja dann nach ihren Berechnungen auf etwa 1389 datieren ließe.

Auch die Frage nach dem ursprünglichen Standort der alten Dorfkirche, deren Überreste zweifelsohne große Bedeutung für den Grundriss St. Nikolais hatten, ist noch nicht eindeutig geklärt. Ernst Breest beschrieb einen begehbaren hölzernen Lettner, der bis zum Beginn des 19.

Jahrhunderts den Chor vom Hauptschiff getrennt haben soll und den Übergang zum inneren hölzernen Chorumgang bildete.9

2. Baubeschreibung

2.1. Der Grundriss

Bei St. Nikolai in Bad Wilsnack handelt es sich um eine kreuzförmige Hallenkirche mit auffallend kurzem Langhaus.10 Das von drei Jochen überspannte Langhaus ist dreischiffig.

Die Gesamtlänge beträgt 54,5 Meter, die Breite des Querhauses 40,2 Meter, das Langhaus erstreckt sich über 24,7 Meter, das Mittelschiff ist 13,8 Meter breit. Die Vierung hat eine lichte Höhe von 26,1 Meter. Das nördliche Seitenschiff ist mit 6,2 Meter breiter als das südliche (4,7 Meter).

Der Grundriss lässt einen Chorumgang erkennen, von dem heute jedoch nur noch die Strebepfeiler erhalten sind.

Über den Anbauten des Querhauses - Sakristei und Wunderblutkapelle - befinden sich Emporen.

St. Nikolai könnte über einem idealem kreuzförmigen Plan errichtet sein, doch nur selten stehen Mauer- und Pfeilerachsen in rechtem Winkel zueinander:11 Die Pfeilerachse zum Nordseitenschiff schert nach Nordwest aus Richtung der südlichen Pfeilerachse aus. Die Nordquerhauswand verläuft parallel zur nördlichen Pfeilerachse, ergibt jedoch zusammen mit den westlichen und östlichen Begrenzungen des nördlichen Seitenschiffes kein Rechteck sondern vielmehr ein Parallelogramm. Auch die Mauern des Querhauses, dessen Anbauten verschiedene Ecklösungen12 aufweisen, verlaufen keineswegs parallel, ebensowenig symmetrisch stehen die Strebepfeiler des nördlichen Chorumgangs denen des südlichen gegenüber.

2.2. Der Ostbau

Der Ostbau (Abb. 1) ist sowohl Wallfahrts- als auch Stiftskirche, so man nach funktionalem Gebrauch und formaler Erscheinung unterscheidet.

Auch das Vierungsjoch wird in der Literatur als zum Langchor zugehörig erkannt, da der Scheidbogen über den Vierungspfeilern (Abb. 2) die Trennung zum Langhaus markiert, und überdies der östliche Vierungsbogen von der Breite her den Gurten des Chores angeglichen ist.13

Der Chorraum und das Presbyterium sind von Nischen verschiedener Größe geprägt, die Umrahmungen variieren ebenfalls in der Vielfalt der Profilierungen.

2.2.1. Der Chor

Der einschiffige, kreuzgewölbte Chor hat weitgeöffnete drei- beziehungsweise vierteilige Fenster, deren Lichtflächen durch Glasmalereien gedämpft sind (Abb. 1). Die gegenüber der durch Blendnischen gegliederten Sockelzone viereinhalb Mal so großen Fenster sind heute im unteren Drittel zugemauert. (Abb. 1) Es handelt sich um einen polygonalen Chor mit einem Chorschluss in fünf Teilen des Zehnecks. Der Chor wird von zweieinhalb Jochen überspannt, im Hauptchorjoch sind die schmal gehaltenen Gewölbekappen hochgebust. Die Fenster sind nur durch schmale Wandstreifen getrennt, denen dreikantige Dienstbündel vorgesetzt sind. Diese enden auf kaum verzierten Baldachinen, unter denen sich Statuen befinden (momentan wegen Reparaturarbeiten nicht im Gebäude). Die Dienste werden unter den Kapitellen der Figuren - etwa auf Höhe der Rundbögen der Nischen - weiter zum Boden geführt. (Abb. 3)14

Südöstlich hinter dem Altar befindet sich eine versteckte nach rechts gewendete Treppe.15 Zwischen den Blendnischen - in der nördlichen Halbjochwand - befindet sich eine heute vermauerte Tür, die innen von einem Segmentbogen (Abb. 5, rechts unten) und außen von einem Spitzbogen überfangen ist. Sie muss mit dem Prozessionsgang verbunden gewesen sein.

Der Altarplatz wird durch zwei Stufen erhöht.

2.2.2. Die Emporen mit den darunterliegenden Räumen

Da sowohl an der Süd- als auch an der Nordwand des Presbyteriumsjochs jeweils zwei Eingänge übereinander angeordnet sind, ist die Sockelzone dort gegenüber dem Rest des Chores erheblich nach oben gezogen (Abb. 5,6).16 Die von einem Spitzbogen umgebene Tür in der Südwand, die zur Wunderblutkapelle führt, ist in eine Rundbogennische eingelassen (Abb. 4). Über den beiden oberen Eingängen zu beiden Seiten des Presbyteriums befinden sich vierbahnige Blendfenster. Nachträglich erst wurde die rundbogige Öffnung in der Nordempore aus dem Mauerwerk gebrochen.17

Bei den Räumen unter den mit je zwei nach Osten weisenden fünfbahnigen Lanzettfenstern ausgestatteten Emporen handelt es sich um Zimmer, die nur durch Türen mit dem Chor beziehungsweise dem Querhaus verbunden sind. Sie waren Verbindungsglied zum äußeren Chorumgang. Der nördliche Querhausvorbau bestand früher aus zwei Räumen, von denen der südlichere kleinere lediglich Durchgangszimmer zur nördlichen Sakristei, zum Umgang und zum Querhaus war. Im südlichen Vorbau ist immer noch die Wunderblutkapelle mit dem zwischen die beiden nach Osten weisenden Fenster eingebauten Wunderblutschrein untergebracht. In einer der Nischen an der Westwand der Kapelle war früher ein Durchguck, von dem aus Pilgerer einen Blick auf den Schrein erheischen konnten.

2.2.3. Die Vierung

Da die Vierung keinen Triumphbogen aufweist, der sie vom Chor trennen würde, zählt sie hier dazu. Statt dessen ist der östliche Vierungsgurt sogar den Gurten des Langchores verwandt. Nach Norden, Süden und Westen hingegen zeigt sich die Vierung als eigenständiger Raumteil. Die beiden östlichen Vierungspfeiler verlängern die Chorwände, die westlich gelagerten Dienste reichen - wie auch im Presbyterium - noch bis auf den Boden. An allen Vierungspfeilern finden sich Kämpferringe.

2.2.4. Querschiff

Das Querhaus ist einschiffig. Die Emporen sind zum Hauptschiff des Querhauses hin geöffnet. Die beiden Kapellen der Kreuzarme waren durch den äußeren Chorumgang miteinander verbunden.18

Die Längsgurte ruhen auf halbrunden, geputzten Pfeilern mit aufliegenden, mageren Diensten. Die beiden östlichen Pfeiler legen sich vor die Stirnseite der verlängerten Chorwände, die westlichen gegen die Flächen der einzigen Reihe von Quergurten, welche die Kirche besitzt.19 (Abb.1) Die westlichen Vierungspfeiler sind in Kämpferhöhe zur Standfestigkeit mit Eisenankern versehen, die das Querschiff durchkreuzen (Abb. 1).

Im Norden und im Süden befindet sich je 1 Querschifffenster mit siebenteiligem Stabwerk (Abb. 13)

2.3. Das Langhaus

Das unvollendete Langhaus ist verkürzt, lediglich drei Joche überspannen diesen dreischiffigen Bauteil (Abb. 7).

Bis auf die der Westwand vorgestellten halben Pfeiler sind die Pfeiler tauartig umwunden, darüber befinden sich stark profilierte Längsgurte, die Kämpferzone ist dekorativ ummantelt (Abb. 8). Die vier mittleren Pfeiler sind unverputzt, am nordöstlichen davon ist eine Sandstein-Statue unter gemauertem Baldachin (Abb. 9).20 Auf allen Langhauspfeilern finden sich kreuzblumenartige Ornamente.

In zwei Zonen unterteilt sind die Wände der Seitenschiffe, im Sockelbereich der nördlichen Wand sowie im östlichsten Joch der Südwand sind unprofilierte Rundbogennischen eingelassen (Abb. 9). Die auf die Wände zwischen den dreiteilgen Fenstern aufgelegten Dienste gehen in die Gewölbegurte über und setzen erst über der Sockelzone an, lediglich die Eckdienste im Westen werden zum Boden geführt (Abb. 8). Die Fenster waren ursprünglich fünfbahnig geplant, heute zeigen sich die äußeren Bahnen vermauert (Abb. 9). Die Spitzbögen sind gedrückt.21

2.4. Der Außenbau

Auf der Nordseite befindet sich der rund 1,70 Meter breite Schwibbogen (Abb. 13), der in zwei großen Bögen zum Prälatenhaus führte. Das Gewölbe ist im Fischgrätmuster gemauert. Das Ganggeschoss ist zu beiden Seiten durch eine Reihe von gekoppelten Stichbogenblenden gegliedert, die teilweise als Fenster ausgebildet sind.22

Von den Querhausvorbauten aus sind die beiden Treppentürme (Abb. 13), jeweils am Nordund Südgiebel gelegen, begehbar.

Ursprünglich befand sich ein Dachreiter über der Vierung, nachdem dieser jedoch abgebrannt war, wurde 1733 auf dem Westende ein neuer aufgesetzt (Abb. 11).

Rings um den Chor, durch die äußeren Strebepfeiler hindurch, die von spitzbogigen Arkaden durchbrochen sind, führte ein mit Kreuzgewölben gedeckter Umgang, der wohl mit Glasfenstern geschlossen war.23 (Abb. 18, 19) Da die Strebepfeiler sich als zu schwach erwiesen, mussten sie am Fuß geböscht werden.

Das Dach des nördlichen Querschiffes ist niedriger als das des südlichen, auch befindet sich im Norden ein Walmdach, der südliche Teil des Querhauses dagegen hat ein Satteldach. Unter den großen Fenstern im Norden und Süden sind reich profilierte Portale, das südliche wird von zwei seitlichen Nischen begleitet (Abb. 15, 17). Der Südgiebel ist im oberen Teil mit Blendfenstern ausstaffiert.

Unter der Traufe verläuft ein Maßwerkfries, der größtenteils durch Strebepfeiler unterbrochen wird (Abb. 10, 12,13) Die Strebepfeiler des Langchores, die überdies im oberen Drittel abgetreppt sind (Abb. 12), und die Pfeiler des Langhauses sind durch Stützen verstärkt worden (Abb. 14). Über denen des südlichen Langhauses finden sich Rundbogennischen, auf halber Höhe der Fenster sind über schmalen Leisten Dreiecke eingelassen.

2.4.1. Die Westseite

Der erst Ende des 16. Jahrhunderts aufgesetzte Westgiebel ist in Renaissanceform ausgeführt und orientiert sich zum Teil an der Blendornamentik am Nord- und Südgiebelbereich der Kirche. Der Westgiebel ist ein gestaffelter Giebel, die Fenstergeschosse werden nach oben hin immer schmaler gehalten, die Zahl der zum Teil nur vorgeblendeten Fenster nimmt ab. Gesims und Fries trennen die einzelnen Fenstergeschosse, die als immer weiter abflachende Rundbögen ausgeführt wurden.

Das ursprüngliche Westportal ist nicht mehr erhalten, es wurde durch ein größeres Sandsteinportal ersetzt, dessen Einsatzspuren noch im Mauerwerk erkennbar sind (Abb. 16). Darüber findet sich ein Rundfenster aus Backstein, dessen Profilierung als aus dem 13. Jahrhundert stammend beschrieben wird.24 Auch Schallöffnungen des eingearbeiteten Turms sind dort noch zu erkennen, die beiden Kanten dieses Turms sind an der Westfront noch gut zu verfolgen.

Das Portal ist spitzbogig, auf dem Tympanonfeld, das von einem profilierten Trumeaupfeiler gestützt wird, sind drei verzierte Konsolen auf gleicher Höhe zu finden, über denen Baldachine angebracht sind.25

3. Besonderheiten des Baus

3.1. Zur ursprünglichen Lage der alten Dorfkirche

Vor zehn Jahren erst wurden im Presbyterium Fundamente eines polygonalen Chorschlussses ergraben: Mit der Tatsache, dass die noch erhaltenen Fußbodenfliesen des alten Chorraumes rauchgeschwärzt waren, versucht aktuellere Literatur zu beweisen, dass sich dort die alte 1383 abgebrannte Dorfkirche befunden haben muss.26 Der noch erhaltene Turmstumpf, der in der Westfassade verbaut worden ist, würde jedoch mit diesem Chor ein für eine Dorfkirche viel zu großes Bauwerk ergeben, was einerseits die These stützt, dass es tatsächlich während der Baumaßnahmen zu St. Nikolai noch eine Interimskirche gegeben haben muss, die späterhin abgetragen worden ist.27 Andererseits widerspricht diese Interpretation des ergrabenen Chorschlusses jedoch genau dieser Theorie - es sei denn, er war ebenso Teil der provisorischen Wallfahrtskirche und die Dorfkirche befand sich doch an gänzlich anderer Stelle. Oder der für eine ,,ordinäre Prignitzer Dorfkirche", wie das ursprüngliche abgebrannte Gotteshaus in der Literatur gern bezeichnet wird, wohl doch recht ungewöhnliche 5/10- Schluss ist als Basis für das Provisorium verwendet worden. Allerdings deuten Reste von Feldsteinmauerwerk, die heute noch an der Westwand des nördlichen Querhauses und zwischen den mittleren Strebepfeilern des nördlichen Langhauses zu finden sind, darauf hin, dass sich die einstige Dorfkirche auf Höhe des heutigen Nordseitenschiffs des Langhauses befand.28 Ebenso könnte dies die abweichenden Mauerfluchten des nördlichen Seitenschiffs erklären - dem Mauerverlauf der alten Dorfkirche könnte so Rechnung getragen worden sein.29 Noch dazu befindet sich am mittleren Strebepfeiler an der Ostseite der Sakristei der sogenannte Wunderblutfund-Gedenkstein (Abb. 20),30 der ob seiner Lage ebenfalls das nördliche Seitenschiff als Standort der Dorfkirche zu markieren scheint.

3.2. Vergleiche zu anderen Bauten

Die baugeschichtliche Diskussion führt überdies dazu, dass keine Einigung bestehen kann, ob der Dom von Stendal Vorbild oder Nachbildung ist. Adler erkennt St. Nikolaus als von altmärkischer Architektur wie der Nikolaikirche in Stendal abhängig.31 Cremer dagegen sieht im Stendaler Dom den Nachfolgebau des Wilsnacker Wunderblutes. In beiden erkennt er Parallelen zu der Klosterkirche in Chorin: Von dort soll die Konzeption des Langchores und des Querhauses mit den Vorbauten entlehnt sein.32

Den hohen Lanzettfenstern des Chores wird zugeschrieben, eine erweiterte Version der zweibahnigen Fenster des Havelberger Domes zu sein. Auf jeden Fall waren die Strebepfeiler nicht für diese Last konzipiert und mussten verstärkt werden. Ebenso finden sich zu den achteckigen Treppentürmen Pendants im Bischofssitz Havelberg, erstmalig sind diese wohl in Chorin aufgetaucht.33 Der gedrückte 5/10-Schluss des Chores verweist auf Magdeburger Dom.34 Der durch die Strebepfeiler führende Chorumgang soll sich am Meißener Dom orientieren.35

Immer wieder wird in der Literatur auch die Lüneburger St- Michaeliskirche zitiert, deren Chorfenster eine ebensolch extreme Höhenerstreckung wie die in Bad Wilsnack aufweisen. Außerdem sind die sich in Nischen befindlichen zurückgesetzten Türbögen, die von Spitzbögen überfangen sind, auch in St. Michaelis zu entdecken. Ähnliches ist ebenfalls in Chorin zu sehen.

Die Tatsache der auf Konsolen abgefangenen Dienste sei eine der Zisterzienserarchitektur entlehnte Besonderheit, erklärt Cremer, der den vor 1300 erbauten Verdener Dom als wichtigstes Vorbild für Wilsnack empfindet. Beispielsweise sei dies in den Blendelementen am Giebel der Südfassade sowie über dem Fenster des Südportals erkennbar.

Resümee

Bestimmt von der wirtschaftlichen Lage aber auch der politischen Situation wie die diversen Anlehnungen an Bauten in der Diözese Verden oder die Orientierung nach Lüneburg und Meißen zeigen, weist die Heiligblutkirche in Bad Wilsnack viele Unstimmigkeiten auf. Die Idee, dass vor dem Bau St. Nikolais eine provisorische Wallfahrtskirche errichtet worden war und dass die ursprüngliche Lage der 1383 abgebrannten Dorfkirche entscheidend den Grundriss des heutigen Gotteshauses prägte, könnte die oft unsymmetrischen Mauerverläufe erklären. Überdies führte die wechselvolle Baugeschichte, die bis heute nicht eindeutig enträtselt werden konnte, immer wieder zu Notlösungen. Diese vorzeitigen Abschlüsse bedingen, dass St. Nikolai sich bis heute als unvollendete Backsteinhallenkirche präsentiert, deren ursprüngliche Planung vermutlich einen in der Ost-West-Ausdehnung von neun Jochen überspannten Raum vorgesehen hatte. Auch vernachlässigte der Entwurf, wie die zwingende Notwendigkeit zusätzlicher Böschungen an den Strebepfeilern zeigt, einige statische Erwägungen.

Der Innenraum weist eine Vielzahl von Eigenheiten auf, wie beispielsweise die überhöhte Sockelzone im Emporenbereich. Dabei sind auch regionale Einflüsse sichtbar, unter anderem vom Dom im nahegelegenen Havelberg oder dem Choriner Kloster.

5. Anhang

5.1. Bibliographie

Adler, Friedrich: Mittelalterliche Backsteinbauwerke des preußischen Staates, Supplement B, Heft 5, 1863.

Breest, Ernst: Das Wunderblut von Wilsnack. In: Märkische Forschungen, Bd.16, 1881.

Cors, August: Chronik der Stadt Wilsnack, Berlin 1930.

Cremer, Folkhard: Die St. Nikolaus- und Heiligblut-Kirche zu Wilsnack (1383-1552), München 1996.

Koischwitz, Gerd: Der Wallfahrtsweg über Heiligensee zum Wunderblut von Wilsnack um 1400, Berlin 1990.

Kunstdenkm ä ler

der Westprignitz: hrsg. vom Brandenburgischen Provinzialverband, Bd. 1, Teil 1, Berlin 1909.

Storch, Martin: Wilsnack und seine Wunderblutkirche. In: Prignitzer Volksbücher, Heft 35, Pritzwalk 1911.

Woronowicz, Ulrich: Evangelische Kirche St. Nikolai Bad Wilsnack, Regensburg 1994.

[...]


1 1 Schon 1403 jedoch kam durch Johann Huß erste Kritik am Wunderblutkult auf, 1451 erklärte ein päpstlicher Legat das Wunderblut als ,,Betrug am Volke", 1453 Papst Nikolaus diesen Beschluss wiederum für null und nichtig (Vgl. dazu Kunstdenkmäler der Westprignitz, 1909, S. 307). Trotzdem Martin Luther 1520 in seiner Schrift ,,An den christlichen Adel deutscher Nation" forderte, ,,... dass die wilden Kapellen und Feldkirchlein würden zerstöret, als da sind, da die neuen Wallfahrten hingehen, Welsnacht..." (Koischwitz, 1990, S. 46), schmälerte dies die Pilgerlust der Katholiken nach Wilsnack zunächst nicht. Erst durch den Tod des letzten Bischofs 1548 konnte die Reformation in Wilsnack einkehren, endgültig beendet wurde der Kult durch das Verbrennen der Hostien im Jahre 1552.

2 2 Cremer, 1996, S. 2

3 1 a.a.O., S. 48 ff

4 2 Vgl. Cremer, 1996, S. 99. Siehe auch ebenda S.129: So sei das an den Pfeilern des
3 Langhauses offensichtliche Taustabprofil (Abb. 8) erst in der zweiten Hälfte des 15.
4 Jahrhunderts in der Mark Brandenburg aufgekommen, als frühestes Beispiel wird St.
5 Gotthard in Brandenburg, erbaut zwischen 1456 und 1475, zitiert. An den Pfeilern
6 finden sich auch an symmetrisch angeordnetes Eichenlaub erinnernde Formsteine, die in
7 dieser Art erst um 1500 in der Prignitz auftauchen.
8 Ferner existiert ein Bauablass aus dem Jahre 1471, mit dem Cremer (S. 140) den
9 Baubeginn der östlichen Langhausjoche zu datieren versucht. Ein weiterer Ablass von 1500
10 soll die Finanzen für die Ausformung der Langhauspfeiler und der Langhausstrebepfeiler
11 geregelt haben, so dass um 1525 gewölbt werden konnte. Zu dieser Zeit soll an die
12 Westseite ein vorläufiger Giebel angesetzt worden sein, über dessen Abriss 1590 noch
13 Rechnungen existieren.

5 1 Adler, 1863, S. 13: Mit diesen Eckdaten bezieht sich Adler auf Inschriften, die heute nicht 2 mehr auffindbar sind

6 1 KDM Westprignitz, 1909, S. 310 ff: Damit stützen sich die Autoren auf Forschungen Ernst
2 Breests (Breest, 1881, S. 150 ff), der behauptete, schon 1389 sei die Kirche zum Teil mit Gewölben
3 versehen gewesen. Dem widerspricht Cremer (Cremer, 1996, S. 90), der meint, dass die Tatsache,
4 dass sich um 1440 Pilgerer beeindruckt zeigten vom intensiven Baugeschehen in Wilsnack,
5 beweisen würde, dass die Wölbung, der Abschluss des Baus, noch lange bevorstand.

7 1 Der Schwibbogen führte zum ehemaligen Prälatenhaus, das später durch ein Barockschloss
1 ersetzt worden war, das erst in den 1970er Jahren einem Feuer zum Opfer fiel.

8 2 KDM, 1909, S. 312

9 1 Breest, 1881, S. 152

10 1 Laut Koischwitz, 1990, S. 50: Als das benachbarte westlich gelegene Rathaus in den
2 1920ern errichtet wurde, sind Kirchenfundamente entdeckt worden - dies könnte ein
3 Hinweis darauf sein, dass St. Nikolai ursprünglich weit größer geplant worden war.

11 1 Cremer, 1996, S. 20

12 2 Die Tatsache, dass im Südosten der Wunderblutkapelle ein Strebepfeiler diagonal vorgesetzt
3 worden ist, in der Sakristei im Nordosten dagegen zwei Pfeiler als Verlängerungen der
4 Mauern auszumachen sind, lässt Cremer (Cremer, 1996, S. 20) vermuten, es handele sich
5 um eine Anspielung auf einen Vorbildbau, beispielsweise der Lübecker Marienkirche.

13 1 Cremer, 1996, S. 19

14 1 In den ,,Kunstdenkmälern der Prignitz" heißt es auf Seite 314, dass die Dienste wegen
1 eines früher im Innern verlaufenden Hochganges durchbrochen seien, der mit dem
2 ehemaligem Lettner in Verbindung gestanden haben soll. Mit diesem nach dem Verfall des
3 äußeren ebenerdigen Umgangs wohl zur Vorführung der Hostien gedachten Umgang soll
4 sich auch die Vermauerung der Chorfenster in etwa vier Metern Höhe erklären.

15 1 Die Bedeutung dieser Treppe ist noch ungeklärt, es wird vermutet, dass es sich dabei um
2 den Eingang zu einem unterirdischen Gang handelte, vielleicht zu der rund zwei Kilometer
3 entfernten Plattenburg der Saldern, die Ende des 16. Jahrhunderts den nach der
4 Reformation verwaisten Kirchenbau in ihre Obhut nahmen und denen auch der Westgiebel
5 zugeschrieben wird. (Cors, 1930, S. 13)

16 1 Siehe Cremer, 1996, S. 23: Es ist verbürgt, dass nur noch die Südwand in ihrer
2 ursprünglichen Form erhalten ist. Unter der Familie von Saldern ist die nördliche Wand
3 Ende des 16. Jahrhunderts erheblich abgeändert worden. Die oberen, heute vermauerten
4 Eingänge werden entweder als Verbindung des von Breest favorisierten Lettners (Vgl.
5 Breest, 1881, S. 160) mit den Emporen oder als Durchgang zum hölzernen Laufgang interpretiert.

17 6 Cremer S. 24

18 1 Storch, 1911, S. 13

19 1 Dies wird in KDM, 1909, S. 314, mit der Notwendigkeit eines vorläufigen Abschlusses erklärt.

20 1 In einigen Quellen heißt es, bei der dargestellten Figur handele es sich um den 1396
2 verstorbenen Bauherren Bischof von Wöpelitz, andere beschreiben diese Darstellung als
3 den Schutzpatron Nikolaus.

21 1 Dies wird damit erklärt, dass die Spitze die höchsten Punkte der Scheidbögen
2 zwischen Mittel- und Seitenschiff nicht überschreiten sollte (Cremer,1996, S. 37)

22 1 Der Schwibbogen ist besonders interessant, war so etwas zu damaliger Zeit doch eher an Residenzen
1 von Bischöfen oder Fürsten anzutreffen. Auf jeden Fall kommt der Bogengang der wohl wichtigsten
2 Anforderung nach, und führt direkt in die sogenannte Fürstenloge, die nördliche Empore.
3 Brückengänge existierten zwar ebenso am Braunschweiger Dom oder am Kloster Lehnin, aber die in
4 Wilsnack besondere Ausprägung eines Schwibbogengangs wurde erst mit Ende des 14. Jahrhunderts
5 an den Burg- und Schlossanlagen des französischen Königs eingeführt. (Vgl. Cremer, 1996, S. 104)

23 1 Koischwitz, 1990, S. 52

24 1 KDM, 1909, S. 310

25 1 Vermutet wird, dass das Westportal, zu dem sich Entsprechungen an der Elisabethkirche in
1 Marburg oder der Dominikanerkirche in Gent finden, St. Nikolai in Wilsnack ebenso wie
2 den Bau in Marburg als Wallfahrtskirche kennzeichnen sollte. (Cremer, 1996 S. 174)

26 1 Woronowicz, 1994, S. 7

27 2 a.a.O., S. 7 und vgl. Cremer (Cremer, 1996, S. 48) und Adler (Adler, 1863, S. 13)

28 3 Überdies weist Folkhard Cremer (Cremer, 1996, S. 32) auf den ungewöhnlich gestalteten
4 Schlussstein im südlichen Joch des nördlichen Querhausarms hin, der das Antlitz Christi
5 zeigt. Nach seiner Definition markiert dieser den Ort des Hostienwunders, dort also muss sich
6 demnach der Altar der Dorfkirche befunden haben.

29 7 Woronowicz, 1994, S. 8

30 8 Auf diesem Gedenkstein sind zwei kniende Figuren dargestellt, die ein für mittelalterliche
9 Prozessionen verwendetes Tabernakel halten.

31 1 Cremer, 1996, S. 49

32 2 a.a.O. S. 247

33 1 a.a.O. S. 262

34 2 a.a.O. S. 93

35 3 a.a.O. S. 324: Der Autor erklärt diesen Umstand mit der damaligen politischen Situation:
4 Von 1394 bis 1403 war Wilhelm von Meißen Statthalter der Mark Brandenburg. Die
5 Übernahme des Chorumgangs wird als huldigende Geste des Bauherren gegenüber dem
6 Schutzvogt seiner Diözese verstanden.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Wallfahrtskirche St. Nikolaus in Bad Wilsnack
Note
1
Autor
Jahr
2000
Seiten
15
Katalognummer
V97764
ISBN (eBook)
9783638962155
Dateigröße
444 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Aufgabe war es, einen Kirchenbau zu beschreiben, dabei der Baugeschichte und den Vergleichen mit anderen Bauten besondere Beachtung zu schenken.
Schlagworte
Wallfahrtskirche, Nikolaus, Wilsnack
Arbeit zitieren
Karen Grunow (Autor:in), 2000, Wallfahrtskirche St. Nikolaus in Bad Wilsnack, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97764

Kommentare

  • Gast am 4.10.2001

    zu empfehlen.

    gute, detaillierte Auseinandersetzung

  • Gast am 5.7.2001

    sehr informativ.

    Hallo, finde diese Arbeit sehr informativ, ist doch speziell zu diesem Bau bislang kaum Literatur aufzutreiben!

Blick ins Buch
Titel: Wallfahrtskirche St. Nikolaus in Bad Wilsnack



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