Konflikt und Macht im Sozialkonstruktivismus

"Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" im Spiegel von Karl Marx und Heinrich Popitz


Seminararbeit, 2020

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zusammenfassung des Werkes

3. Vergleich mit anderen Soziolog*innen
3.1 Klassenkampf und Sozialkonstruktivismus
3.2 Macht in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit

4. Fazit

5. Bibliographischer Apparat

1. Einleitung

Mit ihrem Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ legen Peter L. Berger und Thomas Luckmann den Grundstein für eine Neudefinition der Wissenssoziologie. Für die Autoren steht nicht wie bei ihren Vorgänger*innen allzu häufig theoretisches – also durch Wissenschaft „geschaffenes“ Wissen – im Vordergrund, sondern das Alltagswissen. Berger und Luckmann stellen sich die Frage, wie der Übergang von einem subjektiv gemeinten Sinn eines einzelnen Individuums zu einer faktischen Objektivität, nach der sich dann wiederum mehrere andere Individuen richten, beschaffen ist. Es geht also darum, wie subjektive Erlebnisse zu einer allgemeingültigen objektiven Wirklichkeit werden. Wie ihr Werk diese Fragestellung beantwortet, soll im ersten Teil dieser Hausarbeit rekonstruiert werden.

Im zweiten Teil soll hingegen der Vergleich zu anderen Soziolog*innen angestellt werden. Konkret handelt es sich hierbei um Karl Marx und Heinrich Popitz. Es sollen Unterschiede, Gemeinsamkeiten aber auch Ambivalenzen zwischen den Ideen der genannten Autoren aufgezeigt und erläutert werden. Die Wahl fiel nicht willkürlich auf Marx und Popitz. Marx auf der einen Seite wird im Werk von Berger und Luckmann mehrmals direkt erwähnt und war zudem ein Vordenker vieler wissenschaftlicher Disziplinen – nicht nur der Soziologie. Sein Verständnis von Gesellschaft polarisiert noch heute und erscheint daher besonders geeignet als Vergleichsobjekt bezüglich der Überlegungen, die von Berger und Luckmann angestellt werden. Auf der anderen Seite war Popitz der einzige, der im Seminar behandelten „Klassiker“, der auch noch nach dem Erscheinen von „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ publizierte. Sein Miteinbeziehen in die folgende Arbeit macht somit einen „Vorher/Nachher“-Vergleich im Hinblick auf das Werk von Berger und Luckmann möglich. Es lässt sich also nicht nur untersuchen, welche Elemente vorheriger Theorien Berger und Luckmann in ihr Werk haben einfließen lassen, sondern auch, welche Auswirkungen ebendieses auf nachfolgende Schriften hatte.Ein weiterer Grund für die Auswahl war die Tatsache, dass sich alle drei Werke mehr oder weniger explizit mit einem bestimmten Teilbereich gesellschaftlicher Ordnungen beschäftigen: Der Legitimation ebendieser. Dies ermöglicht eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln, wie und warum bestimmte Gesellschaftssysteme von einer Mehrheit der in ihr lebenden Menschen als legitim angesehen wird und macht den Vergleich besonders attraktiv.

2. Zusammenfassung des Werkes

Ausgehend von der Neukonzeption des Forschungsfeldes der Wissenssoziologie und der damit einhergehenden Fokussierung auf die Alltagswelt und das dort wirksame Wissen stellt sich für Berger und Luckmann die Frage, wie sich ein Individuum innerhalb dieser zurecht findet. Schließlich wird es in eine bereits bestehende Wirklichkeit hinein geboren, deren Regeln und Deutungsmuster zunächst in einem langen Akt der Sozialisation erlernt werden müssen. Von Geburt an ist also bereits eine Wirklichkeit vorhanden und muss nicht in mühevoller Kleinarbeit eigenhändig zusammengebaut werden. Sie ist stattdessen im Voraus von der Gesellschaft sozial konstruiert worden. Diese Konstruktionen haben für das Individuum einen potentiellen zwingenden Charakter inne, wie die Tatsache, dass Sozialisation ein Muss ist, zeigt. Basal für das Zustandekommen dieses zwingenden Charakters ist der Begriff der Habitualisierung. Handlungen werden habitualisiert, wenn sie häufig in gleicher Weise ausgeführt werden und so zu einem Modell für die Zukunft werden. Die Anwendung dieser Modelle erfolgt routinemäßig und spart so Kraft und Zeit, die sonst für das Abwägen der Handlungsalternativen notwendig gewesen wäre. Die tägliche Morgenroutine ist ein anschauliches Beispiel für einen habitualisierten Vorgang. Viele Menschen führen jeden Morgen dieselben Handlungen in derselben Reihenfolge aus. Kaum jemand stellt sich nach dem Aufstehen jedes Mal die Frage ob er*sie nun zuerst duschen, frühstücken oder Zähne putzen soll.

Allerdings besitzt eine von einer*m einzelnen häufig wiederholte Handlung noch keinen zwingenden Charakter für andere Individuen. Hierfür ist ein weiterer Schritt, nämlich der der Institutionalisierung notwendig. Auf die Frage, wie aus einer habitualisierten Handlung eine Institution wird, ist die Antwort der Autoren folgende: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“ (Berger/Luckmann 1992, 58). Habitualisierte Handlungen werden also dadurch institutionalisiert, dass sie einem gewissen „Typ“ von Mensch als „typisch“ zugeordnet werden. Werden diese Typisierungen zwischen verschiedenen Personengruppen wechselseitig angewandt, macht dies die Handlungen dieser Gruppen für jede*n berechenbar. Überträgt man diesen Sachverhalt etwa auf den Hochschulkontext, wird deutlich, dass es im Kontext „Vorlesung“ zum einen den Personentyp „Lehrende“, von denen auf der Bühne ein Vortrag erwartet wird, und zum anderen den Personentyp „Lernende“, von denen ein mehr oder minder ruhiges Verfolgen der Ausführungen der Lehrenden erwartet wird, gibt. Beide Personengruppen sind sich der an ihr Handeln gestellten Anforderungen bewusst, erwarten aber auch ihrerseits ein spezifisches Handeln vom jeweils anderen Personentyp, sodass beide Handlungssicherheit haben und gleichzeitig auch anhand von Modellen das Handeln anderer voraussehen können. Nun wird auch deutlich, weshalb soziale Konstruktionen in Form dieser Institutionen so einen Druck auf Individuen ausüben können. Man stelle sich vor, eine lehrende Person würde plötzlich aufhören, ihren Vortrag zu halten und stattdessen auf der Bühne Mandalas auszumalen. Unter den Lernenden würde erhebliche Irritation ausbrechen, da ein solches Verhalten nicht institutionalisiert ist und somit keine bewährten Handlungsalternativen mehr zur Verfügung stehen. Die Folge wäre ein gänzlicher Zusammenbruch der „Vorlesungs-Wirklichkeit“.Habitualisierung und Institutionalisierung sind die Grundlage, auf der nach Berger und Luckmann objektive Wirklichkeit aufgebaut wird. Als objektive Wirklichkeiten lassen sich alle gesellschaftlichen Zusammenhänge und Wissensbestände begreifen, die praktisch außerhalb des Individuums existieren – also Handlungsweisen, die während der Sozialisation mit einem „Das macht man nun mal so“ gerechtfertigt werden können. Grundlage hierfür ist die menschliche Fähigkeit zur Objektivation. Objektivation beschreibt den Vorgang, der subjektives Wissen und Erfahrungen zu gesellschaftlicher Realität werden lässt (vgl. Miebach 1991, 267).

Obwohl objektive Wirklichkeit stets das Produkt von menschlichem Tun ist, können objektivierende Vorgänge so weitreichend sein, dass sie „verdinglicht“ wird. Verdinglichung beschreibt „die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte“ (Berger/Luckmann 1992, 95). Menschengemachte Institutionen werden also zu etwas „höherem“ erhoben (etwas natur- oder gottgegebenes), sodass ihre eigentlich menschliche Herkunft verschleiert wird. Ein Beispiel für eine solche Institution wäre etwa das binäre Geschlechtssystem. Die Aggressivität, mit der sich „Gender-Ideologen“, die lediglich auf die soziale Konstruiertheit dieses Systems verweisen, teilweise konfrontiert sehen, offenbart eine weitere Eigenschaft, die verdinglichten Institutionen zu eigen ist: Ihre hohe Resistenz gegenüber Änderungsversuchen. Denn wenn die menschliche Herkunft sozialer Konstruktionen geleugnet wird, entziehen sie sich damit auch menschlichen Modifikationen. Sie existieren dann als „außermenschliche Faktizität“ (ebd., 94). So beschränkt objektive Wirklichkeit die prinzipiell zunächst vollkommen freien Gestaltungsmöglichkeiten eines Individuums bezüglich gesellschaftlicher Ordnungen.Wenn es nun allerdings notwendig ist, Institutionen einer nachfolgenden Generation näher zu bringen, für die ebendiese (noch) keine allgemeingültige Selbstverständlichkeit sind, ist eine Vermittlung nicht ohne Hilfsmittel möglich. Zur Rechtfertigung institutioneller Ordnungen wird Legitimierung benötigt, die Berger und Luckmann wie folgt beschreiben: „Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, was sie sind“ (ebd., 100). Legitimation vereinigt also die Sinngebung mit Normativität. Es ist nicht nur so, es ist auch gut so wie es ist. Unter diesem Betrachtungswinkel erscheint Abweichung von etablierten Institutionen als Angriff auf eine zurecht bestehende (legitime) Ordnung. Außerdem offenbart die Existenz von Alternativen, dass bestehende Institutionen nicht in ihrer jetzigen Form existieren müssen. Erneut ist also die Wirklichkeit als solches angegriffen. Als „Schutzmaßnahmen“ hat die Gesellschaft daher Therapie und „Nihilierung“ entwickelt. Therapie umfasst alles „von der Teufelsaustreibung bis zur Psychoanalyse“ (ebd., 121) und hat den Zweck, Abweichler*innen davon zu „überzeugen“, dass ihr Verhalten „falsch“ ist. Im Vergleich hierzu wird durch Nihilierung sämtliches Abweichlertum an sich geleugnet. Verhalten, das der institutionellen Ordnung zuwider läuft, resultiert hiernach entweder aus einer Fehlinterpretation der legitimen Wirklichkeit, oder aus bloßer kognitiver Unzulänglichkeit. Treffendes Beispiel hierfür ist etwa der überdurchschnittlich hohe Gebrauch von Adjektiven wie „krank“ oder „abartig“, wenn über Pädophilie und Kindesmissbrauch diskutiert wird.

Weitere Stützen für die institutionalisierte Ordnung können sogenannte „Welt-Spezialisten“1 sein, die für sich beanspruchen, absolute Deutungshoheit über die „wahre“ Wirklichkeit zu besitzen (vgl. ebd., 125). Die Tatsache, dass Alltagswissen immer unvollständig ist (niemand weiß alles), macht Expert*innen für bestimmte Wissensbereiche notwendig. Welt-Spezialisten sind Expert*innengruppen, die eine bestimmte Theorie zur Legitimierung der Wirklichkeit verfechten. Typische Beispiele hierfür sind etwa religiöse Instanzen. Des Öfteren kommen Welt-Spezialisten in Konflikt mit Anhänger*innen anderer Theorien um die Definitionsmacht von Wirklichkeit, was dazu führt, dass Theorien nicht nur argumentativ, sondern auch mithilfe physischer Gewalt etabliert und aufrechterhalten werden. Darüber hinaus können allerdings auch Konflikte mit sogenannten „Praktikern“ der Wirklichkeit entstehen. Diese rühren zumeist daher, dass Welt-Spezialisten ihre theoretischen Konzepte höher ansehen als die Arbeit der Praktiker und Erstere ebenfalls häufig eine privilegierte Stellung im Vergleich zu Letzteren einnehmen (vgl. ebd., 126).Objektive Wirklichkeit ist als Rahmen innerhalb der Alltagswelt zu verstehen. Individuelles Handeln und Auseinandersetzung mit diesem Rahmen bezeichnen Berger und Luckmann als „subjektive Wirklichkeit“. Grundlage dieser subjektiven Wirklichkeit ist Sozialisation, die von Berger und Luckmann in eine primäre und eine sekundäre Sozialisation aufgeteilt wird. Bei der primären Sozialisation geht es nicht nur um eine grundlegende Einführung in die Gesellschaft, sondern auch um das Ausbilden einer individuellen Persönlichkeit. Neben der Vermittlungen basaler Kenntnisse von z.B. Normen, Werten und Sprache ist nämlich auch die Übernahme von sozialen Rollen und Einstellungen von großer Bedeutung. Dies alles liegt im Aufgabenbereich sogenannter „signifikanter Anderer“, welche in der frühen Lebensphase , in der die primäre Sozialisation stattfindet, zumeist hauptsächlich der eigenen Familie angehören. Besonders wichtig ist jedoch, dass eine Modifikation von signifikanten Anderen zu generalisierten Anderen stattfindet. Dies bedeutet, dass das Kind Meinungen und Normvorstellungen seiner Mitmenschen abstrahiert und so auf die Gesellschaft verallgemeinert. Vereinfachend gesagt geht es also um den Übergang von einer singulären Beobachtung (Oma guckt mich jedes mal böse an, wenn ich mit vollem Mund spreche) zu einer allgemeingültigen Maxime (man spricht nicht mit vollem Mund). Den kontinuierlichen Prozess der Umwandlung signifikanter in generalisierte Andere titulieren Berger und Luckmann mit dem Begriff der Internalisierung.

Aus der oben bereits erwähnten gesellschaftlichen Distribution von Wissen geht die Notwendigkeit eines zweiten Sozialisationsprozesses hervor. Um sich innerhalb der durch gesellschaftliche Arbeitsteilung entstandenen verschiedenen Facetten der Alltagswelt bewegen zu können, ist die sekundäre Sozialisation wichtig. Folglich sind die dem Individuum in der primären Sozialisation zugewiesene sozialen Rollen innerhalb der Gesellschaft nun von höchster Relevanz, da jetzt das für ebendiese Rollen spezifische Wissen verinnerlicht wird. Es geht darum, bestimmte „Subwelten“ der Wirklichkeit zu internalisieren, im Gegensatz zu der für alle relevanten und in der primären Sozialisation internalisierten „Grundwelt“ (vgl. ebd., 149). So ist etwa das Studium der Soziologie mit vollkommen anderen Erfahrungen und Erkenntnissen – ja sogar mit einem gänzlich verschiedenen spezifischen Wortschatz – verbunden wie etwa die Ausbildung zum*zur Industriemechaniker*in. Allerdings stößt die sekundäre Sozialisation auf das Problem, dass sie es mit einem Individuum zu tun hat, das bereits eine Wirklichkeit internalisiert hat. Da darüber hinaus die primäre Sozialisation auf emotionalen Bindungen zu signifikanten Anderen fußt, steht das Individuum den in der sekundären Sozialisation vermittelten Inhalten stets eher kritisch gegenüber. Man hat es praktisch mit dem oben bereits geschilderten Konflikt der plötzlich auftauchenden alternativen Wirklichkeiten zu tun – nur in geringerem Ausmaß, da sekundäre Sozialisation immer ein Stück weit auf der in der primären Sozialisation internalisierten Wirklichkeit aufbaut. Dementsprechend vermitteln in der sekundären Sozialisation auch nicht signifikante Andere, sondern „institutionelle Funktionäre“ (ebd. 152) Wirklichkeit. Da also keine Selbstidentifikation mit diesen Funktionären stattfindet, existiert die auf diese Art und Weise internalisierte Wirklichkeit in gewisser Weise außerhalb der eigenen Persönlichkeit. Das Individuum greift immer nur dann auf sie zurück, wenn es die Situation erfordert. Nur weil ich beim Ordnungsamt arbeite, schreibe ich trotzdem normalerweise keine Falschparker*innen in meiner Freizeit auf. Neben der bloßen Internalisierung muss subjektive Wirklichkeit allerdings noch auf anderen Wegen reproduziert werden, damit sie ihre Gültigkeit behält. Berger und Luckmann sprechen in diesem Kontext von einer „Konversationsmaschine“, die „gut geölt sein und ständig laufen“ muss (ebd., 165). Die Metapher der Konversationsmaschine steht hierbei für Gespräche innerhalb der Alltagswelt. Es geht hierbei jedoch nicht um Gespräche, die sich konkret mit der Konzeption unserer Welt befassen, sondern um alltägliche Konversationen. Denn in diesen werden etliche Aussagen getroffen, die nur getätigt werden, weil sie für das Individuum und seinen*ihren Gesprächspartner*in Sinn ergeben. Solange getätigte Aussagen keine Irritationen hervorrufen, bestätigen sie implizit die eigene subjektive Wirklichkeit. Wenn ich etwa eine Freundin frage, wie weit sie mit ihrer Hausarbeit zum Werk von Berger und Luckmann ist, setzte ich damit gleichzeitig etliche Annahmen über die Realität voraus: Die Freundin studiert, hat dasselbe Seminar wie ich besucht, hat auch dasselbe Thema für ihre Hausarbeit wie ich etc. Diese können durch ein einfaches „Naja, ich hoffe einfach, dass ich irgendwie bestehe“ allesamt bestätigt werden. Doch wenn sie auf meine Frage mit der vollkommen ernst gemeinten Gegenfrage, wer denn bitte Berger und Luckmann seien, antwortet, ergibt sich ein erhebliches Problem für meine subjektive Wirklichkeit.

Das Beispiel zeigt, dass subjektive Wirklichkeit niemals ohne sogenannte „Plausibilitätsstrukturen“ existieren kann. Berger und Luckmann definieren diese Strukturen wie folgt: „[D]ie gesellschaftliche Grundlage und die gesellschaftlichen Prozesse, die für ihren Bestand [den der subjektiven Wirklichkeit; Anmerk. d. Verf.] erforderlich sind“ (ebd., 165). Folglich kann man z.B. nur dann Steuerberater*in sein, wenn es innerhalb der Alltagswelt eine Subwelt für Steuerberater*innen gibt – inklusive Rollenkonstruktionen und spezifischen Wortschatz, bzw. man Gespräche führt, die indirekt bestätigen, dass „Steuerberater*in“ eine anerkannte Rolle innerhalb der Gesellschaft ist. Würde man als Steuerberater*in plötzlich in einer Gesellschaft leben, in der keine Steuern gezahlt werden, würde auf Dauer dieser Teil des Selbst verschüttgehen, da die hier geltenden Plausibilitätsstrukturen diese Rolle für nichtig erklären.

Wenn derweil subjektive Wirklichkeit als solches in die Krise gerät – etwa beim Kontakt mit Vertreter*innen anderer Wirklichkeiten – macht dies nach Berger und Luckmann eine „subjektive Nihilierung der alternativen Wirklichkeit“ notwendig (ebd., 167). Das wohl extremste Beispiel hierfür ist das Exekutieren von Deserteur*innen im Krieg. Durch das Töten von Fahnenflüchtigen, die als Symbol für eine alternative Wirklichkeit, in der man dem Krieg entkommen kann, fungieren, findet eine ultimative Auslöschung ebendieser Alternative statt.

Wichtig ist es nun allerdings festzustellen, dass Existenz innerhalb einer Gesellschaft nicht aus reiner Internalisierung besteht. Ebenso kann das Individuum durch Externalisierung Einfluss auf die Wirklichkeit ausüben und sie – in einem gewissen Rahmen – eigenständig gestalten. Den dialektischen Dreiklang, anhand dessen Berger und Luckmann die Dialektik von Individuum und Gesellschaft analysieren, wird durch menschliche Objektivation vervollständigt. Die Verwobenheit dieser drei Faktoren fassen Berger und Luckmann wie folgt zusammen: „ Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ (ebd., 65; Hervorh. im Orig.).

Zuletzt gehen Berger und Luckmann noch auf den Begriff der Identität ein. In diesem Zusammenhang dürfe nicht von einer „kollektiven Identität“, sondern von Identitätstypen gesprochen werden (vgl. ebd., 185). Demzufolge bestimmt die Masse solcher Typisierungen innerhalb der Alltagswelt, mit denen sich das Individuum identifiziert, die Identität. Die Grenzen für diese Identität – aber auch für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit an sich – bestimmt die biologische Konstitution des Menschen. „Der Magen knurrt, auch wenn der Mensch als Weltenbauer tätig ist“ (ebd, 192). Körperliche Empfindungen wie Hunger aber auch Krankheit und Tod können nicht durch die Gesellschaft „abgeschafft“ werden. Allerdings ist eine gesellschaftliche Einflussnahme auf die biologischen Möglichkeiten keineswegs in jedem Falle ausgeschlossen. Man denke etwa an die unterschiedliche Förderung von Männern und Frauen im Sport, die Leistungsunterschiede zwar nicht alleine aber auf jeden Fall mit verursacht. So kann man also auch hier von einer Dialektik sprechen – in diesem Fall von einer zwischen Individuum, Gesellschaft und Natur. In diesem Spannungsverhältnis „produziert der Mensch Wirklichkeit – und sich selbst“ (ebd., 195).

[...]


1 Um auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu kennzeichnen, welche Bezeichnungen für bestimmte Personengruppen vom Verfasser von anderen Autor*innen übernommen wurden, werden diese allesamt im generischen Maskulinum – also so wie sie in den jeweiligen Werken auftreten – belassen.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Konflikt und Macht im Sozialkonstruktivismus
Untertitel
"Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" im Spiegel von Karl Marx und Heinrich Popitz
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
18
Katalognummer
V976993
ISBN (eBook)
9783346328588
ISBN (Buch)
9783346328595
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialkonstruktivismus, Klassiker, soziologische Theorie, Wissenssoziologie
Arbeit zitieren
Patrick Nehren (Autor:in), 2020, Konflikt und Macht im Sozialkonstruktivismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/976993

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