Kaluza, Barby - Memory


Ausarbeitung, 2000

67 Seiten


Leseprobe


Autorin: Barby Kaluza

Memory

Vorwort:

Liebe Leser !

Zu aller erst muss ich sagen, das es mir nicht nur sehr viel Spaß gemacht hat, dieses Buch zu schreiben, sondern, dass es mir auch sehr geholfen hat. Es ist die beste Art, jemanden mein Leben, oder zu mindest meine Kindheit näher zu bringen. Ich bin noch keine 90 Jahre alt, wie wohl die meisten Menschen, die ihre Lebensgeschichte aufschreiben, und deswegen endet es dort, wo es enden muss. Mehr dazu im Nachwort Die einzigen Befürchtungen , die ich mit diesem Buch habe, ist, das wieder alles falsch verstanden wird. So wie es mein Leben lang immer war. Ich bitte Sie also, falls sie mich nicht persönlich kennen und nicht vielleicht sogar eine der Personen in diesem Buch sind, mit keinerlei Vorurteilen daran zu gehen.

Es ist lediglich eine Geschichte, die Eindrücke aus meiner Kindheit beschreibt. Dabei sind die meisten der hier aufgeführten Namen geändert und mit Sicherheit wurde nichts genau so dargestellt, wie es wirklich war, sondern nur so, wie ich es damals Empfunden habe und wie es in meinen Erinnerungen geblieben ist.

Warum dieses Buch Memory heißt? Gute Frage, und ich denke, sie werden es verstehen, wenn sie es gelesen haben. Denn was ist schöner, als ein paar nette Erinnerungen?

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim lesen und vielleicht findet der ein oder andere ja auch mal einen seiner gedachten, und nie ausgesprochenen Gedanken hier wieder.

Barby K.

Lasst uns Memory spielen...

Kommt, lasst uns alle Memory spielen.

Wer beginnt?

Wer deckt die erste Erinnerung auf?

Ich fange an

Sehe einen Traum

Wo ist der Rest?

Wo ist der passende Teil geblieben?

Vielleicht in meinem Kopf

Vielleicht auch runtergefallen

Für die Ewigkeit verschwunden

Es ist ein altes Spiel

Ich sehe es mir an

Es fehlen wirklich Teile

Los, lasst und malen

Lasst uns fehlende Bilder malen

Erinnert ihr euch?

Ich erinnere mich

Und der Rest wird gemalt

Barby K.

1.

Es war gerade mal 5 Uhr als mein Wecker klingelte und ich aus meinem Bettchen sprang.

Heute war es endlich soweit. Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen und sehr oft hatte ich zur Uhr geschaut, ob es jetzt endlich zeit zum aufstehen wäre. Meiner Mutter hatte mir gesagt, ich dürfe nicht vor 5 Uhr aufstehen, sonst wäre ich an meinem wichtigen Tag viel zu müde.

Endlich würde ich kein Kindergartenkind mehr sein. Ich war jetzt endlich auch ein großes Schulkind und würde lesen und schreiben lernen. All die Bücher, die Mutter mir vorgelesen hatte, würde ich bald schon selber lesen können. Ich könnte in die Geschichten eintauchen, wann immer ich wollte, und nicht nur, wenn ich jemanden fand, der zeit hatte mir vorzulesen. Das war das schönste an dem Gedanken. Ich war so stolz und aufgeregt. Alle jüngeren Kinder im Kindergarten hatten mich beneidet. Sie sagten: ,,Barby, du bist schon so groß, kommst du bald wieder her wenn du lesen kannst und liest uns was vor?" Voller stolz hatte ich mit erhobenen Kopf dagestanden und gesagt: ,,Als Schulkind werde ich nicht mehr so viel zeit haben kleinen Kindern etwas vorzulesen, da gibt es wichtigeres." Aber diesen Satz hatte ich sehr bereut. Sie waren doch meine Freunde und natürlich würde ich ihnen was vorlesen, wenn ich erst mal so gut wie die Erwachsenen lesen konnte. Nur weil ich jetzt zur Schule gehen würde, musste ich ja nicht gleich all die Verhaltensweisen eines Erwachsenen an den Tag legen, die ich sehr vor verabscheute.

Hastig zog ich mir mein schönstes Kleid an. Meine Mutter hatte es extra für mich gekauft und für mich war es das schönste Kleid der ganzen Stadt gewesen. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin. Aufgeregt lief ich zu Mutters Bett, um sie endlich zu wecken. Sie drehte sich gähnend im Bette herum und stand schließlich mürrisch auf, als es wirklich aussichtslos für sie war, sich noch mal umzudrehen und ein Auge zuzumachen. Als Kind fand ich meine Mutter wunderschön. Sie hatte langes dichtes braunes Haar, leicht gewellt und tiefbraune Augen. Sie war viel jünger als die Mütter der anderen Kinder in meinem Alter und nebenbei auch noch viel schlanker. An diesem Tag trug sie einen kurzen schwarzen Rock und einen roten Pullover. Stolz überreichte sie mir eine Schultüte und meinen aller ersten Schulranzen. Die Tüte war fast größer als ich, gefüllt mit allerlei Leckereien und mit hocherhobenen Kopf trat ich schließlich mit ihr ihm Arm vor die Tür.

Vor der Kirche strich mir meine Mutter noch einmal die kurzen blonden Haare glatt und ich beobachtete neugierig die anderen Kinder, mit denen ich schon sehr bald lesen lernen sollte. Die Messe zog sich natürlich sehr lange hin, viel zu lange für meinen Geschmack und ich wippte ungeduldig auf meiner Bank hin und her. Na gut, es musste halt so sein. Abgelenkt durch die vielen bunten Bilder und die anderen Kinder nahm ich nur im Hintergrund auf, was der Pastor uns sagte. Er dankte Gott für die Hilfe und bat ihn um eine Hand, die uns auf unserem weiteren Lebensweg begleiten sollten. Gott hin oder her, ich würde es auch ohne ihn schaffen, lesen zu lernen, Geschichten zu erzählen und die Schule mit Bravour hinter mich zu bringen. Dessen war ich mir sehr sicher gewesen. Meine Mutter sollte stolz auf mich sein, und so wollte ich mir von Anfang an große Mühe geben. Und ich war mir sicher, ich würde viel besser sein als alle anderen Kinder, die um mich saßen.

Das Schulhaus hatte ich schon vorher ein paar mal betreten. Es war die gleiche Schule, die meine zwei Jahre ältere Schwester damals besuchte und ich erzählte gleich jedem stolz, das meine große Schwester schon in die dritte Klasse ging und täglich ganz viele Rechenaufgaben zu lösen hatte.

Plötzlich wurde mir mulmig. Meine Mutter stand mit den anderen Müttern in der Tür des Klassenzimmers und verabschiedeten sich. Wollte mich meine Mutter jetzt wirklich alleine lassen? Bei all den Kindern, die ich nicht kannte? Ich umarmte sie, und versuchte die kleinen Tränen zu unterdrücken, die in mir hochstiegen. Das konnte sie doch nicht machen. Ich brauchte doch meine Mutter bei mir, sie würde mich doch niemals alleine lassen. Hatte sie das nicht immer versprochen. Natürlich war mir klar, das ich demnächst alleine zur Schule gehen müsste, aber doch jetzt noch nicht. Ich hielt ihre hand fest und flehte sie an, sie solle noch etwas bleiben. Ich hatte doch noch gar keinen Platz, wusste nicht, wo ich mich hinsetzen konnte und würde ohne sie doch nur verlassen und allein an der wand stehen bleiben. Da kam die Lehrerin, sie beugte sich zu mir hinunter, fragte nach meinem Namen und begleitete mich zu einem Stuhl in der ersten Reihe. Ich war kleiner und jünger als die anderen Kinder und es war gleich klar, dass ich nur ganz vorne alles genau sehen könnte. Schluchzend ließ ich die hand meiner Mutter los, ging zu dem Platz und lies mir von der Lehrerin meine Platznachbarin vorstellen. Sie hieß Ines. Schüchtern sah ich sie an. Ines war ein wirklich hübsches Mädchen, sie hatte so große Augen, und ein breites Lachen auf dem Mund. Ich mochte sie sofort und hoffte, sie würde meine Freundin werden. Besonders gefielen mir ihre langen Haare. Ich hatte, seit ich denken konnte, immer kurze haare gehabt. Hab aber sehr oft davon geträumt, schöne lange Haare zu haben, die im Wind wehen und mit denen man so viele wunderschöne Frisuren machen konnte. An dem tag schwor ich mir, ich würde meiner Mutter niemals wieder erlauben, meine Haare abzuschneiden.

Schnell hatte ich die Sehnsucht nach meiner Mutter vergessen, hörte neugierig auf die Worte der Lehrerin und zeigte ihr stolz, das ich schon meinen Namen schreiben konnte. Das war mein erster Auftritt vor der gesamten Klasse. Alle hatten gebannt auf meine hand geschaut, als ich mit zitternder Kreide ,,Barby" anschrieb. Die Lehrerin lächelte und fragte, ob ich nicht auch Barbara schreiben könnte. ,,Nein", stammelte ich leicht verlegen, aber auch etwas wütend. Ich heiße nicht, Barbara, ich hieß schon immer Barby, und so wollte ich auch genannt werden. Von dem Tag an nannte mich jeder Barby, sogar die Lehrerin. Und immer wenn sie ihn sagte, hatte sie ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht und ich wusste, mein Name gefiel ihr.

Die Zeit verging wie im Fluge, ich genoss noch eine Weile meinen ersten Ruhm und erzählte es gleich übermütig meiner Mutter, als sie mich drei Stunden später wieder abholte. Meine Mutter drückte mir stolz einen Kuss auf die Wange und lachte mich an. Für mich war es klar. Ich war die beste Schülerin, das Lieblingskind der Lehrerin und war von allen Kindern bewundert. Erst einige zeit später sollte ich erfahren, dass alles ganz anders war als es in meinen Kinderträumen aussah...

2.

Ich beobachtete meine Mutter schon eine ganze Weile, wie sie mit größter Sorgfalt den weichen Ton formte. Die Konzentration war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war wirklich sehr begabt. Wie gerne wäre ich solch eine Frau gewesen. Ich wollte alles von ihr lernen. Sie konnte einfach alles. Und ich war immer wieder überrascht, wie kreativ sie wirklich war. Sie strickte uns die schönsten Pullover. Ganz gleich was für einen, und mit jedem Motiv den meine Schwester und ich haben wollten. Sie nähte uns die schönsten Stofftiere. Stofftiere, die es nirgendwo zu kaufen gab, und die nur wir besaßen. Erst viel später erfuhr ich, dass sie sogar unseren großen Teppich in der Diele, sämtliche Schränke und nahezu die halbe Wohnung selber hergestellt hatte. Und wenn man es wusste, und die Dinge sorgfältig ansah, dann schien es, als wären all ihre Sorgen und Freunden in einem Kunstwerk zusammen geschmolzen. Ich war gerade sechs Jahre alt, und wusste nichts von dem, was meine Mutter belastete. Ich war sorgenfrei, sah meine Welt mit Kinderaugen und bewunderte meine Mutter mehr als der Pastor die heilige Mutter Maria. Es konnte gar nicht anders sein. Ihre dicken Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und sie hatte die großen Augen eng zusammengekniffen. Prüfend sah sie auf ihr Werk herab, formte den Henkel noch mal neu und drehte sich dann um. ,,Was sagst du dazu?" Ich saß hinter ihr auf dem Boden und hielt eines der Kuscheltiere im Arm, das sie vor kurzem für mich gemacht hatte. Es war eine große Schildkröte mit Knopfaugen. Jedes einzelne Feld ihres großen Panzers war aus einem anderen Stoff gearbeitet und ich strich immer wieder darüber um die Unterschiede festzustellen. Was war das denn für eine Frage? Natürlich war es großartig, was meine Mutter wieder gemacht hatte. Ich liebte alles was sie tat, denn meine Mutter war für mich der beste Mensch auf der Welt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie irgendwelche Fehler hatte oder etwas schlecht machen konnte. Ich grinste sie an und sie wusste, was das bedeutete. Ihr Werk gefiel mir, und sie beschloss, es so zu lassen. Schließlich war es nur eine kleine Vase, und vielleicht würde sie mit einem wunderschönen großen Blumenstrauß auch gar nicht so schlecht aussehen. Sie stellte das Tongefäß zum trocknen auf die Fensterbank und wies uns an, nicht daran rumzuspielen, weil es sonst runterfallen und kaputt gehen würde. Ich hätte mich niemals getraut, eines ihrer wunderbaren Kunststücke zu zerstören, aber ich wusste genau, wie tollpatschig ich manchmal bei spielen war. Also nickte ich stumm und schwor mir, niemals mit Wucht gegen die Wand unter dem Fenster zu laufen.

Meine Schwester hatte nie solch ein Respekt vor den Erwachsenen. Sie war viel aufgeweckter, gröber und stärker als ich. Ich versprach es für sie mit, und hoffte so sehr, dass sie wenigstens diesmal besser aufpasste.

Wenige Tage später fuhren meine Schwester und ich mit meinen Cousins in einem Vergnügungspark. Wir waren schon einmal mit unserem Vater dort gewesen, aber der hatte durch seine Arbeit sehr wenig Zeit für uns. Es war ein warmer Tag und es machte großen Spaß. Meine Cousins waren zum Teil jünger als ich, aber immer noch so, dass man mit ihnen reden und spielen konnte. Wir rannten verbotenerweise über all die Wiesen, stopften uns mit Pommes voll und bewarfen uns mit Sand. Mein Onkel war da schon immer etwas nachlässig gewesen, seine Kinder waren viel freier aufgewachsen als wir, hatten ständig Schrammen und ungewaschene Ohren. Als Kind gefiel uns das und ich war sehr gerne mit ihnen unterwegs. Da durften wir so vieles, was meine Mutter uns durch Sorge verboten hatte. Allerdings nutzte ich das nie so aus wie meine große Schwester Anne. Meine Angst, mir wehzutun oder durch irgendeinen Unfug meine Mutter zu enttäuschen war viel zu groß. Anne allerdings nutze jede Gelegenheit um den prüfenden Blicken der Erwachsenen zu entkommen und stolzierte mit der Erhabenheit der Älteste über die Wiesen. Ständig gab sie damit an, in welche gefährlichen Karussells sie sich schon hineintraue. Meine Cousins gingen oft mit, und ich blieb mit meiner noch viel jüngeren Cousine zurück. Mir machte das alles nichts aus und meine Schwester konnte schon lange keinen Eindruck mehr auf mich machen. Trotzdem habe ich nie etwas gegen ihren Hochmut gesagt, da sie jegliche Mittel ergreife würde, um sich Respekt zu verschaffen. Und trotzdem habe ich sie damals sehr beneidet. Sie hatte, genau wie meine Mutter, diese leicht gewellten dunklen langen Haare und braune Augen. Ich sah in meiner Familie aus, wie vom Briefträger, auch wenn ich damals nie verstanden habe, was das bedeutet. Ich ahnte jedenfalls, dass es nichts gutes sein konnte, vom ,,Briefträger zu sein". Ich saß mit meiner recht korpulenten Tante und meiner kleinen Cousine, die mir fast noch wie ein Baby erschien, neben einem Lauf der Wildwasserbahn. Gespannt warteten wir, das die anderen in ihrem Wagon an uns vorbei fuhren. Es ging sehr schnell, aber ich sah amüsiert, dass sie alle ganz schön nass geworden waren. Etwas froh, das ich nicht mitgefahren war, und auch etwas verschämt, weil ich zu viel Angst gehabt hatte, versuchte ich sie aus zu lachen. Mir war klar, dass meine Schwester wieder keine Gelegenheit auslassen würde, um allen zu erzählen was für ein Mamakind und Heulsuse ich doch war. Also lief ich die meiste Zeit neben ihr her und folgte ihr auf Schritt und Tritt, so dass sie niemals allein mit meinen Cousins unterwegs war und lästern konnte.

Als wir wieder daheim waren, ließ sie es sich jedoch nicht nehmen, meiner Mutter gleich von ihrem Triumph zu erzählen: ,,Ich war ganz alleine in der Wildwasserbahn, und in der schnellen Achterbahn. Nicht die für Kinder, die für die Erwachsenen. Barby hat sich das alles nicht getraut, sie ist ein Angsthase...", spottete sie. Meine Mutter sagte, ich sei eben noch jünger und vorsichtiger, das habe nichts mit Angst zutun. Ich ließ es so stehen, obwohl Anne sehr wohl recht gehabt hatte. Ja, ich hatte Angst gehabt. Und ich hatte auch Angst gehabt, meiner Schwester würde etwas passieren, wenn sie in solche wilden Geräte stieg, die doch gar nicht für Kinder gebaut waren. Und mir war auch klar, das meine Mutter ihr eigentlich recht gegeben hatte. Sie hatte das Wort Angsthase doch nur netter formuliert. ,,Vorsichtig sein" bedeutete in dem Fall doch das gleiche, aber mir war klar, dass meine Mutter Anne viel mehr mochte. Sie war viel hübscher als ich und deswegen wollte ich all das wieder gut machen in dem ich zeigte, wie schlau und intelligent ich war. Ich wollte unbedingt in der Schule besser sein als andere, und vor allem besser als Anne. Natürlich konnte sie viel besser lesen als ich, sie war ja schon in der dritten Klasse. Ich war die Jüngste auf der ganzen Schule, aber ich fand, meine Buchstaben sahen viel schöner aus als die der anderen. Ich malte sie nahezu. Oft saß ich an meinem kleinen Schreibtisch, mit einem Heft vor der Nase und einem Stift in der Hand und malte ganze Geschichten ab. Wir hatten im Haus sehr viele Bücher, aber die meisten waren in kleinen Druckbuchstaben gedruckt. Die konnte ich nicht gut abmalen und das machte auch nicht so viel Spaß. Meine Oma hatte mir vor einiger Zeit ein Buch für Kinder mit großem, in Schreibschrift geschriebenem Text, geschenkt. Meine Schwester hatte mir, als sie wieder einmal angeben wollte, wie gut sie schon lesen kann, ein paar der Geschichten vorgelesen. Schreibschriftbuchstaben hatten wir n der Schule noch nicht gelernt. Aber das abmalen der großen und kleinen Kringel, die graziös miteinander verbunden waren, gelang mir besonders gut. Einmal hatte ich sogar überlegt, ob ich das Heft meiner Lehrerin zeigen sollte. Sie würde große Augen machen wenn sie sieht, das ich schon einwandfrei schreiben konnte. Aber vielleicht wollte sie dann, dass ich die Geschichte vorlas, oder das ich mal etwas an der Tafel vorschreibe, damit die anderen Kinder es sehen konnten. Also ließ ich es lieber bleiben und zeigte das Heft ganz allein meinen Kuscheltieren.

3.

Ich liebte die Schule. Die Lehrerin war sehr nett zu mir gewesen, sie lobte mich oft und sagte auch zu den anderen: ,,Schaut es euch bei Barby an, sie macht das gut." Es war nicht zu übersehen, dass viele der Kinder neidisch auf mich waren und meine Freundin sein wollten. Aber ich ließ mich nicht beeindrucken und umwickeln. Ich hatte meine Freundinnen: Ines und Kathrin. Beide waren sehr verschieden gewesen. Ines kam aus einem sehr strengen Elternhaus, sie durfte selten raus zum spielen gehen. Ihre Mutter sah täglich die Hausaufgaben nach und ich glaube, sie wurde auch mal geschlagen. Dennoch hatte sie immer ein Lächeln auf den Lippen, wirkte fröhlich und zufrieden. Wir sahen uns eigentlich nur in der Schule, redeten nur über die Lehrerin oder die Hausaufgaben und spielten auf dem Schulhof. Kathrin hingegen war eine kleine Besserwisserin. Sie erzählte uns jeden Tag neue Weißheiten, die sie von ihrer Mutter aufgeschnappt hatte. Sie wusste über all die Dinge bescheid, die mir fremd waren. Ihre Mutter hatte eine ganze Gemüsefarm im Garten und täglich hielt sie uns vor, wie ungesund wir uns doch ernährten. Außerdem hatte sie als einzige einen eigenen Hund. Und nicht so einen kleinen Dackel, vor dem man Angst haben muss, sondern einen schönen großen Jagdhund. Sie schien mir immer sehr schlau und gebildet. Da ich nie die leiseste Ahnung hatte, ob es stimmte, was sie sagte, stimmte ich ihr immer zu. Sie war bewundernswert. Und ich war stolz ihre Freundin sein zu dürfen.

In dem Garten von Kathrins Eltern durften wir spielen, wie wir wollten. Wir durften nicht auf die abgegrenzten Beete am Rand, aber dafür gab es eine Rutsche, Kletterbäume und sogar ein Holzhaus mit Terrasse, wo wir unseren Treffpunkt hatten. Ich liebte es, bei ihr zu sein und mit ihrem Hund zu spielen. Ich wusste, das wir auch mal einen Hund hatten, aber da war ich noch viel zu klein gewesen um mich daran zu erinnern. Manchmal hasste ich Kathrin sehr für ihre Art. Sie fing jeden Satz mit: ,,Meine Mutter hat gesagt..." an, und dem konnte man nie wiedersprechen. Man hätte ihre Mutter doch als Lügnerin dargestellt und ich wusste es oft auch nicht besser. Einmal standen wir zusammen vor dem Spiegel. Sie drehte sich und sah sich genauestens an, als sie schließlich meinte ,,Findest du, das ich lange Beine haben?" Ich wusste nicht genau wo die Relationen sind, und ich wusste auch nicht, was sie hören wollte. Waren nun lange Beine ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich wusste, ich würde es gleich erfahren, also gab ich nur ein ,,Ich weiß nicht" von mir uns ließ sie weiter reden. ,,Mein Vater hat gesagt, ich habe lange Beine."

,,Wenn er das sagt, dann ist es wohl so." ,,Ja, Jungs mögen lange Beine."

Ich stand da und überlegte. Wieso wollte sie lange Beine haben? Damit die Jungs sie mochten? In unserer Klasse gab es nur ganz widerliche Jungs, die den Mädchen an den Haaren zogen und ihnen unter die Röcke schauten. Und mit so was wollte sie wirklich befreundet sein? Ich verstand sie nicht, sagte aber nichts dazu. Abends stand ich allein vor unserem großen Spiegel in der Diele. Meine Mutter saß an ihrem Schreibtisch und meine Schwester war froh, das Kinderzimmer endlich eine Weile für sich zu haben. Ich stand da und betrachtete meine Beine. Später würde ich bestimmt mal Jungs gefallen wollen, aber doch nicht mit 7 Jahren ! Und trotzdem hoffte ich, meine Beine würden auch lang werden. So lang wie Kathrins. Obwohl ich nicht wusste, ob ihre Beine wirklich länger waren als meine, schließlich war sie allgemein größer als ich. Aber wenn ihr Vater das so gesagt hatte, dann wird es wohl so sein...

Als ich wieder ins Kinderzimmer kam saß meine Schwester an ihrem Schreibtisch und schrieb in eines ihrer Hefte. Ich stand neben ihr, und wollte zusehen. Ich wollte wissen, was sie für Aufgaben bekam und wie sie schrieb. Vorsichtig reckte ich mich, schielte ihr über die Schulter und warf ein Blick auf das Blatt.

,,Sei nicht immer so neugierig", fuhr sie mich fauchend an. Immer wenn meine Schwester so zu mir war, stiegen mir Tränen hoch. Gerne wäre ich jetzt zu Mami gelaufen und hätte ihr gesagt, dass Anne wieder fies zu mir gewesen war. Aber die Freude konnte ich ihr nicht machen. Ich wollte keine Heulsuse sein, ich wehrte mich dagegen, aber es war vergeblichst. Leise wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und hoffte, meine Schwester würde sich nicht umdrehen und es sehen. Sie würde wieder lachen.

Auf einmal kam mir eine tolle Idee. Mir war eines dieser Spiele eingefallen, die wir mal bei einem Pfadfindertreff gespielt hatten. Meine Mutter hatte die Kindergruppe dort geleitet und uns oft mitgenommen. Ich wusste, dass meine Schwester das Spiel auch mochte, also lief ich schnell ins Wohnzimmer um ein Knäuel Wolle zu suchen. Meine Mutter hatte einen ganzen Korb voll Strickzeug und ich überlegte kurz, ob sie mir böse sein würde, wenn ich eines wegnehmen würde. Ach, was machte das eine schon aus, und wenn ich dafür ein Spiel fand, was meine Schwester mit mir spielen würde, dann war es das allemal wert und Mama wäre mir sicher nicht böse. Stolz hielt ich ihr das Knäuel unter die Nase. ,,Was hältst du davon, wenn wir den Faden durch das ganze Zimmer spannen und dann mit geschlossenen Augen uns daran lang hangeln." Meine Schwester sah mich etwas verdutzt an. Für sie war klar, dass man so was doch nur draußen machen konnte, ich war einfach viel zu albern. Aber ich ließ mir die Idee nicht nehmen, meine Schwester hatte in meinen Augen einfach keine Phantasie. Sofort fing ich an, den faden am Bett festzuknoten und durch das ganze Zimmer zu spannen. Mal ganz dicht am Boden, mal auch so hoch, das ich auf einen Stuhl steigen musste um ihn festzubinden. Hin und her, kreuz und quer. Bald war alles von einem endlos langen Bindfaden durchzogen. Meine Schwester saß immer noch auf ihrem Stuhl, schien aber sehr bald gefallen an dem Spiel zu finden und beteiligte sich bei der Vorbereitung indem sie mir strickte Anweisungen gab, wo und wie ich den Bindfaden noch am besten festknoten könnte. Als ich and, das es reicht, und wirklich kaum noch ein durchkommen zu sehen war, legte ich den Rest des mittlerweile sehr klein gewordenen Knäuels zu Boden und eröffnete Freudig das Spiel. Einer würde dem anderen die Augen verbinden, und dieser musste entlang des Bandes sich seinen Weg durch das Zimmer tasten. Dabei musste man sehr oft unter einem gegenüberliegenden Faden hindurchkriechen um weiter zu kommen. Meine Schwester wollte natürlich anfangen und ich verband ihr mit einem Schal die Augen. Sehr bald stellte sich heraus, das es auf engem Raum viel mehr Spaß machte, als in einem Wald, wo sich die Bänder nur selten schnitten. Wir lachten sehr viel, wiederholten es oft und beschlossen nach einer Weile, einen neuen ,,Parcours" zu spannen, da wir den einen bereits auswendig laufen konnten. Ich war sehr froh, ein Spiel gefunden zu haben, was meiner Schwester gefiel und wo wir beide zusammen etwas machen konnten. Meine Mutter schaute ab und zu, wenn es lauter rummste ins Zimmer, aber als sie sah, dass alle Knochen noch heil waren und wir uns nicht stritten, sondern zufrieden spielten, verließ sie es wieder und lächelte leicht.

4.

,,Wieso haben diese Plastik-Puppen bloß immer so unnatürlich lange Beine?" Kathrin starrte mich fragend an, und drehte ihre neue Puppe in der Hand herum. Ich wusste, wieso es so war, Kathrin hatte es doch selber gesagt. ,,Weil andere das schön finden. Die Jungs mögen lange Beine bei Mädchen und jedes Mädchen möchte so aussehen." Ich war stolz das sagen zu können, und es war mit Sicherheit richtig, denn schließlich hatte Kathrins Vater das doch gesagt. Kathrin starrte mich an: ,,Nein, Jungs hassen so was. Die wollen doch nicht, dass Mädchen aussehen, wie Barbie-Puppen." Verblüfft starrte ich sie an. Was war das jetzt? Hatte ihr Vater seine Meinung geändert? Oder war es eine Art Selbstschutz, weil sie erkannt hatte, das sie selber doch keine so langen Beine hatte? Aber ihrem Wiederspruch nicht genug, sie hatte mich beleidigt... ,,nicht aussehen wie eine Barbie...". Also mochten sie es nicht, dass sie so aussahen wie ich? Wollte sie das damit sagen und nahm die Puppe nur als Vorwand? Das konnte es doch nicht sein, oder? Ich versuchte, abzulenken, bewegte meine Puppe und ließ sie sprechen. Aber Kathrin ging heute nicht darauf ein. Sie wollte nicht mehr mit diesen überdünnen Puppen spielen, die doch der gesunden Wirklichkeit nicht entsprachen. Das hatte ihr wahrscheinlich ihre Mutter eingeredet, so was konnte nur von ihr kommen. Kathrin hatte sonst immer mit mir und den Puppen gespielt. Heute wollte sie rausgehen und Reitschule spielen. Das Spiel an der frischen Luft war sowieso gesünder, sagte sie. Ich folgte ihr in den Garten und gleich nahm sie ihr Halfter und die Gerte zur Hand. Kathrin war schon seit einigen Wochenöfters beim reiten gewesen, ich glaube, sie konnte es schon sehr gut. Ich wollte auch gerne reiten lernen, ich wollte mit Kathrin mitreden können und alles lernen, was sie konnte. Vielleicht würde ich meine Mutter dazu überreden können, dass sie mich auch an der Reitschule anmeldet. Spätestens nach den großen Ferien. Wir würden mit meiner Oma wegfahren, und wir freuten uns schon alle sehr. Kathrin fuhr oft in den Urlaub, sie war schon überall gewesen, und überall im Haus hingen Strandfotos. Wir waren noch nie zusammen weggefahren, es sei denn zu einer Tante oder anderen verwandten. Aber keiner davon wohnte im Ausland.

Kathrin band mir den Strick des Halfters an den Hosenbund und ließ mich im Kreis laufen. Mit der Gerte gab sie immer Anweisungen ,,Schritt... Trab... hüh...". Mir machte es viel Spaß und ich lief immer schneller meine Runden. Zwischendurch ließ sie mich immer mal wieder kurz ausruhen, klopfte mir den Hals und tat so, als würde sie mir ein Leckerchen geben. Die kleine Holzhütte diente uns heute als Stall und sie richtete es mir gemütlich und Pferdegerecht ein. Sie hatte wirklich viel Ahnung. Stolz zeigte sie mir all ihre Pferdesachen, die ihre Mutter ihr bereits gekauft hatte. Wenn man zum Reiten ging, dann brauchte man auch die entsprechende Kleidung. Ich schaute mir alles neidisch an, ließ mir mein Gefühl aber natürlich nicht anmerken. Ich war einmal auf einem Pony geritten. Meine Tante hatte meine Schwester und mich zum Ponyreiten mitgenommen. Da hab ich aber kein Kind gesehen, dass solche Klamotten anhatte. So was habe ich nur im Fernsehen gesehen, wenn die Erwachsenen auf den großen Pferden in einem Wettkampf ritten. Das trugen nur die wirklich guten Reiter, und mir war klar, das Kathrin eine von ihnen sein musste.

Abends hatte ihre Mutter uns zu Tisch gerufen. Ich liebte, es bei Kathrin zu essen, ihre Mutter richtete alles immer so nett her. Der ganze Tisch war gefüllt mit Vollkornbrot und gesundem Aufstrich. Dann saßen immer alle zusammen. So was gab es bei uns selten. Meine Mutter schmierte und einzeln Brote und wir mussten uns damit an den Tisch setzen. Aber das man sich die Dinge, die man essen wollte, aussuchen konnte und alle beisammen sich die Brote schmierten, gab es bei uns nicht. Ihr Vater kam immer pünktlich von der Arbeit, setzte sich an den Tisch und von dann an war alles gut geregelt. Kathrin und ihr jüngerer Bruder mussten gerade sitzen, durften nur jeweils die Scheibe anfassen, die sie auch essen wollten und musste erzählen, was in der Schule passiert war. Das war für mich eine richtige Familie. Bei uns war alles viel mehr durcheinander gewesen. Nie so eine geordnete Sitzung beim Abendessen. Nach dem Essen war es zeit für mich nach Hause zu gehen. Wir wohnten nicht weit entfernt, unsere Häuser lagen noch in der selben Straße. Dennoch ließ mich ihre Mutter selten alleine nach Hause gehen, und dann nur im Sommer, wenn es noch hell war. Manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil sie sich solche Mühe um mich gab. Und ich wusste, sie dachte manchmal schlecht über meine Mutter, wenn diese mich nicht abholte. Das sagte sie nie, aber sie fragte immer, ob meine Mutter kommen würde. Mutti wollte, dass ich den Weg alleine machte, schließlich war ich in ihren Augen alt genug, um so was alleine zu machen. Wenn ich dann den Kopf schüttelte, hat ihre Mutter den Hund an die Leine genommen und mich nach Hause gebracht. Kathrin musste sich in der zeit schon mal fürs Bett fertig machen. Sie ging immer sehr früh schlafen, und manchmal war ich noch bei ihr und wartete auf meine Mutter, wenn sie schon im Schlafanzug durch das Haus lief.

Ich erinnere mich daran, dass ich einmal auch bei Ines zuhause war. Sie hatte immer die schönsten Sachen. Sie wohnte in einer kleinen Wohnung, nicht so wie Kathrin in einem ganzen Haus. Sie hatte zwei süße kleine Kaninchen und wir spielten oft mit ihnen. Ihr Bett fand ich am schönsten. Man konnte es hochklappen und in der Wand verschwinden lassen, so dass man gar nicht mehr so, dass in dem Schrank ein Bett versteckt war. Und ihr Zimmer war sehr ordentlich. Sie war die ordentlichste von allen und mir großem Neid gefielen mir auch ihre gemalten Buchstaben viel besser als meine eigenen. Ich dachte, wenn ich so wie Ines wäre, dann wäre meine Mutter viel stolzer auf mich. Ines Oma wohnte mit in der Wohnung und es war eine richtige Bilderbuch-Oma. Einmal, als ich bei ihr war, hatte ihre Oma ein Video für uns. Es war ein schöner Film. Eine Tiergeschichte, wo ein Hund als Engel auf die Erde wieder gekommen war und seinem alten Herrchen als Schutzengel diente. Ich kannte den Anfang des Filmes, meine Eltern hatten ihn im Fernsehen gesehen und ich musste ins Bett gehen. Einen Videorecorder hatten wir nicht und somit wären meine Eltern auch nie auf die Idee gekommen, einen Film aufzuzeichnen, damit ich ihn mir am Nachmittag ansehen konnte. Ihre Spielsachen waren ganz anders als meine. Sie hatte keine Kuscheltiere, die ihre Mutter selbst gemacht hatte. Ihre Sachen waren alle gekauft. Und es waren die schönsten Spielsachen, die ich jemals gesehen habe. Sie hatte alle Puppen, für die im Fernsehen geworben wurde und sie hatte bunte Plastikpferdchen. Kathrin hatte auch welche davon, und ich wünschte sie mir schon lange. Ines zeigte mir stolz ein Album mit Bildern, die sie gemalt hatte. Es waren schöne Bilder. Sie zeigten meistens ihre Puppen und Ponys, manche aber auch Bäume oder Blumen. Ich malte auch viel, aber nie war ich auf die Idee gekommen, die Bilder zu sammeln und in einen Ordner zu heften. Aber meine Bilder gefielen mir auch lange nicht so gut wie ihre. Meine sahen aus, wie von einem Erstklässler, der ohne Proportionen einfach einen Gegenstand malte. Ihre Bilder sahen mehr aus, wie die eines Erwachsenen. Erwachsene konnten sowieso alles besser, das war für mich klar. Doch an dem Tag bezweifelte ich das.

Wenn Ines so etwas malen konnte, dann würde ich es auch können. Und ich nahm mir vor, fleißig zu üben. Ich merkte mir, wie sie manche Dinge gemalt hatte, welche Farben sie verwendet hatte und was für Stifte. Genauso sollten meine Bilder auch aussehen. Zuhause machte ich mich gleich an die Arbeit. Ich setze mich vor einem Stapel leerer Blätter auf meinen Schreibtischstuhl und legte Bleistifte, Bundstifte und Filzstifte zurecht. Die Filzstifte gefielen mir am besten. Die Farben waren so klar und deutlich und Ines hatte auch die meisten Bilder damit gemalt. Ich find mit einer einfachen Blume an. Schwungvoll zog ich die Bögen, aber am Ende waren die einzelnen Blütenblätter so verschieden, das es einfach schrecklich aussah. Ich knüllte das Blatt zusammen und versuchte es erneut. So schwer konnte das doch nicht sein. Meine kleine Hand verdrehte sich, und erst als ich wieder fünf ungleiche Bögen auf das Papier gebracht hatte, fiel mir ein, dass ich auch das Blatt einfach drehen könnte. Ich nahm ein neues Blatt, legte diesmal die Spitze des Stiftes leicht drauf und drehte das Blatt gleichmäßig und langsam unter der Miene hinweg. Der erste Bogen sah richtig gut aus, er war gleichmäßig. Der zweite Bogen gelang mir fast genauso gut und stolz blickte ich auf das Papier als mir darauf eine noch recht farblose, aber schöne Blume entgegenlachte. Ich malte sie in den schönsten und kräftigsten Farben aus, die ich kannte und schrieb ganz klein meinen Namen auf die Rückseite. So hatte ich es in der Schule gelernt. Und in die Ecke mussten wir immer unseren Namen und die Klasse schreiben, wenn wir ein Bild oder einen Text auf einzelnen Blättern abgaben. ,,Barby", schrieb ich in großen Druckbuchstaben drauf. Ich wollte das Datum noch dazu schreiben, fand aber keinen Kalender. Also schreib ich daneben: ,,Mittwoch 1987". Das sollte genügen. Stolz betrachtete ich mein Werk und wollte gleich noch ein weiteres malen. Bei Ines hatte ich gesehen, dass jede ihrer gemalten Blumen eine andere Form der Blütenblätter besaßen. Auf so viele verschiedene Ideen war ich nie gekommen, aber jetzt erinnerte ich mich noch an mehrere Formen, die Ines benutzt hatte. Also nahm ich wieder ein neues Blatt und fing mit der zweiten Blume an. Die Blätter waren noch viel schwieriger als die anderen. Man konnte keinerlei Gleichmäßigkeit erkennen Am Ende war es eine ganz andere Form, als es eigentlich geplant war, aber ich fand sie gar nicht mal so schlecht. Schließlich war es doch mein Entwurf. Ich beschloss, es so zu lassen und gab mir diesmal noch viel mehr Mühe beim ausmalen. Es durfte keine Malrichtung zu sehen sein, wie es bei Filzstiften leider oft der Fall war. Viel Zeit war vergangen und das letzte Blütenblatt war gerade ausgemalt, als meine Mutter ins Zimmer kam und mich zu Bett bringen wollte. Mürrisch zog ich mich um, flunkerte meiner Mutter etwas vor, ich hätte mich schon gewaschen und kroch unter die Decke. Meine Schwester würde erst etwas später kommen. Sie durfte immer länger auf bleiben, schließlich war sie die Ältere. Und ich wusste, dass sie nie ins Bett ging, wenn es noch eine Möglichkeit gab auf zu bleiben. Ich hingegen ging auch oft alleine in mein Bett, wenn ich zu müde war. Das war heute allerdings nicht der Fall. Als meine Mutter wieder aus dem Zimmer ging stand ich leise auf, knipste das Licht an meinem Tisch an und malte weiter. Erst als die ganze Blume fertig war, ich meinen Namen auf die Rückseite geschrieben hatte und die Bilder sorgfältig in einer Schublade versteckt waren, ging ich wieder in mein Bett. Noch bevor meine Schwester kam, schlief ich tief und fest bis zum nächsten Morgen.

5.

Es war kurz vor den Sommerferien, meine ersten Ferien in der Schulzeit und ich freute mich, schon bald nicht mehr die Jüngste auf der Schule zu sein. Ich wusste, dass ich die erste Klasse mir Bravour bestanden hatte und auf meinem Zeugnis würde sicher viel Lob stehen. Ich saß im Wohnzimmer und versuchte einen Umhang für eines meiner Kuscheltiere zu nähen. Meine Mutter hatte mir gezeigt, wie ich die Stiche zu machen hatte. Sie setzte sich zu mir und beobachtete, wie ich konzentriert die Nadel durch das Stück Stoff steckte. ,,Barby-Liebes, soll ich dir mal was tolles erzählen?" Ich sah von meiner Handarbeit auf und schaute meine Mutter mit großen Augen an.

,,Weißt du, wo wir morgen hinfahren?" Natürlich wusste ich es nicht, sie hatte es mir noch nicht gesagt. Ich schüttelte schweigend den Kopf und war gespannt, wo es hingehen würde. ,,Wir schauen uns morgen einen Ponyhof an." Ich grinste. ,,Jaaaaaaaa!" schrie ich glücklich. Endlich würde ich reiten lernen und würde so oft wie Kathrin einfach zum Hof fahren und die Ponys streicheln können. Aber so war das nicht gedacht.

,,Ich wollte dich und Anne dort für die Ferien anmelden. Ihr würdet dann zwei Wochen da bleiben und Urlaub machen. So richtig Urlaub, ohne die Eltern." Erschrocken sah ich meine Mutter an? Für die Ferien? Ohne die Eltern? Aber wir wollten doch mit Oma in den Urlaub fahren, alle zusammen. Tränen stiegen in mir hoch und liefen wie kleine Perlen über meine Wangen. Meine Mutter erklärte mir, dass aus dem urlaub mit Oma nichts werden würde, da sie auch etwas zeit brauchte, um sich auf ihre Arbeit vorzubereiten und dann keine zeit mehr für uns hätte. So war das also, meine Mutter wollte mich abgeben, da sie keine zeit mehr hatte. Und dabei hatte ich mich schon so auf den urlaub gefreut. Es wäre mein erster urlaub gewesen, ich war noch nie großartig weggefahren. Und jetzt durfte ich wegfahren, weil meine Mutter mich nicht mehr haben wollte. Ich stand auf und lief weinend in mein Zimmer. Um keinen Preis würden sie mich morgen auf diesen Ponyhof bringen. Ich wollte ihn mir noch nicht einmal ansehen, und mir war klar, wenn ich mich weigerte dorthin zu gehen und in das Auto einzusteigen, müssten sie mich zuhause lassen und aus dem urlaub würde nichts werden. Als meine Schwester davon erfuhr, war sie gleich Feuer und Flamme. Zwei Wochen ohne unsere Eltern war das Beste, was sie sich vorstellen konnte. Ich hasste sie dafür. Sie gab meinen Eltern das Gefühl, als wäre es richtig, dass sie uns weggaben, abschieben wollten und ich hatte das Gefühl, als wäre ich ihnen schon lange lästig gewesen.

Am Nachmittag traf ich mich noch mit Kathrin und ich erzählte es ihr gleich. Natürlich verdrehte ich alles, sagte nicht, dass meine Mutter keine Zeit mehr für uns hatte, sondern erwähnte nur, dass ich auch bald reiten lernen würde und wir dann vielleicht mal zusammen auf einen Ponyhof gehen würden. Sie sagte gleich, dafür müsste ich aber lange üben, da sie ja schon seit mehreren Wochen regelmäßig zum reiten gehen würde. Und man sagte ihr, sie hätte viel Talent. Ich wusste nicht, ob es alles stimmte, aber sie sagte oft, wie sehr man sie lobte und das sie schon ganz alleine reiten konnte. Das würde bei anderen viel länger dauern. Ich ahnte, dass es bei mir auch länger dauern würde. Ich hatte bestimmt nicht so viel Talent, und wieder bekam ich große Angst vor den bevorstehenden Ferien. Wenn ich meine Eltern davon überzeugt hatte, dass sie mich auf keinen Fall dort hinbringen konnten, würde ich Kathrin einfach sagen, meine Eltern hätten sich anders entschieden und wir würden nun doch mit meiner Oma wegfahren. Ich hatte keine Ahnung wohin, aber irgendetwas würde mir schon einfallen. Ich hatte viel Phantasie, das hatte ich oft bewiesen. Um auf ein anderes Thema zu kommen kramte ich meine gemalten Blumen aus der Schublade und zeigte sie Kathrin. Sie würde die Bilder von Ines nicht kennen und so dachte sie bestimmt nicht, dass die Ideen nicht von mir waren. Und außerdem hatte ich die Bilder ja wirklich selber gemalt, es wäre also nur halb so schlimm. Kathrin schaute sie prüfend an, und ich beobachtete genau ihre Reaktionen. Zuerst dachte ich, sie würden ihr gefallen, ihr Blick verriet Bewunderung, und es war nicht zu übersehen, als sie mit offenem Mund die Zeichnungen betrachtete. Plötzlich schoss es aus ihr heraus: ,,Die sind ja mit Filzstiften gemalt." Stolz nickte ich. Ich wusste, dass Kathrin solche Stifte nicht besaß und bestimmt war sie neidisch, weil meine Mutter sie mir gekauft hatte.

,,Damit darf man nicht malen, die sind schlecht für die Umwelt", gab sie zurück und warf die Blätter lieblos in die Ecke. Natürlich, wie konnte ich nur so dumm sein. Es war doch alles schlecht was ich machte, und Kathrins Mutter hatte sicher guten grund gehabt, warum sie ihrer Tochter solche Stifte nicht zum malen gab. Ich sah in Kathrins Augen wieder diesen besserwisserischen Blick und gab nur ein unverständliches Murren zurück. Schnell sammelte ich die Bilder wieder auf, legte sie zurück in die Schublade und setze mich neben sie auf den Boden. ,,Was wollen wir jetzt spielen?" Ich musste mir unbedingt schnellstens ein schönes Spiel ausdenken, damit Kathrin auf keinen Fall wiederstehen konnte. ,,Damit darf man nicht malen, meine Mutter hat das gesagt."

Traurig saß ich da, und wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. ,,Es sind die einzigen Bilder, die ich damit gemalt habe, ich wollte es einfach mal ausprobieren", stammelte ich so leise, das ich es selber kaum hören konnte. Ich wusste, sie glaubte mir nicht, und es stimmte ja auch nicht. In der Schule hatten viele Kinder solche Stifte und denen hatte Kathrin so etwas nie gesagt. Warum gerade mir? Warum gerade dann, wenn ich mir so viel Mühe beim malen gegeben hatte und ihr endlich auch mal etwas schönes zeigen wollte.

Wir schwiegen uns den Rest des Tages an, spielten verklemmt mit unseren Puppen und als es langsam dunkel wurde ging Kathrin früher als gewohnt wieder nach Hause. Ich schob nur noch schnell meine Spielsachen in die Ecke, aß das Brot, dass meine Mutter mir fertig gemacht hatte und ging dann zu Bett.

Am nächsten Morgen fuhren wir über eine weite Landstrasse. Deprimiert saß ich auf dem Rücksitz. Natürlich hatten mich meine Eltern mitgenommen und genauso natürlich würden wir jetzt zu dem Ponyhof fahren und ihn ansehen. Ich hatte mich gewehrt, war aber dann doch letztendlich kleinlaut eingestiegen und hatte die ganze Fahrt über nicht ein Wort gesagt. Insgeheim freute ich mich sogar ein bisschen. Ich war noch nie auf einem richtigen Reiterhof gewesen und es war wirklich aufregend. Viel zu stolz um das zuzugeben, setzte ich also einen beleidigten Blick auf uns tat desinteressiert. Meine Mutter saß auf dem Beifahrersitz und hatte eine große Karte auf ihrem Schoß ausgebreitet. Sie sagte immer und immer wieder: ,,Wir sind hier falsch", und mein Vater wendete zum x-ten male die Fahrtrichtung. Ich war verblüfft über die schöne Landschaft und musste jedes Mal einen Freudeschrei unterdrücken, wenn wir an einer Wiese vorbei fuhren, auf der Pferde grasten. Bloß keine Freude zeigen, dass hatte ich mich geschworen. Mir fiel das immer schwerer, denn meine Schwester stieß jedes Mal, wenn wir an etwas vorbei fuhren, was wir aus der Stadt nicht kannten, ein freudiges Juchzen aus und zeigte mit dem Finger auf die Scheibe. Ich folgte ihren Blicken, drehte mich aber dann wieder schnell um und sah aus dem Fenster auf meiner Seite.

Der Hof war wirklich wunderschön. Schon als wir den langen Weg zum Haupthaus hinaufgingen, schauten uns von allen Seiten die Ponys an. Sie standen zusammen in großen Gehegen rund um den Weg und begleiteten uns ein Stück, wenn wir weitergingen. Am liebsten wäre ich verzückt stehen geblieben, um die Ponys zu streicheln, aber der Zaum war viel zu hoch und die Ponys kamen nie nah genug heran. Meine Mutter zog mich weiter und meinte, ich würde noch genug zeit finden, um mir die Ponys genau anzusehen. Auf dem Hof empfing uns ein Mann. Er sah etwas furchterregend aus, weit weg, und ganz anders als die Geschäftsleute, die wir kannten. Er hatte ein sehr markantes, nahezu faltiges Gesicht und wirkte unrasiert. Und was mir sofort auffiel, er trug keine dieser schicken Reithosen, sondern eine einfache blaue Jeans, die schon etwas abgenutzt und dreckig aussah. Auf dem Kopf trug er einen Cowboyhut. Aber ein freundliches Lachen hatte er wirklich. Er begrüßte uns und führte meine Eltern und uns durch das Haus. Unten waren die ganzen Sättel. An jedem Sattel stand ein Name und sofort viel mir der kleinste aller Sättel auf. ,,Rocky" stand daran. Stolz las ich den Namen vor und zeigte ihn meinen Eltern. Der Mann legte den Arm um mich. ,,Ja, der Rocky ist ein kleines weißes Pony, er wäre wie für dich geschaffen." Am liebsten wäre ich sofort mit dem Mann an der Hand rausgelaufen und hätte ihn dazu gebracht, mir Rocky zu zeigen. Mir war sofort klar, ich wollte kein anderes Pony reiten. Nur Rocky, meinen Rocky. Schließlich war er ja wie für mich geschaffen. Aber der Mann dachte gar nicht daran, uns die Pferde zu zeigen, er führte uns weiter durch das Haus. Im Obergeschoss waren dann die Zimmer, in denen die Kinder schlafen konnten. Es waren recht einfache Zimmer, mit zwei oder vier Betten. Eines hatte sogar acht Betten, aber er erklärte gleich, dass da die älteren Kinder schliefen. Die kennen sich alle schon so lange und kommen jede Ferien wieder. Das hatte mich etwas eingeschüchtert. Das waren bestimmt große Mädchen, die alle gut reiten konnten und vielleicht würden sie mir auch meinen Rocky wegnehmen. Aber vielleicht waren sie auch schon viel zu gut um auf so einem kleinen Pony zu reiten, also verwarf ich den Gedanken wieder schnell. Meine Schwester ging durch alle Zimmer. Sie hatte keine Skrupel. Ich schaute ihr vorsichtig hinterher. Schon bald meinten meine Eltern, dass es ihnen sehr gefällt und das sie uns nun anmelden wollte. Wir gingen in ein Büro. Auf einmal wollte ich gar nicht mehr anders. Ich war hin und weg und konnte es kaum erwarten, dass die Ferien endlich anfingen und ich meinen Rocky sehen würde. Meine Mutter füllte einen Zettel aus, unterschrieb einen Scheck und erwähnte noch, dass er uns bitte in verschiedene Zimmer unterbringen sollte, damit wir uns nicht stritten. Dann fuhren wir wieder weg. All mein Bitten und Flehen hatte nicht geholfen, sie haben mich ins Auto gesetzt und sind weggefahren. Traurig versuchte ich noch schnell einen Blick auf die Ponys werfen zu können und überlegte, welcher wohl Rocky war. Sie sahen alle so gleich aus, und weiße Ponys gab es viele. Also blieben mir die nächsten zwei Wochen nichts als die Träume vom reiten und von ,,meinem" Pony. Und daran hielt ich mich auch fest, wenn die zwei Wochen nur nicht so langsam vergangen wären

6.

Unser damaliger Schulhof war recht groß. Überall waren ,,Himmel und Hölle" - Spiele auf dem Boden gemalt, und auch einige Rechenspiele, bei denen man schnell auf die richtige Zahl hüpfen musste. In der Mitte des Hofes waren kleine Strassen aufgezeichnet, wo die älteren Kinder manchmal mit den Lehrern das Fahrradfahren im Straßenverkehr übten. Ich war mit meinen Freundinnen immer ganz am Ende des Hofes auf ein paar Baumstümpfen, wo man prima hin und her springen konnte. Ab und zu kamen auch die Älteren Kinder und wollten dort spielen. Die schubsten uns dann immer runter, so dass wir hinfielen und uns nicht selten auch böse wehtaten. Aber meistens blieb uns die Stelle. Ich saß auf einem Baumstamm und erzählte vom gestrigen Tag.

,,Er hat gesagt, das Pony würde sich nicht von jedem reiten lassen. Nur von einem Mädchen wie mich. Und der kennt ja seine Pferde. Jedenfalls hat er gleich allen bescheid gesagt, dass nur ich Rocky reiten soll, es wäre dann so, als hätte ich ein eigenes Pony." Je mehr ich erzählte, umso schöner wurde es. Meine ganze Phantasie war beflügelt und ich sah, wie bewundernd und neidisch mich die anderen ansahen. Kathrin ging jede Woche zum reiten und sie wusste, dass an anderen tagen immer andere Kinder auf ,,ihrem" Pony ritten. Aber ich würde ein Pony ganz für mich haben. Und kein anderes Kind würde Rocky dann auf sich lassen.

,,Er weiß genau, wer ihn reiten darf. Und wenn es dann ein anderes Kind versuchen würde, würde es gleich wieder runterfallen."

Als ich zu erzählen angefangen hatte, war alles noch ganz wahrheitsgetreu gewesen. Ich übertrieb doch nur ein bisschen, dass konnte doch nicht so schlimm sein.

,,Vielleicht komme ich sogar mit den älteren Kindern in ein Zimmer. Es gibt ein Zimmer, wo alle zusammen sind, die reiten können. Und er hat gesagt, er würde mir ansehen, dass ich es sehr schnell lernen würde " Ich war sehr traurig, als die Pause vorbei war und ich meinen Redewahn etwas senken musste. Vielleicht sollte ich zur Lehrerin gehen und ihr das alles erzählen, sie wäre bestimmt auch stolz auf mich und würde sich freuen. Aber ich tat bescheiden, lächelte die anderen nur kurz an und setzte mich still schweigend auf meinen Platz. Irgendwann würde die Lehrerin schon von sich aus fragen, was wir denn in den Ferien machen wollten, und dann würde ich mich ganz schnell melden.

Jetzt war aber erst mal Eckenrechnen dran. Das machte mir besonders viel Spaß, da ich im rechnen eine der Besten war. Immer vier Kinder spielten gegeneinander und mussten sich in eine Ecke des Klassenzimmers stellen. Die Lehrerin sagte dann eine Aufgabe, die wir im Kopf rechnen mussten. Meistens waren es leichte Additionen, die mir nur Schwierigkeiten machten, wenn eine Zehnerzahl bei dem Ergebnis überschritten wurde. Wir mussten das Ergebnis dann ganz schnell ausrechnen und laut in den Raum rufen. Wenn es richtig war, durfte derjenige eine Ecke weiter gehen, und wer zuerst eine Runde geschafft hatte, war der Sieger. Meistens war es wirklich eng. Ich stand mit Ines in der dritten Ecke und es lag nun an der letzten Aufgabe, wer von uns gewinnen würde. Gespannt lauschte ich auf die Aufgabe und schloss die Augen, um mich nicht ablenken zu lassen. Mir waren solche Spiele immer wichtig. Wen ich Mama erzählen konnte, dass ich gewonnen hatte, dann würde sie mich sicher loben. ,, 7 plus 5" sagte die Lehrerin laut und deutlich. Blitzschnell rechnete ich. Ich hatte meine eigenen Tricks, die manchmal etwas länger dauerten, aber sicher zum richtigen Ergebnis führten. Sieben und drei macht zehn. Dann blieben noch zwei über bis zur fünf und die noch dazu... das sind... zwölf. Ichöffnete die Augen, und wollte gerade das Ergebnis rausschreien, als Ines stolz die Zahl unserer Lehrerin entgegenschmetterte. Somit hatte sie gewonnen. Enttäuscht sah ich ihr zu, wie sie zur letzten Ecke marschierte und ich alleine dort stehen blieb. Ich sagte schnell und laut: ,,Ich wusste es auch, ich wollte es gerade sagen", aber es klang mehr wie eine Entschuldigung und meine Lehrerin murmelte nur: ,,Nächste mal musst du dann schneller sein, Barby." Ich hatte versagt. Traurig ging ich wieder zu meinem Platz, gratulierte Ines für den Erfolg und schaute bei den nächsten vier Kindern zu. Wenn man das ganze beobachtete war es immer viel einfacher. Ich hatte auch das Gefühl, die anderen Kinder bekamen leichtere Aufgaben, jedenfalls konnte ich es immer viel schneller ausrechnen, als die, die gerade spielten. Aber dann mussten wir leise sitzen bleiben und durften nichts vorsagen. Manche meldeten sich stürmisch, wenn keiner der Spieler auf das Ergebnis kam, oder vor lauter Hektik nur falsche Zahlen gerufen wurden. Die Lehrerin erklärte, dass wir es nach den Ferien etwas anders spielen würden. In der zweiten Klasse waren die regeln anders. Dann durften wir nichts falsches mehr sagen. Wer dann noch falsch rechnete und das herausschrie, müsste eine Ecke zurück gehen. Mir gefielen die Regeln, weil ich selten etwas falsch ausrechnete und ich wusste, das meine Chancen stiegen,öfters zu gewinnen, wenn wir es endlich mit der neuen Regel spielen würden.

Auf dem Nachhauseweg ging ich immer mit Kathrin zusammen. Ich brachte sie bis zu ihrem haus und ging dann das Stück bis zu unserem haus alleine weiter. Das fand ich immer blöd. Warum konnte es nicht andersrum sein, ich wollte auch mal die ganze zeit begleitet werden. Zuhause erwartete mich meine Mutter und nahm mir den schweren Ranzen ab. Beim Mittagessen erzählte ich ihr, dass ich wieder beim Eckenrechnen gewonnen hatte. Na gut, es war gelogen, aber ich hatte ja wirklich fast gewonnen. Und eingefallen war mir das Ergebnis bestimmt schneller als Ines, nur das sie es eben schneller ausgesprochen hatte. Also war es ja eigentlich gar nicht gelogen, sondern nur etwas umgedreht. So beruhigte ich selber mein Gewissen und genoss die lobende Worte meiner Mutter.

Stolz saß meine Mutter neben mir und hielt das wichtige Dokument in der Hand:

,,Barbara hat einen guten Kontakt zu ihren Mitschülern und Lehrern", las sie vor, ,,In kleinen Arbeitsgruppen arbeitete sie ebenso gern und konzentriert mit, wie in der Großgruppe. Aufgaben der Klassengemeinschaft übernahm sie gern und erledigte sie gewissenhaft. Am Unterricht beteiligte sie sich mitgestaltend und zumeist mit großem Interesse. Ihre Arbeiten führte sie sachgerecht, sehr selbstständig und zügig, manchmal vielleicht ein wenig flüchtig, aus." Meine Mutter sah mich an: ,,Das hast du gut gemacht." Ich lächelte. Zuerst wollte ich mich aufregen, weil meine Lehrerin nicht meinen Spitznamen auf das Zeugnis geschrieben hatte, sondern den Namen, den ich so hasste und weswegen sogar manchmal spöttische Rufe von anderen Kindern kamen. Aber das war ja jetzt auch egal. Die Lehrerin hatte mich in jedem Satz gelobt, ich wusste doch, ich war ihre Lieblingsschülerin. Ich drängte meine Mutter, weiter vorzulesen.

,,Barbara kennt alle bereits erarbeiteten Einzelbuchstaben und Laute. Sie kann geübte und bekannte Wörter, Sätze und Texte fließend lesen sowie neue Wörter, Sätze und Texte fließen erlesen. Es gelingt ihr, geübte und bekannte Wörter fehlerfrei zu schreiben. Barbara kann sowohl Aufgaben im Zahlenraum bis 20 selbstständig und sicher lösen als auch Beziehungen zwischen Zahlen selbstständig erkennen."

Meine Mutter legte das Zeugnis zur Seite und nahm mich in die Arme. Und da dein erstes Zeugnis so schön aussieht, bekommst du auch etwas von mir. Sie holte ein kleines Geschenk aus ihrer Tasche, die gegen den Stuhl gelehnt war und reichte es mir. Sofort fing ich an, das Papier rundherum abzureißen und hielt letztendlich eines von diesen bunten Ponys in der hand, die auch Ines und Kathrin hatten. Ich freute mich so sehr, viel meiner Mutter küssend um den Hals und rannte gleich in mein Zimmer um damit zu spielen. Man konnte Schwanz und Mähne wunderbar kämmen. Ich nannte es natürlich ,,Rocky", auch wenn es nicht weiß, sondern dunkelblau war. Aber das spielte ja keine Rolle. Endlich konnte ich auch Ponys malen, und den kleinen Rocky als Modell auf meinen Schreibtisch stellen. Ich schwor mir, es im nächsten Jahr noch besser zu machen, oder doch wenigstens genauso gut. Damit meine Mutter mir wieder etwas schönes zur Belohnung schenken würde. Und dann würde ich ja auch schon bald Noten bekommen. Meine Schwester hatte schon welche und ich wusste genau, wie die Leistungen unterteilt wurden. Jetzt hatte ich aber erst mal eine Lehrpause und bevor das nächste Schuljahr beginnen würde, würde ich schon gut reiten können und hätte

viel Spaß mit Rocky gehabt. Zufrieden schlief ich an dem Abend ein und träumte, wie ich auf Rocky schnell an meiner Lehrerin vorbeiritt, die mich bewundernd ansah.

7.

Fröhlich ging ich an der Hand meiner Mutter den Weg entlang. In einem kleinen Holzhaus am Rande stand ein Pappschild mit der Schrift ,,Anmeldung" und wir gingen hinein. Die kleine Hütte, die, wie ich später erfahren sollte, ,,Reiterstübchen" genannt wurde, war voll von anderen Kindern und noch voller mit anderen Eltern. An einem Tisch saßen zwei Frauen, die Geld und Formulare entgegennahmen. Ein älteres Mädchen ging mit uns in das Haupthaus, indem wir und auch schon umgesehen hatten und zeigte uns unsere Zimmer. Anne bekam ein Bett in einem Vierer-Zimmer. Mein Zimmer war schräg gegenüber und hatte nur zwei Betten. Das andere Mädchen, mit dem ich das Zimmer teilte, saß bereits auf dem oberen Bett und kramte in ihrem Koffer. Sie hatte Kinnlange dunkle Haare und schien ein paar Jahre älter als ich zu sein. Na gut, ich war nicht in das große Zimmer mit all den guten Reitern gekommen, aber ich war trotzdem mit einem älteren Mädchen zusammen. Und mit großem entzücken stellte ich fest, dass unser Fenster genau auf den Hof gerichtet war und wir den besten Überblick hatten. Die Pferde, in ihren großen Ausläufen konnte ich nicht sehen, aber immer, wenn jemand reiten wollte und das Pferd auf den Hof führte, hatte niemand eine bessere Sicht als wir. Gar nicht traurig darüber, dass meine Eltern wieder fuhren, blieb ich allein zurück und fing an, meinen Koffer etwas auszupacken. Das machte ich lieber alleine, weil mir meine Ordnung in Schrank und Koffer einfach einsichtiger erschien als die meiner Mutter. Das andere Mädchen hieß Sara. Wir machten uns schnell bekannt und sie zeigte mir ihre ganzen Pferdeposter, die sie mitgebracht hatte um unser Zimmer zu schmücken. Nach einer Weile lief ich in das Zimmer meiner Schwester um zu sehen, mit welchen Kindern sie es teilen musste und sie saß auch bereits lachen mit den anderen Kindern auf einem der oberen Betten. Mit Wehmut musste ich feststellen, dass dort auch ein Geschwisterpaar war, die aber keineswegs danach aussahen, als würden sie sich nicht vertragen können. Aber vielleicht war es auch nur die neue Umgebung und die vielen anderen Kinder. Da hatte man wirklich besseres zutun als streiten und auch meiner Schwester war anscheinend nicht danach. Zu meiner Verwunderung schmiss sie mich noch nicht mal aus dem Zimmer.

Nach dem Abendbrot, was ziemlich chaotisch ablief, trafen sich noch mal alle Kinder im Speiseraum. Das ganze war gut gemacht, immer, wenn es essen gab oder etwas wichtiges zu sagen war, wurde eine Glocke geläutet, die wirklich nicht zu überhören war. Ich fand schnell einen Platz an einem der kleineren Tische und meine Zimmernachbarin saß neben mir. Der größte Tisch war voll mit den älteren Mädchen. Das musste die Gruppe sein, die auch in dem großen Zimmer war und ich beneidete sie. Wie gerne hätte ich mich zu ihnen an den Tisch gesetzt, und nicht mit den anderen kleinen Kindern, die mir so unendlich albern und kindisch erschienen. Eine Frau, die ich auch schon bei der Anmeldung gesehen hatte, setzte sich in die Mitte. Auf ihrem Schoß hielt sie einen kleinen Block und einen Kugelschreiber. Jetzt erklärte sie uns, wie es ablaufen würde, was man auf dem Hof nicht machen durfte, wann es essen gab, wann man schlafen gehen musste, und wann die Reitstunden waren. Ich fand das alles gar nicht so schlimm, die Verbote waren wirklich lächerlich. Auf Leitern klettern war verboten, aber das war natürlich selbstverständlich. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, auf eine Leiter zu klettern, die auf dem Hof rumstand. Kaugummis waren auch verboten und das aus gutem Grund. Ein Pferd konnte daran ersticken, wenn es das irgendwo auf dem Boden fand und ass. Ich fand die Erklärung sehr einleuchtend und da ich sowieso keine Kaugummis mochte, würde das sicher eines der leichtesten regeln für mich sein. Grinsend sah ich zu meiner Schwester. Ich wusste, das sie mehrere Pakete mit Kaugummis extra eingesteckt hatte. Sie streckte mir fies die Zunge raus und hörte dann weiter zu, was di Leiterin zu sagen hatte. Einmal konnte ich mir das Lachen kaum verkneifen, rauchen war auch verboten. Rauchen taten doch nur Erwachsene, so wie meine Mutter, aber doch keine 7- Jährigen Kinder. Verwundert sah ich zu den älteren Mädchen, die an dem großen Tisch saßen. Ein leises stöhnen war aus ihrer Richtung gedrungen und ich bemerkte, wie die Leiterin die Mädchen streng ansah. Es war also mehr an die gerichtet, na gut, würde mir auch nicht schwer allen, diese Regel zu beachten. Etwas enttäuscht war ich allerdings, als sie auch sagte, dass wir nicht außerhalb der Reitstunden zu den Ponys gehen sollten. Schade, am liebsten hätte ich ununterbrochen ihr Fell gestreichelt oder mich einfach vor das Tor gesetzt und zugesehen, wie sie fraßen. Aber die Ponys wollten auch mal Ruhe haben, schließlich waren die Reitstunden für sie harte Arbeit. Das war einleuchtend, und ich wollte es bestimmt nicht machen, wenn es die Ponys störte. Dann mussten wir uns noch alle vorstellen, unseren Namen und das Alter sagen und erklären, wie gut wir schon reiten konnten. Ich war gespannt, was die älteren Mädchen wohl sagten. Erwartet hatte ich ,,Ich reite seit mehreren Jahren und habe schon viele Preise gewonnen", aber niemand sagte etwas dergleichen. Die Wörter waren fast gleich: ,,Ich heiße Sandra, bin 15 und wie ich reite weißt du ja". Und dabei beließ die Leiterin es auch. Ich fand das blöd, denn ich wusste nun mal nicht, wie gut sie reiten konnten, und ich wollte es unbedingt wissen. Als ich an der Reihe war, rutschte mir das Herz etwas in die Hose. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Es war wie in der Schule, nur dass ich, bis auf meine Schwester, keines der anderen Kinder kannte, und die meisten davon auch noch um einiges Älter waren als ich. ,,Ich bin Barby und 7 Jahre alt." Nuschelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. Die Leiterin schaute mich lieb an und fragte, ob ich schon mal geritten bin. Ich nickte stolz. ,,Jaaaaa, einmal auf einem Pony. Es hieß Stöber und war braun." Die älteren grinsten und kicherten, verlegen schaute ich zu Boden und fühlte, wie sich mein Kopf mit Blut füllte und ich rot anlief." Die Leiterin fragte nur noch einmal nach, ob sie mich Barby nennen sollte, oder lieber Barbara, und ich hasste sie dafür, das sie meinen Namen vor allen anderen erwähnt hatte. Leise sagte ich nur kurz ,,Barby" und schaute dann Sara an, denn sie war die Nächste...

Als wir in unseren Betten lagen, redeten wir noch lange darüber, was uns wohl am nächsten Tag erwarten würde. Sara war wirklich etwas älter. Sie war schon 9 und kam nach den Ferien in die 4. Klasse. Genauso wie meine Schwester. Aber wir verstanden uns gut, und ich glaube, sie hielt mich auch nicht für ein Baby, wie mir manch andere Kinder in meinem Alter immer vorkamen. Bald schlief ich ein und überhörte das Gerumpel und Gelächter in den anliegenden Zimmern.

8.

Neugierig lief ich schnell die schmale Treppe hinunter als die Glocke bimmelte. Die älteren Mädchen waren natürlich schneller und schubsten mich skrupellos zur Seite, um die ersten zu sein. Die Glocke am Reitplan klang anders als die zum essen und ich wusste, was das bedeutete. Die Betreuer hatten einen Plan erstellt, wo stand, wer in der ersten Stunde welches Pony reiten durfte. Alle standen eng um die Pinnwand versammelt, und ich konnte nichts sehen. Ein paar liefen gleich freudestrahlend los um ihr Pony zu putzen um zum reiten fertig zu machen. Andere standen mit Tränen in den Augen vor den Betreuern und versuchten noch etwas zu retten um doch noch ihren Liebling reiten zu dürfen. Ich rechnete fest, das hinter meinem Namen Rocky stand, das hatte der Mann doch so gut wie versprochen. Als schon alle anderen losgegangen waren, um keine Zeit zu verlieren, stand ich, streng den Blick nach oben gerichtet und den Kopf weit in den Nacken gelegt, vor dem Zettel. Da stand es, ganz unten:

Barby Meinen Namen fand ich sofort und mit großer Mühe entzifferte ich die Handschrift Chuck ! Da stand doch tatsächlich Chuck. Wie immer man auch diesen komischen Namen aussprach, aber da stand ganz sicher nicht Rocky. Traurig suchte ich das Blatt nach ,,meinem" Pony ab und fand den Namen hinter Kim. Kim war genauso alt wie ich, ich hatte schon Bekanntschaft mit ihr gemacht. Warum durfte sie jetzt Rocky reiten? Passte sie etwa noch besser zu ihm? Ich beschloss, es erst mal dabei zu belassen und jemanden zu suchen, der mir mein Pony zeigte und mir half, ihn fertig zu machen. Es war schließlich die erste Reitstunde, da wollte ich nicht gleich mit dem meckern anfangen. Ich hatte schließlich noch genügend Möglichkeiten, Rocky kennen zu lernen und vielleicht war dieser Chuck ja auch ganz lieb. Amelie führte für mich das große Pferd aus dem Auslauf. Chuck war wirklich groß, und weiß war er auch nicht. Eher dreckig gelb, aber ich würde ihn schon noch gut putzen und ihm seine natürliche Farbe zurück geben. Sie band ihn weit abseits von den anderen Pferden an und ging mit mir in die Kammer, um Putzzeug , Sattel und Trense zu holen. Den Sattel trug sie für mich, da er wirklich sehr schwer war und viel zu ungestüm für meine kurzen Arme und kleinen Hände. Ich fragte, wieso er nicht bei den anderen Pferden stand, aber ich bekam keine Antwort, sondern nur die Anweisung, ich sollte nicht zu nah an ihn heran gehen. Amelie war wirklich ein nettes Mädchen. Sie hatte einen Lockenkopf und ein freundliches Gesicht. Und sie schien viel jünger als die Leiterin. Aber sie machte alles alleine. Zuerst stand ich enttäuscht daneben und schaute zu, dann war ich aber froh, dass sie es machte und bekam etwas Angst. Auf diesem Pferd sollte ich reiten? Nicht nur, das es wirklich groß war. Es biss auch noch wild um sich, versuchte Amelie dauernd zu treten und zerrte an dem Strick. Das Mädchen schien keine Angst zu haben, sie schrie das Pferdöfters an und haute mit der Bürste gegen sein Maul, wenn er beißen wollte, und gegen sein Hinterteil, wenn er treten wollte. Mir war sofort klar, ich hatte das blödeste Pferd von allen bekommen. Auf diesem Pferd wollte bestimmt niemand reiten, und deswegen hatten sie es mir zugeteilt. Ich sah mich schon mit gebrochenen Knochen auf dem Boden liegen und fing an zu beten. Als Amelie mein versteinertes Gesicht sah, lächelte sie. ,,Chuck ist beim reiten wirklich ganz lieb. Er ist das beste Pferd, das wir an der Longe nehmen können und auf seinem breiten Rücken kann man sich prima festhalten." Ich versuchte zurückzulächeln, um mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Aber viel trösteten mich ihre Worte nicht. Ich hatte gesehen, wie Kim ein kleines weißes Pony hoch geführt hatte. Rocky war wirklich klein, und mir wäre er viel lieber gewesen. Das war ein Pony, wo sogar ich mühelos über den Rücken hinwegschauen konnte. Bei Chuck hingegen musste sich sogar Amelie auf die Zehenspitzen stellen, um mit der Bürste seinen Rücken putzen zu können.

Ich saß auf dem großen Pferd und schaute ängstlich zu Boden. Das war vielleicht tief, aber Chuck stand da und bewegte sich nicht. Ich musste meine Beine weit spreizen, um sie über seinen Rücken zu schwingen und Amelie hatte mich hochheben müssen. Nun saß ich aber da, und betrachtete die Welt von oben. Es war wirklich schön, und langsam gab Amelie ihm das Kommando, im Schritt zu gehen. Das wackelte vielleicht. Aber als Chuck sich in Bewegung setze, verlor ich all meine Angst, denn ich wusste, ich konnte den beiden Vertrauen, und wenn es nicht wirklich stimmen würde, was Amelie über das Pferd gesagt hatte, dann hätten sie mir auch ein anderes Pferd gegeben. Es machte wirklich viel Spaß. Ich ließ mich leicht hin und her schaukeln und machte all das, was Amelie von mir verlangte. Arme kreisen, Fußspitzen berühren, nach hinten schauen, nach vorne lehnen und am Ende setzte ich mich sogar einmal rückwärts auf den Pferderücken. Das war besonders wackelig und ich wäre runtergefallen, wenn Chuck nicht so gleichmäßig und unbehindert weiter gegangen wäre. Amelie hatte recht gehabt, Chuck war wirklich ein prima Pferd und er stellte sich nur so an, wenn andere Pferde in der Nähe waren und er geputzt wurde.

Es gab zwei Reitstunden am Tag und die ersten Tage ritt ich nur auf Chuck. Es machte mir nicht wirklich etwas aus, ich mochte Chuck, er war beim reiten sehr lieb und ich verlor schnell meine komplette Angst, aber der Wunsch, Rocky reiten zu dürfen blieb. Und manchmal erwähnte ich diesen Wunsch auch nebenbei in Amelies Nähe. Sie wusste es, und sie lächelte mich immer vielversprechend an.

Jeden Morgen mussten alle Kinder zusammen die Boxen und Ausläufe ausmisten. Das war auch nicht schlimm. Um die Schubkarre zu schieben, war ich viel zu klein und schwach und meistens sollte ich nur die breite Gasse im großen Stallgebäude fegen. Die meiste Arbeit übernahmen die Älteren Mädchen. Ihre Handgriffe waren darin auch schon sehr geübt und sie teilten die Arbeit auf. Meiner Schwester gefiel das ganze weniger gut. Manchmal sträubte sie sich auch, und schlief morgens länger als die anderen, aber die Betreuer riefen dann streng nach ihr und holten sie dazu. Insgeheim freute es mich, dass die Betreuer sie nie so lieb wie mich anlächelten und auch beim reiten stellte sie sich bei weitem nicht so geschickt an wie ich. Sie ritt meistens eine Stunde später als ich. Ihr Pferd sah fast genauso aus wie Chuck, war aber eine Stute. Ich konnte sie nur unterscheiden, weil sie in verschiedenen Ausläufen standen. Das war leicht zu merken. Ganz vorne standen die Männer, also die Wallache, wie man so schön sagte. Dahinter die Stuten und zuletzt die kleineren Ponys. Rocky war allerdings in einem Auslauf gegenüber, mit zwei anderen Ponys. Auch die konnte ich gut unterscheiden, da sie alle einen andere Farbe hatten. Im großen Stallgebäude standen nur Privatpferde. Die durften wir nicht reiten, denen durften wir nur saubere Füße bescheren. Aber das fand ich nicht schlimm, mir machte alles Spaß, was mit den Pferden zutun hatte und manchmal fragte ich auch ein älteres Mädchen, ob ich mal die Mistgabel haben konnte oder ob ich sie wenigstens mit der Schubkarre auf dem Weg zum Misthaufen begleiten durfte. Ich bewunderte die Mädchen. Manchmal hatte ich sie heimlich beim reiten beobachtet. Sie waren natürlich nicht mehr an der Longe und mussten ganz komplizierte Figuren reiten. In allen Gangarten und manchmal sogar ohne Sattel. Jennifer fand ich besonders nett. Se hatte rote Haare und grüne Augen. Sie ritt immer eine zierliche Stute, die viel schneller war, als die anderen Pferde. Und mit Jennifer durfte ich oft zusammen misten, da machte es noch viel mehr Spaß.

Eines Abends rief Amelie aus der Küche zu den Zimmern hoch: ,,Anne, Barby, Telefooooooooonn !!" Sofort rannten meine Schwester und ich die Treppe hinunter und stürmten zum Hörer. Ich war die schnellste, da ich einfach die letzten Stufen gesprungen war und mich mit Schwung um das Geländer gewirbelt hatte. ,,Mama - Ja - Ja - Schööööön - Nein ich habe kein Heimweh - überhaupt nicht - ist gut - ich bin lieb - ich muss wieder gehen - ja wir spielen gerade - Memory - ich habe die meisten Paare - die steht neben mir - tschau." Ich reichte meiner Schwester den Hörer und lief sofort wieder die Treppe hoch zu den anderen Kindern. Wir spielten alle zusammen Memory. Wirklich alle ! Wir hatten Paare gebildet, jeweils eine Ältere mit einer Jüngeren. Ich spielte mit Jennifer und wir waren gerade im Begriff zu gewinnen. Unter den Reitermädchen gab es wirklich keine Altersunterschiede. Auch wenn manche der Mädchen mir eingebildet und arrogant vorkamen, wusste ich, dass Jennifer mich mochte. Sie hatte mich nach dem Reiten auch oft gelobt und mir erklärt, was ich noch besser machen konnte. Dabei hörte ich ihr gerne zu, sie konnte schließlich sehr gut reiten. Anne spielte mit einem Mädchen aus ihrem Zimmer zusammen. Beide waren 9 Jahre alt und ich war stolz, dass mich eine von den älteren Mädchen gefragt hatte, und ich nicht mit einer gleichaltrigen spielen musste. Sie mochten mich alle, und ich fühlte mich nie so wohl, wie auf diesem Hof.

Bereits gegen Ende der ersten Woche durfte ich alleine reiten. Und ich musste feststellen, dass das gleich viel schwieriger war. Jett musste ich dem Pferd sagen, wo es lang zu laufen hatte und das tat es meistens nicht so ganz, wie ich es wollte. Aber ich gab mir Mühe. Manchmal würde ich auch sehr wütend, dann liefen mir still kleine Tränen über die Wangen, aber ich hätte niemals aufgegeben. Nein, wenn das Pferd in die eine Richtung laufen sollte, dann würde es das auch früher oder später tun. Ich strengte mich an, und an einem Samstag, durfte ich auch endlich Rocky reiten! Überglücklich putzte ich das kleine Pony und lachte mich beim reiten halb tot. Er machte so kleine Schritte, ganz anders, als ich es von dem großen Chuck gewohnt war. Ich wackelte wie ein Hampelmann auf dem Pony hin und her und konnte danach kaum noch richtig laufen. Von dann an wollte ich nur noch Rocky reiten, und meistens durfte ich das auch.

Sonntags kamen wieder neue Kinder. Wir würden noch eine Woche dort bleiben, und die zeit war viel zu schnell vergangen. Jennifer, und auch einige der anderen Mädchen, reisten schon wieder ab. Sie gab mir ihre Adresse und kaum war sie abgereist, fing ich auch schon an, ihr einen Brief zu schreiben. Schreiben konnte ich schonrichtig gut, ich kannte fast alle Buchstaben und, wie ich fand, konnte ich meine Gedanken gut in Worte fassen. Der Abend lief genauso ab, wie der erste Abend, an dem wir angekommen waren. Wir mussten uns den neuen Kindern wieder vorstellen. An dem Tisch der großen Mädchen saß ich immer noch nicht, aber diesmal konnte auch ich stolz sagen: ,,Wie ich reite wisst ihr ja." Ich fühlte mich schon richtig wissend und integriert.

Meiner Schwester passte das ganze weniger, das fiel jedem auf. Nicht nur das Misten störte sie, sie fühlte sich auch nicht so wohl dort wie ich. Sie war am Ende der zweiten Woche noch an der Longe und durfte nicht, wie ich, mit den anderen in der Gruppe reiten. Sie hätte niemals zugegeben, das es sie störte, aber es war nicht zu übersehen.

Viel habe ich mit meiner Schwester dort nicht unternommen. Es machte viel mehr Spaß, mit meinen Freundinnen etwas zu machen, als mit meiner blöden Schwester, die keine Ahnung vom reiten hatte und lieber den ganzen tag im haus saß und Karten spielte.

Ich lag in meinem Bett und beobachtete die anderen, wie sie spielten. Ein Mädchen, die sogar ein eigenes Pferd hatte und es für die Ferien mitgebracht hatte, erklärte wie ihr Tagesablauf mit dem Pferd ablief, als meine Schwester das Zimmer betrat. Ich schloss meine Augen und tat, als würde ich schlafen. Anne setze sich auf die Bettkante und hörte dem Mädchen zu, wie sie so ihr leben beschrieb. Auf einmal spürte ich, wie eine hand über mein Gesicht strich. Ganz leicht und vorsichtig. ,,irgendwie ist sie ja süß, wenn sie schläft", hörte ich meine Schwester sagen. Ungläubig und überglücklich lag ich da, und bewegte mich nicht. Aber ich wollte sie nicht weiter täuschen. Langsamöffnete ich die Augen und lächelte sie an. Sofort stand sie auf und murmelte etwas wie ,,Sie schläft ja gar nicht", und verschwand aus dem Zimmer. Es war die erste positive Äußerung, die meine Schwester über mich verloren hatte. Und es bedeutete mir sehr viel. In Gedanken umarmte ich sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich wirklich einschlief.

9.

,,Meine Mutter will, dass ich dich einlade."

Freudestrahlend lief ich Kathrin entgegen. Noch nie hatten wir eine richtige Party gegeben. Zumindest keine, wo wir ganz viele Kinder einladen durften. Es war Februar, und meine Mutter war auf die brillante Idee gekommen, eine richtige Karnevalsfeier für uns zu machen. Wir durften jeder ein paar unserer Freunde einladen. Natürlich nicht zu viele, aber mir fielen es nur 4 Kinder ein, die an meiner Party teil haben sollten. Meine Schwester hatte viel mehr Freunde, sie war ja auch schon auf einer größeren Schule.

Aufgeregt fing ich an zu berichten.

,,Nächste Woche machen wir eine Feier. Wir müssen uns verkleiden und etwas einstudieren, was wir dann alle zusammen aufführen. Meine Schwester macht mit ihren Freundinnen auch etwas. Du musst unbedingt auch kommen."

Kathrin fand die Idee total gut. Sie hatte schon oft ihren Geburtstag im Garten mit anderen Kindern gefeiert, aber eine Karnevalsparty hatte auch sie noch nicht erlebt. Und dann auch noch bei uns, wo ich doch sonst immer nur eine Freundin einladen durfte, und selten andere Kinder außer Kathrin bei mir gewesen waren. Das war wirklich etwas ganz besonders. Lange überlegten wir, als was wir uns verkleiden würden, und vor allem, was wir den Freunden meiner Geschwister vorführen konnten, ohne das sie es kindisch fanden. Es war wirklich nicht einfach. Erst dachten wir an ein kleines Theaterstück, aber wir hatten einfach keine passende Idee, was für ein Stück wir auf die schnelle noch lernen konnten. Ich war für eine kleine ,,Trocken-Reitstunde", aber Kathrin klärte mich schnell auf, das wir so was doch nicht 10-Jährigen zeigen konnten, die keinerlei Ahnung und Interesse an Pferdesport hatten. Also lies ich auch diesen Gedanken wieder fallen.

Letztendlich kam uns doch noch der rettende Einfall. Wir hatten doch erst vor kurzem in der Schule dieses Lied gelernt. Wir mochten es alle sehr, und ich wusste, das es auch Ines gefallen würde. Ich müsste ihr einfach sagen, das wir es schon geprobt hätten und es wäre wirklich zu kurzfristig, sich jetzt noch um zu entscheiden. Dann könnte sie auch nichts dagegen sagen, wenn ihr der Einfall nicht gefiel.

Das Lied hatte ganze 10 Strophen, und wir konnten schon alle auswendig. Mit Kathrin übte ich eine Schrittfolge ein, die wir dazu machen konnten. Es war ganz einfach zu merken, da wir immer genau das taten, was in dem Text gesagt wurde. Bei ,,schaute sich um" hielten wir die flache Handfläche über die Augen und drehten unseren Kopf in alle Richtungen. So machten es die Jäger, sagte Kathrin. Das wusste sie bestimmt von ihrer Mutter, also machte ich es ihr nach und setzte diesen Blick in die Ferne auf.

In der Schule erzählte ich es den anderen Kindern, die ich einladen wollte. Kathrin führte unser Vorhaben an und gab allen die Anweisungen, die sie bei dem Lied zu machen hatten. Einen anderen Vorschlag lies sie nicht mehr gelten und fast kam es mir so vor, als wäre alles ihre Idee gewesen und es würde auch ihre Party werden. Trotzdem war auch ich voller Elan bei der Sache, obwohl ich die Schritte und Bewegungen ja alle kannte.

Wie saßen auf dem Boden unsere Wohnzimmers und stopften allerlei Chips in unsere kleinen Bäuche. Es war noch recht früh, und ich wartete noch auf einen Freund, den ich eingeladen hatte. Er war der einzige, der bei unserem ,,Auftritt" nicht mit machen würde, Jungs konnte man zu so was schlecht bringen. Aber meine Mutter hatte nichts dagegen, dass ich ihn trotzdem einlud. Die Freundinnen meiner Schwester hatten sich auf dem Sofa breit gemacht. Sie waren alle verkleidet, einer hatte sogar einen richtigen Vampirumhang um. Meine Freundinnen und ich hatten beschlossen, das wir uns passend zu dem Lied anzogen. Das Lied wurde von verschiedenen Tieren gesungen, und jeder hatte die Farbe seines Tieres so gut es ging angenommen. Natürlich hatten wir kein Krokodilskostüm, oder gar ein Flamingokostüm. Aber grüne und rosa Hosen und Pullover taten es ja auch. Ich war die Kuh. Das war das schwerste, fand ich, weil eine Kuh ja nicht einfarbig ist. Erst wollte ich meinen schwarz-weiß- gestreiften Pullover anziehen, aber Kathrin sagte, es sehe zu sehr nach Zebra aus. Also trug ich eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Wer den Hintergrund nicht kannte, der hätte uns alle für verrückte Kinder gehalten, deren Eltern sich nicht darum kümmerten, wie ihr Kinder rumliefen, aber niemals hätten sie erraten, das es zu unserer Verkleidung gehörte und doch so geplant war.

Meine Mutter begrüßte alle Gäste und schon durften wir anfangen.

Schüchtern stellten wir uns in einer Reihe auf, wie wir es geprobt hatten, und trällerten unser Liedchen. Erst alle zusammen, dann jeder einzeln, und dann wieder zusammen. Ich gab mir große Mühe, meine Strophe wie ein leichtes muhen klingen zu lassen. Es sollte künstlerisch wirken und nicht so, wie wir es in der Schule sangen. Die Bewegungen waren auch alle gut geplant. Wir machten es fast alle gleichzeitig und identisch.

Stolz verbeugten wir uns vor den älteren Kindern und erhielten Applaus. Nur meine Schwester klatschte müde in die Hände und gab ein zweideutiges Gähnen von sich. Na gut, sollte sie es doch mal besser machen. Den anderen hatte es gefallen, dessen waren wir uns alle sicher. Wir waren gespannt, was sie einstudiert haben würden, und setzten uns still wieder auf den Boden.

Ihre Vorträge dauerten viel länger als unser Lied. Sie hatten sehr viel eingeübt, mehrere kurze Theaterstücke. Nein, Stücke konnte man es nicht nennen, es waren kleine Witze, die sie uns vorspielten. Es war wirklich lustig und ich lachte aus vollem Herzen. Das hatte meine Schwester wirklich gut gemacht, und ich würde niemals so gemein sein und ihr meine Bewunderung vorenthalten und nur aus Stolz es nicht zugeben wollen. So war ich nicht, so war nur die fiese Anne!

Wir klatschten begeistert, als sie sich nach einiger zeit entgültig verbeugten.

Jetzt ging es ans Essen. Meine Mutter hatte extra Salat gemacht. Den konnte sie besonders gut, und ich schielte nervös zu Kathrin. Vielleicht würde sie irgendetwas auszusetzen haben, vielleicht war zu viel fettiges in dem Salat, oder vielleicht fand sie noch Würmer. Aber sie schien sehr zufrieden, stopfte den Salat in sich hinein und lachte vor sich hin. Immer wieder murmelte sie das Ende eines Sketches, den meine Schwester zusammen mit ihrer besten Freundin gespielt hatte. Er war wirklich zu komisch gewesen, und jedes Mal wenn Kathrin diesen Schlusssatz fasziniert wiederholte, konnte auch ich mein lachen nicht unterdrücken. Der Höhepunkt waren allerdings die berühmten Eiermännchen. Nur meine Mutter konnte die so schon aufstellen, und sie so vielseitig beschmücken. Mit einem lauten ,,Tadaaaaa" stellte sie das Tablett in die Mitte und uns lachten mindestens 20 kleine Männchen an, die eigentlich viel zu schön aussahen, um gegessen zu werden. Anne machte skrupellos den Anfang und sofort nahm der Rest sich auch eins, damit meine Schwester nicht alle allein essen konnte. Zugetraut hätte ich es ihr wirklich.

Später gingen wir noch in den Garten und veranstalteten ein paar Wettkämpfe, die wir von anderen Kindergeburtstagen kannten. Unser garten war längst nicht so schön wie Kathrins. Wir durften nicht soviel herumrennen, nicht auf einer Stelle lange hüpfen und ein Hund wäre in diesem Garten niemals zu finden gewesen. Aber es war ja auch nicht unser garten, er war sozusagen von meinem Opa gemietet worden. Und der wollte das alles nicht. Es gefiel mir trotzdem gut, und immerhin war ein Garten mit ,,Spielverbot" nun mal besser als überhaupt kein Garten.

10.

Ängstlich folge ich meiner Mutter über die Strasse. Sie hatte wirklich ein unbeschreibliches Tempo drauf und ich musste immer wieder neben ihr her rennen, um mit meinen kleinen Schritten mithalten zu können. Einer dieser schrecklichen Arztbesuche standen mir bevor. Ich wusste nicht wieso, und vor allem nicht wozu, mir ging es doch gut. Aber meine Mutter hielt es anscheinend für sehr wichtig, und mir blieb keine andere Wahl als ihr nachzugeben und ihr zu folgen. Blut abnehmen! Ich hatte solche Angst. Ich wusste, es war wirklich nicht schlimm, aber danach ging es mir immer viel schlechter als vorher. Warum sollte ich zu einem Arzt gehen, wenn er mich nur krank und nicht gesund machte. Ich verstand es nicht, hatte mir aber geschworen, tapfer zu sein und keine Wiederworte zu geben. Ich versuchte die Gedanken an den bevorstehen den Schmerz zu verdrängen und sprang an der hand meiner Mutter in die Pfützen auf den Straßen.

,,Lass das, sonst kommen wir zu spät zu dem Termin", befahl mir meine Mutter und ich ging wieder stumm schweigend neben ihr her.

Bei dem Kinderarzt war ich schon sehr oft gewesen. An die meisten Besuche konnte ich mich natürlich nicht mehr erinnern, weil ich noch sehr klein gewesen war. Aber als ich das letzte mal dort gewesen war, hatte er nur meinem Kopf nach Läusen und anderem Ungeziefer abgesucht. Ein Kind aus der Schule hatte die und wir wurden von unserer Lehrerin aufgefordert, alle einen ärztlichen Bescheid mitzubringen, dass wir wirklich Läusefrei waren. Ich hatte natürlich keine gehabt und der Arzttermin hatte mir auch keine Angst gemacht. Aber heute würde wieder eine dieser blöden Frauen im weißen Kittel vor mir stehen und lachend sagen ,,Stell dir vor, das ist die Biene Maja, und die sticht dich jetzt." Ich fand das völlig dumm. Mich hatte zwar noch nie eine Biene gestochen, aber ich wusste, das so ein Stich sehr gefährlich war. Viel gefährliche als Blut abnehmen. Wollte sie mir noch mehr Angst machen, oder hielten mich einfach alle für so blöd und dachten, ich würde das lustig finden und nicht wissen, was ein Bienenstich bedeuten konnte.

Im Wartezimmer saßen viele Mütter mit kleinen lachenden Babys auf dem Arm. Die Kinder taten mir leid. Wahrscheinlich wussten sie gar nicht, wo sie hier waren und was ihnen bevor stand. Und die Kinder, die schon danach fragen konnten, wohin es ging, hatten sie wahrscheinlich mit leeren Versprechungen gelockt. Mir war es wirklich zu wieder, das manche Erwachsenen die Kinder einfach nicht für voll nahmen, ihnen das blaue vom Himmel herunter logen, mit dem Gedanken, das sie es sowieso nicht merken würden. Vielleicht war es wirklich bei ein paar Kindern so. es gab mit Sicherheit dumme Kinder, die einfach ,,Ja" zu dem sagten, was die Erwachsenen verlangten und ihnen erzählten. Aber so wollte ich nicht sein. Ich glaube, ich war wirklich ein ,,anderes" Kind!

Meine Mutter half mir auf die Liege, und ich legte mich mit dem Kopf auf die kleine, unbequeme Kopfstütze. Der Arzt zeigte mir ein Bild an der Wand. Es war eine Zeichnung, die eine kleine Wohnsiedlung darstellen sollte. Überall sah man Menschen in den Fenstern und auf den Straßen. Kinder spielten, erwachsene redeten und Hund pinkelten. Noch nie hatte ich ein solches treiben auf den Straßen beobachtet und mir war gleich klar, das es wieder nur eine Täuschung der Erwachsenen war. Trotzdem war ich neugierig, was es dort alles zu entdecken gab. Und noch bevor ich mehrere große Entdeckungen machen konnte, war der Arzt mit seinen Untersuchungen und dem Blutdiebstahl fertig und ich konnte wieder aufstehen. Ich hatte von all dem gar nichts mitbekommen, und folgte meiner Mutter leise hinaus. Wieder an der frischen Luft angekommen, dachte ich darüber nach, was der Arzt wohl gemacht haben könnte. Und da spürte ich den kleinen schmerzenden Stich in meiner linken Armbeuge. Ich fühlte das Pflaster und spürte, wie mein gesamter Arm zu pochen anfing. Mir wurde heiß und kalt zugleich, ich hielt mich schützend am Arm meiner Mutter fest, bis mir schließlich schwarz vor den Augen wurde und ich umfiel ,,Sollen wir einen Arzt holen?" Meine Mutter schüttelte den Kopf. Ich sah sie geschwächt an und blickte erschrocken um mich. Ich lag mitten auf dem Bürgersteig, unter meine Füße hatte meine Mutter ihre Tasche und Jacke gelegt, damit das Blut leichter zurück in meinen Kopf fließen konnte. Sämtliche Passanten waren stehen geblieben und wollten dem hilflos am Boden liegenden Kind helfen. Aber ihre Augen waren weitaus besorgter als die meiner Mutter gewesen.

,,Die steht gleich wieder auf, ist halb so wild", wollte sie die Leute beruhigen. Und ich wusste, das sie recht hatte. Es war miröfters passiert, das meine Beine so schwach wurden, dass ich nicht mehr stehen könnte und ohne jeglichen Grund einfach für ein paar Sekunden das Bewusstsein verlor. Langsam stand ich auf. Noch drehte sich alles um mich herum, aber das würde sich auch gleich wieder geben. Und kaum eine Minute später fühlte ich mich fit wie immer, als wäre nichts gewesen. Wir gingen weiter und beachteten die nachschauenden Blicke der alten Tanten nicht mehr, die meine Mutter jetzt für unvernünftig hielten, da sie noch nicht einmal einen Krankenwagen gerufen hatten. Die konnten ja auch nicht wissen, dass wir gerade erst von Arzt gekommen waren.

Als wir fast zu Hause wieder angekommen waren, blieb meine Mutter plötzlich stehen undöffnete ihre Tasche. ,,Hier, weil du heute so lieb beim Arzt gewesen bist", sagte sie und reichte mir eines, dieser bunten Ponys. Ich lachte, nahm es freudig entgegen und dankte ihr. Jetzt hatte ich schon zwei davon. Angestrengt überlegte ich nach einem passenden Namen, aber ich dachte, ich würde Kathrin fragen. Die kannte so viele schöne Namen. Vor unserer Haustür sah ich meine Mutter mit großen Augen an. ,,Woher wusstest du, das ich so lieb sein würde?" ,,Wusste ich doch gar nicht."

,,Aber du hattest das Pony schon gekauft und mitgenommen. Was hättest du gemacht, wenn ich nicht lieb gewesen wäre?" ,,Dann hätte ich es aufbewahrt und dir bei einer anderen Gelegenheit vielleicht geschenkt." Na gut, das war wirklich eine gute Antwort. Damit gab sogar ich mich zufrieden, obwohl ich glaubte, sie hätte es mir auf jeden Fall geschenkt. Auch wenn ich noch mehr rumgemeckert hätte und vor dem Arzt weggelaufen wäre. Am Ende hätte sie dann vielleicht gesagt, es wäre ,,zum Trost" oder so, und nicht wie ich so lieb gewesen war. Aber bekommen hätte ich es sicher irgendwie und ich nahm mir vor, beim nächsten mal etwas aufmüpfiger zu sein und abzuwarten, ob ich trotzdem eine Belohnung bekam.

Stolz, die Taktik meiner Mutter anscheinend so gut durchschaut zu haben, ging ich gleich in mein Zimmer um mit dem neuen Pony zu spielen. Ich stelle es ,,Rocky" vor und lies sie durch das Zimmer galoppieren.

Ich hörte laute schnelle Schritte auf mich zukommen und bevor ich sie noch richtig einordnen konnte war Anne auch schon in das Zimmer gestürmt, schmiss sich mit voller Plumphaftigkeit auf ihren Stuhl, der mit leisem Quietschen ihrem Gewicht stand halten wollte. Sie drehte den Kassettenrecorder auf und fing an, ihren Papierberg auf dem Schreibtisch zusammen zu schieben. Als jedoch keine Musik ertönte, sondern der Erzähler einer meiner Märchenkassetten zu sprechen begann, drückte sie wütend auf allen Knöpfen herum und schmiss mir die Kassette entgegen.

,,Was soll das? Du kannst sie nicht kaputt machen, die gehört mir." Ich war wirklich sauer. Was fiel ihr denn ein?

,,Ist ja noch heile du Heulsuse", meinte sie schroff und legte ihre Kassette ein. ,,Die will ich nicht hören, ich war zuerst hier."

,,Ich bin aber die Ältere und außerdem darf immer der hören, der sich zuerst die Musik angemacht hat, und das bin nun mal auch ich."

Verblüfft stockte ich. Da hatte sie recht. So hatten wir es zusammen abgemacht. Ich vergaß ständig, mir Musik anzumachen, da es mich sowieso nur störte, wenn ich mit meinen Ponys spielen wollte. So konnte ich ihnen viel besser beim reden zuhören.

,,Ich habe aber die Ruhe gehört, und das ist genauso, als wenn man Musik hört", erwiderte ich und ich war recht zufrieden mit der Antwort. Es war eine gute Erkenntnis, warum war mir die noch nicht viel früher gekommen.

Meine Schwester allerdings schenkte dem nur sehr wenig Beachtung. Sie lächelte leicht ironisch, wandte sich dann wieder ihrem Müllberg zu und dachte gar nicht daran, die Musik aus zu machen.

Ich gab nach. Streiten wollte ich mich nicht, ich würde wieder zu weinen anfangen und sie war eh die Stärkere. Also nahm ich meine Ponys, verließ das Zimmer und spielte im Wohnzimmer unter dem großen Esstisch. Das machte auch Spaß. Auf dem Tisch war es ein Berg, unter dem Tisch eine Höhle und die kalten Fliesen stellten das tiefe Meer da. Kinder, mit älteren Geschwistern hatten es weiß Gott nicht leicht. Ständig wurden sie unterdrückt, gegen die Eltern ausgespielt und eingeschüchtert. Und meine Schwester konnte das alles besonders gut.

11.

Lachend lief ich über den Hof. Endlich war ich wieder da. Es war bereits meine dritten Ferien, die ich dort verbringen solle, aber die ersten, ohne meine große Schwester und darauf freute ich mich besonders. Endlich würde ich zwei Wochen Ruhe vor ihr haben und mir ihre beleidigenden und demütigenden Sprüche nicht anhören müssen. Ein paar der Kinder kannte ich bereits von den vergangenen Ferien, doch die meisten waren neu. In diesen Ferien würde ich neun Jahre alt werden, und längst gehörte ich nicht mehr zu den jüngsten. Und vor allem nicht mehr zu den Anfängern. Mittlerweile besaß ich auch die Kleidung, die ein guter Reiter brauchte, aber das war auf diesem Hof wirklich nicht so wichtig. Schnell hatte ich begriffen, das es nicht darauf ankam, was man an hatte. Eine teure Hose machte noch lange keinen guten Reiter aus. Und auch Rainer, der Mann, dem das ganze gehörte, und der uns zu Beginn meiner Reitkarriere den Hof gezeigt hatte, trug nie solche Sachen.

Abends sahen wir ihm immer beim reiten zu. Vor dem großen Reitplatz stand eine kleine Holzbank, wo alle Ferienkinder versammelt saßen, und bewundernd zu dem Mann und seinem Pferd sahen. Er strahlte eine ungeheure Ruhe aus. Manchmal saß er eine halbe Stunde lang auf dem Pferd und tat einfach nichts, außer rauchen. Das Pferd blieb ganz ruhig stehen, machte nicht die geringsten Anstalten sich zu bewegen, auch wenn Rainer noch nicht einmal die Zügel aufgenommen hatte. Es war bewundernswert. Seine Pferde durften wir natürlich nicht reiten. Ich wusste, das es teure Turnierpferde waren, echt amerikanische Quarter Horses. Sie waren nicht besonders groß, aber natürlich auch nicht solche Ponys wie Rocky, den ich immer noch am liebsten hatte und meistens auch reiten durfte. Das schönste Pferd von Rainer, wie ich fand, war eine braune Stute. Sie hatte ein glänzendes rot-braunes Fell, das je nachdem wie das Licht drauf fiel in den unterschiedlichsten Farbtönen schimmerte. Ihr Name war Miss. Jedenfalls nannten sie alle so. ich glaube, da kam noch ein langer schwieriger Name hinter, aber der stand auch nur in den Papieren. Schließlich war sie ja aus Amerika. Rainer saß auf der bildschönen Stute und rauchte eine nach der anderen. Ein Laie hätte denken können, das er faul und süchtig gewesen wäre, aber wir wussten alle, das es genauso zu der Ausbildung eines guten Westernpferdes gehörte, es lange still stehen zu lassen. Rainer beobachtete aus den Augenwinkeln das treiben seiner Stute und korrigierte sie fast unmerklich, und auch das ohne die Zügel aufzunehmen, wenn in ihren Augen langsam ein gelangweilter Blick aufstieg.

,,Er weiß genau, was Miss denkt. Er weiß es schon, bevor Miss überhaupt der Gedanke kommt, das sie daran denken könnte. Das ist das ganze Geheimnis. Dadurch kann er sie vollkommen beherrschen und sie von vorne herein daran hindern etwas zu tun, was Rainer nicht möchte." Lisa hatte wirklich viel Ahnung. Sie war die Älteste von uns und ich glaube, sie war jede Ferien da. Wir bewunderten sie alle. Sie war auch die hübscheste, hatte lange blonde Haare und ein nettes Gesicht. Sie sah genauso aus, wie die Mädchen in den Pferdecomics. Das war es also. Wenn Rocky abbiegen wollte, ohne das ich es ihm sagte, dann musste ich einfach vorher wissen, das er an der Stelle abbiegen wird, um ihm rechtzeitig auf der geraden Bahn zu halten. Das war wirklich einleuchtend und ich überlegte, wie man denn wissen kann, wann das Pferd was dachte. Fasziniert schaute ich Rainer noch eine Weile zu und ging dann heimlich zu ,,meinem" Pony.

,,Was denkst du gerade, mein Engel?", flüsterte ich ihm in die großen Ohren und kraulte ihn an der Mähne. Schnaubend senkte das Pferd den Kopf und begann, an seinem Heu weiter zu mampfen, wobei ich ihn anscheinend nur störte. ,,Mein Kleiner, du denkst mal wieder nur an dein fressen. Dann will ich dich mal nicht weiter stören, friss ruhig deine Raufe leer und schlaf heute Nacht gut." Vorsichtig verließ ich wieder den Auslauf und blickte mich nach eventuellen Beobachtern um. Mich hatte niemand gesehen. Schnell ging ich zurück ins Haus und gesellte mich zu den Anderen. Meine Zimmernachbarinnen sahen sich gerade Fotos an, die ein Mädchen bei ihrem letzten Urlaub hier von den Ponys gemacht hatte. ,,Oh, meine Irina!", stieß die kleine Tanja mit entzücken aus. Prüfend sah ich auf das Bild. Es zeigte ein braunes Pferd, das neugierig die Nüstern in den Wind steckte. ,,Das ist nicht Irina. Das kann sie gar nicht sein. Dahinter steht doch Ricardo und die beiden sind nicht in dem selben Auslauf. Das ist doch Couns, das sieht man doch." Mit erhabenen Schritten ging ich aus dem Zimmer. Kaum war die Tür geschlossen konnte ich mir mein Grinsen nicht mehr verkneifen. Ich kannte die Pferde besser als die meisten von ihnen, ich konnte sie gut unterscheiden. Auch die großen Schimmel waren alle ganz verschieden. Murphy hatte einen eckigen Kopf, Ricardo viele kleine rote Punkte auf seinem weißen Fell und Kille war viel dicker als die anderen Pferde. Außerdem stand sie ja auch bei den Stuten.

Es war bei einer Reitstunde, als ich eine der schrecklichsten Erkenntnisse machen musste. Ich kannte mich doch nicht so gut aus, wie ich dachte, und noch längst war ich kein Profi. Auch ich wurde nicht immer gelobt, und als Rocky nach 10 Minuten immer noch nicht antraben wollte, fing die Reitlehrerin bedingungslos an rumzuschreien. ,,Warum machst du denn auch nichts, was ich dir sage?" stauchte sie mich zusammen, und durch meine verweinten Augen konnte ich kaum noch sehen, was vor mir und dem Pony lag. ,,Ich habe dir hundert mal erklärt, was du machen sollst, und der Rocky wandert hier rum wie bestellt und nicht abgeholt. Streng dich nun gefälligst mal an, sonst kommst du wieder an die Longe." Still liefen die kleinen Perlen über mein Gesicht, und ich konnte mich jetzt beim besten willen nicht mehr konzentrieren. Verkrampft riss ich an den Zügeln und versperrte dem Tier somit nur noch mehr den Weg nach vorne. Letztendlich lies die Lehrerin doch von mir ab, und wandte sich einem anderen Mädchen zu.

Enttäuscht nahm ich Rocky den schweren Sattel ab und gab ihm doch noch eine Möhre zum knabbern. Es war ja nicht seine Schuld wenn ich etwas falsch machte, und er durfte nicht bestraft werden. Ich weinte leise und still weiter, wischte mir aber jedes Mal, wenn mir eines der anderen Mädchen entgegen kam, die Tränen aus dem Gesicht und versuchte einen zufriedenen Eindruck zu machen. Ich durfte es mir einfach nicht so zu Herzen nehmen. Alle machten Fehler, und in der nächsten Reitstunde würde ich es eben besser machen und mir mehr Mühe geben.

Ich hatte Rocky gerade zurück in seinen Auslauf gebracht als die Lehrerin plötzlich vor mir stand. Sie lächelte mich an. ,,Barby, warte mal." Ich blieb stehen und sah sie mit großen Augen an. ,,Das war nicht so schlimm, du warst nur viel zu verkrampft. Morgen probieren wir es wieder. Rocky hat aber auch einen schrecklichen Dickkopf. Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du machst es gut. Rocky ist einfach nicht zu vergleichen mit den anderen Schulponys." Zusammen gingen wir noch eine Weile über das Gelände, redeten über die Ponys und über das Reiten und ich lies meine Tränen im Wind trocknen.

Ich lehnte mich draußen gegen die Hauswand und lies mich langsam zu Boden gleiten. Es war wirklich schön hier. Der Himmel war rot gefärbt, und strahlte eine ungeheure Energie aus. Leise zogen weiche Wolken über dem blauen Meer davon und ich streckte meine Nase dem Wind entgegen. Kalt war es nicht, es war ein schöner Sommerabend und es fing nur ganz langsam an zu dämmern.

In dieser Nacht träumte ich noch lange von einem kleinen weißen Pony, das ohne Rücksicht auf zertrampelte Grasshalme durch hohes Grass galoppierte. Ein Hauch von Freiheit strich sanft meine Wangen und ich roch trockenes Heu und Pferdemist. Das war wirklich der Ort, wo ich glücklich war.

12.

Verträumt sah ich aus dem Fenster. Die Sonne lachte mir ins Gesicht, doch ich sah sie nicht. Das was geschehen war, war einfach viel zu bedeutend gewesen. Und das was noch geschehen wird, würde einfach nur schrecklich werden. Ich wusste nicht, wieso meine Mutter mir das antat. Wieso musste sie denn arbeiten gehen, hatten wir nicht genug Geld? Eine reiche Familie waren wir nicht, das war mir klar. Aber meine Mutter hatte doch immer viel Geld bei sich, sie gab mir Taschengeld, und bezahlte bei einem Einkauf so viel, wie ich mir kaum vorstellen konnte. Bisher hatte es doch auch gereicht. Und jetzt ging es nicht mehr? Oder wollte sie einfach wieder Pause vor uns haben? Leise liefen mit die Tränen über die Wangen und ich dachte daran, wie es wohl sein würde, wenn ich nicht da wäre. Dann würde ich Mutter nicht mehr zur Last fallen können und sie würde mehr zeit haben um sich um ihre geliebte Anne zu kümmern. Meine Mutter wird arbeiten gehen, und ich müsste jeden Nachmittag zu einer Bekannten. Immer nach der Schule, dort würde ich Mittagessen bekommen und meine Hausaufgaben machen, bis ich nachmittags dann nach Hause gehen konnte. Warum so umständlich? Ich verstand es nicht. Ich fühlte mich schon groß genug um allein zu Hause zu sein. Ich würde mit dem Essen eben warten und später zusammen mit meiner Mutter essen. Oder Anne würde uns etwas kochen. Das konnte sie zwar noch nicht, aber sie würde es bestimmt schnell lernen. Und meine Oma war doch auch noch da. Denen gehörte schließlich das Haus. Warum musste ich noch in der Grundschule sein und so früh Schluss haben. Ich verfluchte meinen Stundenplan und hätte liebend gerne noch ein paar Stunden dran gehängt, aber darauf hatte ich ja keinen Einfluss. Jetzt müsste ich halt wirklich jeden Mittag zu dieser blöden Heidi gehen. Wer schon so einen albernen Namen hatte. Hämisch sang ich ,,Heiiiidddiiiiii, deine Welt ist die Höööölllleeeee ". und sah traurig auf unseren Garten hinaus. Was sollte das bloß noch werden. Ich war doch kein kleines Kind mehr. Ab nächsten Sommer würde auch ich auf ein Gymnasium gehen und schließlich kam es doch nicht auf das Alter an, sondern darauf, wie vernünftig man war. Und ich hätte schwören können, auch Mama hielt mich für weitaus vernünftiger als Anne. Es war wirklich ungerecht. Meine Enttäuschung und Angst hatten sich in Wut und Aggression umgewandelt. Wenn jetzt noch Anne käme und wieder etwas gemeines sagen würde, dann gäbe es kein Zurückhalten mehr. Und meine Schwester lies natürlich nicht lange auf sich warten. Kaum hatte sie das Zimmer betreten, einen verachtenden Blick auf mich geworfen und mich ,,Heulsuse" und ,,Mamakind" genannt, da sprang ich wie wild gestochen auf. Die sollte noch ihr blaues Wunder erleben. Ich griff nach meiner Reitgerte, die meine Mutter mir gekauft hatte und drohte ihr damit. Anne schien allerdings unbeeindruckt. Nie hätte sie geglaubt, das ich wirklich zuschlagen würde, aber ich tat es. Ohne zögern und ohne Anstand schlug ich blindlings mit der Peitsche auf sie ein. Meine Schwester schrie, fiel zu Boden und versucht mit Armen und Beinen ihren Kopf zu schützen. Mich packte die Wut! Ich konnte nicht mehr aufhören. Endlich lag sie mir zu Füssen. Endlich war ich die Stärkere und jetzt würde sie jede ,,Heulsuse" und jeden Ton ihrer kränkenden Worte und harten Schläge zurück bekommen. Unbeirrt drosch ich auf sie ein, bis sie erschöpft schnaufend auf dem Boden lag und weinte. Dann rannte ich aus dem Zimmer und versteckte mich hinter dem großen Wohnzimmer Sessel. Was hatte ich nur getan? Ich wollte meiner Schwester doch nicht so sehr wehtun. Was war, wenn sie jetzt zu Mama lief und ihr alles erzählte? Sie würde mich noch mehr hassen, und das schlimmste: Ich hasste mich selber dafür!

Die nächsten tage gingen Anne und ich uns aus dem Weg. Wenn sie sich umzog, konnte ich rote Streifen auf ihrem Körper gesehen, die auch nach Tagen noch gefärbt waren und blutende Spuren von meinem Attentat hinterließen. Es tat mir so unendlich leid, aber sagen konnte ich es ihr nie. Niemals! Denn sie hatte auch nie ein gewissen gehabt, wenn sie meinen Kopf immer und immer wieder auf den Steinfussboden gestoßen hatte. Und niemals hatte sie auch nur einen Funken von schlechtem Gewissen in sich spüren lassen.

Also wollte auch ich diesmal hart bleiben. Und für mich war es schon Strafe genug, von nun an täglich zu Heidi zu müssen. Gott fand immer einen gerechten Weg.

Ich saß an dem kleinen Küchentisch und überlegte angestrengt, welche Dachfarbe unser Haus hatte. War es nun rot oder schwarz? Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Ich ging doch schon mein ganzes Leben lang täglich dort ein und aus, und ich wusste noch nicht einmal, welche Farbe das Dach hatte. Wäre ich nun zu Hause gewesen, hätte ich einfach rausgehen können um nach zu sehen, aber so Heidi betrachtete mein Bild. Heute hatten wir keine schwere Hausaufgabe bekommen. Wir sollten nur unser haus malen. Von außen, und von innen. Das Bild von innen war sehr leicht. Ich brauchte nur die Augen zu schließen und mir vorzustellen, wie ich durch die Räume ging. Dann hielt ich das Bild in meinen Gedanken ganz fest und malte es aus dem Kopf auf. Aber auf das Dach hatte ich wirklich nie bewusst geachtet. Mir wurde ganz warm, weil ich so angestrengt nachdachte, aber es half nichts. Ich wusste es nicht mehr. Also beschloss ich es rot zu malen. Auf Bildern waren alle Häuserdächer rot und es sah auch nicht so langweilig aus. Eifrig begann ich, den bereits vorgezeichneten Umriss auszumalen.

Was so schlimm an Heidi war, konnte ich selber nicht sagen. Sie kochte wirklich gut, sie schlug mich nicht und sie gab sich jegliche Mühe, mir bei den Hausaufgaben zu helfen. Vielleicht war es auch Toby, ihr Sohn. Wir verstanden uns nicht sonderlich gut. Gestritten haben wir uns selten, aber auch nur, weil wir eh so gut wie nichts zusammen machten. Wenn er aus der Schule kam, hatte ich bereits gegessen. Und er verschwand auch gleich wieder. Es war eine Sorte von Jungs, die Mädchen für albern und kindisch hielten, er wäre nie darauf gekommen, mit mir zu spielen. Ich glaube, er war auch etwas eifersüchtig, weil seine Mutter sich auch um mich so kümmerte. Das verstand ich gut, ich wäre es an seiner Stelle auch gewesen. Aber es lag ja nicht an mir. Meinetwegen hätte Heidi mich auch gar nicht beachten können, dann hätte ich wenigstens einen Grund gehabt, meiner Mutter zu erklären, warum ich nicht mehr dorthin wollte.

,,Oh Nein !!!!"

Kaum war ich in die Strasse eingebogen, in der unser Haus stand, da blieb ich auch vor Schreck gleich wieder stehen. Da stand es, so wie es schon seit Jahren da stand und ich es doch eigentlich hätte wissen müssen: Unser Haus mit dem schwarzen Dach ! Wütend klingelte ich an der Tür und stürmte die laut klimpernde Treppe hinauf. Jetzt müsste ich das gesamte Bild noch mal machen. Wenn ich nicht zu Heidi gemusst hätte, wäre das nicht passiert. Gereizt zog ich das Bild aus meinem Ranzen und knüllte den Zettel zusammen. Na dann eben nicht. Und dabei war es so schön geworden. Vielleicht hätte ich es sogar so lassen können, es würde bestimmt niemandem auffallen. Wenn doch sogar ich nicht einmal wusste, welche Farbe das Dach wirklich hatte.

Erst spät schlief ich ein und war noch lange erfüllt von der ganzen Wut, die sich angestaut hatte.

13.

Gespannt saß ich vor dem Fernseher und sah auf den flimmernden Bildschirm. An Heiligabend lief den ganzen Nachmittag über Kinderprogramm und ich konnte von diesen Zeichentrickfilmen nie genug bekommen. Es lief gerade ein wunderschönes Weihnachtsmärchen, wo die Engel ganz viel Mühe hatten, alles rechtzeitig fertig zu bekommen. Ich sah aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich wirklich rötlich gefärbt und am Horizont schien es, als würden tatsächlich die Engelchen Plätzchen backen. Wie alle Kinder freute auch ich mich natürlich am meisten auf die Geschenke. So was gab es nun mal nicht alle Tage. Doch viel mehr freute ich mich darauf, das meine Mutter mein Geschenk auspacken würde. Ich war so stolz darauf, und sie würde sich bestimmt freuen. Sie würde mich loben und dankbar sein, und sie bestimmt verblüfft, wie ich auf so eine großartige Idee kommen konnte. Das war nahezu besser, als selber Geschenke zu bekommen. Als es langsam Abend wurde, stieg die Spannung mit der untergehenden Sonne an. Es wurde früh dunkel, und noch bestand uns dieser alljährliche Kirchenbesuch bevor. Früher war ich oft in der Kirch, aber seit ich zur Schule ging, hat es etwas nachgelassen. Und nach meiner Kommunion, die ich auch noch wohl oder übel hinter mich gebracht hatte, ging ich nur noch ab und zu, um als Messdiener meine dienste zu tun. Zugegebenermaßen machte es mir sogar etwas Spaß, aber nicht, weil ich so gläubig war und all meine Kraft in kirchliche Dienste bringen wollte, sondern weil es einfach gut aussah, wenn ein Kind so etwas freiwillig übernahm. Was tat man nicht alles, um angesehen und gelobt zu werden.

Unsere Gemeinde war ein eingespieltes Team. Da kannte jeder jeden, und meine Oma kam nie in und aus der Kirche , ohne Hunderte von Händen geschüttelt und Grüße verteilt zu haben. Ich kannte die meisten Leute nur vom sehen. Nicht aber ihren Namen. Umso erstaunter war ich jedes Mal, wenn mir jemand mit den Worten" Ach, bist du schon groß geworden" über den Kopf strich. Manche redeten mich sogar mit dem Namen meiner Schwester an, bis jemand sie aufklärte, das ich doch die Jüngere war. Es war immer so. Ich war immer Annes kleine Schwester. Nie sagte jemand zu Anne: ,,Ach, du bist doch die Schwester von der kleinen Barby." Ich sah die Relationen einfach andersrum.

Meine Mutter hatte sich sehr viel Mühe mit dem Festessen gegeben. Der Tisch war schön gedeckt, mit Tischdecke, Kerzen, Blumen, teurem Markengeschier und dem edlen Silberbesteck. Prüfend nahm ich eine Gabel in die Hand. Ob ich wohl schon von allen Gabeln gegessen hatte? Vielleicht hatte ich auch durch Zufall immer die gleich Gabel erwischt und die meisten lagen seit Urzeiten ungebraucht in der Schublade. Möglich war doch alles. Solche und andere Gedanken überlegte ich mir ständig. Was war wirklich gebraucht, und was war bisher von allen Menschen unberührt gewesen? Wenn unter allen Schuhen eine rote Farbe wäre, und diese Abdrücke auf Gehwegen und Strassen hinterlassen würden. Gäbe es dann noch Stellen, die nicht eingefärbt waren? Gab es zum Beispiel in unserer Straße einzelne Flecke, die noch nie betreten würden? Sicher wären diese ganz am Rand und manchmal sprang ich auf dem Gehweg so hin und her, um wirklich auch keinen Fleck auf dem breiten Bürgersteig auszulassen. Meine Phantasie kannte keine Grenzen Die Jahre zuvor hatte ich immer ein Geschenk vor dem Essen auspacken dürfen. Das sollte jetzt anders werden, und etwas enttäuscht, setzte ich mich an den Tisch. Die Geschenke lagen bereits unter dem leuchtenden Baum, den wir alle zusammen am Nachmittag geschmückt hatten. Er war, wie immer, sehr klein gewesen, aber darauf kam es ja nicht an. Die Lichter erhellten das Wohnzimmer und warfen einen himmlischen Schimmer durch den Raum. Schon nach der Vorspeise, eine warme Suppe, die nicht so ganz meinem Geschmack nachkam, war ich pappsatt und wäre am liebsten aufgestanden, um mit der Bescherung anzufangen. Krampfhaft versuchte ich meine Unruhe zu vertuschen, denn Anne saß seelenruhig auf ihrem Stuhl und mampfte ein Bratenstück nach dem anderen. Sie nahm auchöfters nach, und wollte einfach nicht zum Ende kommen. Meine Großeltern waren auch da. Sie verbrachten den Heiligabend oft bei uns und am ersten Feiertag gingen wir dann wiederum zu ihnen. Ich saß meinem Opa gegenüber und meine Gefühle wechselten zwischen halben Lachanfällen und einem ekeligen Ekelgefühl. Er war wirklich schon alt. Wenn er aß, fiel ihm manchmal die Hälfte wieder raus, oder er redete dabei so vertieft, das er gar nicht bemerkte, wie eine Spur von Essensresten an seinem Kinn hängen blieben.

Wenn er wenigstens schöne Geschichten erzählt hätte. Aber nein, mein Opa redete nur davon, wie arm doch die Jugend in seinem Alter gewesen ist. Ich wusste es alles, wir hatten es oft genug in der Schule gehört, und es war schließlich auch nicht das erste mal, das ich mich mit meinem Großvater unterhielt oder zumindest zuhörte, wenn er mit meinen Eltern sprach. Meistens kam es mir allerdings so vor, als würde er ganz allein mit sich reden. Er war sichtlich froh, das ihm jemand zuhörte, und das Menschen da waren, denen er all das zum wiederholten male nahe bringen konnte.

,,Ich hab noch Hunger", brach es aus Anne heraus und sie griff nach der Schüssel mit den Klößen. ,,Anne, so was darfst du nicht sagen. Soll ich dir mal erzählen, was wirklich Hunger bedeutet? Dieses Gefühl hat man nicht, wenn man nach dem dritten Kloß noch einen vierten gerne hätte. Das wirkliche Gefühl von Hunger kannten allerdings einst die Kinder im Krieg. Die hatten wirklich nichts zu essen, und das wochenlang " mein Opa hatte ein neues Stichwort bekommen, um einen seiner entlosen Vorträge zu halten. Anne sah ihn nur mit großen Augen an und zögerte, bevor sie sich doch noch ein weiteres mal den Teller füllte. Ich versuchte, meine Ohren auf Durchzug zu stellen, einfach abzuschalten und die weihnachtliche Atmosphäre zu spüren. Doch ab und zu waren es wirklich schöne und lustige Situationen, die mein Großvater beschrieb. Ich versuchte dann, ihm wirklich das Gefühl zu geben, das ich ihm zuhörte. Was allerdings nicht immer einfach war, denn ansehen konnte man ihn so schlecht dabei. Erst recht nicht, wenn man selber noch beim essen war. Zwischendurch kratzte er sich immer mal wieder an seinem kahlen Kopf und ich sah, wie viele kleine Hautfetzen langsam aber sich auf seinen Teller rieselten. Leise schüttelte ich mich, sah wieder auf meinen Teller und versuchte mich abzulenken, aber die Bilder gingen mir nicht aus dem Kopf. Angeekelt schob ich den Teller von mir und gab zu verstehen, das ich wirklich papp satt war und nicht mehr aufessen konnte.

Wenig später begannen wir auch schon, zusammen den Tisch abzuräumen. Ich half gerne und fleißig mit, dann würden wir schneller fertig werden und zu den Geschenken über gehen können.

,,Daaaaannnnkkkkeeeeee!", schrie meine Schwester verzückt und fiel meinen Eltern um den Hals. Das große Bild war wirklich sehr schön, mir hätte es auch gefallen. Sie würde es bestimmt in unserem Zimmer aufhängen und dann hatte ich ja auch was davon. Vorsichtig griff ich in ihre Richtung um zu verstehen zu geben, das ich es auch einmal halten wollte, aber sie gab es mir natürlich nicht. Sie stellte es neben den Sessel, so das ich das Motiv nicht mehr sehen konnte und stand auf, um das nächste Geschenk ranzuholen. Bei uns wurde alles hintereinander gemacht. So blieb die Spannung besser erhalten und jeder konnte in Ruhe zusehen, wie die anderen ihre Geschenke auspackten. Insgeheim hoffte ich, sie würde keines der Geschenke für mich heraus greifen. Die sollten bis zum Ende liegen bleiben und ich würde den krönenden Schluss bekommen. Doch es war natürlich für mich. Neugierig nahm ich das kleine Päcken entgegen und legte es auf meinen Schoß. Ich überlegte, was es wohl sein könnte. Vielleicht eines der bunten Ponys, von denen ich bereits mehrere hatte. Die meisten hatte ich mir von meinem Taschengeld gekauft, und die waren etwas besonderes. Schließlich musste ich lange dafür sparen. Aber dafür war es viel zu eckig und hart. Nein, ganz hart war es ja gar nicht. Nur die untere Seite. Von oben fühlte es sich weich an. Es waren bestimmt zwei Dinge, die in einem Päcken zusammen eingepackt waren. Es war nicht zu übersehen, das es von meinen Großeltern kam. Nur auf ihren Paketen stand unser Name drauf . Vorsichtig strick ich über das, in einem dunkelgrünen Weihnachtspapier eingepackte Geschenk.

,,Nun pack es doch endlich aus", drängte meine Schwester und ich sah sie grinsend an.

Ich wollte es nicht auspacken, ich wollte es weiterhin in meinen Händen halten und überlegen, was wohl drin war. Natürlich war ich sehr gespannt, aber noch viel spannender war es doch, das ganze so lange es ging herauszuzögern. Außerdem wollte ich mich auf etwas festlegen, was ich glaubte, was drin war, um dann zu sehen, ob es tatsächlich stimmte. So lange würde meine Familie nicht warten wollen, das war mir klar. Also fing ich ganz langsam und vorsichtig an, die Tesafilm streifen abzuziehen. An der einen Seite hätte ich schon reinsehen können, aber ich drehte es, und begann genauso langsam erst mal die andere Seite zuöffnen. Verblüfft hielt ich letztendlich ein großes Buch und einen Pullover in der Hand. Zuerst sah ich mir den Pullover genau an. Er war wirklich schön, aber dennoch war ich etwas enttäuscht. Damit konnte man nicht spielen. Und außerdem war doch Kleidung etwas, was meine Mutter uns zwischendurch kaufte, wenn wir es benötigten. Es war für mich quasi eine Geschenkverschwendung, denn wenn wir zwischendurch immer mal wieder Kleidung bekamen, konnten wir doch zu Weihnachten wenigstens etwas anderes bekommen. Etwas, wo ich mich drüber freute, was für mich von Nutzen war, wie Spielsachen eben. Ein leichtes Lächeln brachte ich über meine Lippen und warf meiner Oma ein ,,danke" entgegen. Sie fragte natürlich gleich nach, ob sie das richtig ausgesucht hatte und ob mir der Pullover gefiel. Also gab ich ihr ihre Befriedigung und stimmte allem zu. Was anderes wollte sie doch gar nicht hören, und bevor mein Opa wieder mit dem absehbaren Vorträgen anfing, hielt ich lieber meinen Mund. Mit etwas mehr Hoffnung, nahm ich nun das Buch in die Hand.

Es war wirklich sehr groß und schwer, und ich ahnte gleich, das es keines der geliebten Kinderbüchern war, wo es sich um Pferde drehte. Ich las den Titel: Chronik der Tierwelt Eine Chronik der Tierwelt? Was zum Teufel ist denn eine Chronik? Ich hatte es noch nie gehört, aber ich konnte mir vorstellen, das es keine Geschichte war. Es war ein Sachbuch ! Meine Oma schenkte mir doch glatt ein Sachbuch. Verstand sie denn nicht, das ich Geschichten lesen wollte? Phantasien interessierten mich nun mal mehr als Tatsachen. Trotzdem schlug ich die erste Seite auf und suchte nach einem Inhaltsverzeichnis. Es stand bestimmt auch etwas über Pferde drin. Doch ich kam nicht dazu, mir das Buch erst mal genau anzusehen, mein Opa nahm es mir aus der Hand. ,,Es ist wirklich hilfreich für Schule und besonders Biologie und andere Naturwissenschaften ", begann er. Ich hörte kaum zu, überlegte kurz, wofür ich solch ein Buch brauchte, zumal ich noch gar kein Biologie in der Schule hatte. Und ich konnte mir kaum vorstellen, das jemals irgendwo verlangt wurde, das ich weiß, wie ein Silberfisch seine Jungen zur Welt brachte. Es war wirklich zum heulen. Dennoch beschloss ich, mir die ganzen Bilder des Buches mal genau anzusehen. Vielleicht konnte ich das ein oder andere ja auch mal versuchen abzumalen. Für etwas anderes würde es wohl keinen Nutzen haben. Erst später begann ich, das Buch als Unterlage zu benutzen, wenn ich in meinem Bett malen oder schreiben wollte. Es blieb also nicht ohne Nutzen, nur das dieser bei mir nicht allzu selten entfremdet wurde.

Jetzt endlich war ich an der Reihe eines der Geschenke unter dem Baum wegzunehmen und dem Empfänger zu überreichen. Ich griff nach meinem Geschenk für meine Mutter. Es noch unberührt unter dem Baum und mein Herz fing schneller an zu schlagen, als sie es mit großen Augen entgegen nahm. Das ganze war wirklich schwer und ich musste es mit beiden Händen anfassen, um es meiner Mutter zu reichen. Sie fing sofort an, es auszupacken und bereits, nachdem sie eine Seite geöffnet hatte schrie sie: ,,Ich weiß es, ich weiß es !" Und schließlich hielt sie das Nudelholz in ihrer Hand. Ich wusste genau, das sie so was nicht besaß, denn jedes Mal, wenn sie etwas backen wollte, hatten entweder meine Schwester oder ich von meiner Oma extra eines holen müssen. Und es war nicht irgendein Nudelholz. Es war eines aus echtem Marmor. Und meiner Meinung nach aus wunderschönem Marmor, es war rot-braun gefärbt und hatte eine unregelmäßige Schattierung, die sich beim drehen wundervoll zu verändern schien. Sie sprang auf und gab mir einen dicken, feuchten Kuss auf die Wange. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und sie schrie immer wieder fassungslos: ,,Ich hab ein Nudelholz " Es war das schönste Weihnachten, an das ich mich erinnerte. Trotz aller Enttäuschungen und Vorträge hatte ich doch den wichtigsten Menschen eine Freude gemacht. Und das war mir viel mehr wert als alle hungrigen Kinder im zweiten Weltkrieg !

14.

Ich verließ gerade das Schulhaus, als die Demütigungen anfingen. Ich versuchte ungestört weiter zu gehen, die anderen nicht zu beachten, aber sie ließen mich nicht in Ruhe. Immer und immer wieder wurde ich geschubst. Sie zogen mir an den Haaren und riefen spöttische Sprüche.

Seht nur wie dumm

Klein Barby bringt sich um Endlich ist sie weg

Und verreckt

Ich wusste nicht, was ich ihnen getan hatte. Was hatte ich falsch gemacht? Ich versuchte stark zu sein, ich wollte ihnen nicht die Befriedigung geben, nach der sie suchten. Sie würden mich nicht zum weinen bekommen. Aber sie schafften es Als ich merkte, wie ich die Tränen nicht mehr halten konnte, begann ich zu laufen. Immer schneller und schneller. Angst stieg in mir hoch, sie würden mich kriegen. Sie würden mich einholen und schlagen, sie würden mich treten und beleidigen Aber sie waren viel zu langsam.

Die Angst hatte mir Kraft gegeben, sie ließ mich schneller als ein Hund laufen und eh ich mich versah stand ich auch schon in unserer Einfahrt. Ich wischte mir mit einem Ärmel über die Augen, damit meine Mutter nicht sehen würde, dass ich geweint hatte, probte noch schnell ein Lächeln und stieg dann die Treppe zu unserer Wohnung hinauf.

,,Na, wie war's in der Schule?", begrüßte mich meine Mutter. ,,Gut."

,,Hast du Noten bekommen?" ,,Nein."

,,Was hattet ihr denn für Fächer?"

,,Die üblichen", und um weiteren unnötigen Fragen aus dem Weg zu gehen, ging ich in mein Zimmer. Erleichtert sah ich, das meine Schwester noch nicht wieder da war und lies mich auf meinem Schreibtischstuhl nieder. Was sollte ich jetzt tun? Vor dem essen war noch eine halbe Stunde zeit, und ich beschloss, die bleibenden Minuten schon mal für meinen Hausaufgaben zu nutzen. Ich kramte Hefte und Bücher aus meinem Ranzen und breitete es auf meinem Tisch auf. Die Aufgaben waren leicht. Ich hatte selten Schwierigkeiten damit.

Als ich gerade mitten in einer Textaufgabe steckte und sie ein drittes Mal zu lesen begann, um die Zusammenhänge zu verstehen, betrat meine Schwester das Zimmer. Ich grüßte sie, aber sie brachte nur ein kleines ,,Streber!" heraus. Verblüfft sah ich sie an. ,,Ich bin kein Streber!"

,,Doch bist du, sieht man doch."

,,Nein, ein Streber schreibt nur Einsen, und das tu ich nicht."

,,Ein Streber denkt an nichts anderes, als an Schule. Er schleimt bei den Lehrern. Auf die Noten kommt es nicht an."

So war das also. Nur weil ich möglichst schnell mit meinen Hausaufgaben fertig werden wollte, war ich ein Streber? Aber was war so schlimm daran? Streber war doch nur eine Bezeichnung für eine Person, und keine Beleidigung, oder? Nachdenklich wand ich mich wieder meiner Aufgabe zu und ließ die Feststellung meiner Schwester so stehen. Sollte sie ruhig glauben, sie habe es mal wieder geschafft mich von ihrer Weißheit zu überzeugen und mich entgültig unterdrückt zu haben.

Nach dem Essen rief ich sofort bei Kathrin an. Seit dem wir nicht mehr in die Grundschule gingen, sahen wir uns seltener. Sie hatte auf ein anderes Gymnasium gewechselt, da ihre Mutter das in unserer Nähe nicht für gut genug hielt und ihrer Tochter doch eine bessere Schullaufbahn bieten wollte. Oft genug hatte Kathrin mir das auch vorgehalten, und damit geprahlt, wie beliebt und bekannt ihre Schule doch wäre. Der Ruf meiner Schule hingegen ließ echt zu wünschen übrig, aber schließlich lernten wir auch dort Dinge, die wichtig für unser Leben waren.

Kaum hatte ich den Hörer wieder aufgelegt, packte ich auch schon meine Tasche mit ein paar Plastikponys zusammen und lief zu meiner Freundin. Wir hatten uns schon ein paar tage nicht gesehen und sieöffnete mir mit einem breiten Grinsen die Tür. Ich hatte meine Jacke gerade ausgezogen, als sie mich am Ärmel hielt und die Treppe zu ihrem Zimmer runter drängte. ,,Komm mit, ich muss dir unbedingt etwas zeigen." Ich lief hinter ihr her und überlegte, was es wohl sein könnte. In ihrem Zimmer sah ich es. Sie hatte zwei Meerschweinchen bekommen und ihre Mutter hatte einen wunderschönen großen Stall gebaut. Er bestand aus zwei Etagen und die kleinen Quiker liefen aufgeregt und verschüchtert von einer Ecke zur nächsten. ,,Das sind Daya und Nicky. Die mit dem Beigen Fell ist meine, das ist Daya.", erklärte sie mir undöffnete das Türchen. Ich kannte mich mit Meerschweinchen gut aus. Meine Schwester hatte lange welche gehabt, eigentlich seit dem ich denken kann. Und ich liebte die kleinen Tiere fast so sehr wie die Ponys, mit denen ich meine gesamten Ferien verbrachte. Aber seit dem unser letztes Meerschweinchen gestorben war, wollte meine Schwester keines mehr. Der Käfig war im Keller gelandet und hatte bestimmt schon Staub angesetzt. ,,Darf ich sie auch mal halten?" Vorsichtig nahm ich Daya auf den Arm und streichelte ihr weiches Fell. Sie war wirklich süß, und gefiel mir weitaus besser als Nicky. Nicky war ein dreifarbiges Meerschweinchen, wie ich sie schon Dutzend male gesehen hatte. Das Meerschweinchen meiner Freundin aber hatte ein helles Fell, das sich mit weiß und einem sandfarbenen Hellbraun abwechselte und im Licht glänzte. Sie waren beide noch sehr jung und Kathrin erzählte gleich, wie sie die beiden von einem Züchter gekauft hatten. Natürlich waren die nicht aus einer Tierhandlung, wo die Tiere eng gehalten wurden und nur darauf warteten, das jemand kam und einen überteuerten Preis für die geschundenen Tiere zahlten. So was unterstützte doch Kathrins Mutter nicht und niemals wäre sie auf die Gedanken gekommen, Meerschweinchen woanders als bei einem seriösen Kleintierzüchter zu kaufen, wo die Tiere in Gruppen lebten.

Kathrin nahm mir ihr geliebtes Tier ab, und gab mir das Meerschweinchen ihres Bruders. Mit ihnen auf dem Arm gingen wir hinaus in den Garten, um sie ein wenig Graß fressen zu lassen. Das war ja sehr gesund für sie, und ihre Mutter hatte es natürlich nicht versäumt, auch noch einen kleinen verschlag für den Garten zu bauen.

So was hatte es bei uns nie gegeben. Unsere Meerschweinchen waren fast nur in der Wohnung gewesen, da mein Opa nicht wollte, das sie ihre kleinen Geschäfte auf seinem englischen Rasen verrichteten. Und außerdem fing er damit an, diesen mit allen möglichen Chemikalien zu füttern, und das wollten wir den Tieren wirklich nicht zumuten. Eine zeitlang sahen wir den mampfenden Meersäuen noch zu, bis wir uns schließlich abwandten und anfingen, Pläne für eine Mädchenband zu schmieden...

,,Och bitte Mami, ich räum auch immer mein Zimmer auf", versprach ich ihr und hoffte, sie so überzeugen zu können. ,,Und wer darf den ganzen Mist wieder sauber machen? ICH?" ,,Nein, bestimmt nicht, ich kümmere mich ganz allein darum, es sind dann meine Meerschweinchen." Ich wollte unbedingt wieder ein paar Freunde in meinem Zimmer haben. Am besten ein Pärchen, so wie meine Schwester damals. Die hatten sogar ein paar Mal Junge bekommen, aber leider sind die meisten sehr früh gestorben. Ich schwor mir, besser aufmeine Tiere acht zu geben als meine Schwester und es war doch wohl klar, das ich mehr Verantwortung für die Tiere tragen könnte als Anne es damals getan hatte. Ich bettelte noch ein bisschen, bis meine Mutter schließlich sagte, sie würde es sich überlegen. Das war immerhin besser, als ein Nein, und ich wusste, sie würde mir den Wunsch nicht abschlagen können. Meine Mutter liebte Tiere genauso wie ich. Nur war es ihr auch nie erlaubt, eines zu halten. Eine Zeitlang hatte sie mal einen Hund gehabt, den sie regelrecht vor ihren Eltern verstecken musste. Ich liebte diese Geschichte, und ich hasste meine Großeltern dafür, das sie diesen Hund meiner Mutter wegnahmen. Doch irgendwann würden wir aus der Wohnung ausziehen, und dann konnten wir uns so viele Tiere halten, wie wir wollten. Vielleicht würde ich dann auch endlich ein eigenes Pony bekommen, wer weiß.

Als ich in meinem Bett lag und wach die Decke anstarrte, überlegte ich, wie ich die Meerschweinchen wohl nennen würde. Mir fiel einfach nichts gescheites ein, und kaum hatte ich die Augen geschlossen, schlief ich auch schon.

Seht nur wie dumm

Klein Barby bringt sich um Endlich ist sie weg

Und verreckt

Immer und immer wieder schallten die Rufe durch meine Träume. Ich schlug um mich, schrie und wachte schließlich schweißgebadet unter Tränen auf. Verwirrt blickte ich um mich, stand auf und sah meine Schwester seelenruhig in ihrem Bette schlafen. Leise tapste ich zu meinen Eltern und quetschte mich zwischen sie in das große Bett. Zu müde, um es mitzubekommen, und zu fest am schlafen, um mich umzuschicken bewilligten sie mir gnädig einen Platz und ein Stück der Decke. Ich kuschelte mich nah an meinen Vater, spürte die schützenden Arme und schlief endlich beruhigt ein.

15.

Was wollten die bloß alle von mir? Hatte ich ihnen denn wirklich etwas so schreckliches angetan? Oder war ich es einfach nicht wert, so behandelt zu werden, wie alle anderen auch? Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich allein den Weg nach Hause antrat. Wieso konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? War ich so hässlich? Die Jungs aus meiner Klasse nahmen mich ständig als Zielscheibe für ihr Aggressionen und ich konnte mich einfach nicht wehren. Ich war einfach nicht ,,cool" genug.

Ich hörte, wie eine Gruppe von Jugendlichen hinter mir her gingen und lau lachten. Sofort bekam ich ein ungutes Gefühl und bezog alles auf mich. Vielleicht starrten sie auf meinen dicken Hintern und lachten darüber. Oder meine Haare lagen zu komisch. Langsam und vorsichtig strich ich meine Haare glatt, aber das Gelächter hörte einfach nicht auf. Ich hasste es, vor ihnen zu gehen. Wenn ich doch nur dahinter wäre, dann würden sie mich nicht sehen und ich konnte in Ruhe hinterher schleichen und sie beobachten. Also kniete ich mich zu Boden und tat, als wurde ich meinen Schuh fester zuschnüren. Als die Truppe an mir vorüber war stand ich langsam auf und setzte meinen Weg fort. Sie lachten natürlich weiter, und mir war klar, das es wieder mal nur eine Spinnerei von mir gewesen ist. Sie hatten mich bestimmt gar nicht wahrgenommen.

Ermutigend dachte ich an Kathrin. Es war so schön, wenigstens sie noch zu haben und zu wissen, das ich immer ihre Freundin sein würde. Aber sie war nun mal nicht mehr auf meiner Schule. Sie konnte mir nicht beistehen, wenn wieder jemand mit einer Zirkelspitze auf mich los gehen würde. Und ich wusste, das sie jetzt auch viel Zeit mit ihren neuen Freundinnen verbrachte. Wäre ich doch mit ihr auf die Schule gegangen, dann hätte auch ich Freunde gefunden.

Natürlich gab es auch welche in meiner Klasse, mit denen ich mich gut verstand. Aber es war alles nur oberflächlich. Sie waren auch nicht bereit, sich für mich einzusetzen. Wahrscheinlich waren sie doch nur froh, das sie es nicht getroffen hat, und einer musste ja der Dumme sein. Ein Mädchen aus der Parallelklasse hatte mich mal gefragt, wer denn der Sündenbock bei uns ist. Und stolz erzählte sie mir, wie alle auf einen kleinen dicken Jungen rumhackten, der ihren Erzählungen nach wirklich dumm und ekelig war. Aber keine der Verhaltensweisen, die sie von diesem Jungen aufzählte, bezog ich auf mich. Denn schließlich war ich doch weder dick, noch hatte ich eine lustige Hakennase oder popelte mitten im Unterricht.

Ihre Frage beantwortete ich nicht. Was hätte ich darauf schon sagen sollen? ,,Ich bin der Sündenbock. Alle hacken auf mir rum, weil ich so widerlich gute Noten schreibe und mich einfach nicht wehren kann!" Nein, das konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Also sagte ich einfach nichts, und nickte nur stumm.

Als ich an diesem Nachmittag nach Hause kam, begrüßte mich meine Mutter gleich grinsend. ,,Was ist?", fragte ich sie. Aber sie lächelte nur. Schließlich wies sie mit einer Hand in die Ecke, wo unser Fernseher stand. Und da sah ich es! Meine Mutter hatte doch tatsächlich einen Videorecorder gekauft. Überglücklich lief ich hin, um ihn mir genauer anzusehen. Ich kannte zu dem Zeitpunkt keine Familie mehr, die solch ein Gerät nicht besaß, und endlich würden auch wir keine Außenseiter mehr sein. Ab und zu hatte ich mir mal ein Videofilm bei meiner Tante angesehen, aber das war natürlich keine Lösung auf Dauer gewesen. Ich wollte natürlich sofort ein Video ansehen, aber meine Mutter meinte, das ich dazu noch genug Gelegenheit haben werde. Also setzte ich mich an den Mittagstisch und begann ein paar Nudeln in mich hineinzustopfen.

Am späten Nachmittag kam Kathrin endlich vorbei. Sie hatte meiner Meinung nach sehr viel mehr für die Schule zutun als ich, und sie begriff es auch alles viel langsamer. Manchmal brachte sie sogar ihre Hausaufgaben mit und ich half ihr dabei. Besonders wenn es um Matheaufgaben ging, war sie nicht gerade die hellste Leuchte. Ich brauchte mir nur kurz ansehen, an welcher Stelle sie waren und mir eventuell ein paar Merksätze davor durchlesen, um selbst Aufgaben lösen zu können, die unser Lehrer mit uns noch nicht bearbeitet hatte. Sie vertraute mir in der Sache völlig, und schrieb alles so nieder, wie ich es ihr diktierte. Und selbst wenn ich einmal einen Rechenfehler machte, nahm sie es mir keineswegs übel. Schließlich hätte sie erst gar nicht mit diesem Rechenweg anfangen können. Stolz erzählte ich ihr, das wir nun auch in Besitz eines Videorecorders waren und sofort sprang sie auf und befahl mir, einen guten Film einzulegen. Begeisternd stimmte ich zu. Da ich nicht viele Videos besaß und auch noch nie einen aufgenommen hatte, einigten wir uns auf einen Film, den wir beide schon kannten. Ich hatte ihn mal zu einem Geburtstag bekommen und mich nicht getraut, dem Überbringer zu sagen, das ich ihn mir nicht angucken konnte. Aber das war ja jetzt anders.

Zusammen suchten wir die Kassette in den Schränken. Wenn man so was nie gebraucht hatte, dann verschwand es immer schnell ganz hinten. Wir hatten die Suche fast aufgegeben, bis ich ihn schließlich im Regal stehen sah. Dort stand er wirklich sichtbar und lachend schlugen wir uns mit der flachen hand gegen die Köpfe, weil wir ihn nicht gesehen hatten. Im Wohnzimmer saß meine Schwester mit ihrem Freund. Sie hatte schon einen richtig festen freund, und ich verstand einfach nicht, was sie an den Jungs so interessant fand. Und natürlich, was die Jungs an ihr so interessant fanden. In der letzten zeit war sie ziemlich dick geworden, hatte eine Unmenge an Kilos zugenommen und strotzte nur so vor Fett. Trotzdem fand ich sie recht hübsch.

Die beiden saßen am Wohnzimmertisch und unterhielten sich. Ich fand es einfach nur widerlich, wie sie da auf seinem Schoß war und beide ununterbrochen ihren Speichel austauschten. Mir war es etwas peinlich, das Kathrin das sah, aber ich konnte ja nicht für meine Schwester. ,,Wir wollen ein Video gucken, ihr könnt ja so lange ins Kinderzimmer gehen", schlug ich den beiden vor, aber sie beachteten mich nicht.

Als ich mich nach einigen Minuten noch einmal laut räusperte, ließen sie endlich von einander ab und sahen zu mir auf.

,,Was willst du?"

,,Kathrin und ich würden gerne ein Video sehen. Ihr könnt mitgucken, oder auch ins Kinderzimmer gehen." Ich hielt meinen Vorschlag für durchaus fair, doch ich hatte nicht mit der Arroganz meiner fiesen Schwester gerechnet.

,,Nö, wir bleiben hier, und das Video bleibt aus. Wir wollen uns unterhalten."

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder ihrem Freund zu und ließ mich stehen. Ich fasste es nicht, und beschloss, diesmal nicht locker zu lassen. Es gab schließlich keinen nennenswerten grund, warum wir nicht unseren Film sehen könnten. Kathrin war wieder ins Kinderzimmer gegangen, um sich dort nicht einzumischen.

,,Es ist doch wohl kein Problem, das Gespräch in einem anderen Zimmer fortzusetzen.

Schließlich habe ich eine Freundin da und wir können nun mal nicht woanders das Video sehen als hier."

,,Ist mir doch egal, wir waren zuerst hier und wir bleiben hier." Meine Schwester war wirklich gemein. Wir diskutierten noch eine Weile und schließlich ging ich ohne Kommentar zum Fernseher und schaltete ihn ein. Ich dachte, sie würden von alleine gehen, wenn sie sahen, das es uns nicht störte, das sie mit im Raum waren. Aber dem war natürlich nicht so. Kaum war der Fernseher eingeschaltet, war er auch schon wieder aus. Meine Schwester hielt wütend die Fernsteuerung in der Hand und sah aus, als wäre sie kurz davor, mir diese um die Ohren zu schmeißen. Deprimiert ging ich zurück in mein Zimmer und sagte Kathrin, das wir ein anderes mal das Video ansehen müssten. In unserem Haus ging wirklich nichts mehr mit rechten Dingen zu und erst recht nicht mit fairen Mitteln. So sehr ich mir auch Mühe gab, und so gut ich auch argumentierte, bei meiner Schwester ging es allein um das Prinzip. Und von Prinzip her war sie nun mal eindeutig die Ältere und somit auch Stärkere. Also überlegten wir uns ein neues Spiel. Obwohl wir beide schon auf eine weiterführende Schule ging, spielten wir noch mit unseren Puppen und Ponys. Ich fand auch nie etwas schlimmes daran, denn schließlich machte es uns doch beiden eine Menge Spaß. Trotzdem wusste ich, das andere es für mein Alter viel zu kindisch hielten. Wenn mal ein Mädchen aus meiner Klasse zu Besuch war, was äußerst selten vorkam, dann versteckte ich all meine Spielsachen und wir saßen uns den ganzen Nachmittag gegenüber und unterhielten uns. Ich hatte mich jedes Mal schrecklich gelangweilt, und war auf einen weiteren Besuch meisten gar nicht mehr aus. Es reichte doch, wenn wir uns in der Schule sahen. So konnte ich wenigstens meine Freizeit so nutzen, wie mir es gefiel und ich war froh, das wenigstens Kathrin noch genauso dachte.

Wir hatten einen kompletten Reiterhof aufgebaut. Mit Büchern und alten Bausteinen stellten wir Ställe auf und zäumten ein paar Teppichliesen ein, die den Reitplatz darstellen sollten. In den Schubladen waren richtige Zimmer für die Puppen. Aus alten Stoffresten hatten wir kleine Decken und Kissen genäht und manchmal malten wir sogar winzig kleine Schulhefte für die Kinder. Die machten sie dann zusammen auf dem großen Reitplatz oder in der Scheune, wo alle Sättel aufbewahrt wurde. Meine Mutter hatte mir oft gesagt, das ich endlich mal aufräumen sollte, man könne gar nicht mehr durch das Zimmer gehen, ohne etwas umzustoßen. Aber das ging einfach nicht. Ich hatte doch alles mit Mühe aufgebaut und es musste auch so stehen bleiben. Sonst hätte ich von vorne anfangen können. Und man konnte doch nicht einfach ein ganzes Stallgebäude abreißen lassen, nur weil einmal gesaugt werden sollte. Es war nur so schwer, den Erwachsenen das klar zu machen.

Wenn meine Schwester mal wieder mit skrupellosem Elan und der Energie eines explosiven tollpatschigen Elefanten durch das Zimmer gerannt war, dann sah es eh immer auf meinem Reiterhof aus, wie nach einem Erdbeben und ich brauchte Stunden, um alles wieder an seinen geordneten Platz zu bringen. Manchmal wurde der Hof dann einfach renoviert, oder gar umgebaut. Unsere kleinen Reiterhof-Geschichten waren also nicht sonderlich wahrheitsgetreu, aber immerhin konnten wir uns für jedes Chaos, das meine Schwester verursachte, eine sachgemäße Erklärung geben.

Ich überlegte, ob ich meiner Mutter davon erzählen sollte, was Anne wieder getan hatte. Es würde ihr nur wiederum mehr grund geben auf mir rumzuhacken und mich fertig zu machen, wenn die Erwachsenen nicht da waren. Aber dennoch hielt ich es für sinnvoll. Sie würde Anne mal gehörig die Meinung sagen, und klarmachen, das es wirklich keinen grund gab, warum wir das Video nicht hätten sehen können. Schließlich war sie kein Einzelkind, auch wenn sie es sicher gerne gewesen wäre.

Als ich abends ein bad nahm, betrachtete ich meinen Körper. Meine Brust war noch richtig flach, nicht so hügelig wie bei Anne. Enttäuscht versuchte ich, ein wenig Fett an die richtige Stelle zu schieben, aber dem war leider nicht nachzuhelfen. Ach, das würde auch noch kommen. Und eigentlich war ich auch froh, das ich nicht aussah, wie meine große Schwester. Wir hatten wirklich gar nichts gemeinsam. Nichts von Äußerlichen und erst recht nicht vom Charakter. Und ich war mir sicher, das ich mich niemals so zum schlechten ändern wollte, nur um meiner Schwester ähnlicher sein zu können.

Frisch gebadet lies es sich viel weicher unter die warme Decke kuscheln und ich stellte mir vor, ob sich die weißen Wolken am Himmel wohl genauso anfühlten. Sie sahen oft so aus, als könnte man ohne Probleme auf ihnen tanzen und sich sicher auf ihnen fallen lassen. Als ich noch eine Weile so dalag, stand ich auf, um mein erstes Gedicht zu schreiben. Meine Gedanken waren beflügelt, von allen Enttäuschungen die sich an diesem Tag breit gemacht hatten und ich versetzte mich in eine schönere Welt. Es war meine Welt, in der es keine große Schwester gab, keine gemeinen Mitschüler und erst recht keine Erwachsenen, die von meinen Träumen nichts verstanden. Ich schrieb lange einfach all meine Gedanken auf, formte sie zu fantastischen Worten und es schien wirklich, als würde ich tatsächlich hoch oben auf einer Wolke sitzen und würde ganz allein die Welt durchschauen können.

Als ich diese Traumwelt betrat, ahnte ich noch nicht, zu was es erst einmal führen würde, wenn ich älter werde und ich hatte keine Ahnung, das dieses schöne Gefühl der Freiheit, mir die Schattenseiten der Realität nur noch mehr verdunkelten und ich sehr bald wirklich zugrunde gehen würde

16.

Ich lief durch einen Wald. Der Wind zerzauste mein Haar und ich rannte so schnell ich konnte, zwischen den Bäumen entlang. Verängstigt sah ich mich nach meinen Verfolgern um. Wo waren sie geblieben? Ich traute mich nicht, stehen zu bleiben oder auch nur eine kleine Verschnaufpause zu nehmen. Zu dicht waren sie mir auf den Versen. Und ich hörte, wie sie unerbittehrlich näher kamen. All diese lauten lachenden fiesen gemeinen Gesichter, die mit heraustropfenden Speichel nur danach lechzten, mich erniedrigt und weinend am Boden zu sehen. Vorne weg meine Schwester. Sie hatten mich eingeholt. Stießen mich zu Boden und lachten sich halb tot über meine Angst. Annes Augen waren weit aufgerissen, rot unterlaufen und in ihnen war nur noch der pure Hass zu sehen. Ich schrie, so laut ich konnte. Ich schrie einfach drauf los und versuchte mich gegen die harten Stiche und Tritte zu wehren, die sie mir verpassten. So sehr ich mich auch anstrengte, und den Schmerz, der mir meine Kehle zu schnürte nicht zu beachten wagte, umso leiser waren meine Schreie nur zu hören. Ja, sie gingen sogar richtig unter in dem alles übertönenden Gelächter meiner Feinde. Blutrünstige Augen starrten mich an und ich fing an, zu beten. ,,Lieber Gott, bitte lass es vorbei gehen, lieber Gott, bitte lass es vorbei gehen, lieber Gott, bitte lass es vorbei gehen..." sagte ich leise und schnell immer wieder vor mich hin. Und auf einmal befand ich mich in einem tiefen See. Ich konnte noch gerade stehen und sah, wie meine Schwester mit anderen Kindern fröhlich umherschwammen. Verwirrt sah ich mich um. Es schien ein warmer Sommertag zu sein, die Sonne schien hell, viel zu hell. Ich hielt geblendet die nasse Hand vor die Augen und suchte nach einem rettenden Ufer. Wenn ich nicht sofort an das Ufer gelangen könnte, müsste ich bestimmt sterben. Die anderen Kinder waren schneeweiß, strahlten ein blendendes Licht aus und ihr Gelächter drang immer noch unerbittehrlich durch meinen Kopf. Panik packte mich und ich strampelte wie wild, um mich fortbewegen zu können. Doch das Wasser rührte sich nicht, es gab nicht unter meinen Bewegungen nach und lies mich weiter schwimmen. Es war wie eine feste und dennoch flüssige Masse zugleich. Und je mehr ich zu strampeln begann, umso wiederstandskräftiger wurde es. Bis ich schließlich erschöpft aufgab und mich von dem sumpfartigen, und denn noch klarem Wasser bedingungslos einhüllen lies.

,,Barby, wenn du stehen bleibst, ertrinkst du. Und wir werden es nicht bemerken, sieh nur, wie fröhlich wir umherschwimmen ". Meine Schwester stand ein paar Meter weiter weg und winkte mir zu. Sie lachte. Ein breites Lachen war auf ihrem Gesicht verteilt und sie schien nicht in kleinster Sorge um mich zu sein. Ich schrie, sie solle Hilfe holen, ich würde es nicht schaffen, aber wieder waren meine Worte kaum zu hören. Erneut nahm ich all meine Kraft zusammen und versuchte an das Ufer zu gelangen. Doch ich sah es nicht mehr. Die Sonne schien viel zu hell und von dem lachen meiner Schwester ging ein unwiderruflicher heller Schein aus, der mir mein Augenlicht nahm. Todesangst stieg in mir hoch und ich vergaß allen Mut und all meine Lebenslust.

In letzter Sekunde, als mein Kopf schon lange unter Wasser gesunken war, hielt eine schützende hand meinen Kopf hoch. Sie zog mich aus dem Wasser und ich breitete die Arme aus, um davon zu fliegen. Ängstlich flog ich über den Köpfen der Anderen hinweg und ich sah, wie meine Schwester betrübt an der Stelle stand, wo ich untergegangen war. Tränen liefen über ihre Wangen und sie sah hilflos und verloren aus. Immer und immer wieder, rief sie nach meinem Namen. Was war nur geschehen? Ich rief ihr zu, das ich doch lebte, und hier oben war. In der Sicherheit, des weiten Windes doch sie hörte mich nicht mehr Tränenüberströmt und mit laut pochendem Herzen wachte ich schließlich auf. Meine Bettdecke war von meinem Schweiß durchnässt und ich brauchte eine zeit um zu realisieren, das alles nur ein Traum gewesen war. Nur ein böser Traum, ohne jegliche Bedeutung. Ich lebte wirklich noch, nichts von alledem war geschehen und beruhigt legte ich mich zurück auf mein Kissen. Ich schielte nach dem unteren Bett. Meine Schwester schlief noch. Sie sah glücklich und zufrieden aus und schien nichts von alledem, was ich in den letzten Minuten durchgemacht hatte, mitbekommen zu haben. Ich warf einen kurzen Blick auf den Wecker. Es blieben mir noch 3 Stunden, bis ich aufstehen und zur Schule müsste. Also versuchte ich noch ein wenig zu schlafen.

Müde saß ich am Frühstückstisch und krümelte mit meinem Brot rum. Ich fühlte mich wirklich nicht gut. Und ich fand mich außer Stande, zur Schule zu gehen. Mein Vater würde das nicht durchgehen lassen, das war mir nur allzu klar. Und was sollte ich ihm auch für eine Erklärung geben? Ich hatte einen Alptraum, na und? Den hat jeder mal, und das hat doch nichts zu bedeuten. Es waren nur wirre Gedanken, die nichtssagend nachts durch die Träume wanderten. Also versuchte ich, das ganze zu verdrängen und mir schönere Gedanken auszumalen. Es würde schon gehen.

Mit weichen Knien und zitternden Händen stand ich vor der großen Karte und suchte vergeblichst nach dem Rhein. Mein Gott, das konnte doch wirklich nicht so schwer sein. Die große Deutschlandkarte hatte ich doch schon oft gesehen, und ich hätte ihm blind eine der bekanten Städte, und seien sie auch noch so klein, darauf zeigen können. Warum musste es unbedingt ein Fluss sein? Es gab so viele davon und ich hatte wirklich keine Ahnung, wo der lang fließen sollte. Zögernd wanderte mein Finger von einem Fluss zum nächsten und ich suchte, nach einer Beschriftung. Doch vor meinen Augen verschwamm alles. Hinter meinem Rücken hörte ich das Geflüster, und ich spürte, wie die Hälfte der Klasse mich grinsend und besserwisserisch anstarrte. Jetzt würde mich wirklich nichts mehr retten. Mein Herz pochte wie wild, als ich beschloss, auf den größten aller Flüsse zu zeigen. Und als dann die Klasse in ein lautes Gelächter ausbrach, wurde es mir zu viel. Ich stürmte an meinem Lehrer vorbei und rannte aus de Klassenzimmer, wo ich sofort in Tränen ausbrach. Es war mir so unendlich peinlich gewesen, ICH, die doch immer alles so gut wusste, konnte noch nicht einmal den Rhein finden. Selbst Tina hatte niemand ausgelacht, als sie auf einem Stadtplan lange brauchte, um den Hauptbahnhof zu finden. Aber ich war eben nicht Tina! Ich war doch nur die dumme Barby, bei der doch sowieso alle nur nach Dingen suchten, die sie mir anhängen und worüber sie sich lustig machen konnten. Mit einem zitternden Kinn stand ich vor meinem Lehrer. ,,Mir ist nicht gut " stammelte ich leise, und sofort griff er mir stützend unter die Arme. Mir war klar, das mein Kreislauf wohl wieder nahe am Nullpunkt liegen musste und ich wankte mit ihm die Treppe hinunter um mich im Sekretariat auf die Liege legen zu können. Das war bereits mein Stammplatz. Und die vorbeigehenden Lehrer beachteten mich kaum noch, wie ich zusammengekauert und mit einem blassen Gesicht dort lag. Als ich mich etwas besser fühlte und meine Arme und vor allem meine Beine wieder langsam zu spüren begann. Stand ich af. Die Erdkundestunde würde jetzt vorbei sein und ich konnte getrost in den nächsten Unterricht gehen. Es war die Mathestunde. Eines meiner besten Fächer und heute wäre die Arbeit fällig, die wir bereits vor einer Woche geschrieben hatten. Ich hatte ein gutes Gefühl, die Aufgaben waren nicht schwer gewesen, und obwohl ich kaum gelernt hatte, konnte ich jede Aufgabe ohne Probleme lösen. Ich wollte unbedingt von Anfang an dabei sein, wenn er sie austeilte, um die Gesichter meiner Mitschüler zu beobachten. Ich freute mich immer, wenn andere schlechter waren als ich. In dem Punkt war ich wirklich gemein, aber zugegebener maßen, war es nicht bei allen so. Nur bei denen, die ich nicht mochte. Tina zum Beispiel. Sie war immer sehr gut gewesen, und bei allen beliebt. Sie war auch eindeutig die hübscheste von allen Mädchen. Neidisch sah ich ab und zu zu ihr rüber und versuchte, ihre Bewegungen nachzumachen. Es gab mir ein gutes Gefühl, wenn ich besser war als sie, und mehr gelobt wurde. Sie war quasi mein Messbecher, an ihr maß ich all meine Erfolge in der Schule.

Ich nahm mein heft entgegen und sah leicht enttäuscht auf die 2 - . Bei dem guten Gefühl hätte es ruhig eine eins werden können und nun blieb nur noch zu hoffen, das Tina keine hatte. Ich sah zu ihr rüber. Sie schien nicht enttäuscht zu sein. Es war nie schwierig rauszufinden, welche Note sie hatte. Jeder fragte sie danach, und auch die Jungs aus der letzten reihe ließen es sich nicht nehmen, mal zu ihr rüber zu rufen. Stolz rief sie eine Punktzahl zurück, und ich sah erneut in mein Heft! Jaaaaaaa ! Ich hatte es mal wieder geschafft, zwei Punkte mehr als Tina, das war viel besser, als eine eins. Glücklich und befriedigt legte ich mein Heft zur Seite, es gab ja doch niemanden, der sich dafür interessierte. Nur meiner Mutter würde ich mit einem Grinsen das Heft vorlegen und still ihr Lob abwarten. Etwas enttäuscht sah ich allerdings, wie viele meiner Mitschüler verblüfft vor Tinas Heft standen und den Kopf schüttelten. Wie hatte sie das nur gemacht? Sie holten sich alle Ratschläge und Lösungsansätze bei ihr, nicht bei mir. Dabei war meine Arbeit viel besser gewesen, doch das interessierte hier niemanden. Es ging ihnen nicht darum, sich die besten Ratschläge zu holen, sonder nur darum, einmal einen Grund zu haben, mit Tina zu reden und ihren Duft ganz nah bei sich zu spüren.

Ich verstand diese Welt einfach nicht. Wo war die Logik geblieben, und ich fühlte mich mit meinen Gedanken schrecklich allein.

Ich hab geträumt

Ich hab geträumt vor langer Zeit Von einem Leben, das sich lohnte Von Liebe und Unsterblichkeit Vom guten Gott, der mich verschonte Da war ich jung und ohne Angst Und Träume gingen wie sie kamen Ich find' dir, was du auch verlangst

Für jede Freude einen Namen

Doch die Tiger in der Nacht Wittern gierig deine Wunden Reißen wild an deinem Herz Sie zerfleischen deinen Traum

Ich hab geträumt, mein Leben wär'

Ein Schicksal außerhalb der Hölle Gott gibt den Wünschen keinen Raum Nichts blieb mir mehr von meinem Traum

Aus: Les Miserables

End of Part One

17.

Es war ein sonniger Tag, als ich sie zum ersten mal sah. Eigentlich sah ich sie gar nicht, ich hörte nur von ihnen. Sah ein Bild in einer Zeitschrift, und ich wusste, von nun an wäre mein Leben verändert. Ich war gerade mal 13 Jahre alt, als ich ganz sicher war, wem ich all meine Kraft schenken wollte. Da lachten sie mich an, von einem Papier, und dennoch so schön, wie ich niemals habe Menschen lachen sehen. Neun Menschen, fast noch Kinder, und sie schienen alle so frei und glücklich. Und erst die Musik. Ich hatte sie zum ersten Mal im Fernsehen gesehen, mit einem Lied, das von Freiheit erzählte. Es löste in mir eine unglaubliche Glücklichkeit aus, eine ungeborene Freiheit und eine Verachtbahre Sehnsucht.

So wollte ich leben, das war für mich die heile Familie, der Zusammenhalt unter den Kindern, all das, was ich nie hatte. Ja, das war wohl der Grund, warum ich Fan wurde. Fan von einer Familie, die ich deswegen zwar zu lieben anfing, die aber wohl alles andere als frei und glücklich waren. Nun gut, vielleicht waren sie es zu dem Zeitpunkt wirklich noch, aber nichts bleibt so wie es mal war.

Ich für meine Teil liebte diese Familie, ich träumte, ich würde dazu gehören, mit ihnen singen und lachen, und auf einmal sah ich die Welt mit anderen Augen.

Einmal, als ein paar Jungs aus meiner Klasse wie wild auf mir rumhackten, meinen Rucksack wegnahmen und mir böse und beleidigende Worte nachriefen, da wollte ich zu meiner Schwester rennen. Sie war doch schön älter, ein paar Klassen höher und sie würden alle Respekt vor mir haben. Aber so war es nicht. Natürlich hätten die Jungs Angst vor ihr gehabt, schließlich war sie schon in der 9. Klasse, und sie hatte viele Freunde, die ihr geholfen hätten, aber meine Schwester dachte gar nicht daran, etwas zu unternehmen.

,,Weiter so, macht sie fertig " hatte sie im lachenden Ton zu den anderen gerufen und ihnen Ansporn gegeben. Ich war so wütend. Und so traurig. Viele meiner ,,Freundinnen", wenn ich überhaupt wahre Freunde hatte, hatten kleinere Geschwister, in den unteren Klassen. Und sie hielten zusammen, standen für einander ein. Und auch wenn es zuhause bestimmt einmal Streit gab, so mochten sie sich doch. Aber meine Schwester hasste mich, sie würde mich sogar töten, wenn es so einfach wäre. Den Glauben hatte ich damals und es hatte lange gedauert, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Als die Klassenfahrt vor der Tür stand, bekam ich es mit der Angst zutun. Wie sollte ich eine ganze Woche ohne meine Mutter aushalten, inmitten von diesem wildgewordenen Affen, die es doch nur auf mich abgesehen hatten. Doch Anfangs war ich immer noch ganz zuversichtig. Ein paar Mädchen hatten gesagt, dass sie nur mit mir auf ein Zimmer wollten, da es mit mir niemals Streit gab. Ich hielt mich aus allem raus, sagte zwar meine Meinung, aber verurteilte keinen dabei. Und ich habe niemals jemanden das Gefühl gegeben, er wäre weniger wert als Andere.

Es war wohl das leichteste für sie, mit mir ihr Zimmer zu teilen, als mit einer tollen Tina, bei der jede nacht die Jungs rumsaßen und somit der Ärger mit den Lehrern schon vorprogrammiert war. Also blieb es dabei. Ich hatte die Wahl der Qual und schließlich einigten wir uns, das ich mit Babs und Antje in einem Haus wohnen sollte. Es gab auch größere, aber das waren alles eingespielte Cliquen, die solche Verlierer nicht dabei haben wollten.

Anfangs lief es noch prächtig, wir mussten uns selber versorgen, eigenständig kochen und hatten viel Freizeit. Das dabei die meiste Arbeit natürlich an mir hängen blieb, nahm ich gerne in Kauf. Wenn die anderen sich lieber mit den Jungs aus dem Dorf beschäftigen wollten, dann wischte ich eben noch mal schnell durch die Zimmer, bevor ein Lehrer zur Kontrolle kam. Richtig krass wurde es erst gegen Ende.

Babs stöhnte mir schon die ganze zeit einen vor, wie langweilig es doch mit mir war. Nie hätte ich Lust auf ein Abenteuer, würde nur im Haus sitzen und in meinen Büchern lesen. Ich brauchte ihr gar nicht zu erklären, das in meinen Büchern doch genug Abenteuer passierten und das es doch nur Ärger geben würde, wenn wir gegen die Regeln verstoßen, wie es Babs schon so oft, und meistens unerkannt, getan hatte. Ich gab nach. So schlimm konnte es doch nicht werden, einmal mit den anderen zu gehen, mit ihnen zu lachen und auch mal zu zeigen, das man mit mir genauso viel Spaß haben konnte. Es würde ja doch niemand merken, hoffte ich.

Also schlichen wir uns am Späten Abend aus dem Häuschen und liefen in Richtung Wald. Dabei mussten wir aufpassen, das keine der Bewegungsmelder betätigt wurde, und einer der Betreuer aufwachte. Solche Aktionen hatte ich schon oft auf dem Reiterhof mitgemacht, es war nichts schlimmes dabei. Aber dennoch war mir mulmig zumute. Aber ich machte natürlich nicht den Fehler, mit das anmerken zu lassen.

Es war so dunkel, das man die eigene Hand vor den Augen kaum noch sehen konnte und wir uns alle an den Ärmeln festhalten mussten um uns nicht zu verlieren. Die Äste unter uns knackten und selbst der helle Mondschein konnte nicht durch die dichten Bäume des Waldes dringen. Wir waren eine der Letzten. Die meisten waren schon seit fast einer Stunde dort und trafen sich mit den Jungs. Natürlich war es eine unserer ganz ,,coolen" Mädchen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog und schließlich mit einem der fremden Kerle hinter einem Baum verschwand. Ich hätte solche Angst gehabt, aber es gab kaum jemanden, dem die Furcht ins Gesicht geschrieben war. Und dann sah ich die Flaschen. Ja, sie tranken, sie tranken alle Alkohol.

Die Jungs musste sie mitgebracht haben, ich konnte mir nicht vorstellen, das eine aus meiner Klasse es geschafft haben sollte, Alkohol im Koffer mit einzuschleusen, wo doch alles genau durchsucht wurde. Die Flasche, ich weiß nicht mehr was es war, vielleicht irgendein ApfelDings..., wurde herumgereicht. Als sie bei mir ankam, gab ich sie ohne Kommentar und ohne den Hals an meine Lippen auch nur angesetzt zu haben, weiter. Nein, sie würden mich nicht dazu kriegen, Alkohol zu trinken. Niemals !

Alkohol war Sünde, man wusste nicht mehr was man tat. Und ich hatte doch schon so oft Betrunkenen Männer auf den Strassen gesehen und Angst vor ihnen gehabt. So wollte ich nicht durch die Strassen ziehen und erst recht nicht, wenn uns dann vielleicht ein Lehrer erwischen könnte. Und die Blicke der anderen waren mir jetzt auch egal. ,,Nu trink doch schon, ist nicht giftig!"

Ich sah Steffi mit großen Augen an. ,,Nein, ich mag das nicht." Und ich konnte mir nicht vorstellen, das irgendjemand hier dieses Zeig wirklich mochte. Sie sagten es doch nur, um nicht ausgelacht zu werden, aber mir war es egal. Dann sollten sie mich eben auslachen, und denken, ich würde mich noch wie ein Baby benehmen, es machte mir nichts mehr aus. Ich war es doch gewohnt, ich war stark, stand darüber, und konnte mich wehren... Aber ich war nicht stark !

Als sie sich alle umdrehten, rumalberten und ich immer mehr an den Rand rutschte, beschloss ich, wieder zurück zu gehen. Ich würde mich einfach ins Bett legen, und auf sie warten. Sollten die sich doch alleine betrinken und mich daraus lassen, und vor allem konnte ich dieses Gefühl nicht mehr ertragen, dabei zu stehen und doch nicht beachtet zu werden. Ein Gesprächsthema hatten wir nie. Ich konnte einfach nicht mitreden. Und über Pferde wollten die ja nicht reden, da gab es nur noch Jungs und die blöde Schule. Der schwere Stoff, der für mich nie schwer war, ich fand die Schule nur blöd, weil ich dort das Arsch der Nation war. Und wie sollte ich damit ein Gespräch anfangen? Zumal sie mich doch eh nicht dabei haben wollten.

Also ging ich langsam zurück. Die Richtung wusste ich ungefähr, hatte aber dennoch keine Ahnung, an welcher Stelle des Waldrandes ich rauskommen würde. Letztendlich fand ich mich an einem Spielplatz wieder, der genau gegenüber von unseren Blockhäusern lagen. Es war also ein Leichtes, den richtigen Weg jetzt zu finden, dafür aber umso schwerer, ungesehen an dem Lehrerhaus vorbei zu kommen. Die Lehrer bewohnten die Hütte ganz vorne und unser haus war vom Spielplatz ausgesehen dahinter gelegen. Und eine Taschenlampe hatte ich leider nicht.

Ich stieg leise die kleine Holztreppe hinauf und griff unter die Fußmatte, um den Schlüssel zu nehmen, den wir immer dort ablegten, wenn wir alle hinausgingen. Doch er war nicht da. Ich tastet noch einmal alles ab, sah in dem Blumentopf nach und testete, ob die Tür nicht doch vielleicht schon offen war. Aber sie war zu und blieb auch zu. Natürlich, Babs musste ihn mitgenommen haben. Leise fluchte ich vor mich hin und fing an, nach einer Lösung zu suchen. Ich konnte doch nicht die ganze Zeit hier draußen sitzen bleiben und darauf warten, dass sie wieder kamen. Es konnte sich doch noch um Stunden handeln. Außerdem war mir kalt und es sah nicht gerade so aus, als wollte es trocken bleiben. Wieder zurück in den Wald wollte ich nicht. Erstens war ich viel zu stolz um dort wieder angekrochen zu kommen, zweitens wäre es auch viel zu riskant gewesen noch einmal an dem Lehrerhaus vorbei zu huschen und drittens würde ich die Mannschaft bestimmt nicht mehr wiederfinden. Hinaus war ja noch einfach gewesen, aber ich hätte den gesamten Wald absuchen müssen. Und vielleicht waren sie auch schon gar nicht mehr an der Stelle, wo ich sie verlassen hatte. Ich beschloss, in einem der anderen Häuser anzuklopfen. Vielleicht war noch jemand da und konnte mich solange reinlassen. Ja, vielleicht gab es ja noch jemanden, der allein gelassen wurde und stinkend sauer auf die anderen war, keine Lust hatte, gegen die Regeln zu verstoßen und jetzt allein im Haus saß und nicht mehr wusste, was er anfangen sollte. Ich strich leise und geduckt zwischen den Häusern her und überlegte, wen ich im Wald nicht gesehen hatte. Eigentlich war die gesamte Clique von Britt nicht dort gewesen. Britt und ihre Freunde bewohnten das Letzte aller Häuser, was mir sehr gelegen kam, denn dort würde es am wenigsten Aufsehen erregen, wenn ich wie wild an die Tür klopfen musste. Und siehe da, kaum hatte ich einmal gegen die Holztür gepocht, da ging auch drinnen schon das wilde Treiben los. Ich konnte mir das Grinsen kaum verkneifen, denn es war ganz klar mit wem sie jetzt rechneten. Und genauso verblüfft starrte mich Britt an, als sie schließlich mit einem letzten Schweißtropfen auf der Stirn die Türöffnete.

,,DU ??????"

,,Hab mich irgendwie ausgesperrt, kann ich solange hier bleiben, bis Babs und Antje wieder kommen?" Britt hielt mir die Tür auf und ihrem Blick war unschwer zu erkennen, ob sie froh oder wütend darüber war, das ich gekommen bin. Natürlich war sie erleichtert, das es nicht unser Lehrer war, aber wir hatten nicht so besonders viel miteinander zutun und sie wusste, das ich freiwillig auch nie auf den Gedanken kommen würde, sie zu besuchen. Im Nu krochen Dennis und Markus, zwei Jungs aus meiner Klasse, die in den Mädchenhäusern eigentlich nichts zu suchen hatten, und schon gar nicht um diese Uhrzeit, unter dem Sofa hervor und sahen mich wütend an.

,,Musst du uns so ein Schrecken einjagen?"

Ich erklärte ihnen, das ich mich ausgesperrt hatte und sie doch bestimmt nichts dagegen hätten, wenn ich mich zu ihnen setzte. Aber sie hatten etwas dagegen, auch wenn sie es nicht sagten. Also setzte ich mich stumm in einen Sessel und versuchte sie nicht zu stören und die nächsten Stunden so gut es eben ging zu verbringen.

Als es schon fast wieder Morgen wurde, und auch eine von Britts Freunden immer noch nicht zurück war, fingen wir an, uns Sorgen zu machen. Als wir gerade überlegten, ob wir sie suchen sollten, oder vielleicht doch lieber dem Lehrer bescheid sagen sollten, klopfte es an der Tür.

Unser Lehrer trat in, mit einer elend aussehenden Steffi. Sie musste sich regelrecht an ihn klammern, um nicht hinzufallen. Ihre Beine sahen aus wie Pudding, und sie redete die ganze Zeit irgendwelches unverständliches Zeug vor sich hin. Er setzte sie auf einem der Sessel ab, und schrie, wir sollten einen Eimer holen und nicht rumstehen. Während Britt erst einmal lange überlegte, wo sie denn im Gottes Namen einen Eimer herbekommen sollte, stellte ich vor ihr eine der Porzellanschüssel auf den Boden, worein sie sich im Nu erbrach. Aus den Augenwinkeln sah mich mein Lehrer an, brachte ein kleines ,,Danke" heraus und meinte dann, ich solle bitte in mein Haus gehen, die Anderen seien auch wieder da.

Ich sah Antje und Babs nur einmal an, verschwand kurz im bad und legte mich dann in mein Bett. Sollten die beiden doch sehen, wie sie morgen den Ärger bekamen. Ich hatte damit schließlich nichts zutun und war heilfroh, das ich nicht dabei gewesen war. Wenn Steffis Mutter das nur erfahren würde, sie würde ausflippen. So viel war sicher. Ärger gab es nicht in dem Maße, wie ich es mir gedacht hätte, oder vielleicht sagte er es nicht vor allen. Jedenfalls durfte Steffi dort bleiben und mit uns zusammen erst am Ende der Woche wieder zurück fahren. Sie hatte natürlich am nächsten tag einen heftigen Kater und ich schwor mir erneut, niemals auch nur das Wort Alkohol zu denken.

Und nachdem wir auch das Letzte geplante Museum gesehen hatten, ging es auf zur Rückfahrt. Ich war heilfroh, alles so gut überstanden zu haben und endlich wieder meine Mutter in die Arme nehmen zu können. Wie sehr ich sie und vor allem doch meine Tiere vermisst hatte. Meine Mutter hatte natürlich schon von den Vorfällen gehört. Steffis Mutter war benachrichtigt worden, und dann machte es natürlich seine Runde. Ich erzählte meiner Mutter, wie ich es erlebt hatte, das ich nichts getrunken hab und das ich mit Steffi auch nicht darüber geredet habe. Warum sollte ich auch? Sie gehörte ja nicht zu meinen Freundinnen. Diese Klassenfahrt war der Begin meiner absoluten Einsamkeit. Katrin, an die ich mich Jahrelang geklammert hatte, war auch mit ihren Freunden weggewesen. Und bei ihr musste alles anders sein, sie unternahm viel mit den Mädchen aus ihrer Klasse. So viel, das sie immer seltener Zeit für mich hatte. Und schon bald merkte ich, das sie es auch echt kindisch fand, noch mit den Puppen zu spielen. Aber etwas anders wollte ich nicht, etwas anderes hatte ich nie gelernt und niemals getan. Unterhalten? Stundenlang mit einer Freundin nur dasitzen und reden? Nein, so viel Gesprächsstoff konnte doch niemand haben, und erst recht nicht ich, die lieber schweigend zuhörte und sich Gedanken dazu machte.

Stumm sah ich auf ein Bild von Ihnen. Meine Familie, die Welt, wo alles besser war, wo noch all meine Kinderträume bleiben konnten und nicht wie Seifenblasen zerplatzten. Ich fühlte mich, wie in einem Memory-Spiel. Suchte den passenden Teil, etwas, was mir gleicht, etwas, was zu mir gehört. Aber ich scheine ein Einzelteil zu sein. Vielleicht war diese Familie das passende Stück. Neun Menschen, die mir halfen, die Welt mit dem Herzen zu sehen. Doch es schien, als wäre diese Familie das passende Stück, nur aus einem falschen Spiel. Ich spielte nicht mit ihrem Memory, ich spielte nur mit meinem. Und in meinem Spiel würden sie niemals mitspielen oder auch nur Teil daran haben.

Sollte ich deswegen die Suche nach dem fehlenden Stück aufgeben?

18.

Wie so oft saß ich mal wieder alleine in meinem Zimmer und schrieb. Ich hatte jemanden gefunden, der meine Interessen teilte, auch oft allein war und diese Familie und ihre Musik genauso liebte wie ich. Fast täglich schrieb ich ihr einen Brief, da sie leider sehr weit weg wohnte. Und im Laufe der Zeit lernte ich noch sehr viel mehr junge Menschen in meinem Alter kennen, die so dachten. Ich war nicht mehr allein.

Meine Mutter sagte oft: ,,Barby, in deinem Alter gehen die Kinder raus und treffen sich mit Freunden. Und du sitzt den ganzen Tag an deinem Schreibtisch." Es stimmte, an manchen Tagen schrieb ich mehr als zehn Blätter voll, für meine Freunde in der ganzen Welt. Und raus wollte ich nicht. Draußen hatte ich keine Freunde. Katrin war lange nicht mehr da gewesen, ich glaube sie hatte mich bereits vergessen. Einmal hatte ich sie noch angerufen, aber sie war nicht da gewesen. Einen Brief schreib ich ihr auch, aber auch darauf kam keine Antwort mehr. Ich hätte niemals gedacht, das unsere Freundschaft so plötzlich zu Ende gehen würde. Wo wir doch schon seit Jahren befreundet waren. Vielleicht hatte sie auch eingesehen, das ich keine Freunde verdiene oder das ich wirklich so ein schlechter spießiger und vor allem langweiliger Mensch war, wie alle immer gesagt hatten. Aber meistens machte es mir auch nichts aus. Ich hatte meinen Schreibtisch und schrieb und schrieb und schrieb. Und wenn ich keine Briefe schrieb, dann schrieb ich eben in mein Tagebuch, oder Gedichte und Geschichten. Es war schon eine gute Sache, und wenn ich jemanden mal meine Gedichte zeigte, was wirklich nicht sehr oft vorkam, dann erhielt ich großes Lob. Ich schien wirklich Talent zu haben.

Und ich hörte den ganzen Tag diese Musik. Eine Musik, die von Herzen kam, die solch eine Kraft versprach, das ich nicht anders konnte, als glücklich zu sein und durch das Zimmer zu tanzen. Alle meine Wände hatten ich vollgehangen. Überall waren sie zu sehen, und meine Schwester hatte nicht nur einmal voller Wut die gesamten Bilder abgerissen und auf meinen Tisch geknallt. Sie waren es alle leid. Natürlich vielleicht übertrieb ich ab und zu, aber was blieb mir denn anderes übrig? Woher sollte ich all meine Kraft nehmen, um der Realität ins Auge zu sehen? Wenn ich in der Schule mal wieder allen tötenden Blicken und krankhaften Worten entkommen war, wollte ich nur noch in meinem Zimmer sitzen und an nichts anderes denken, als an diese Familie. Sie waren mein Leben! Und ohne sie, müsste ich sterben, das war mir klar.

Im Winter sah ich sie zum ersten mal live. In einem kleinen Zelt, mit gerade mal 2000 Zuschauern. Und es war schwer zu sagen, was für Zuschauer es waren. Es gab weder eine eindeutige Geschlechter Klasse, noch eine Altersgruppe, der man das Publikum zuordnen konnte. Und genauso vielseitig wie das Publikum, war auch diese Familie selber. Neun Menschen, der Jüngste gerade mal 11 Jahre alt, standen dort, und sangen. Es gab eine solche Magie, ein Flair, den man nicht beschrieben konnte. Es war wie im Himmel und ich fühlte, wie eine fremde hand die meine ergriff. 2000 Menschen, die einander noch nie gesehen hatten, hielten sich an den Händen, schenkten sich das wärmste Lächeln und tanzten zusammen zu der Musik, die durch das kleine Zelt schwebte. Kleine Tränen des Glücks liefen mir über die Wangen und ich sah, wie ein kleines Mädchen weinend auf dem Boden saß. Ohne zögern und ohne Kommentare nahmen wir uns in die Arme, lächelten und wischten uns die Rührung aus dem Gesicht. Ich hörte mich nur noch ,,Danke" sagen, verabschiedete mich im herzen von all diesen wunderbaren Menschen, die mich in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten und ich kannte das Geheimnis! Freunde, um nicht zu sagen Fans, denn Fans waren es wirklich nicht, es waren alles Freunde, waren irgendwie anders. Es waren alles Verlierer. Selbst die Familie selber hatte lange zeit gegen Hass und Verachtung gekämpft, ihren Glauben an die Kraft ihrer Musik aber niemals verloren. Es mussten Engel sein !

Zuhause schloss ich so oft es ging die Augen, und versetzte mich an jenen tag zurück, als alles begann und ich mein herz nur noch blühen sah.

Es war eine glückliche zeit. Es war die schönste zeit, an die ich mich erinnere. Und natürlich gab es eine Person, die es mir besonders angetan hatte. Nein, um zu sagen, es wäre mein Liebling gewesen, waren meine Gefühle einfach anders. Ich sah mich in ihr wieder. Es war eines der Mädchen. Sie hatte, wie ihre Geschwister auch, lange blonde Haare und blaue Augen. Und sie sah immer so fröhlich aus. Sie tanzte wunderbar. Das war es wohl, was mich faszinierte. Sie war ein Engel, der auf den Wolken tanzte, sich nicht mehr umdrehte, einfach die Augen schloss und zu schweben begann. Die Musik war eben nicht alles. Die Musik war einzigartig, etwas, was ich nie zuvor gehört hatte. Aber es war etwas ganz anderes, sie auf der Bühne zu sehen, als nur eine CD laufen zu lassen. Man konnte sehen, wie viel Energie dahinter steckte. Wie sie mitgingen, wie sie alle eins waren und nicht mehr aufhören konnten, bis der letzte Applaus entgültig erloschen war.

Immer wenn ich traurig war, dann schrieb ich einen Brief an diese junge Frau. Ja, sie wat kein Kind mehr, sie war erwachsen, gerade mal 18 Jahre alt, als ich sie damals ,,kennen lernte". Und doch hatte sie die Augen eines kleinen Mädchens. Ein Lächeln, das mehr verrückt als selbstsicher schien. Es war das lachen eines Babys, das mit strahlend blauen Augen die Welt wie durch einen Traum beobachtete. Und dennoch schien sie scheu. Unerreichbar, fern, und zerbrechlich. Oft tanzte sie vorsichtig, konzentriert und gebannt über die Bühne, stand dann einfach still da und lächelte uns zu. Und ich wünschte ihr einen warmen Sonnenschein in ihrem herzen, einen solchen Schein, den auch sie mir jedes Mal gab, wenn sie sang.

Warum ich dieses Mädchen so genau beschreibe? Nun, ja, liebe Leser, wir sind langsam am Ende angekommen. So war dieses Mädchen, und so war ich. Vielleicht war ich dieses Mädchen, vielleicht war sie auch nur der fehlende Teil in meinem Memory Spiel... wer weiß. Wie es weiter ging? Sie möchten wirklich wissen, wie es mir weiterhin erging? Dieses Mädchen, nennen wir sie ruhig einmal ,,Dancing Queen", tanzt nicht mehr. Sie lacht nicht mehr und sie singt nicht mehr. Ihre Augen sind tot, blaue Augen, die nicht mehr strahlen, sondern nur noch weinen.

Was geschehen ist? Wenn ich das wüsste, würde ich ihr helfen. Aber ich kann es nicht. Ich stehe nicht mehr zwischen 2000 Menschen. Ich stehe zwischen Millionen. Millionen von kleinen Mädchen, die nichts mehr von der Magie sehen wollen. Sie benehmen sich wie Tiere, reichen sich nicht mehr die Hände, sondern zerfleischen sich gegenseitig die Träume. Und ich stehe mitten drin. Habe niemanden mehr, der mich in den Arm nimmt und mir sagt, das wir doch alle eine Familie sind. Meine Dancing Queen steht dort oben, unerreichbar für die tröstenden Worte, die sich in mir ansammeln und bewegt sich nicht. Bewegungslos, mit einem angsterfüllten Blick in den Augen und verkrampften Gliedern bewegt sie kaum noch den Mund, um der gierigen Masse das zu geben, was sie hören wollen: Eine heile Familie ! Also bleibe ich allein zurück. Stehe mit Tränen in den Augen da und mir bleibt nichts, als die Erinnerung.

Was ist aus den Ponys geworden? Aus meinem Rocky?

Rocky war schon sehr alt und wurde bald nicht mehr gebraucht. Er hatte sich seinen Ruhestand verdient. Ich war noch lange dort, lernte ein anderes Pony lieben und ritt der Sonne entgegen. Bis zu jenem Sommer, als ich verraten wurde. Man wollte mich nicht mehr dort sehen. Man hatte mich fortgejagt. War nicht ich es, die seit Jahren all die Arbeit dort machte, die alle Pferde kannte und den jüngeren Kindern half? Aber ich war nicht gut genug. Sie wollten mich nicht und es ist sinnlos, darüber zu streiten, ob es wirklich nicht meine Schuld gewesen war.

Was ist aus meiner Schulzeit geworden? Als ich merkte, wie es meiner Dancing Queen schlechter ging, wurde ich sehr krank. Meine Mitschüler lachten mich aus, erzählten Witze über die Familie, die mir half weiter zu leben. Und sie zerstörten mich. Ich war ein psychisches Wrack. Am Ende bin ich gar nicht mehr hingegangen, denn ich wusste, wenn ich mich weiter diesem Terror aussetzen würde, wäre ich bald gestorben.

Und meine Schwester? Sie liebe ich über alles. Ich weiß, sie hat es sehr oft nicht leicht gehabt, und wir werden doch alle älter. All diese Tränen, die ich ihretwegen vergossen hatte, habe ich niemals zurück bekommen. All meine Wunden sind nie verheilt, aber ich verachte sie nicht. Ich liebe sie über alles. So, wie ich jeden Menschen liebe, selbst die, die mein Leben zerstörten. Das hat mich meine Dancing Queen gelernt und ich werde niemals aufhören, für sie zu kämpfen. Denn wer aufgehört hat zu kämpfen, der hört auch auf zu leben.

19.

Langsam betrat ich die Brücke. All die wirren Gedanken in meinem Kopf, ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Vermissen würde mich niemand. Meine Schwester hatte mich doch niemals so sehr geliebt, wie ich sie. Sie würde mir noch helfen kommen, mich hinunterstoßen, falls ich nicht den Mut fand selber zu springen. Meine Mutter? Ja, sie vielleicht. Es wäre ein kleiner Schock für sie. Aber sie würde es schon verkraften. Am meisten Sorgen machte ich mir nur noch um meine Dancing Queen. Sie würde mich nicht vermissen, auf keinen Fall, denn sie kannte mich nicht. Aber wenn ich gehe, dann war wieder eine Person gegangen, die ihr vielleicht noch helfen konnten. Dann war es wieder eine Person weniger auf den Konzerten, die sich doch noch die Hände reichten und zusammen tanzten. Konnte ich ihr das antun?

Natürlich konnte ich, sie war ihr ganzes Leben ohne mich klargekommen und würde es auch jetzt. Und an ihrer Situation konnte ich genauso wenig ändern wie an der meinen. Also stand ich dort, und warf einen erschrockenen Blick über das Geländer. Brausend fuhren die Autos vorbei, ohne zu wissen, was in mir vorging und wieso ich dort hingefahren war. Mein Rad stand neben mir und ich merkte, wie ein leichter Regentropfen meine Wange hinunter lief. Oder waren es meine Tränen? Ich wusste es nicht, und es spielte auch keine Rolle mehr. Es war das letzte was ich tun würde.

Leise verabschiedete ich mich von allem was mir lieb war. Von Rocky, von Katrin, die mich so enttäuscht und versetzt hatte, und von all den Menschen die einst meine Freunde waren. Und natürlich von meiner Dancing Queen und ihrer Familie. Es waren die einzigen Menschen gewesen, die mir etwas beigebracht hatten. Sie hatten mir gelehrt, die Menschen mit dem herzen zu sehen, und nicht mit den Augen. Alsoöffnete ich mein Herz, schloss die Augen und sprang!!!

Das Ende des Spiels All meine gemalten Bilder Waren zerstört und verschwommen All meine Träume Blieben verschüttet von Wut und Hass Ich traute meinen Augen nicht Sah dieses weinende Kind Und konnte nicht mehr helfen Leben wollte ich nicht mehr Und spielen schon gar nicht Also sprang ich Und träumte vom großen Glück Ich war noch jung Und ohne Angst Doch nichts bleibt Und jedes Spiel geht vorbei ... ich war der Verlierer. Barby K. Nachwort: Lieber Leser, Sie sind erschrocken? Sie sind entsetzt? Und sie haben während des ganzen Buches nur die Gedanken eines Kindes gesehen, aber niemals die verzweifelten Blicke einer jungen Frau? Ich kann sie beruhigen. Genauso war es auch vorgesehen. Ich habe nämlich den wichtigsten und entschiedensten teil meines Lebens weggelassen. Was passierte in meiner Jungend, als ich 16 war? Und danach?

Bitte verzeihen sie mir, wenn ich gerade das nicht so genau angebracht habe. Vielleicht wird es eine Fortsetzung geben, irgendwann, vielleicht, wenn ich wirklich 90 Jahre alt bin.

Und ich kann sie natürlich beruhigen. Ich lebe noch. Nein, ich bin nicht wirklich gesprungen, aber das tut nichts zur Sache. Zu diesem Zeitpunkt, war es wirklich, als wäre ich in ein tiefes Loch gefallen, wo ich niemals wieder rauszukommen schien. Ich brauchte nicht sterben, denn tot war ich schon lange ! Barby K.

,,Ich fühlte mich, wie in einem Memory-Spiel. Suchte den passenden Teil. Etwas, was mir gleicht, etwas, was zu mir gehört..."

Barby ist gerade mal 6 Jahre alt, als der Ernst des Lebens anfing. Sie glaubte an das Gute in den Menschen, war fröhlich und ausgelassen, und musste früh feststellen, dass man damit in dieser Welt nicht weiter kam.

Memory, dessen Autorin selbst erst 19 Jahre alt ist, ist ein Buch für jeden, der die Welt durch das Herz betrachtet, die Augen schließt und einsieht, was Worte anrichten können.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Kaluza, Barby - Memory
Autor
Jahr
2000
Seiten
67
Katalognummer
V97462
ISBN (eBook)
9783638959148
Dateigröße
698 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Es ist lediglich eine Geschichte, die Eindrücke aus meiner Kindheit beschreibt. Dabei sind die meisten der hier aufgeführten Namen geändert und mit Sicherheit wurde nichts genau so dargestellt, wie es wirklich war, sondern nur so, wie ich es damals Empfunden habe und wie es in meinen Erinnerungen geblieben ist."
Schlagworte
Kaluza, Barby, Memory
Arbeit zitieren
Kaluza, Barby (Autor:in), 2000, Kaluza, Barby - Memory, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97462

Kommentare

  • Gast am 1.8.2001

    Etwas, was die Welt nicht braucht.

    Hast Du eigentlich nicht gemerkt, daß Deine Kapitel mit den Attributen
    neugierig, fröhlich, stolz, aufgeregt, freudestrahlend, lachend, verträumt, gespannt etc. anfangen?! Deine Geschichte oder vielmehr, wie Du sie geschrieben hast, ist zum Fürchten langweilig, wieder etwas, was die Welt nicht braucht!

Blick ins Buch
Titel: Kaluza, Barby - Memory



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