Die Vielfalt des Handelns - Kritik und Erweiterung von Jürgen Habermas´ Handlungstypologie und andere Problemfelder der TKH


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

74 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Kommunikatives Handeln und die Kreativität des Handelns
1. Instrumentelles, strategisches und kommunikatives Handeln: ein knapper Überblick über Habermas´ Handlungstheorie
2. Die Befreiung der Kommunikation und die Marginalisierung des Spielerisch-Kreativen: Lob für und Kritik an Habermas´ Handlungstypologie
3. Kritik der Teleologie, der Bewusstseinsautonomie und der Instrumentalisierung des Körpers: Joas´ Dekonstruktionsvorschläge der Selbstverständlichkeiten gängiger Rationalitätsvorstellungen
3.1 „Eine nicht-teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns“
Exkurs zur Gestalttherapie oder: Bedürfnisse, Emotionen und Ziele im Feld kreativer Organismus-Welt-Relationen
4. Die Kreativität des Handelns als Differenzierungsgrundlage für Habermas´ Handlungstypologie
4.1 Kreative und welterschließende Potenziale des kommunikativen Handelns: Gegen die Engführungen einer rationalistischen ‚Logik der besseren Argumente‘
4.2 „Normengeleitetes“ und „dramaturgisches“ Handeln ohne situative Normgenese und spontane Expression? – Vorschlag einer Erweiterung
4.3 Instrumentelles Handeln als lediglich ein Aspekt der möglichen Relationen von Menschen zur ‚objektiven Welt‘: die Kreativität der Mensch-Welt-Relationen
4.4 Systematisierung der Gedanken zu einer erweiterten Typologie von Handlungen
5. Ausblick und mögliche praktisch-politische Implikationen

III Systemtheoretische Perspektiven
1. Luhmann´s Definition von Handlung und Rede wider den Rationalitätsbegriff
2. Münch und die „verkürzte Rationalität“

IV Weitere Kritik und kein Ende...: Ein kurzer Überblick mit Anmerkungen und (offenen) Fragen
1. System und Lebenswelt
2. „Sinnverlust“ und andere Pathologien
3. Der Imperativ und die Bedeutung der sprachanalytischen Grundlagen bei Habermas

V Fazit

Literatur

I Einleitung

Eines von Jürgen Habermas´ großen Verdiensten für die soziologische Handlungstheorie ist ohne Zweifel, einen Handlungsbegriff deutlich beschrieben zu haben, der zwar in der Soziologie nicht ohne Vorwehen ist[1], aber dennoch von Habermas gewissermaßen ins Leben gerufen wurde: Das Modell des kommunikativen Handelns in der gleichnamigen „Theorie des kommunikativen Handelns“[2]. Es gelingt dem Sozialphilosophen mit diesem Konzept nicht nur, die Kommunikation selbst als einen Basismodus aller sozialer Interaktion zu konzipieren, sondern – und ohne diese gewichtigen Zusätze wäre Habermas´ Theorie aus seiner Perspektive sicher nicht halb soviel Wert – er entwickelt zweitens einen Rationalitätsbegriff, der in der Lage ist, die innere Logik, den Telos dieses Handlungsbegriffes zu beschreiben, ohne ihn der zersetzenden Kritik an der Rationalität der Moderne auszusetzen, wie ihn die Frankfurter Schule Adorno´scher couleur z.B. in der „Dialektik der Aufklärung“ formulierte. Es gelingt ihm dabei, den Begriff der kommunikativen Rationalität eben nicht nur deskriptiv einzuführen, sondern aus den Vernunftpotenzialen der Kommunikation selbst abzuleiten. Nur sekundär ist der Telos dieses Rationalitätskonzeptes ‚Erfolg‘, primär jedoch, und daran führe in jeder Kommunikation kein Weg vorbei, ‚Verständigung‘[3]. Drittens, worauf wir[4] in dieser Arbeit nur am Rande Bezug nehmen werden, baut Habermas das Konzept einer gemeinsam geteilten Lebenswelt aus. Die Lebenswelt diene als universaler und nicht hintergehbarer Hintergrund aller sozialen Interaktion. Sie stellt das z.B. im Alltagshandeln aktualisierbare, aber punktuell auch immer wieder problematisierbare Reservat selbstverständlichen Wissens dar. Habermas´ theoretischer Clou in Bezug auf das Lebensweltkonzept ist nun, dass die Lebenswelt nicht nur als Hintergrund aller Kommunikation steht, sondern gewissermaßen auch in kommunikativen Prozessen erweitert und verändert werden kann. Man könnte sie sich im Zuge der gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesse (nicht nur) der Moderne vielleicht grob als das Auffangbecken der Vernunft vorstellen, denn nur das gelange auf dem heutigen Niveau der auch alltagsweltlichen Prüfung von Aussagen in eine sinnstrukturierte Lebenswelt, was vorher ‚geprüft‘ wurde: Ist diese Aussage im Habermas´schen richtig, wahr und wahrhaftig? – Man könnte diese Reihe noch fortsetzen, über Habermas´ ordnungstheoretisches Konzept von System und Lebenswelt, auf das wir stellenweise in Kapitel III 2. und insbesondere in Kapitel IV 1. eingehen werden, bis hin zur Gegenwartsanalyse Habermas´, und hätte wahrscheinlich dennoch nicht alle zentralen Ideen der TKH benannt. U. a. wegen dieser Komplexität ist so etwas wie eine abschließende Bewertung ihrer philosophisch-gesellschaftstheoretischen Bedeutung eigentlich kaum möglich, und bereits der Versuch wäre wahrscheinlich schon fatal, wie Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erkennt, wenn er die „Versuche [...], die Bedeutung des Werks von Jürgen Habermas durch Historisierung zu dementieren“ (Reemtsma 2001), anprangert. Außerdem würde dies bedeuten, die Möglichkeit zu verkennen, eine der zentralen Ideen der TKH, nämlich die „Leitidee der Anschließbarkeit“(ebd.), auf diese selbst anzuwenden, denn „Habermas zu historisieren heißt [vielmehr – Anm. d. A.], die von ihm selbst betonte Offenheit seines Werks als Anschluss-Chance zu nutzen, mit ihm über das 21. Jahrhundert nachzudenken.“ (ebd.)

Was ist nun das Ziel dieser Hausarbeit? In der schönen Tradition der zahlreichen AutorInnen, die sich kritisch mit der TKH auseinandergesetzt haben, ist nach der ‚Standortbestimmung‘ und Hervorhebung ihrer Bedeutung im obigen Abschnitt nun die Zeit für das unvermeidliche ‚Aber‘ gekommen. Allerdings wollen wir uns dabei keineswegs nur altbekannter Kritik anschließen, wie bspw. den Zusammenhang der einzelnen Teile von Habermas´ Theorie in seiner inneren Logik als insgesamt widersprüchlich und sie daher als unbrauchbar zu bezeichnen, oder diese Teilkonzepte einzeln aus diesen oder jenen Gründen zu verwerfen. Das Vorhaben der hier vorliegenden Arbeit lässt sich vielmehr vielleicht so zusammenfassen: Die Theorie des Kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas konstruktiv statt destruktiv zu kritisieren, sie aufgrund der aufzuzeigenden Schwächen nicht zu falsifizieren oder zu degradieren, sondern durch ergänzende Vorschläge womöglich Wege aufzuzeigen, die sie noch fruchtbarer machen könnten, als sie es ohnehin schon ist.[5]

Bei diesem Vorhaben werden wir an vielen Stellen keine ausführliche Darstellung der Habermas´schen Gedanken im Sinne einer Einführung in seine Theorie geben können und müssen deswegen an vielen Stellen eine Grundkenntnis der zentralen Ideen und Begrifflichkeiten der TKH voraussetzen. Bei Bedarf werden wir diese allerdings teilweise noch einmal skizzieren, wenn dies für das Verständnis unserer Argumentationsführung wichtig erscheint.

Im Besonderen wenden wir uns dabei Habermas´ handlungstheoretischen Überlegungen zu und versuchen zu zeigen, dass er zwar „die Kommunikation als solche aus der prallgefüllten Residualkategorie des nicht-instrumentalen Handelns“ (Joas 1986, S. 149) befreit hat, er aber wichtige Stränge der soziologischen Handlungstheorie, die zum Teil aus dem Symbolischen Interaktionismus stammen, zum Teil auf frühere Autoren der Chicagoer Schule zurückzuführen sind, nicht hinreichend berücksichtigt. Durch die Unterbelichtung besonders der kreativen Potenziale des Handelns, wie sie Hans Joas mit Bezug auf John Dewey ausführt, geraten Habermas wichtige welterschließende und sozial koordinierende Handlungstypen aus dem Blickfeld, die zu berücksichtigen einige Reformulierungen der TKH erfordern würde. Wir werden in dieser Arbeit die Habermas´sche Handlungstheorie kurz vorstellen (Kap. II 1.) und kritisch würdigen (Kapitel II 2.). In Kapitel II 3. kommen wir dann zu den erwidernden Gedanken Joas´ aber auch anderer TheoretikerInnen, die sich am Leitfaden der Dekonstruktion des Rationalitätsbegriffes – oder besser beider in Habermas´ Werk vorhandenen Rationalitätsbegriffe, der kognitiv-instrumentellen Rationalität, wie der kommunikativen Rationalität – zu einer Theorie der Kreativität des Handelns vorarbeiten. Das kreative Potenzial des Handelns konsequent in den theoretischen Überlegungen einer Handlungstheorie berücksichtigt, führt dann zu einigen Erweiterungen der Handlungstypologie der TKH. Wie das aussehen könnte, werden wir in Kapitel II 4. durchspielen, um zu einer ‚Systematisierung der Gedanken zu einer erweiterten Typologie von Handlungen‘ (Kap. II 4.4) zu gelangen. Wir weisen hier noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass es sich dabei um eine Anregung für weitere Theoriearbeit handeln kann, nicht aber um eine ausgereifte neue Handlungstheorie; besonders gelingt es uns hier nicht, die derart erweiterte Handlungstypologie konsequent an eine Theorie der sozialen Ordnung anzuknüpfen. In Kapitel II 5. werden wir dann abschließend zu den Gedanken zur Handlungstheorie einen Ausblick geben, welche Folgen eine solche Handlungstypologie für z.B. die Organisation von öffentlichen Planungsprozessen haben können. Zusätzlich zu dem von Habermas konzipierten Diskursmodell kämen vor der Folie unseres Ansatzes dabei nun auch Situationen des kreativen Austausches und des welterschliessenden, intensiven Umgangs mit den Dingen oder Problemlagen stärker zur Geltung.

Die beiden folgenden Kapitel III und IV sind einerseits als direkte Grundlage bzw. Ergänzung und Weiterführung unserer zentralen Gedankenführung (Kap. II) zu verstehen, und andererseits darüber hinaus als ansatzweiser Überblick über solche weiteren möglichen Kritikpunkte der TKH, die wir zwar vorne nicht mehr explizit aufgegriffen haben, deren Darstellung aber u.E. zum Verständnis der Komplexität der TKH beitragen und außerdem implizit unsere spezielle Sichtweise der TKH wesentlich mitgeprägt haben. In Kapitel III gehen wir zunächst auf zwei Vertreter verschiedener systemtheoretische Ansätze näher ein, Niklas Luhmann und Richard Münch. Das Kapitel III 1. dient u.a. als theoretisches Hintergrundmaterial zu der Frage, was denn nun Handlung überhaupt sei, die uns auch bereits in Kapitel II 3. beschäftigt. Dabei greifen wir Luhmann´s Kritik an Habermas´ Begriff des kommunikativen Handelns auf und versuchen Luhmann´s unnachahmliche Weise, den Begriffen auf den Grund zu gehen, nachzuzeichnen. Richard Münch´s systemtheoretischer Hintergrund hingegen ermöglicht diesem eine Kritik der TKH (Kap. III 2.), die auf handlungstheoretischer Ebene viele Anregungen für unsere Kernthesen im Kapitel II geben, gleichzeitig aber auch darüber hinausgehend weitere Aspekte der TKH aufgreifen, wie z.B. Habermas´ System-Lebenswelt-Konzeption oder die Gegenwartsdiagnose. Dieses Kapitel ist somit auch als Überleitung und Sensibilisierung zu Kapitel IV zu verstehen, wo wir, zum Teil orientiert an den Überlegungen zur Kreativität des Handelns, auf weitere aus unserer Sicht zentrale Problemstellen der TKH eingehen.

Den Abschluss bildet ein knappes Fazit (Kap. V), das die vorigen Gedanken und Darstellungen noch einmal abrunden soll. Wir haben uns hier bewusst kurz gefasst, da insbesondere Kapitel II über eigene ‚Zwischenbilanzen‘ verfügt, wir die Redundanz also in Maßen halten wollten, und im Übrigen die einzelnen Kapitel weitestgehend für sich stehen.

II Kommunikatives Handeln und die Kreativität des Handelns

- Kritik und Erweiterung der Handlungstypologie Habermas´ unter Reflexion der kreativen Dimension des Handelns -

In Anlehnung an Hans Joas[6] gehen wir davon aus, dass Jürgen Habermas am Leitfaden der kommunikativen Rationalität die Konzeption seiner Handlungstheorie zu eng fasst. Das Konzept der kommunikativen Rationalität hat viele Stärken, kann aber lange nicht als Ausgangsort einer Theorie dienen, die alle in der Soziologie bekannten Handlungsmodelle sortiert oder zumindest kritisch berücksichtigt. Die kommunikative Rationalität mit ihrem Motiv der Verständigungsorientierung, soll aus unserer Perspektive vielmehr eine besondere Art und Weise beschreiben, nach deren Leitfaden Kommunikation als sozial koordinierend begriffen werden kann. Auch den Anspruch, nach den Kategorien verständigungsorientiert vs. ergebnis-/erfolgsorientiert eine komplette Handlungstheorie aufzuspannen, die alle relevanten Modelle sozialen Handelns in der Soziologie reflektiert, halten wir bei Habermas für nicht erfüllt.

Neben dem Rationalitätskonzept der kommunikativen Vernunft berücksichtigt Habermas in seiner Theorie noch das der kognitiv-instrumentellen Rationalität, dem er Ersteres gewissermassen als Gegenpol gegenüberstellt. In unserer kritischen Auseinandersetzung mit Habermas werden wir nun nicht nach einer weiteren Rationalität forschen, sondern folgen weitgehend den Versuchen u.a. des Pragmatisten und Vertreters der Chicagoer Schule John Dewey sowie Niklas Luhmann bei der Dekonstruktion des Rationalitätsbegriffes selbst. Sowohl die Orientierung an der Erreichung von Zielen in der Welt mit mental zu wählenden Mitteln (kognitiv-instrumentelle Rationalität) als auch Orientierung an Verständigung mit dem Ziel des rational motivierten Einverständnis (kommunikative Rationalität) als Grundlagen für eine wie auch immer zu fassende Handlungstheorie werden von diesen beiden Autoren in Frage[7] gestellt: Wir werden uns insbesondere an Dewey orientieren, da er wie kein anderer den Rationalitätsbegriff selbst hinterfragt. Hans Joas führt in „Die Kreativität des Handelns“ (1996) verschiedenste Linien der Kritik von Rationalitätskonzepten zusammen. Wir orientieren uns also in weiten Teilen auch an seinen Ausführungen.

Diese Gedankenlinien führen in ihrer Konsequenz für unser Vorgehen zur vorläufigen Abkopplung der Handlungstheorie von Rationalitätskonzeptionen. Erst im Nachhinein kann und soll dann reflektiert werden, wie z.B. ein bestimmter Handlungsmodus mit einer Rationalitätsvorstellung theoretisch zu begreifen (und aus der Alltagsperspektive der Handelnden auch zu beschreiben) wäre. Auch ist möglich, dass bestimmte Rationalitätsbegriffe enger an Handlungstypen ankoppeln (kommunikatives Handeln/ kommunikative Rationalität; instrumentelles Handeln/ kognitiv-instrumentelle Rationalität), dass es aber auf der anderen Seite Handlungstypen gibt, die nur sehr vage mit Rationalitätsvorstellungen im engeren Sinne korrespondieren. Es könnte in diesen Fällen Sinn machen, vom Rationalitätsbegriff selbst Abstand zu nehmen, möchte man nicht den Rationalitätsbegriff durch weiterreichende Bedeutungsgehalte wie den Vernunftbegriff oder ‚sinnvolles Handeln‘ gänzlich verwischen.

Was ist dann aber der Bezugspunkt einer Handlungstheorie? Oder besser gefragt: Woher kann die Soziologie dann ein Hintergrund-Modell des Handelns erhalten, das zum Einen nicht durch die Koppelung an einen Rationalitätsbegriff bestimmte Handlungsmodi von vorneherein ausschließen oder als minder-rational und tendenziell verzichtbar konzipieren muss, zum Anderen aber in der Lage ist, Motivkonzepte, also Intentionen für das Handeln bereit zu stellen? Joas setzt hier bei John Dewey an, dem es bei der ‚Grundierung‘ von Handeln um die Beschreibung besonderer, lehrreicher Mensch-Welt-Bezüge geht, die nicht nach dem Muster einer Zweck-Mittel-Rationalität (eine mentale Idee auf eine äußere Welt anlegend) verstanden werden, sondern ihre Ziele in der aufmerksamen, nahezu dialogischen Auseinandersetzung mit der Situation finden und konkretisieren. In Deweys Fassung bekommt der Begriff der Situation eine starke Bedeutung. Wir werden darüber hinaus das Kontaktmodell der Gestalttherapie als eine vielversprechende Möglichkeit einführen, diese Prozesse der Öffnung zur Situation und der Konkretisierung vorreflexiver Gerichtetheiten in – oder besser ‚an‘ – der Situation zu beschreiben.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sollen dann die Handlungstypen von Habermas geprüft werden und letztlich jeweils um den Modus des kreativen Handelns erweitert werden. Wir können hier nur andenken und uns von in der Soziologie vorhandenen Handlungsmodellen inspirieren lassen, wenn es darum geht, Habermas Handlungsbegriffe je sinnvoll zu erweitern – es ist nicht unser Anspruch, am Ende des Kapitels eine ausgereifte Handlungstheorie entwickelt zu haben. Wir wollen aber durch Identifikation von möglichen Schwachpunkten in Habermas´ Theorie einige Wege aufweisen, wie hier weiter gedacht werden könnte. Besonders im Kapitel II 4.4 werden wir unseren Versuch einer eigenen Typologie darstellen.

1. Instrumentelles, strategisches und kommunikatives Handeln: ein knapper Überblick über Habermas´ Handlungstheorie

Ein wichtiges Anliegen von Jürgen Habermas ist es, mit seiner Theorie des Kommunikativen Handelns, ausgehend von einem erweiterten Rationalitätsbegriff, nicht nur das aufklärerische Potenzial der Vernunft zu retten und das Bewusstseinsparadigma in der Philosophie zu überwinden, sondern auch – und hier wird seine Argumentation ganz soziologisch – eine neue Typologie des Handelns zu begründen. Die zeichnet sich im Wesentlichen durch eine zentrale Polarisierung aus: Habermas unterscheidet zwischen instrumentellem sowie strategischem Handeln auf der einen Seite und kommunikativen Handlungen auf der anderen. „Eine erfolgsorientierte Handlung nennen wir instrumentell, wenn wir sie unter dem Aspekt der Befolgung technischer Handlungsregeln betrachten und den Wirkungsgrad einer Intervention in einen Zusammenhang von Zuständen und Ereignissen bewerten; strategisch nennen wir eine erfolgsorientierte Handlung, wenn wir sie unter dem Aspekt der Befolgung von Regeln rationaler Wahl betrachten und den Wirkungsgrad der Einflußnahme auf die Entscheidung eines rationalen Gegenspielers bewerten.“[8] (TKH I, S. 385) Deutlich wird hier, dass beide Typen sozusagen einem vereinenden Pol zuzuordnen sind: der Erfolgsorientierung, die den jeweiligen Handlungen zugrunde liegt. Das kommunikative Handeln grenzt Habermas nun scharf von diesem Pol ab: Die Handlungspläne der beteiligten Akteure werden „nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert“ (ebd.). Diese basale Unterscheidung zwischen erfolgsorientiertem vs. verständigungsorientiertem Handeln durchzieht Habermas´ gesamte TKH. In einem weiteren Schritt nimmt er dann, darauf aufbauend, den Bereich des kommunikativen Handelns genauer unter die Lupe: Hier wird nach drei Typen sprachlich vermittelter Interaktion differenziert. Jede kommunikative Handlung ist ein sprachlich transportiertes Angebot der möglichen Auseinandersetzung über eben dies Gesprochene. Auseinandersetzen kann nun im weiteren Sinne bedeuten – und dies wird wohl der Normalfall sein –, dass ich schlicht das Gesprochene als korrekt akzeptiere oder mich nicht weiter daran störe, da ich keinen Grund sehe zu widersprechen. Wenn jemand bspw. sagt: „Am Sonntag gehen viele Leute in die Kirche!“, gibt es nun vielerlei mögliche Motive zu widersprechen. Solange ich der Aussage allerdings im Modus des kommunikativen Handelns begegne/widerspreche, werde ich mich, so setzt Habermas die besondere Eigenart dieses Handlungstyps, auf gute Gründe für meinen Widerspruch festlegen. Ich bin ernsthaft daran interessiert, hier Klärung herbei zu führen und kann dann die Aussage auf der Basis von drei „Weltbezügen“[9] kritisieren: Die Aussage sollte in Bezug auf eine objektive Welt wahr, in Bezug auf die soziale Welt richtig und in Bezug auf die subjektive Welt des Sprechers wahrhaftig sein. Es können immer alle drei Geltungsansprüche problematisch werden; in der Regel wird sich die Kritik aber zunächst mal einen herausnehmen, so z.B. nach dem Motto: „Ich mache die Beobachtung, dass sonntags nicht mehr viele Leute in die Kirche gehen“ (Kritik des Wahrheitsanspruches der Äußerung).

Habermas leitet über die drei Weltbezüge auch drei ‚reine‘ Typen des kommunikativen Handelns her: Konversation (objektive Welt), normenreguliertes Handeln (soziale Welt) und dramaturgisches Handeln (subjektive Welt). Ein weiterer Typ der sprachlich vermittelten Interaktion ist dann das oben schon erwähnte strategische Handeln, wobei es hier nicht um die Klärung von Geltungsansprüchen geht, sondern vielmehr um die „Beeinflussung des Gegenspielers“ (TKH I, S. 439)[10]. Ich kann, und ich bin damit sicherlich meist gut beraten, im strategischen Sinn durchaus so tun, als ginge es mir um die Kritik eines Geltungsanspruches, das eigentliche Ziel des strategischen Handels ist aber das Bewirken einer nicht offen gelegten Wirkung bei meinem Gegenüber (der sodann auch nicht mehr genuin als Subjekt wahrgenommen wird, sondern vielmehr als ein, wenn auch kompliziert, zu manipulierendes Objekt).

Im Folgenden werden wir nicht mehr speziell auf die Probleme dieser (auch von Habermas als analytisch angelegten) Trennung nach Erfolgs- und Verständigungsorientierung eingehen. Vielmehr rückt für uns die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern diese Handlungstypologie in der Lage ist, alle möglichen Handlungsmodi abzudecken. Unsere vorläufige Antwort, die begründet werden muss, ist: Sie ist es nicht![11] Dies werden wir in den folgenden Kapiteln prüfen.

2. Die Befreiung der Kommunikation und die Marginalisierung des Spielerisch-Kreativen: Lob für und Kritik an Habermas´ Handlungstypologie

„Der Testfall für eine Theorie der Rationalität, mit der sich das moderne Weltverständnis seiner Universalität versichern möchte, träte allerdings erst dann ein, wenn sich die opaken Gestalten des Mythischen Denkens lichten, die bizarren Äußerungen fremder Kulturen aufklären, und zwar so aufklären ließen, daß wir nicht nur die Lernprozesse begriffen, die ‚uns‘ von ‚ihnen‘ trennen, sondern daß wir uns auch dessen innewürden, was wir im Zuge unserer Lernprozesse verlernt haben.“

TKH II (S. 588)

„Es bleibt im Grunde dabei, daß es sehr wichtig ist, diesen Kunstbegriff zu entwickeln, wo jeder lebende Mensch ein Gestalter einer lebendigen Substanz werden kann. Das ist der soziale Organismus.“

Joseph Beuys (1984)

Jürgen Habermas´ Anspruch ist es, mit den drei über die Weltbezüge ausdifferenzierten Modi des kommunikativen Handelns, zusammen mit dem erfolgsorientierten Handeln, auch zugleich die „phänomenale Vielfalt“ (Joas 1986, S. 149) der in der Soziologie bekannten[12] Handlungstypen einzubinden.

Hans Joas weist darauf hin, dass sich Habermas in seinen Definitionen der verschiedenen Handlungsmodi immer nur spezifischen Aspekten zuwendet, andere aber systematisch vernachlässigt:

„Beim teleologischen Handeln fehlt die Unterscheidung zwischen einem zweckrationalisierenden Handeln und dem von Pragmatismus und Phänomenologie betonten Typus eines seine Zwecke in Situationen spielerisch erst findenden Handelns. Der Typus des spielerischen Umgangs mit Gegenständen und Situationen fehlt völlig. Die Beschreibung des normenregulierten Handelns ist am Modell der Normenbefolgung ausgerichtet, während symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie die vage Umgrenzung situationsspezifisch sinnvollen Verhaltens betonen. Damit fehlt die nicht oder gering normativ regulierte Interaktion. Das dramaturgische Handeln bezieht sich auf strategische Präsentationen seiner Selbst gegenüber einem Publikum. Damit fehlt in der Typologie das eigentliche expressivistische Modell des Selbstausdrucks in Handlungen ohne strategische Absicht.“ (Joas 1986, S. 149)

Betrachten wir uns diese Ausführungen von Joas etwas genauer, dann fällt auf, dass sich die von ihm angeführten Versäumnisse Habermas´ (die wir zum schnelleren Überblick kursiv hervorgehoben haben) durch eine gemeinsame Strukturkomponente auszeichnen: Habermas erfasst in seiner Handlungstheorie solche Handlungsmodi nicht, die weniger zielgerichtet und damit offener für die Situation selbst sein könnten. Sowohl im „spielerischen Umgang mit den Gegenständen und Situationen“, wie auch beim normativen Handeln die mögliche „vage Umgrenzung“ von sinnvollem Verhalten, wie zuletzt das Modell des expressiven Handelns ohne strategische Absicht, verweisen auf ein Potenzial des Handelns, das Habermas nicht erfasst: den spielerischen, noch nicht oder nur sehr vage durch Zwecksetzungen vordefinierten Umgang mit Situationen[13]. Die Zugangsweise Habermas´, (alle) Handlungen über einen zugrundeliegenden (klaren) Telos zu fassen, unterstreicht er in verschiedenen Zusammenhängen:

„Kommunikatives Handeln definiere ich u.a. dadurch, daß die Handlungskoordinierung der Bedingung eines vorbehaltlos kommunikativ erzielten Einverständnisses genügen muß. Die Forderung der vorbehaltlosen Verfolgung illokutionärer Ziele soll eben die Fälle latent[14] strategischen Handelns ausschließen. Im strategischen Handeln wird (allgemein) sprachliche Verständigung nicht als Medium der Handlungskoordinierung in Anspruch genommen[15]. [...] stattdessen müssen wir allein auf die Bedingungen für die reziproke Einflußnahme rekurrieren, die zweckrational handelnde, am jeweils eigenen Erfolg orientierte Gegenspieler aufeinander auszuüben versuchen. Meine Kritiker übersehen manchmal, daß in beiden Handlungsmodellen den Aktoren die Fähigkeit zu Zwecksetzung und zielgerichtetem Handeln, auch das Interesse an der Ausführung der eigenen Handlungspläne zugeschrieben wird.“ (Habermas 1986, S. 364 - Anm. und Hervorhebungen v. d. A.)[16].

Wollte nicht Habermas das Handeln von einer stur zweckrationalen Grundlage befreien? Was ist dann sein Verdienst? Diese Frage drängt sich hier ketzerisch auf, aber wir wollen nicht ketzern: Jürgen Habermas ist es gelungen, über seine Handlungstheorie und deren basale Differenzierung in verständigungsorientiertes vs. erfolgsorientiertes Handeln eine besondere Sorte von Handlungen zu isolieren: Es gibt Modi der Kommunikation, die, sinnvollerweise noch mal nach drei Weltbezügen differenziert, nicht in die Logik des instrumentellen (die Individualität des Gegenübers negierenden) Handlungsbegriffes passen. „Telos“ bekommt, wird er auf das kommunikative Handeln bezogen, eine andere ‚Färbung‘, indem mein Gegenüber als vernünftig handelndes Wesen ernst genommen wird: Telos bedeutet hier, das Ziel zu verfolgen, sich mit jemandem, den man als (möglichen Kooperations-) Partner, als Subjekt wie man selbst eins ist, begreift, über etwas zu verständigen. „Illokutionäre Erfolge sind also nur kooperativ zu erreichen und stehen niemals einem einzelnen Interaktionsteilnehmer zur Disposition“ (Habermas 1986, S. 365). Dass man dabei bereit ist, bessere Argumente als die eigenen zu akzeptieren, sogar die eigenen Ziele offen legen muss („Ich möchte Dich mit Argument XY davon überzeugen, dass es so und so ist...“), zeigt den qualitativen Unterschied, der kommunikatives von strategischem oder instrumentellem Handeln abhebt und zeigt auch, warum es Habermas über seinen Begriff der kommunikativen Rationalität gelingt, Rationalität und damit verbunden den Vernunftbegriff zu ‚retten‘.[17] Das Rettungsmotiv wird klar, wenn man die ‚Angriffe‘ von Durkheim über Weber bis zu Horkheimer und Adorno verfolgt[18]. „Darin, daß Habermas den Begriff der Zweckrationalität nicht einfach austauscht gegen den der kommunikativen Rationalität, sondern den Prozeß der Rationalisierung in diese beiden gegenläufigen Konzepte aufspaltet“, sieht Berger (1986, S. 259) die Schlüsselfigur der TKH.

Nach diesem kurzen, Missverständnisse ausräumenden ‚Lobesexkurs‘, nun wieder zurück auf die Schiene unserer kritischen Auseinandersetzung: Gerade diese Systematik, die Habermas zum angestrebten Ziel bringt, kritisiert Hans Joas. Habermas führe unnötig einen Rationalitätsbegriff ein, mit dem er zwar „die Kommunikation als solche aus der Verbannung in die prallgefüllte Residualkategorie des nicht-instrumentellen Handelns erlöst hat“ (Joas 1986, S. 149), der aber, wie oben angedeutet, auf der anderen Seite zur systematischen Ausblendung wichtiger Handlungsmodi führe: Besonders solcher, die jenseits eines klaren Zweck-Mittel-Schemas liegen, bzw. solche, die spielerisch und/oder kreativ herstellend mit Situationen umgehen (noch einmal: auch der Begriff der kommunikativen Rationalität wird von Habermas in gewisser Weise in ein Ziel-Mittel-Schema gezwängt, auch wenn die Mittel nicht in einer objektiv gegebenen Welt liegen und auch die Ziele nicht als manipulierbare Effekte zu denken sind, sondern im Medium der gemeinsamen Sprache zu suchen sind. Wir werden auf den Sonderfall des kommunikativen Handelns aber noch zurück kommen (s. Kap. II 4.1)).

Welche Folgen hat diese tendenzielle Schlagseite in Habermas´ Konzeption der Grundlagen von Handlungstheorie? Zunächst einmal wollen wir diese Frage auf der Ebene der Handlungstheorie etwas beleuchten und lediglich in den abschliessenden Kap. II 4.4 und II 5. einige Implikationen auf weitere Vorstellungen des Habermas´schen Theoriegebäudes kurz andiskutieren. – Natürlich, das sei hier als Notbremse möglicher überzogener Ansprüche nochmals vorweg gestellt, nicht mit dem Ziel, eine breitere neue Handlungstheorie auszuführen. Die Kritik soll aber durchaus Richtungen aufzeigen, die man bei einer umfassenderen Konzeptionierung einschlagen könnte.

3. Kritik der Teleologie, der Bewusstseinsautonomie und der Instrumentalisierung des Körpers: Joas´ Dekonstruktionsvorschläge der Selbstverständlichkeiten gängiger Rationalitätsvorstellungen

Hans Joas betont, bei aller Kritik an Habermas´ Handlungstheorie, seine „Einsicht in die irreduzible Eigenstruktur menschlicher Kommunikation. Jeder Reduktion des menschlichen Handelns aufs bloß Technische, Instrumentelle, Teleologische, Erfolgsorientierte – wie immer die Grundbegriffe präzise oder unpräzise lauten mögen – steht die Gewißheit entgegen, daß Menschen miteinander umgehen können, ohne sich dem impliziten oder expliziten Anspruch des Mitmenschen auf wahre Erkenntnis, richtiges Verhalten und authentische Selbstdarstellung zu verschließen.“ (Joas 1986, S. 146). Wie oben gezeigt vermutet Joas allerdings, dass sich hinter Habermas´ ur-ursprünglicher Konzeption, der instrumentellen Verengung des Handlungsbegriffes einen Praxisbegriff entgegenzustellen, der imstande wäre, eine Vielzahl das Gegenüber nicht-verobjektivierender Handlungsmodi zu entfalten, viel mehr an Potenzial verbirgt, als nun mit dem Begriff des kommunikativen Handelns eingeholt werden kann. Joas sieht die Potenziale einer erweiterten Handlungstheorie, die die eingeforderte „phänomenale Vielfalt“ erfassen kann, in den Ansätzen des Pragmatismus und orientiert sich hier im Besonderen an John Dewey und dessen (impliziter) Dekonstruktion von Rationalitätsvorstellungen, die fast jeder Theorie des Handelns vorausgehen würden. Die – oft nicht bewusst ausgezeichneten – Annahmen rationaler Handlungsmodelle seien (a) die Unterstellung eines wie auch immer konzipierten Primates zielgerichtet-teleologischer Handlungen, (b) die Idee, die Handelnden würden ihren Körper (beliebig im Rahmen bestimmter biologischer Grenzen) dirigieren und (c) die Autonomie von Handelnden gegenüber den Mitmenschen[19] bzw. der sozialen Umwelt allgemein. Nun kann die Unterstellung (c) in keiner Weise gegen Habermas´ TKH hervorgebracht werden, da Habermas selbst, wie kein anderer vor ihm, die Annahme einer bewusstseinsphilosophisch gestützten Rationalitätsvorstellung dekonstruiert: In Anschluss an u.a. Mead, Goffman, sowie die ethnomethodologische Theorietradition relativiert Habermas die Vorstellung des Primates autonomer Bewusstseine, die lediglich sekundär soziale Beziehungen eingehen, und setzt seinen Begriff der kommunikativen Rationalität und das Lebensweltkonzept[20] dagegen, mit dem ein in der Sprache verankertes Potenzial angesprochen wird, durch das eine Vorstellung von Sozialität begründet wird, die nicht auf individuelles Handeln reduzierbar sein kann: Das holostisch strukturierte Wissen der Lebenswelt muss allem Sich-Verständigen-Können bereits voraus gehen, da ich, um verstehen zu können, auf Gründe zurückgreifen können muss, die mir die Aussagen eines Gegenüber überhaupt erst sinnvoll erscheinen lassen.[21] Dieses Hintergrundwissen, das sprachlicher Verständigung zu Grunde liegt, steckt z.B. in der Anlage auch in den Vorstellung zur Perspektivenreziprozität, die eine zentrale Rolle in Meads Entwicklungstheorie spielt. Sicherlich trifft dies auf alle im engeren Sinne sozialen Handlungsformen (wo es um Koordination mit Anderen oder auch um das eher unkooperative Bewirken einer Handlungsfolge bei einem Andern etc. geht) zu. Auch für instrumentelles Handeln, also in einer ‚reinen‘ Mensch-Objekt-Beziehung, an der keine weiteren Personen außer dem Aktor beteiligt sind, ist das von Habermas konzipierte Lebensweltkonzept ein umfassender Hintergrund, da in der Lebenswelt die Modelle von Welt schlechthin abgelagert sind.

Fraglich wird die Konstruktion einer rein über Kommunikation sich bereichernde Lebenswelt als umfassendes und nicht hintergehbares Reservoir von Hintergrundannahmen erst an dem Punkt, wo Einzelne im Kontakt mit einem Teil ihrer Umwelt ‚Neues‘ integrieren. – Auf solche Erfahrungsreservate als möglicherweise für Irritation sorgende Impulse, die zu einer Restrukturierung von lebensweltlichen Vorstellungen drängen, geht Habermas nicht ein. Wir meinen hier nicht über einen rationalen Diskurs erreichte neue Einsichten oder gar über diverse sozialisatorische Funktionen integrierte Muster und Wissensbestände, sondern ‚Neues‘ im Sinne bspw. von ‚Heureka-Erlebnissen‘ der Kreativitätstheorie[22]. Des Weiteren ist fraglich, inwiefern die gemeinsam geteilte Lebenswelt sich lediglich aus der Kommunikation speist: Muss erst über jede Erfahrung von Welt gesprochen werden, um davon ausgehen zu können, dass ich diese mit Anderen teile? Ist das rationale Problematisieren der Lebenswelt über verständigungsorientierte Kommunikation der einzige Weg, neues Wissen in der Lebenswelt zu verankern? Wir meinen, es kann in vielen Fällen durchaus hinreichend sein, über die Fähigkeit der Perspektivenreziprozität davon ausgehen zu können, dass andere auch mit dieser Erfahrung vertraut sind und sie ähnlich interpretieren. Für den Begriff des kommunikativen Handelns und Habermas´ Ansatz der Orientierung an einem auf Kooperation angelegten Primats sozialen Handelns, der immer schon auf eine gemeinsam geteilte Lebenswelt zurückgreift, bedeutet das nun zunächst nur, dass untersucht werden könnte, inwiefern Habermas alle möglichen Zugänge und Veränderungsquellen der Lebenswelt bedenken kann, wenn er sie derart eng an Sprache und Diskurs bindet. Habermas´ Verdienst, mit dem kommunikativen Handeln einen zentralen Mechanismus der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt eingeführt zu haben und damit das Handeln im Sozialen und nicht bewusstseinstheoretisch zu fundieren, soll hier nicht in Frage gestellt werden.

[...]


[1] Vgl. z.B. Schelskys Aufsatz „Ist Dauerreflexion institutionalisierbar?“(1965), in dem es ihm, freilich aus einem religionssoziologischen Kontext heraus, um eben eine Gesellschaftstheorie geht, die ihn einen Begriff des kommunikativen Handelns nahezu auf die Zunge läge – nur das er ihn nicht weiter systematisch ausführt. Schelsky, H. (1965)

[2] Aus pragmatischen Gründen und zum Wohle der LeserInnen im Folgenden mit „TKH“ abgekürzt.

[3] Was natürlich nicht bedeutet, dass aus der Perspektive der Akteure nicht auch erfolgsorientiert kommuniziert werden könnte, aber hierzu spätestens in Kapitel II, wo zu Beginn kurz die für diese Arbeit interessanten Grundideen der TKH erklärt werden.

[4] Mit „wir“ meinen sich in dieser Arbeit immer die Autoren. Die LeserInnen sind nicht mitgemeint, da wir ja nicht wissen, was diese wollen. Wir hoffen allerdings, dass an der einen oder anderen Stelle die LeserInnen unsere Vorschläge für sinnvoll erachten mögen.

[5] Wir geben natürlich zu, dass dies für eine Hausarbeit im vorgegeben Rahmen möglicherweise prätentiös oder zumindest schwer zu leisten ist, finden aber, an der einen oder anderen Stelle vielleicht wirklich auf Möglichkeiten gestoßen zu sein, Probleme zu relativieren, die uns intuitiv an Habermas´ Theoriegebäude störten.

[6] Joas (1986, S. 146 ff.), als Bsp. für viele: „Als Zwischenergebnis wäre demnach festzuhalten, dass Habermas in handlungstheoretischer Sicht nicht wirklich versucht hat, der phänomenalen Vielfalt gerecht zu werden, [...]“ (ebd., S. 149).

[7] Luhmann formuliert das explizit, da er noch zu Lebzeiten auf Habermas´ Theorie des kommunikativen Handelns antworten konnte; Deweys grundlegende Kritik am Zweck-Mittel-Schema, das wird sich zeigen, kann man auch problemlos auf Habermas´ Rationalitätsmodelle anwenden.

[8] Um für die notwendige Klarheit zu sorgen, lohnt es sich an dieser Stelle zu kontrastieren: Instrumentelles Handeln meint immer einen Bezug eines Subjektes zur ‚objektiven Welt‘, in der keine anderen Subjekte als Faktoren mit bedacht werden müssen. Das strategische Handeln ist hier ‚sozialer‘ indem hier ein Aktor zwar auch noch in der ‚objektiven Welt‘ handelt, allerdings nun andere Subjekte als autonom Handelnde in seinen Strategien mit bedenken muss. Andere Subjekte werden aber als objektive Faktoren in die Pläne mit aufgenommen, eine Verständigung mit ihnen wird nicht primär angestrebt, sie werden objektiviert: In diesem Sinne handelt es sich beim instrumentellen wie beim strategischen Handeln um Subjekt- Objekt Bezüge.

[9] Siehe hierzu TKH I, S. 149.

[10] Siehe hierzu Habermas´ Ausführungen in TKH I, S. 437f., v.a. aber die Tabelle auf S. 439, in der die verschiedenen Typen systematisch gegenübergestellt werden.

[11] Mit dieser forschen These folgen wir Hans Joas (1986, S. 149).

[12] Welche hier gemeint sind, s. z.B. Joas (1986, S. 147f).

[13] Nicht sehr überzeugend ist hierzu die pauschale Feststellung Habermas´, der spielerische und künstlerische Umgang mit Gegenständen sei „für soziales Handeln ebensowenig konstitutiv, wie Zwecktätigkeit im allgemeinen“ (Habermas 1986, S. 376); in seinen Konzepten könne er alle für soziales Verhalten relevanten Phänomene unterbringen, das gelte „auch für problemlösendes und kreativ-zweckschöpfendes“ (ebd.) Verhalten. Das dem nur eingeschränkt so ist, wollen wir mit dieser Arbeit u.a. gerade zeigen.

[14] Latenz ist hier als Verschleiern strategischer Ziele gemeint, indem man den Gegenübern nur vorspielt, man verfolge verständigungsorientierte Ziele, dies aber nur Mittel zum Zweck der Erreichung eines perlokutionären Effekts ist.

[15] Das Verstehen von Sprache muss beim strategischen Handeln zwar vorausgesetzt werden, dient aber nicht als Koordinationsmedium. Strategisches Handeln verhält sich in diesem Sinne parasitär zum Primat der Verständigung.

[16] Oder knapper: „Sprache ist ein Kommunikationsmedium, das der Verständigung dient, während Aktoren, indem sie sich miteinander verständigen, um ihre Handlungen zu koordinieren, jeweils bestimmte Ziele verfolgen. Insofern ist die teleologische Struktur für alle Handlungsbegriffe fundamental.“ (TKH I, S. 150f)

[17] Zu diesem Komplex und der dabei angesprochenen Konnotation von Telos vgl. a. Kapitel IV 3.

[18] Hierzu führt z.B. Johannes Berger (1986, S. 258f) zusammenfassend aus: „Im Verlauf der Modernisierung breiten sich nicht einfach zweckrationale Orientierungen aus, wie bei Weber (in der Interpretation von Habermas), es gewinnt nicht einfach die organische Solidarität ein fortschreitendes Übergewicht über die mechanische, wie bei Durkheim, die Geschichte endet nicht ausweglos in der Totalität eines Verblendungszusammenhanges instrumenteller Vernunft, wie bei Horkheimer und Adorno.“

[19] Siehe zu diesem Gedanken besonders Joas 1996, S. 213 –218.

[20] Gemeint ist hier zunächst der handlungstheoretisch bedeutsame formalpragmatische Lebensweltbegriff. Zur Unterscheidung vom im Zuge seiner ordnungstheoretischen Nutzbarmachung modifizierten soziologischen Lebensweltbegriff s.a. TKH II, S. 205ff.

[21] Die Information, ein Auto sei grün, setzt also einiges voraus: zu wissen, was grün ist, was ein Auto ist, prüfen zu können, ob alle Komponenten des Satzes stimmen, die möglichen Geltungsansprüche zu kennen, die mit der Aussage aufgestellt werden, ja, ganz implizit, die grammatikalischen Regeln zu kennen, nach denen ein Satz aufgebaut ist...

[22] Wir sind uns hier natürlich bewusst, dass man nicht von der Kreativitätstheorie sprechen kann. Wie vielfältig und facettenreich die Vorstellungen von Kreativität heute aber auch in der Geschichte der Theorie sind, zeigt z.B. Harmut von Hentig (1998): Kreativität – Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, S. 12-41. Oder systematischer: Eisler-Stehrenberger (1990), S. 123 ff.

Wir meinen hier einen Begriff von Kreativität, der sich an die von verschiedenen AutorInnen eingeführten Phasenmodelle eines kreativen Prozesses hält; deren geteilte Merkmale sind meist die Beschreibung eines Problemlösungsprozesses durch Veränderung z.B. der Sichtweise oder der Achtsamkeit. Dadurch wird ein (ggf. bekanntes) Phänomen zu etwas Neuem, bekommt eine neue, (er-) lösende Funktion und Bedeutung. Oft geschieht das über emergente Prozesse, also Refigurationen bereits bekannter Ideen, Sichtweisen in einer Form, die eine neue Qualität hervorbringt. Dem Prozess ist immer auch eine nahezu dialogische Wechselbeziehung der eigenen Lösungsbemühungen zu einem sinnlich erfahrbaren (u.U. auch sozialen) Umfeld inne. Der Prozess, wenn er auch noch so gedankenvoll stattfindet, wird meist von ‚außen‘ (Informationssuche, sinnliches Begreifen von Objekten einer relevanten Umwelt, ...) inspiriert, bis zu dem Punkt, an dem sich ein Aha-Erlebnis einstellt, die Lösung plötzlich gefunden ist. Vgl. die Beschreibung dieser Strukturkomponenten z.B. in: Brodbeck (1999, S. 18-47). Ein Prozessmodell der Kreativität in unserem Sinne entwickelt Eisler-Stehrenberg (1990), S. 144 ff. und besonders: Jeanmaire (1997), S. 10-14.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Die Vielfalt des Handelns - Kritik und Erweiterung von Jürgen Habermas´ Handlungstypologie und andere Problemfelder der TKH
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Soziologisches Seminar)
Veranstaltung
Die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas
Note
1,3
Autoren
Jahr
2002
Seiten
74
Katalognummer
V9735
ISBN (eBook)
9783638163576
Dateigröße
973 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vielfalt, Handelns, Kritik, Erweiterung, Jürgen, Habermas´, Handlungstypologie, Problemfelder, Theorie, Handelns, Jürgen, Habermas, Thema Habermas
Arbeit zitieren
M.A. Péter Szász (Autor:in)Thomas Göymen (Autor:in), 2002, Die Vielfalt des Handelns - Kritik und Erweiterung von Jürgen Habermas´ Handlungstypologie und andere Problemfelder der TKH, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9735

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