Ricardo Reis e o fluir do tempo


Seminararbeit, 1999

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Allgemeines über das Werk von Ricardo Reis
2.1. Entstehung des Heteronyms
2.2. Reis und die Antike: Epikur und Horaz
2.3. ,,Paganismo" und ,,Neo-Classicismo"

3. Das Motiv ,,o fluir do tempo"
3.1. Häufig vorkommende Bilder
3.2. Reis` Angst vor dem Zeitfluss
3.3. Reis` Heilmittel gegen seine Angst

4. Analyse der Ode VIII des ,,Livro Primeiro"
4.1. Formale Analyse: Strophen, Metrum, Syntax
4.2. Inhaltsangabe und inhaltliche Gliederung
4.3. Detaillierte Analyse und Interpretation von Inhalt und Sprache

5. Schluss

6. Anhang

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa am 30. November des Jahres 1935 im Alter von 47 Jahren starb, war er für die breite Masse der Portugiesen ein völlig Unbekannter. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Zeitschriften, hatte er bis zu seinem Tode lediglich zwei Bücher publiziert, wovon das eine, ,,Englische Gedichte", kaum einen Leser gefunden hatte und das andere, ,,Mensagem", das nur ein Jahr vor seinen Tode veröffentlicht worden war, noch zu neu und vor allem zu hermetisch war, um eine große Leserschaft zu erreichen.1

Tausende von Seiten von Gedichten und Prosastücken hinterließ Pessoa der Nachwelt. All diese Geheimnisse seines Schaffens bewahrte er in einem bereits legendär gewordenen Koffer in seinem Haus auf.2 Dass es eine schier unlösbare Aufgabe ist, den Inhalt jenes Koffers zu sortieren, zu erforschen und vor allem zu interpretieren erkennt man daran, dass die einstweilige Aufarbeitung des Materials einen Zeitraum von rund 50 Jahren beanspruchte. So erschien zum Beispiel die erste Ausgabe des ,,Livro do Desassossego" erst 47 Jahre nach Pessoas Tod, nämlich 1982. Bestimmte Bereiche des Werks sind noch nicht, beziehungsweise nur unbefriedigend erforscht, so die Gedichte, die unter der Kategorie ,,Poesias esotéricas" zusammengefasst werden.

Auch das besonders Charakteristische und Einzigartige an Pessoas Werk, nämlich die Tatsache, dass es in die Einzelwerke verschiedener heteronymer und subheteronymer Schriftsteller zerfällt3, erschwerte die Forschungen mancherorts insofern, dass Gedichte nicht immer eindeutig dem einen oder dem anderen Heteronym zugeordnet werden konnten, da sie Pessoa nicht unterzeichnet hat. Die Werke der wichtigsten Heteronyme, Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Ávaro de Campos, sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon ziemlich hinreichend erforscht. Die Oden des Ricardo Reis sind davon ein noch verhältnismäßig eindeutig interpretierbarer Teilbereich. Obwohl diese Gedichte schematisch konstruiert sind und sich inhaltlich meist auf die Antike berufen, können sie nicht als reine Nachahmung von Althergebrachtem verstanden werden. Ricardo Reis ist viel mehr. Er ist darüber hinaus Teil eines höchst komplexen Werkes, in dem er als eine Gestalt des ,,drama em gente" mit anderen in Beziehung steht. Und deshalb muss man seine Bedeutung, wie auch die Bedeutung der anderen Heteronyme, im Kontext des gesamten pessoanischen Werks sehen.

Bevor das geschehen kann, ist es jedoch unerlässlich, sich zuerst eingehend mit seinen Oden zu befassen. Deshalb möchte ich zunächst einen Überblick über Reis` Werk geben und anschließend exemplarisch ein zentrales Motiv, ,,o fluir do tempo", herausgreifen und daran Folgendes beantworten: Welche Bilder wählt Reis für das Motiv? Warum löst es Angst in ihm aus? Und wie kuriert Reis seine Ängste? Danach soll an der achten Ode aus dem ,,Livro Primeiro",4 die dem angesprochenen Inhalt besonders gut gerecht wird, eine detaillierte Analyse vorgenommen und somit das Thema noch vertiefen werden.

2. Allgemeines über das Werk von Ricardo Reis

2.1. Entstehung des Heteronyms

Wenn es um die Entstehung, die äußere Erscheinung und die Lebensumstände der Heteronyme geht, wird oft Pessoas Brief an seinen Freund Adolfo de Casais Monteiro zitiert.5 Demzufolge wurden die Heteronyme in der Seele des Dichters geboren an dem von ihm als ,,dia triunfal" bezeichneten Tag. Über die Genese von Ricardo Reis finden wir in dem Brief zwei Daten. Zunächst spricht Pessoa davon, im Jahre 1912 bereits eine skizzenhafte Vorstellung von ihm gehabt zu haben, aber der endgültige Entstehungs-zeitpunkt sei jener Tag im Jahre 1914, an dem auch Alberto Caeiro in das Bewusstsein des Dichters gedrungen ist.6 Dem Brief zufolge, wurde Reis in einem Jesuitengymnasium unterrichtet und ist von Beruf Arzt. Seine monarchistische Einstellung habe ihn dazu veranlasst, 1919 nach Brasilien auszuwandern.7 Reis ist von seiner Schulbildung her Latinist und durch eigene Studien halber Hellenist,8 was sich beides deutlich in seinen Oden niederschlägt. Jacinto do Prado Coelho beschreibt seinen Charakter als einen schweren Geist, gemessen und nach Perfektion strebend, seinen Stil als dicht und konstruiert, was aus ihm einen in formalen Dingen hochstehenden Poeten mache.9

Das Heteronym Alberto Caeiro ist Reis` Lehrmeister. Er ist in Besitz einer absoluten Wahrheit10 und versucht, dem Schüler sein Gedankengut weiterzugeben. Caeiros Philosophie basiert auf der Idee, dass das höchste Gut ein Leben ohne Nachdenken darstellt, ein Leben ohne Bewusstsein, in paradiesischer Unschuld der Kindheit.11 Auch wenn es darum geht, dass sich das Leben auf den Augenblick selbst konzentrieren soll anstatt Gedanken auf Vergangenes und Zukünftiges zu verschwenden, lehnt sich Reis an Caeiros Lebensweisheit an.

2.2. Reis und die Antike: Epikur und Horaz

Die zentralen Themen in Reis` Poesie vermischen sich unauflöslich mit der Philosophie Epikurs und der stoischen Ethik des Horaz. Durch Epikurs positive und lebensfrohe Philosophie, die das Glück als das höchste Gut ansieht,12 versucht Reis seine eigene Angst vor dem Schicksal, dem Tod und dem Dahinschwinden der Zeit zu überwinden. Epikur bezwang seine Todesangst, indem er den Tod als eine ,,Beraubung der Wahrnehmung" beschrieb. Da jedoch ,,alles Gute und Schlechte eine Frage der Wahrnehmung ist"13 gibt es keinen Grund, den Tod zu fürchten. Er betrifft uns nicht. Reis hingegen gelang es nie, diese Angst völlig zu überwinden, immer wieder beklagt er die Ungewissheit, die der Tod für ihn darstellt.14

Die epikureischen Freuden meinen nicht die ,,ungezügelten Freuden" sondern ,,Schmerzlosigkeit am Körper und Ungetrübtheit der Seele".15 Um einen solchen Glückszustand zu erreichen, ist ,,Selbstgenügsamkeit"16 von Nöten. Epikur predigt, dass nicht jede Freude einfach gewählt werden darf, sondern eine Auswahl getroffen werden muss,17 die nach Gesichtspunkten der ,,Vernunft"18 zu erfolgen habe, und so sind auch in Reis Oden Selbstdisziplin, Genügsamkeit und Abdankung immerwiederkehrende Themen.19

Und wenn Reis schreibt, ,,Sofro, Lídia, do medo do destino",20 dann greift er wiederum ein zentrales Thema epikureischer Philosophie auf. Für Reis stellt das Schicksal eine ständige unberechenbare Bedrohung dar, weshalb er am liebsten ein Leben ohne jede Veränderung führen würde. In Epikurs Augen aber gibt das Schicksal den Menschen weder Gutes noch Schlechtes, sondern vielmehr die ,,Gelegenheit für großes Glück und Übel".21 Man sieht also, dass Reis im Wesentlichen von den selben Dingen wie Epikur beunruhigt wird, mit dem Unterschied, dass Epikur seine Angst überwinden konnte, Reis jedoch nicht oder nicht vollständig.

Wie schon erwähnt, hat neben Epikur der römische Schriftsteller Horaz Einfluss auf Reis` Dichtung genommen. So finden wir bei Reis zum Beispiel oft eine stoische Lebenshaltung.22 Auch in Bezug auf das Motiv der Vergänglichkeit und das berühmte ,,carpe diem", liegt der Vergleich zwischen Reis und Horaz nahe.23

2.3. ,,Paganismo" und ,,Neo-Classicismo"

All das bereits Angesprochene bettet Reis in den sogenannten ,,Paganismo". Reis` neues Heidentum stellt einen Bruch mit dem modernen ,,Romantismo" dar, der die repräsentative Literaturströmung des Christentums war.24 Immer wieder ruft Reis die alten griechischen Götter an und sogar Christus befindet sich unter dieser Vielzahl, allerdings ohne jegliche Sonderstellung.25 Die Macht der Götter jedoch findet ihre Grenze im Fatum, dem alles übergeordneten Schicksal.26

Diese Mischung aus antiken Inhalten schmückt Reis darüber hinaus mit seiner an die Antike angelehnten Poetik, die er den ,,neo-classicismo" nennt. Auch sie ist eine Reaktion gegen den ,,Romantismo" und basiert auf den Kenntnissen, die sich Pessoa über die lateinischen Dichter während seiner Schulzeit in Durban erworben hat.27 Reis` ,,neo-classicismo" oder ,,classicismo moderno" manifestiert sich zunächst in der äußeren Form seiner Oden.28 Er übernahm formale Strukturen wie die Strophenform aus alkäischen29 oder das Metrum aus sapphischen30 Oden. Das wiederum ist gleichsam eine Anlehnung an Horaz, denn diese Strophenformen sind vor allem von jenem übernommen worden und durch seine Oden bekannt geworden.31 Auf der Ebene der Syntax finden wir häufig einen stark latinisierenden Satzbau.32 Auch in seiner Wortwahl greift Reis auf Latinismen, Helenismen und Arcaismen zurück.

Trotz alledem ist und bleibt Reis ein Original. Alles, was er aus vorhergehenden Epochen übernommen hat, übernahm er willentlich und bewusst. Er vermengt alte Motive auf neue Weise und stellt vor dem Hintergrund seiner Zeit einen Poeten dar, der mit allem Gebräuchlichen bricht, in eine ferne Vergangenheit zurückkehrt, um dort ein Heilmittel für seine modernen Ängste zu suchen.33

3. Das Motiv ,,o fluir do tempo"

3.1. Häufig vorkommende Bilder

Com mão mortal elevo à mortal boca Em frágil taça o passageiro vinho, Baços os olhos feitos Para deixar de ver.34

In diesen Versen wird auf besonders schöne Weise eines der am häufigsten vorkommenden Motive in Reis` Lyrik thematisiert. Jedes einzelne Bild, die sterbliche Hand, der sterbliche Becher, der vergängliche Wein und die zum Nicht-mehr-Sehn bestimmten Augen meinen das Gleiche.35 Es geht um das Dahinfließen der Zeit, den flüchtigen Augenblick, die Vergänglichkeit. Dieses Motiv verküpft sich eng mit anderen wichtigen Themen wie dem des Todes und des Schicksals und kann deshalb nicht völlig getrennt von diesen beschrieben werden.

Reis verwendet eine Anzahl verschiedener Metaphern und Bilder, um die Unbeständigkeit des Seins zu verdeutlichen. Oft sind das Blumen und vor allem Rosen wie bei Horaz,36 die er in seinen Gedichten welken und sterben lässt: ,,E colho a rosa porque a sorte manda. / Marcenda, guardo-a; murche-se comigo".37 Dabei strebt er ständig danach, in seinem Bewusstsein, die Vergänglichkeit seiner eigenen Person präsent zu haben und lässt sich daher sinnbildlich mit Rosen bekränzen, die auf seiner Stirne welken sollen, um ihn an sein dahingehendes Leben zu erinnern: ,,Coroai-me de rosas, / [...] / Rosas que se apagem / Em fronte [...]".38 Aber auch der Fluss mit seiner ewig währenden Strömung, (,,Vem sentar-te comigo, Lídia, à beira do rio"39 ), oder die nie enden wollenden Meereswellen (,,[...] o meu indício / Na areia o mar com ondas três o apaga, / Que fará na alta praia / em que o mar é o Tempo?"40 ) dienen Reis als Bilder.

3.2. Reis` Angst vor dem Zeitfluss

Das Bewusstsein über die eigene Vergänglichkeit geht bei Reis einher mit dem Bewusstsein über seine eigene Nichtigkeit. Innerhalb dieses immer andauernden Zeitgefüges ist menschliches Leben ein verschwindend kleiner Augenblick, in dem nichts bewegt, nichts erreicht, nichts verändert werden kann. Wenn das Meer die menschlichen Spuren schon innerhalb weniger Augenblicke auslöscht, so noch viel mehr das ,,Meer der Zeit". Reis weiß, dass sein Leben nicht von Bedeutung ist, wenn man es in Relation zur Zeit setzt: ,,Perene flui a interminável hora / Que nos confessa nulos. [...]".41

Diese niederschmetternde Erkenntnis wird dadurch verschärft, dass es offensichtlich keinen irdischen Weg gibt, aus dem Fluss der Zeit auszubrechen oder ihn umzukehren, sondern es im Gegenteil in der Natur der Dinge liegt, dass alles Sein der Zeit unterworfen ist und diese Dimension nicht überwunden werden kann: ,,Quer gozemos, quer não gozemos, passamos como o rio".42 Unter solchen Einsichten leidet Reis so sehr, dass er sie immer wieder in neuen Bildern beschreibt:

Colhido, o fruto deperece; e cai Nunca sendo colhido.

Igual é o fado, quer o procuremos, Quer o speremos. [...]43

Hier wird nochmals deutlich, wie machtlos er sich gegenüber der Zeit und des Schicksals fühlt und gleichzeitig auch wie unwichtig, ja geradezu nichtig. Ob er nun eine Frucht pflückt oder nicht, er ändert damit nichts am Weltgeschehen, denn sie muss so oder so verderben.

Ein anderer Grund, weshalb ihn das Verrinnen der Zeit ängstigt, liegt darin begründet, dass die Zeit Veränderungen mit sich bringt. Jeder Tag kann Neuerungen ins Leben rufen, kann den gegenwärtigen Zustand zerstören. Für Reis sind neue Ereignisse uneinschätzbar und deshalb bedrohlich. Er glaubt an das ewige Schicksal, ein Schicksal ohne Gewissen, das weder die Vergangenheit noch die Zukunft kennt44 und deshalb völlig willkürlich ins menschliche Leben eingreift: ,,Temo, Lídia, o destino. Nada é certo. / Em qualquer hora pode suceder-nos / O que nos tudo mude.".45 An anderer Stelle vergleicht Reis das unberechenbare Schicksal mit einem Stein unter seinem Wagenrad,46 beschreibt es als etwas absolut nicht Abschätzbares und versichert, dass ihm alles und jedes, was ihn aus seiner gegenwärtigen Situation reißen könnte, selbst wenn es positive Änderungen sind, unbändige Angst macht: ,,Tudo quanto me ameace de mudar-me / Para melhor que seja, odeio e fujo".47

Natürlich muss man in diesem Zusammenhang auf das Motiv des Todes hinweisen, auch wenn dies hier nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden kann. Der Zeitstrom führt jedes Leben, jede Daseinsform an ihr unvermeidbares Ende: den Tod. Der Gedanke an sein Ableben versetzt Reis immer wieder in Panik und er beobachtet an seinem Körper die ersten Alterserscheinungen: ,,Já sobre a fronte vã se me acinzenta / O cabelo do jovem que perdi".48 Gäbe es eine Möglichkeit, so würde sich Reis mit allen Mitteln gegen den Tod wehren, würde verhindern zu altern und stets in seinem statischen Idealzustand verweilen, denn ähnlich wie das Schicksal, fürchtet er den Tod als etwas Unbekanntes, von dem er nicht weiß, was er denken soll: ,,Lídia, a vida mais vil antes que a morte, / Que desconheço, quero; [...]".49 So lastet der Tod auf Reis wie ein verhängtes Urteil: ,,Pese a sentença igual da ignota morte".50

3.3. Reis` Heilmittel gegen seine Angst

Jedoch versucht Reis auch, seine Ängste zu beschwichtigen, um nicht ein Leben in völliger Verzweiflung führen zu müssen. Erleichterung verschafft ihm seine stoische Lebenseinstellung. Er versucht, sich an nichts in dieser Welt zu binden und keinerlei Gefühle zu entwickeln, um so sein nichtaufhaltbares Dahinschwinden leichter ertragen zu können:

Sem amores, nem ódios, nem paixões que levantam a voz, Nem invejas que dão movimento demais aos olhos, Nem cuidados, porque se os tivesse o rio sempre correria, E sempre iria ter ao mar.51

Ferner besingt er immer wieder den Augenblick, als den einzigen lebenswerten und fürchtet jeden weiteren Moment, in dem das Schicksal in das Leben eingreifen und ihn regelrecht in den Abgrund stürzen könnte. Er empfiehlt:

[...] Cumpre-te hoje, não sperando. Tu mesma és tua vida.

Não te destines, que não és futura.

Quem sabe se, entre a taça que esvazias, E ela de novo enchida, não te a sorte Interpõe o abismo?52

Reis verachtet jedes Denken an Vergangenheit oder Zukunft, denn beide haben nichts mit dem Leben zu tun. Die Vergangenheit ist etwas Totes und die Zukunft unbekannt und unberechenbar. So ruft Reis aus: ,,[...] Este é o dia, / Esta é a hora, este o momento, isto / É quem somos, e é tudo".53 Hier wird die Anlehnung an das horazianische ,,Carpe Diem"54 besonders stark, ja geradezu wörtlich übernommen: ,,[...] No mesmo hausto / Em que vivemos, morreremos. Colhe / O dia, porque és ele".55

Die Vergangenheit soll man hinter sich zurücklassen und vergessen, was man einst war, nur so kann man relatives Glück finden. Reis bekräftigt:

Não só vinho, mas nele o olvido, deito Na taça; serei ledo, porque a dita É ignara. Quem lembrando Ou prevendo, sorrira?56

Nach Reis definiert sich nämlich das Ich durch seine Erfahrungen, durch seine Erlebnisse, wenn diese aber vergehen, stirbt ein Teil von ihm mit.

Em tudo quanto olhei fiquei em parte. Com tudo quanto vi, se passa, passo, Nem distingue a memória Do que vi do que fui.57

Deshalb versucht er, alles Vergangene sofort zu verdrängen, um nicht jeden Tag, eine Reihe von kleinen Toden sterben zu müssen. Er sieht den Menschen nicht als ganzen mit seiner Vergangenheit und seiner möglichen Zukunft, sondern trennt zwischen dem, was er war und dem was er ist, oder sein wird. So ist das Leben eher eine Folge von vielen aufeinanderfolgenden Einzelleben, in denen er jeweils ein anderer Mensch zu sein glaubt.

Nada senão o instante, me conhece.

Minha mesma lembrança é nada, e sinto Que quem sou e quem fui

São sonhos diferentes.58

Um all seine Verzweiflung zusätzlich zu verringern, wünscht sich Reis ein Leben in

Unwissenheit, eine Ignoranz, die er freiwillig bereit ist anzunehmen, denn ein Leben ohne Bewusstsein, würde nicht zulassen, dass er sein eigenes Dahinschwinden spürt: ,,[...] Só quem vive / Uma vida com ser que se conhece / Envelhece".59 In einer anderen Ode möchte er Rosen ähneln, die nur den Tag kennen, denn sie erblühen erst nach Tagesanbruch und verblühen noch vor Dunkelheit und kennen somit keine Nacht.60 Reis schreibt:

Assim façamos nossa vida um dia, Inscientes, Lídia, voluntariamente Que há noite antes e após O pouco que duramos.61

An den Wunsch nach Unwissenheit schließt sich die Forderung nach einem Leben ohne Nachdenken an. Da völlige Ignoranz nicht erreichbar ist und ein Wunsch bleiben muss, versucht Reis zumindest, den Augenblick nicht zu zerdenken.

Não temos mais decerto que o instante

Em que o pensamos certo.

Não o pensemos, pois, mas o façamos Certo sem pensamento.62

Schließlich lässt sich feststellen, dass Reis nur im Augenblick selbst relatives Glück finden kann, indem er sein ganzes Leben auf diesen Moment reduziert, sein ganzes Leben auf einen Moment komprimiert und es so schafft, gleichmütig allem Vergänglichen gegenüber in stoischer Gelassenheit alle weltlichen Ängste vergessend auszuharren.

De viver toda a vida

Dentro dum só momento,

Dum só momento, Lídia, em que afastados Das terrenas angústias recebemos Olímpicas delícias Dentro das nossas almas.63

4. Analyse der Ode VIII des ,,Livro Primeiro"

4.1. Formale Analyse: Strophen, Metrum, Syntax

Die Ode VIII des ,,Livro Primeiro",64 ist eine von jenen, an denen besonders gut nachvollziehbar ist, dass Ricardo Reis sehr unter dem Dahinschwinden der Zeit leidet. Wie viele andere Oden ist sie dreistrophig, wobei die einzelnen Strophen nicht durch eine Leerzeile von einander getrennt sind. Dennoch darf man von einer Dreiteilung sprechen, da jeweils vier Zeilen zusammen gehören und die jeweils letzen beiden graphisch dadurch hervorgehoben werden, dass sie vom Rand hereingerückt stehen. Man kann deshalb von drei Quartetten sprechen, genauer gesagt von drei alkäischen Odenstrophen, die dem Gedicht eine äußerst regelmäßige äußere Form verleihen, zumal eine Dreiteilung traditionellerweise als idealtypisch angesehen wird, denken wir zum Beispiel an die Dreifaltigkeit Gottes. Die Ode ist, wie die meisten modernen Gedichte, nicht gereimt.

Diesem wohlstrukturierten äußeren Aufbau entspricht ein ebenso genau erarbeitetes, klassisch anmutendes Versmaß. Reis bedient sich dabei antiker Metren, die, wie bereits erwähnt, schon bei Sappho und später bei Horaz gefunden werden. Die jeweils ersten beiden Zeilen jedes Quartetts fügen sich in das Maß eines sapphischen Zehnsilbers, mit den traditionellen Hauptbetonungen auf der vierten, achten und zehnten Silbe. Die dritte und vierte Zeile aber bestehen aus kürzeren sechssilbigen Versen mit unregelmäßiger Betonung. Diese Art von Vers wird in der portugiesischen Lyrik ,,heróico quebrado" genannt und mutet ebenso antik an wie schon der ,,decassílabo sáfico".

Das ganze Gedicht besteht aus zwei Sätzen, wenn man von der kurzen Interjektion ,,Ah!" im zweiten Vers absieht. Der erste Satz umfasst die ersten eineinhalb Zeilen und stellt eine Art These dar, in Form eines Ausrufs. Der Rest des Gedichtes ist ein einziges langes, latinisierendes Satzgefüge, dessen Inhalt die Ausgangsbehauptung näher erläutert. Auf den lateinischen Satzbau werde ich weiter unten genauer eingehen.

4.2. Inhaltsangabe und inhaltliche Gliederung

Versucht man den Inhalt des Gedichtes kurz und möglichst einfach wiederzugeben, so könnte man sagen, dass es sich um den Ausruf eines Verzweifelten handelt, der in Klagen über die Vergänglichkeit seines Seins ausbricht und die Kräfte der Unterwelt bereits an seinem ich zerren spürt. Diesen Klageruf wendet das lyrische Ich an eine für den Leser nicht in ihrer Anwesenheit erfassbare dritte Person, eine Frau namens ,,Cloe", deren Namen Reis aus den Dichtungen des Horaz entlehnt hat.

Man kann außerdem behaupten, dass die Ode inhaltlich in zwei Teile zerfällt, wobei der Bruch genau nach der Hälfte der Zeilenzahl, also in die Mitte des zweiten Quartetts, anzusetzen ist. Vereinfacht möchte ich den ersten Abschnitt als ,,Oberwelt" und den zweiten als ,,Unterwelt" bezeichnen, denn ab dieser Stelle schweift der Blick des lyrischen ich hinab in eine fiktive und bedrohliche andere Dimension.

4.3. Detaillierte Analyse und Interpretation von Inhalt und Sprache

Analysiert man die Ode nun detailgetreu, so kann man nicht davon absehen, Inhalt und Sprache nebeneinander zu beschreiben, weil das eine das andere bedingt. In der ersten Zeile

Quão breve é a mais longa vida

fällt zunächst auf, dass die beiden Adjektive ,,breve" und ,,longa" eine Antithese bilden, die durch die Steigerung von ,,longa" durch ,,mais" sogar noch verschärft wird. Daraus lässt sich schließen, dass für das lyrische Ich ein aus menschlicher Perspektive langes Leben innerhalb des ewigen Zeitenflusses nur einen allzu kurzen Moment darstellt. Und mehr noch tut das die Jugend, die nur ein Abschnitt, ein kleiner Teil, dieses an sich schon kurzen Daseins darstellt, wie es aus der ersten Hälfte der zweiten Zeile hervorgeht:

E a juventude nela! Ah! Cloe, Cloe,

Die beiden Ausrufezeichen und die Interjektion ,,Ah!" deuten auf eine große emotionale Beteiligung des lyrischen Ich hin. Man kann diesen Ausruf ,,Ah!" als Seufzer oder als ein Stöhnen verstehen. Die Krasis zwischen dem ,,a" aus ,,nela" und dem ,,A" der Interjektion65 lässt den Ausrufesatz direkt in den Seufzer übergehen und verstärkt so die Gefühlsteilnahme. Jetzt schon beginnt der zweite Satz der Ode. Wiederholt spricht das lyrisch Ich sein fiktives Gegenüber an: ,,Cloe, Cloe," und offenbart so abermals seine Ungehaltenheit.

Die dritte und vierte Zeile müssen zusammen betrachtet werden, da nur so ihre sprachliche Schönheit erkannt werden kann:

Se não amo, nem bebo, Nem sem querer não penso, Der Chiasmus zwischen den Partikeln ...não... nem... und Nem... não...

verleiht dem Inhalt einen hohen Grad an Ausweglosigkeit. Wie das lyrische Ich sich auch verhalten mag, es entrinnt doch nicht dem unerbittlichen Gesetz (,,a lei inimplorável").

Interessant ist die sprachliche Analyse auch dann, wenn man die Partikeln den jeweiligen Verben zuordnet, auf die sie sich beziehen. Dann ergibt sich folgendes Schema:

não amo

nem bebo

nem não penso

Hier könnte man von einer Klimax sprechen, die von ,,não" über ,,nem" zu ,,nem não" steigert.

Aber gehen wir zurück zum Inhalt und untersuchen, auf was sich diese gesteigerte Verzweiflung bezieht. Die Antwort findet sich, wie bereits angedeutet, in der folgenden Zeile, der ersten der zweiten Strophe, die durch ein Enjambement mit dem nächsten Vers verbunden ist.

Pesa-me a lei inimplorável, dói-me

A hora invita, o tempo que não cessa,

Dieses ,,lei inimplorável", von dem die Rede ist, stellt, wie schon gesagt, ein immer wiederkehrendes Motiv in Reis Lyrik dar. Abwechselnd wird es auch als ,,fado", ,,lei fatal" oder einfach als ,,destino" bezeichnet. Es ist jenes Fatum, das über der Macht der Götter lastet und sich als allgegenwärtige, nie auslöschbare Angst in Reis manifestiert. Das Fatum ist eng verbunden mit dem Dahinschwinden der Zeit.66 Beinahe in einem Atemzug erwähnt das lyrische Ich das Fatum (,,a lei"), die verhängte Stunde (,,A hora invita") und den nie endenden Zeitstrom (,,o tempo que não cessa").

Zusätzlich betont wird die Pein des lyrischen Ich durch die fast elliptische zweimalige Konstruktion eines Verbs mit nachgestelltem Pronomen, (,,Pesa-me... dói-me"), wobei noch zu erwähnen ist, dass man die Folge der Verben ,,pesar" und ,,doer" wiederum als inhaltliche Steigerung empfinden kann. Da jedoch das inhaltlich schwächere beider Verben, nämlich ,,pesar" auf die Nominalgruppe ,,a lei inimplorável" Bezug nimmt, ,,doer" aber zu ,,A hora invita" und ,,o tempo que não cessa" gehört, könnte man soweit gehen, zu behaupten, dass das lyrische Ich mehr noch unter dem Zeitstrom leidet, als allgemein unter dem unausweichlichen Schicksal, vielleicht weil der Zeitfluss den Rahmen für alle anderen Ängste bildet.

Mit dem nächsten Vers gelangen wir an den Punkt, den ich weiter oben als den Beginn des zweiten Teils der Ode bezeichnet habe. Man kann nun festhalten, dass sich bisher fast alle Nomen auf für uns real Existierendes bezogen haben, ,,o tempo", ,,a vida", ,,a juventude", auch der Vokativ ,,Cloe" gehört dazu, und somit dieser erste Teil, den ich kurz mit dem Begriff ,,Oberwelt" überschrieben habe, der weniger verschlüsselte ist. Aus der Reihe fällt die Nominalgruppe ,,a lei inimplorável", aber, wenn das damit gemeinte Fatum oder Schicksal nicht zu dieser menschlichen ,,Oberwelt" gehören mag, so noch weniger zur ,,Unterwelt", sondern eher zu einer noch weiter übergeordneten. Der zweite Part der Ode, die ,,Unterwelt", wird durch ganz andere Nomen charakterisiert, ,,juncos", ,,oculta margem", ,,lírios frios", ,,ínfera leiva", die sich weniger auf unsere Realität zu beziehen scheinen, jedoch vielmehr als ein Bild beziehungsweise eine Allegorie verstanden werden müssen.

Das lyrische Ich aber verweilt in der ,,Oberwelt", nur sein Blick und seine Gedanken schweifen dorthin, wo es einen Ursprung seiner Angst fühlt, wie es die nächsten beiden Zeilen zeigen:

E aos ouvidos me soube Dos juncos o ruído

Der Ausdruck ,,me sobe" beweist, dass etwas von unten herauf dringt und zwar das Geräusch des Schilfrohrs, etwas Geheimnisvolles und Unergründbares und deshalb Erschreckendes. Höchst interessant ist dabei auch der Satzbau. Die Anordnung der einzelnen Satzglieder ist für einen portugiesischen Satz ungewöhnlich. Eine vielleicht konventionellere Kombination der Glieder könnte wie folgt aussehen:

Dos juncos me sobe o ruído aos ouvidos

Daneben sind andere Möglichkeiten denkbar. Wie Reis aber die Teile anordnet, kommt eher einem lateinischen Satz nahe, vor allem die Trennung von Subjekt (,,o ruído") und Prädikat (,,me sobe"). Wie schon im allgemeinen Teil angedeutet, ist der latinisierende Satzbau eines der Mittel, auf die Reis häufig zurückgreift, um seinen Oden einen möglichst antiken Charakter zu verleihen und so seinem ,,neo-classicismo" gerecht wird. Durch diese Satzkonstruktion erreicht er jedoch weit mehr als nur das. Hier wird sogar graphisch der Unterschied zwischen ,,Ober- und Unterwelt" verdeutlicht, indem das Substantiv ,,ouvidos", das ja zur menschlichen Welt gehört, eine Zeile höher steht, als das Substantiv ,,juncos", das nicht in seinem eigentlichen Sinne verstanden werden kann, sondern bildhaften Charakter besitzt. Wie nahtlos jedoch der Übergang ist oder wie nah die Bedrohung scheint, erkennt man am Gleichklang der jeweils letzten beiden Buchstaben der mit einer Präposition kontrahierten Artikel ,,aos" und ,,Dos" und der Nomen ,,ouvidos" und"juncos".

In den nächsten Versen fällt der Blick von ,,juncos" noch tiefer hinab über ,,oculta margem" zu ,,ínfera leiva".

Na oculta margem onde os lírios frios Da ínfera leiva crescem...

Und wieder sind klangliche Besonderheiten feststellbar. Vergleicht man die Endungen aller Wörter des ersten Verses bis zur Zäsur nach der fünften Silbe mit jenen des zweiten Verses (Zäsur nach der siebten Silbe), so kann folgendes Schema erstellt werden:

-a -a -em

-a -a -a -em

Daher könnte man auch hier von einer Steigerung sprechen, die über den Klang der Endungen die gesteigerte Emotion des lyrischen Ich zum Ausdruck bringt.

Besonders muss auch der Symbolgehalt der Lilie (,,lírios frios") hervorgehoben werden. Die Lilie ist ein uraltes Symbol, das schon in Ägypten, im minoischen Kreta und in Mykenä als Dekor-Kunstmotiv auftaucht.67 Indem Reis die Lilie wählt, gibt er seiner Ode nochmals eine Nuance mehr Altertümlichkeit. Die Bedeutung des Symbols variiert nach Epoche und Verwendung. Im Christentum steht sie für Reinheit und jungfräuliche Liebe und ist das Attribut verschiedener Heiliger. In der Wappenkunst verkörpert sie hingegen Königswürde, weil ihre Gestalt einem Zepter ähnelt und in der Volkssymbolik ist sie das Sinnbild des ,,bleichen Todes".68 Für die Interpretation der Ode erscheint mir der Aspekt des ,,bleichen Todes" am wichtigsten. Steht die Lilie für den Tod, so verstärkt das Attribut ,,frios" den Symbolwert zusätzlich und lässt uns an Grabeskälte und Totenstarre denken. Man könnte folglich sagen, dass am Ende aller Ängste für das lyrische Ich der Tod steht, dieser wartet gewissermaßen schon in der Unterwelt auf ihn und ist Grund seiner Angst. Hier vermengen sich wieder zwei Zentralthemen aus Reis` Lyrik: Die Angst vor dem Dahineilen der Zeit und die Angst vor dem Tode.

Der Vers geht nun mit einem Enjambement zum nächsten über: ...e a corrente

Não sabe onde é o dia,

Hier wird das Bild fortgeführt. In das Szenarium mit Schilfrohr fügt sich eine Strömung oder ein Fluss, was natürlich wieder eine Metapher für den beängstigenden Zeitstrom ist. Im Verb ,,saber" wird diese Strömung lebendig, sie wird personifiziert und auf diese Art in ihrer Immanenz bekräftigt. Den Gehalt der Aussage, ,,não sabe onde é o dia" könnte man deuten, indem man annimmt, dass der Tag oder besser das Licht ein Symbol für die ,,Oberwelt", für das Leben, vielleicht sogar für das Glück ist, jedoch zu den ,,kalten Lilien" den ,,unteren Saaten" und all diesen bedrohlichen Szenerien kein Licht hinunter zu dringen vermag, es also daraus keine Rettung geben kann.

Die Ode schliesst ab mit einer resignierten Äußerung, die zwar durch die Interpunktion zum Satz gehörig erscheint, von Form und Inhalt aber eher eine eigenständige Äußerung ist, da sie nicht in die syntaktische Struktur des Satzes passt.

Sussurro gemebundo.

ist wie ein letzter Seufzer, ein letztes Verzweifeln über das unausweichliche Dahinschwinden der Zeit und wahrscheinlich über die eigene Machtlosigkeit demgegenüber.

5. Schluss

Im Namen von Ricardo Reis dichtete Fernando Pessoa bis zu seinem Tod. Mit Reis verwirklicht er einen Aspekt seines ,,vervielfältigten" Lebens, wie es Ángel Crespo nennt.69 Er besinnt sich auf eine beängstigende Antike zurück, in der das Fatum eine alles überdeckende Macht darstellt und versucht, mit Epikurs und Horaz` Hilfe seine Angst zu bändigen. Mit seinem Klassizismus stellt er den Zeitgenossen eine Alternative zur europäischen Dichtung vor. Dem Christentum erteilt er eine Absage, indem er die antiken Götter des Olymp evoziert und schafft mit Reis` dekadenter Haltung ein Dokument, das sich trotz seiner Nähe zur Antike in die zeitgenössischen Literaturströmungen fügt. Abdanken und in stoischer Starre das Schicksal akzeptieren, entspricht einer Fin-de-siècle-Mentalität, die sich durch alle Literaturen der Romania zieht.70

Reis` immerwährende Angst vor dem Dahinfließen der Zeit, dem Alter und dem Tod ist ein universelles Thema, dem sich kein Mensch entziehen kann. Auch wenn wir uns heute vielleicht nicht auf Anhieb in Reis` Ängsten wiedererkennen, weil wir es nicht gewöhnt sind, dieses Problem vor dem Hintergrund des antiken Götterhimmels zu sehen, so glaube ich doch, dass es heute mindestens so aktuell wie damals ist. Mittel und Wege zur Verlangsamung des Alterungsprozesses und damit zur Verlängerung des menschlichen Leben zu finden, ist ein hoch budgetierter naturwissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt. Trotzdem setzt uns die Natur nach wie vor unüberwindbare Grenzen. Was Pessoa in Reis` Nihilismus erkannt hat, nämlich dass Selbsterkenntnis, das heisst die Erkenntnis über die eigene Nichtigkeit, zum Rückzug aus Selbstüberschätzung und Egoismus führen soll, das wird in unserer heutigen arbeitsteiligen Gesellschaft weitgehend negiert.

Nun ist aber Reis` keinesfalls mit Pessoa gleichzusetzen. Ob Reis alleine zu großem Ruhm gelangt wäre, sei dahin gestellt. Die Bandbreite der Themen seiner Lyrik lässt sich relativ gut erfassen und abwägen, ist sie doch für ein ganzes Dichterleben verhältnismäßig schmal. Der formale Bau der Oden scheint vielen modernen Augen zu streng konstruiert, zu wenig impulsiv und deshalb wohl zu eintönig. Aber Reis ist nur eine von vielen Facetten Pessoas. Reis gehört zu einem größeren Zusammenspiel vieler Heteronyme, mit denen er kommuniziert und Ansichten austauscht. Und nur in diesem Kontext gewinnt Reis` Werk an Eigenwert. Um die Bedeutung des pessoanischen Werkes also einigermaßen ermessen zu können, muss man sich daher mit allen Heteronymen befassen, ihre Besonderheiten herausheben und nebeneinander stellen. Nur dieses Gesamtbild kann uns eine Vorstellung von Fernando Pessoas Persönlichkeit geben, einem Menschen, dem so viele und so gegensätzliche Lebensphilosophien vorschwebten, dass er sie nicht in seiner Person vereinen konnte, dass die eine immer wieder gegen die andere antrat und er schließlich aus einem inneren Zwang heraus das Leben vieler gleichzeitig lebte.

6. Anhang

VIII

Quão breve tempo é a mais longa vida E a juventude nela! Ah! Cloe, Cloe,

Se não amo, nem bebo, Nem sem querer não penso,

Pesa-me a lei inimplorável, dói-me A hora invita, o tempo que não cessa,

E aos ouvidos me sobe Dos juncos o ruído

Na oculta margem onde os lírios frios Da ínfera leiva crescem, e a corrente

Não sabe onde é o dia, Sussurro gemebundo.

24.10.1923

7. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Pessoa, Fernando: Obras Completas de Fernando Pessoa (vol. IV). Odes de Ricardo Reis. Lisboa (Edições Ática) 1966.

Pessoa, Fernando: Alberto Caeiro Dichtungen. Ricardo Reis Oden. Frankfurt am Main (Fischer) 1997.

Quintus Horatius Flaccus : Gedichte. Stuttgart (Reclam) 1997. Epikur: Über das Glück. Zürich (Diogenes) 1995.

Sekundärliteratur:

Biedermann, Hans (Hg): Knaurs Lexikon der Symbole. München 1989.

Blank, Hugo: Kleine Verskunde. Einführung in den deutschen und romanischen Vers. Heidelberg 1990.

Bréchon, Robert: Étrange Étranger. o.O. (Christian Bourgois) 1996.

Crespo, Ángel: Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Eine Biographie. Zürich (Amman) 1996. (Übersetzung der spanischen Erstausgabe von 1988). Duden: Fremdwörterbuch. Mannheim, Wien und Zürich 51990 Hess, Rainer: ,,Dekadenzliteratur" (art.); in: Hess, Rainer / Gustav Siebenmann / Mireille Frauenrath / Tilbert Stegmann: Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten (LWR). (UTB 1373). Tübingen 31989.

Gusmão, Manuel: Poemas de Ricardo Reis. Lisboa (Editorial Comunicação) 1992. Krywalski, Diether (Hg.): Knaurs Lexikon der Weltliteratur. München 1992. Prado Coelho, Jacinto do: Diversidade e Unidade em Fernando Pessoa. Lisboa 1993. Quadros, António (ed.): Obra em Prosa de Fernando Pessoa. Escritos Íntimos, Cartas e Páginas Autobiográficas. Lisboa (Livros de bolso europa-americana) 21986.

Simões, João Gaspar: Vida e Obra de Fernando Pessoa. Lisboa (Publicações Dom Quixote) 51987.

[...]


[1] Vgl. Bréchon, S. 149f.

[2] Vgl. Bréchon, S. 149f.

[3] Gemeint ist die Tatsache, dass Pessoa seine Werke nicht nur mit verschiedenen Namen unterzeichnet hat, sondern darüber hinaus, aus jedem dieser Namen einen fiktiven eigenständigen Dichter mit Biographie, eigener Poetik und eigenen Charakteristika erschuf. Vgl. dazu auch Gusmão, S. 11-13.

[4] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 152.

[5] Quadros, S. 224 - 231.

[6] Vgl. dazu auch Gusmão, S. 13. Über Reis` Äußeres und seinen Lebensweg kann ferner folgendes aus dem genannten Brief zitiert werden: "Eu vejo diante de mim, no espaço incolor e real do sonho, as caras, os gestos de Caeiro, Ricardo Reis e Álvaro de Campos. Construilhes as idades e as vidas. Ricardo Reis nasceu em 1887 (não me lembro do dia e mês, mas tenho-os algures), no Porto, é médico e está presentemente no Brasil." Und weiter unten: Ricardo Reis é um pouco, mas muito pouco, mais baixo, mais forte, mais seco [do que Caeiro]. [...] Reis um vago moreno mate. [...], Quadros, S. 229.

[7],,Ricardo Reis educado num colégio de jesuitas, é como disse, médico; vive no Brasil desde 1919, pois se expatriou espontaneamente por ser monárquico", Quadros, S. 228.

[8] Vgl. Quadros, S. 228.

[9] Prado Coelho, S. 33.

[10] Prado Coelho, S. 34.

[11] Prado Coelho, S. 33.

[12],,Wir haben die Freude als erstes Gut und als angeboren erkannt, von ihr lassen wir jede Neigung und Abneigung ausgehen, und sie ist das Ziel, an dem wir jedes Gut messen", Epikur, S. 55.

[13] Epikur, S. 51.

[14] Vgl. Teil 3.2. dieser Arbeit (S.9f).

[15] Epikur, S. 55.

[16] Epikur, S. 56.

[17] Epikur, S. 55.

[18] Epikur, S. 58.

[19],,Abica e sê / Rei de ti mesmo!" Pessoa, S.202. Befolgt man Reis` Ratschlag, so führt man also ein Leben wie ein König, oder nach Epikur wie ein Gott. Vgl. Epikur, S. 60.

[20] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 196.

[21] Epikur, S. 59.

[22],,Assim saibamos / Sábios incautos / Não a viver [a vida], / Mas decorrê-la, / Tranquilos, plácidos," Pessoa, S. 176. Horaz beschrieb diese Lebenseinstellung beispielsweise mit folgenden Worten: ,,Bewahre sorgsam dir in der schweren Zeit / Des Herzens Gleichmut, wahr ihn im Glücke auch, / Der ausgelaßne Freude bändigt", Horaz, S. 12.

[23] Vgl. Teil 3.3. dieser Arbeit (S.10f).

[24] Gusmão, S. 30.

[25],,Cristo é um deus a mais, / Talvez um que faltava", Pessoa, S. 182.

[26],,Como acima dos deuses o Destino / É calmo e inexorável, Pessoa, S. 184.

[27] Crespo, S. 202.

[28],,Der Begriff Ode umfasst verschiedene Gedichtformen: vom feierlichen Lied und Preisgedicht bis zum einfachen Liebesgedicht", Blank, S.53.

[29] Nach dem äolischen Lyriker Alkaios (*um 620 vor Chr. Mytilene, _ um 580 v. Chr), Krywalski, S. 22.

[30] Nach der altgr. Dichterin Sappho. (um 600 v. Chr. in Mytilene auf Lesbos), Krywalski S. 491.

[31] Vgl. Blank, S. 53.

[32],,As rosas amo dos jardins de Adónis, / Essas volucres amo, Lídia, rosas," Pessoa, S. 146.

[33] Vgl. Gusmão, S. 20f.

[34] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 168.

[35] Vgl. Pessoa (Caeiro - Reis), S. 169 (Übersetzung von Georg Rudolf Lind).

[36],,vergiß / Die flücht'gen Blüten duftiger Rosen nicht", Horaz, S. 13.

[37] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 160.

[38] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 152.

[39] In: Gusmão, S. 85.

[40] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 188.

[41] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 214.

[42] In: Gusmão, S. 85.

[43] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 200.

[44],,[...] recolhidos / No impalpável destino / Que não spera nem lembra", Pessoa (Caeiro - Reis), S.168.

[45] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 154.

[46],,A leve pedra que um momento ergue / As lisas rodas do meu carro, aterra / Meu coração". Pessoa, S. 196.

[47] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 196.

[48] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 170. Auch Horaz besang die Vergänglichkeit im Hinblick auf das Alter und den Tod: ,,Ach, wie im Fluge, Postumus, Postumus, / Entfliehn die Jahr`, es wehrt keine Gottesfurcht / Den Falten, nicht dem Nah'n des Alters, / Auch nicht dem Tode, dem allgewalt'gen", Horaz, S. 16.

[49] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 204.

[50] In: Gusmão, S. 124.

[51] In: Gusmão, S. 85.

[52] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 160.

[53] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 214.

[54],,Neidisch entflieht während des Worts die Zeit: Darum nütze den Tag! Traue daher lieber dem »Morgen« nicht!", Horaz, S. 7.

[55] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 214.

[56] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 168.

[57] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 206.

[58] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 208.

[59] Pessoa (Caeiro - Reis), S.198.

[60] Vgl. Pessoa (Caeiro - Reis), S. 146.

[61] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 146.

[62] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 204.

[63] Pessoa (Caeiro - Reis), S. 224.

[64] Pessoa, S. 146. Die vollständige Ode befindet sich im Anhang.

[65] Um die Anzahl von 10 Silben zu gewährleisten, müssen die beiden Vokale kontrahiert werden.

[66] Vgl. Teil 3.2 dieser Arbeit (S.9).

[67] Lexikon der Symbole, S. 268.

[68] Lexikon der Symbole, S. 268f.

[69] Vgl. u.a. Titel ,,Das vervielfältigte Leben", Crespo.

[70] LWR, S. 80.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Ricardo Reis e o fluir do tempo
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Veranstaltung
Proseminar O primeiro modernismo português
Note
1,3
Autor
Jahr
1999
Seiten
16
Katalognummer
V97085
ISBN (eBook)
9783638097604
Dateigröße
369 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Allgemeiner Teil über Fernando Pessoas Heteronym Ricardo Reis Spezieller Teil über "o fluir do tempo" in seinen Oden Exemplarische Analyse einer dieser Oden
Schlagworte
Ricardo, Reis, Proseminar
Arbeit zitieren
Doris Wieser (Autor:in), 1999, Ricardo Reis e o fluir do tempo, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97085

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Titel: Ricardo Reis e o fluir do tempo



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