Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels `Belphegor`


Seminararbeit, 1997

24 Seiten, Note: 1-


Leseprobe


Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels Belphegor

1. Einleitung

Johann Carl Wezels Roman Belphegor, erschienen 1776, ist ein pessimistisches Porträt der Gesellschaft seiner Zeit; er stellt den Menschen als von destruktiven und egoistischen Trieben gelenktes Wesen dar, das sich in einem beständigen Existenz- kampf gegenseitig zu unterdrücken sucht. Wenn es einem Menschen gelingt, dies zu erkennen, steht er den Vorgängen doch machtlos gegenüber und kann sie nicht än- dern.

In seiner Aussage geht der Roman weit über das hinaus, was die Philosophie und Lehrmeinung der Aufklärung ausmacht. Während die Aufklärung sich in Theorien ergeht, die kaum Veränderungen für die Menschen fordern, kritisiert der Roman fundamentale Zustände der menschlichen Art und widerspricht so der optimistischen und menschenfreundlichen Auffassung der Aufklärung. Es handelt sich nicht um die Kritik eines Gegners der Aufklärung; Wezel legt vielmehr dar, daß die Aufklärung nicht weit genug geht und keine praktischen Erfolge erzielt.

Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Kritik Wezels an der Aufklärung und seine dieser zuwiderlaufenden Thesen herauszuarbeiten und deutlich zu machen. Zu diesem Zweck soll zunächst eine kurze Darstellung der aufklärerischen Philosophie gegeben werden, die in ihrer Knappheit natürlich nicht umfassend sein kann; die für die Aufklärung typische literarische Form des Thesenromans soll überdies definiert und Wezels Roman als Thesenroman identifiziert werden. Die Betrachtung des Romans gliedert sich auf in eine Darstellung der wichtigsten Figuren und der zugrundeliegenden Thesen und ihrer Kritik an aufklärerischem Gedankengut. Abschließend wird die zeitgenössische Rezeption des Romans zusammengefaßt.

Alle Zitate aus dem Roman sowie aus anderen zeitgenössischen Texten sind in der Orthographie belassen worden, in der sie in den angegebenen Quellen enthalten sind. Kursive Hervorhebungen sind, soweit nicht anders vermerkt, Hervorhebungen der jeweiligen Verfasser.

2. Grundlagen der Aufklärung

Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels Belphegor Um den Roman Belphegor von Johann Carl Wezel und seine spezifische Behandlung aufklärerischer Themen einer fundierten Betrachtung unterziehen zu können, ist es zunächst notwendig, einen knappen Überblick über die Lehrinhalte der Aufklärung zu geben, soweit sie für den Roman von Belang sind. Des weiteren soll in diesem Abschnitt aufgezeigt werden, daß es sich bei Wezels Roman um ein Werk aus der Gattung des aufklärerischen Thesenromans handelt.

2.1 Lehrinhalte der Aufklärung

Die Aufklärung wird als geistesgeschichtliche Epoche auf den Zeitraum von etwa 1720 bis 1785 festgelegt1. Die Philosophie der Aufklärung bemüht sich um die Loslösung von althergebrachten Meinungen, insbesondere auch religiöser Lehrmeinungen, und den Ersatz derselben durch vernünftige und erfahrbare Einsichten. Der Philosoph Immanuel Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft (1781) als Höhepunkt der Aufklärung angesehen wird, beschreibt Aufklärung als (...) Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.2

Obwohl die Kritik der Aufklärung sich unter anderem gegen die kirchlichen Lehren von Gott richtet, hält die Aufklärung dennoch an der Religion und dem Glauben fest; die Kritik richtet sich gegen die kirchlichen Institutionen, geht aber von der Existenz eines Gottes aus, der zwar nicht durch eine der existierenden Religionen erschöp- fend beschrieben wird, aber auf dem Wege jeder existierender Religion verehrt wer- den kann. Christian Wolff, einer der Begründer der Aufklärung, schreibt:

Der Mensch hat nichts vortreflicheres von GOTT empfangen als seinen Verstand: denn so bald er nur in demselben verrücket wird / so bald wird er entweder ein Kind / oder ärger als ein wildes Thier / und ist also ungeschickt GOtt zu ehren und den Menschen zu dienen. Solcher gestalt kan einer um Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels Belphegor so viel mehr ein Mensch genennet werden / je mehr er die Kräffte seines Verstandes zu gebrauchen weiß.3

Das Kind ist unaufgeklärt; das wilde Tier ist unmenschlich. Aufklärung, das Erlangen der Fähigkeit, seinen Verstand zu nutzen, wird als etwas Gottgewolltes dargestellt.

Die aktive Auseinandersetzung mit der Realität, die Fixierung auf innerwelt- liche Ziele, der pragmatische Geist der aufsteigenden Teile des Bürgertums führten zu einer fortschreitenden Umdeutung und Auflösung des überliefer- ten religiösen Lebensmusters. Der Bezug aller menschlichen Praxis auf jen- seitige Ziele und die Lehre von der Erbsünde mußten mehr und mehr an E- videnz verlieren: Der tätige Optimismus einer aufsteigenden Klasse spiegel- te sich in der Überzeugung, daß der Mensch von Natur aus gut sei und daß er durch seine eigene Aktivität seinem Leben einen Sinn zu geben vermö-ge.4

Wenn Gottes Existenz und seine vollkommene Güte als gegeben angenommen werden, wenn die Verstandesbildung des Menschen Teil des göttlichen Plans ist, dann muß der Mensch von Natur aus gut sein, und der aufgeklärte Mensch lebt in vollständigem Einklang mit dem göttlichen Plan. Gleichfalls muß auch die Welt bestmöglich angelegt sein, weil Gott nichts Unvollkommenes schaffen könnte. "Ich bin [...] erfreut, mich als einen Bürger in einer Welt zu sehen, die nicht besser möglich war. [...] Ich [...] werde um mich schauen, so weit ich kann, und immer mehr einsehen lernen: daß das Ganze das Beste sei, und alles um des Ganzen willen gut sei"5 ; so beschreibt Immanuel Kant seinen Platz in der Welt.

Auf politischem Gebiet führt die Aufklärung zwar zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einzelnen Herrschern und mit bestimmten sozialpolitischen Gegebenheiten, bleibt aber weitgehend unkritisch gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und unterstützt sogar die Monarchie6.

Durch solche Prämissen setzt sich die Aufklärung selbst Grenzen. Der aufgeklärte Mensch ist in der Lage, vernünftig über religiöse Überlieferung und politische Gegebenheiten nachzudenken und an ihnen Kritik zu üben, aber er bewegt sich dabei nicht in wirklich umstürzlerischem Gebiet. Die Ausprägungen von Religion und Politik werden im einzelnen Gegenstand der Kritik und es wird Toleranz gefordert, aber es gibt eherne Grundsätze, die von der Kritik nicht erfaßt werden dürfen.

Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels Belphegor Wezels Roman Belphegor geht, wie im folgenden noch erläutert werden wird, über solche Grenzen hinaus. In dieser Grenzüberschreitung liegt die fundamentale Kritik Wezels am aufklärerischen Gedanken.

2.2 Der aufklärerische Thesenroman

Voltaires Candide gilt als klassisches Beispiel einer Gattung, die in der literarischen Welt der Aufklärung eine große Rolle spielt: die philosophische Erzählung, in der die Handlung derart konstruiert ist, daß sie als Vehikel für den Transport einer philoso- phischen Propaganda dient7, zugunsten dieses philosophischen Gehaltes gegebe- nenfalls auf eine realistische Darstellungsweise der Handlung verzichtet und die handelnden Charaktere auf bloße Figuren reduziert, die einzig und allein auf die Il- lustration der zu transportierenden Lehre zugeschnitten sind. Wezels Roman Belphegor erinnert in seinem Aufbau und seinem Inhalt sehr an Voltaires Candide, durch seinen höheren Umfang sprengt er jedoch den Rahmen der Erzählung und nähert sich dem Roman. Nach Jörg Schönert "benutzte [der bürgerliche Stand] vor- zugsweise den Roman, um in satirischer oder empfindsamer Abgrenzung zu tradier- ten Welterfahrungsweisen seine Denkkategorien und Vorstellungen in der Ausei- nandersetzung mit der Umwelt zu konstituieren"8. In diesen Romanen wird "ein for- mulierbares Axiom [...] erarbeitet und belegt; die erzählte Wirklichkeit beweist als wahr oder unwahr, was zu beweisen war. Man hat Romane dieser Art [...] als 'Philo- sophische Romane' oder 'Thesen-Romane' bezeichnet und sich meist mit der 'Kon- struiertheit' ihrer Erzählfiktion und der Monotonie des Beweisablaufes nicht befreun- den können"9. Auch Wezels Belphegor gehört in diese Kategorie von Roman; eine konstruierte und unglaubwürdige Handlung dient allein der Untermauerung der zugrundeliegenden These, in diesem Fall, daß die Welt von Neid und Vorzugssucht regiert werde. Zur Darstellung dieser These bedient sich Wezel satirischer Mittel, insbesondere der Übertreibung, die dazu führt, daß seine Hauptfigur Belphegor auf seinen Reisen beständig Opfer grausamster Ausschreitungen wird und bereits auf den ersten Seiten schrecklich mißhandelt wird. Als Beispiel sei auf die Szene ver- wiesen, in der Belphegor auf eine Gruppe von Räubern trifft, die ihm, um ihre Argu- Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels Belphegor mentation, die an Darwins Recht des Stärkeren erinnert, zu untermauern, mit dem Säbel die Schulter spalten, woraufhin er in ein Krankenhaus eingeliefert wird, wo seine schnelle Genesung wiederum den Neid seines Zimmergenossen auf sich zieht, der ihn in besagten Arm beißt, der sich prompt entzündet und fast amputiert werden muß10. Auch die Geschwindigkeit, mit der diese Szenen dem Leser präsen- tiert werden, trägt zur Irrealität der Handlung bei; so umfassen die obigen Ereignisse gerade etwa zwei Drittel einer Seite und kaum eine der vielen brutalen Szenen des ersten Buches, in denen Belphegor gegen Manifestationen von Neid und Vorzugs- sucht vorzugehen versucht und doch nur seinerseits ein Opfer wird, überschreitet die Länge einer Seite. Bereits nach etwa einem Zehntel des Buches wird Belphegor als Anführer eines Bauernaufstandes, wie er im Jahre 1775 in Rußland stattgefunden hatte, zum Tode verurteilt und hingerichtet und entkommt dem Tod nur durch die Nachlässigkeit des Henkers, der seinerseits von einem weiteren zum Tode Verurteil- ten bestochen wurde, Belphegors Galgenstrick schlecht zu knüpfen, weil jener ande- re Verurteilte auf die richterliche Anweisung, Belphegor als einen Ausländer etwas höher als die anderen zu hängen, neidisch war11.

Durch seine konstruierte Szenenabfolge, die nur der Untermauerung und facettenreichen Darstellung von Wezels Thesen dient, sowie die noch darzustellende Figurenhaftigkeit der handelnden Personen, erweist sich Wezels Belphegor als typisches Beispiel des von Schönert beschriebenen aufklärerischen Thesenromans.

3. Johann Carl Wezels Roman Belphegor als aufklärerischer Thesenroman

Die vorangegangenen Ausführungen ordnen Wezels Roman Belphegor in die litera- rische Gattung des aufklärerischen Thesenromans ein. In diesem Abschnitt sollen nun die Thesen, die die Grundlage des Romans bilden, herausgearbeitet werden. Dazu soll zunächst das Augenmerk auf die Hauptfiguren des Romans gelenkt wer- den. Anschließend wird aufgezeigt, inwieweit sich Wezels Thesen von dem allge- meinen Gedankengut der Aufklärung unterscheiden und eine Kritik an diesem üben. Abschließend wird dann die Wirkung, die der Roman auf seine zeitgenössischen Rezipienten hatte, beschrieben.

3.1 Die Hauptfiguren des Romans

Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels Belphegor Die Hauptfiguren in Wezels Roman sind Karikaturen, die zur Darstellung von Wezels weltanschaulichen Thesen dienen. Zunächst werden nun einige allgemeine Beobachtungen über diese Figuren gemacht, bevor anschließend die vier Hauptfiguren - Belphegor, Fromal, Medardus und Akante- genauer analysiert werden.

3.1.1 Allgemeine Beobachtungen

Allen im Roman vorkommenden Personen ist zueigen, daß es sich bei ihnen nicht um Charaktere im eigentlichen Sinne handelt, also um tief angelegte, psychologisch stimmige Darstellungen von Menschen, sondern vielmehr um Figuren, die auf bestimmte Eigenschaften reduziert sind, die zur Untermauerung der grundlegenden Thesen des Romans geeignet sind. Dies entspricht der bereits erläuterten Praxis in bezug auf die philosophische Erzählung und den Thesenroman.

Des weiteren sind die Figuren und die Handlung über weite Teile des Romans nicht in einen konkreten zeitlichen und nur einen lockeren räumlichen Rahmen eingeord- net. Zwar wird aus der Beschreibung von Äußerlichkeiten, wie z. B. Kleidung der Personen und Namen von Ländern, deutlich, daß als Hintergrund die Gegenwart des Autors oder zumindest eine Periode aus der Lebenszeit des Autors und seiner Leser angenommen wird, aber diese Einordnung wird im Lauf der Handlung durchbrochen; am deutlichsten wird dies in Akantes Beschreibung ihrer Zeit in Rom, wo sie sich auf ihre Bekanntschaft mit Papst Alexander VI bezieht12, dessen Amtszeit sich von 1492 bis 1503 erstreckte, der aber für seine Weltlichkeit und Korruption bekannt war13. Am Ende des Romans kehrt die Handlung wieder deutlich in Wezels Gegenwart zurück, als Belphegor aufbricht, um als Soldat in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu ziehen. Der Roman schließt mit den Worten "Der Auszug des Krieges wird lehren, wer von beyden Theilen Recht behalten und ob Belphegor als Patriot und Men- schenfreund allgemein bekannt werden oder im Streite für die Freyheit ungerühmt umkommen soll"14.

Die Figuren des Romans werden insbesondere auch durch ihre Unverwundbarkeit in den Bereich der Karikatur verschoben. Zwar können sie verletzt werden, und Wezel fügt all seinen Figuren äußerst grausame Verletzungen zu, aber sie überstehen alles und werden durch ihre Wunden nicht behindert. Am deutlichsten zeigt sich dies in der grotesken Verunstaltung Akantes15, die Akante zwar dazu zwingt, sich verschie- denster Prothesen zu bedienen, was ihrer Schönheit aber keinen offensichtlichen Abbruch tut. Überdies scheinen die Charaktere auch bis zum Ende nicht wesentlich zu altern, was sich unter anderem daran ablesen läßt, daß Medardus, der als Fami- lienvater sieben mittlerweile erwachsene Kinder hat, davon berichtet, in seiner Ju- gend ebenfalls durch Akante betrogen worden zu sein, die aber ihrerseits seitdem nicht älter geworden zu sein scheint16. Erst gegen Ende sterben Akante und Medar- dus, und die Zeit scheint die Figuren des Romans einzuholen.

3.1.2 Belphegor

Die Figur des Belphegor steht im Mittelpunkt von Wezels Roman. Er ist ein junger Mann, der zu Beginn wenig Lebenserfahrung aufweist. Er entspricht dem Mann, den Wezel in den einleitenden Worten seines Romans beschreibt:

So lange ein Mann, dem die Natur gleich viel Feuer in die Einbildungskraft und in die Empfindung gelegt hat, die Erfahrungen zu seinen Begriffen blos aus seinem guten Herzen und dem kleinen Zirkel simpatisirender Freunde hernimmt, so lange wird er sich mit schönen Illusionen hintergehen, der Mensch wird ihm ein Geschöpf höherer Ordnung, geschmückt mit den aus- erlesensten moralischen Vollkommenheiten, und die Welt der reizende Auf-enthalt der Harmonie, der Zufriedenheit, der Glückseligkeit seyn.17

Belphegors Ansichten entsprechen damit denen der Aufklärung, wie sie eingangs dargestellt wurden. Erst als Akante, seine Geliebte, ihn aus ihrem Haus wirft, weil er kein Geld mehr besitzt und daher seinen Reiz für sie verloren hat, beginnt er, an seiner grundlegend positiven Weltsicht zu zweifeln und entfernt sich damit von der Theorie der Aufklärung. Wezel beschreibt weiter:

Ist die körperliche Zusammensetzung eines solchen Mannes - er sey Zu- schauer oder Mitspieler - brausend und thätig, so wird sich seine Seele ei- nem so außerordentlichen Widerspruche wider ihre bisherigen Begriffe wi- dersetzen, unwillig werden, wie ein Mensch, den man aus einem Feenschlosse in eine Wildniß führt, alles bessern, alles umschaffen wollen und, wenn er zu seinem Herzeleide seine Umschaffung nie zu Stande kommen sieht, auf Welt und Menschen zürnen, sie hassen, daß sie seine gutgemeinte Bildung nicht annehmen wollen (...) - dieser Mann ist Belphe- gor.18

Damit ist Belphegor vollständig beschrieben. Er ist ein Verfechter des gesunden Menschenverstandes, er bekämpft die Untugenden von Neid und Vorzugssucht und die daraus resultierende Schlechtigkeit der Welt. Allerdings ist er machtlos, sein Aufbegehren ist durchweg vom Mißerfolg gekrönt. Auch ist er selbst nicht dagegen gefeit, zum Unterdrücker zu werden, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet, wie zum Beispiel seine Zeit als afrikanischer Stammeskönig zeigt19.

Belphegor verkörpert den Menschen, der die Lehren der Aufklärung anhand prakti- scher Erfahrung in aller Konsequenz durchdenkt und zu dem Schluß kommt, daß die Welt eben nicht bestmöglich eingerichtet ist, sondern vielmehr aufgrund der Unauf- geklärtheit ihrer Bewohner schlecht ist. Belphegor entwirft lokale Utopien, die die Ungerechtigkeiten beseitigen könnten, doch ihre Durchsetzung liegt nicht in seiner Macht, solange die Mehrheit seiner Zeitgenossen nicht seine Ansichten teilt. Darin ähnelt er Wezel selbst, dessen öffentliche Vorschläge zur Umgestaltung seiner zeit- genössischen Gesellschaft ebenfalls keinen Anklang fanden und dazu beigetragen haben, ihn bereits in jener Periode, als Belphegor entstand, als geistig umnachtet zu betrachten. Gerhard Steiner schreibt dazu:

Nach Blumröder herrscht selbst in Wezels "Ankündigung einer Privatanstalt für den Unterricht und die Erziehung junger Leute vom 12. bis 18. Jahre" (1780), einem vernünftigen pädagogischen Entwurf, "eine gewisse Verwor- renheit der Begriffe", die ihm "zu beweisen scheint, daß derselbe nicht lange vor seiner Verrücktheit angefertigt worden ist". Auch in dem "sonderbaren" Konzept zur Errichtung einer Frauenakademie sieht Blumröder ein Zeichen dafür, daß sich Wezel "in seiner Übergangsperiode zum Wahnsinn" mit der "Verfolgung vager und unausführbarer Entwürfe" beschäftigte.20

Es gibt, wie oben ausgeführt, offensichtlich eine Grenze für aufklärerische Vernunft, die nicht überschritten werden darf. Durch Belphegor klagt Wezel diese Grenze an, und der Aufruhr, den sein Roman unter seinen Zeitgenossen verursachte, scheint ihm zumindest aus heutiger Sicht recht zu geben.

Anders als die anderen Figuren des Romans trägt Belphegor einen sprechenden Namen, der leicht zu identifizieren ist. Belphegor ist ein Name aus der Dämonologie; Masello beschreibt Belphegor als "demon who seduced men with wealth"21, während Drury ihn als "Dämon in Frauengestalt [darstellt, dessen] Name [...] auf Baal [zurückgeht], der von den Moabitern auf dem Berg Phegor verehrt wurde [und ein] Dämon der Entdeckungen und Erfindungen [war]"22.

Die Eigenschaften des Dämons Belphegor haben keine Bedeutung für die Figur des Belphegor in Wezels Roman, aber sein dämonischer Name rückt ihn in die Nähe solcher Teufel, die in der Literatur schon in früherer Zeit aus der Hölle auf die Erde geschickt wurden, um dort an der Bosheit der Menschen zu verzweifeln und lieber wieder die vergleichsweise erträglichen Höllenqualen zu erleiden, als auf der Erde zu bleiben. Als Beispiel seien Ben Jonsons Drama The Devil Is An Ass und insbe- sondere Machiavellis Novelle Belfagor genannt, deren dämonischer Protagonist so- gar Belphegors Namensvetter ist.

Wie die in diesen Werken auf die Erde gesandten Teufel ist auch Belphegor angesichts der Schlechtigkeit seiner Mitmenschen machtlos. Für ihn gibt es aber keine Hölle, in die er sich zurückwünschen kann, außer vielleicht seiner Naivität, die er vor seinem Bruch mit Akante sein Eigen nannte, und die durch die aufgeklärte Erkenntnis der Schlechtigkeit der Welt für immer verloren ist.

3.1.3 Fromal

Auch Fromal hat die Schlechtigkeit der Welt erkannt, aber sein Wesen unterscheidet sich vom Wesen Belphegors. Wezel beschreibt ihn folgendermaßen:

Hat ihm aber die Natur einen Zusatz von Kälte in die Masse seines Körpers geworfen, mehr Lebhaftigkeit als Feuer verliehen, so wird er durch die Men- schen vorsichtig hinweg schlüpfen, alles nehmen, wie es ist, und sich bey dem Schauspiele der Welt nicht anders interessiren als der Zuschauer einer theatralischen Vorstellung, ohne sich drein zu mischen. Er wird vielleicht zuweilen bitter lachen, aber stets Besonnenheit genug behalten, über die Welt mit so vieler Kaltblütigkeit zu räsonniren, als [Belphegor] mit Wärme deklamiert; [...] er geht einer Ursache nach, und sein Räsonnement führt ihn auf die Nothwendigkeit des Schicksals, welcher er alle Unordnungen auf- bürdet, und er kann nach seinem Temperamente Beruhigung darinne fin-den.23

Fromal hat die gleichen Einsichten in die Welt wie Belphegor, er begründet und er- weitert durch seine wiederholten Erklärungen der Welt sogar Belphegors Erkenntnis. Durch seine passive Grundhaltung bleibt ihm aber nur die Rolle des Beobachters. Während Belphegor durch sein Aufbegehren zum Zentrum des Romans werden kann, bleibt Fromal nur gelegentlicher Begleiter. Von ihm werden die eigentlichen Thesen des Romans in Worte gekleidet, während Belphegor die Realität dieser Aus- sagen vorführt.

Belphegor glaubt, gegen die Schlechtigkeit der Welt erfolgreich aufbegehren zu können. Fromal im Gegensatz dazu sieht den Zustand der Welt als Ergebnis schicksalhaften Waltens an; er versucht lediglich, sich selbst so sicher wie möglich durch das stürmische und unabwendbare Schicksal zu manövrieren.

Fromals Darstellung seiner Philosophie läßt ihn Wezels Sprachrohr werden. Die um- fangreichste Darstellung von Fromals Weltsicht gibt dieser nach der Flucht der drei Freunde aus ihrer zweijährigen Sklaverei in Algerien24. Diese gedankliche Verwandt- schaft legt den Schluß nahe, daß Fromal Wezels Alter Ego in dem Roman sei, aber an anderer Stelle zeigt sich, daß Fromal selbst ebenfalls nicht gegen die Auswirkun- gen von Neid und Vorzugssucht gefeit ist25. Schönert beobachtet in Bezug auf eben diese Textstelle: "Die Distanz des Erzählers [Fromal] gegenüber ist unverkennbar. Sein Lachen klingt oft mühsam und bitter; es resultiert nicht aus dem Gefühl der Ü- berlegenheit, sondern ist bemüht, Abstand zu den Dingen zu schaffen, sich heraus- zuhalten"26. Wezel distanziert sich von Fromal, weil ein bloßes Sich-Heraus-Halten aus den Vorgängen in der Welt und ein Abwälzen der Verantwortung auf das Schicksal eben nicht die beste, sondern eher die einfachste Folgerung aus Fromals Philosophie ist. Gäbe es mehr Menschen wie Belphegor, wären idealerweise alle Menschen wie Belphegor, wäre eine Veränderung nicht ausgeschlossen. Aber ein solches Wesen, wie Belphegor es an den Tag legt, widerspricht der menschlichen Natur. Wezels Position ist pessimistisch. In Belphegor und Fromal präsentiert er zwei Möglichkeiten, wie sich der Mensch den erweiterten Erkenntnissen der fortge- führten Aufklärung stellen kann, aber er sieht die Vernunft der Natur des Menschen unterlegen. Wezels Thesen versprechen keine Lösung für die dargestellten Proble- me. "Der Thesenroman hat seine Eindeutigkeit verloren, oder besser: der text-konstituierende Anspruch des Beweisverfahrens wird als unhaltbar hingestellt"27. Wezels Roman stellt Thesen auf, aber er kann und will, anders als vergleichbare Texte, keine Lösung für die dargestellten Probleme bieten.

3.1.4 Medardus

Anders als Belphegor und Fromal ist Medardus ein eher unaufgeklärter Charakter. Er hat "ein fröhliches, lebhaftes Gemüth, einen Kopf ohne weiten, überschauenden Blick [und] einen Verstand, der wenig räsonnirt, ein Herz, das gern glücklich seyn will und darum den Verstand desto leichter überredet, alles geradezu oder auf leichte Gründe zu glauben, was zur Ruhe und Zufriedenheit führt"28. Zwar hat er ebenfalls die Beobachtung gemacht, daß die Welt Schlechtes enthält, aber er glaubt an die Vorsehung, also die vollkommene göttliche Einrichtung der Welt, und alles Schlechte wird sein Gutes haben. Beständig wiederholt er diese Ansicht und vermutet, daß das vermeintlich Schlechte lediglich so erscheine, weil der Mensch mit seiner begrenzten Wahrnehmung nicht imstande sei, das Gute darin zu erkennen. Dabei verliert er sämtliche Proportionen. Alle Schrecknisse und Gewaltexzesse haben ihr Gutes, wenn er dadurch Belphegor wiedertrifft29.

Auch der Vorsehungsglaube schützt Medardus nicht vor der menschlichen Natur. Wie auch seine Freunde wird er zum Unterdrücker, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet, so zum Beispiel, als er König des Landes Niemeamaye wird30. Medardus hat ein einfaches Gemüt. Er spricht beständig von seiner verstorbenen Frau, und alles, was ihm zu seinem Glück zu fehlen scheint, ist ein Krug Apfelwein. Er weicht nicht von seinem Vorsehungsglauben ab, auch wenn er direkt mit Fromals Philosophie, Belphegors Eifer oder der Grausamkeit der Welt konfrontiert wird. Er ist nicht nur unaufgeklärt, sondern auch unaufklärbar. Wenn die Umstände es erlauben, wird auch er zum Unterdrücker, ohne selbst boshaft zu sein, also schützt auch sein Glaube an das Gute und die Vorsehung ihn nicht vor der menschlichen Natur.

3.1.5 Akante

Anders als Belphegor, Fromal und Medardus wird Akante nicht in Wezels Vorrede beschrieben und bleibt damit zunächst Nebendarstellerin. Erst, als sie nach ihren Erlebnissen in Italien Belphegor und Medardus wiedertrifft, wird dem Leser deutlich, daß sie mehr Bedeutung besitzt31. Ihre Ausführungen beschreiben weitere Ausprä- gungen von Neid und Vorzugssucht aus der Sicht der Frauen; als Beispiel seien die Verstümmelungen erwähnt, die sie als eine unter vielen Mätressen des Markgrafen von Salocca durch den Neid der anderen Frauen erleiden mußte. Akante nutzt die 'Waffen der Frau', wie es ihrer menschlichen Natur entspricht, um zu unterdrücken, und wird als Frau selbst unterdrückt. Damit weitet Wezel seine pessimistische Dar- stellung auf einen Bereich aus, der in der männer-dominierten Gesellschaft seiner Zeit, in der die Frau als unvernünftig und intellektuell unterlegen galt, dem Blick der Aufklärer völlig entgeht (vgl. dazu auch 3.2.4).

Akante verleiht der unterdrückten Frau eine Stimme:

Hat vielleicht mein ganzes Geschlecht schon vor der Geburt lahme Hüften gemacht, daß es unter diesem ganzen Himmelsstriche zur elendesten Skla- verey verdammt ist? [...] Warum ist mein ganzes Geschlecht von ewigen Zeiten her der Jochträger des eurigen, eurer Bedürfnisse, eurer Bequem- lichkeit, eurer üblen Laune gewesen? [...] Mußte die Gattung vernünftiger Kreaturen, die ihr in Europa als Engel anbetet und vielleicht durch Schmei- cheleyen einschläfern wollt, damit sie euch ihre Überlegenheit nicht fühlen lassen, [...] nicht beständig dienen [...] [und] der Sklave des rohen, grausa-men, stärkern männlichen seyn?32

Akante steht damit nicht im Kontrast zu den drei männlichen Figuren für eine bestimmte vierte Geisteshaltung, sondern stellvertretend für ihr Geschlecht, das seine ganz eigene Art der Unterdrückung erfährt. Akante philosophiert mit ähnlicher Eloquenz wie Fromal und ist aktiv wie Belphegor. Lediglich ihre Möglichkeiten aufgrund ihres Geschlechts und damit ihrer Position in der Gesellschaft verhindern, daß sie im Roman die Stelle dieser beiden einnehmen kann.

3.2 Wezels Kritik am Weltbild der Aufklärung

Aus den vorangegangenen Ausführungen zu den Hauptfiguren des Romans lassen sich die Grundzüge von Wezels Weltbild im Gegensatz zu dem der Aufklärung bereits ableiten. Im folgenden sollen drei vorherrschende Aspekte dieser Thesen genauer beschrieben werden.

3.2.1 Die beste aller Welten?

Wie bereits in 2.1 dargelegt, beruht die Philosophie der Aufklärung im wesentlichen auf der Vorstellung der 'besten aller Welten'. Die Aufklärer sehen die Welt mit opti- mistischen Augen. Zwar ist die Aufklärung ein notwendiges Mittel zur Verbesserung des Menschen, aber diese Verbesserung betrifft lediglich den individuellen Geist, da die Aufklärung letztendlich die bestehenden Institutionen politischer und gesellschaftlicher Natur nicht in Frage stellt. Der Mensch soll, vereinfacht gesagt, seine Unmündigkeit überwinden, um die Existenz Gottes und die Vernunft der bestehenden Staatswesen mit seinem eigenen Verstand zu begreifen, anstatt lediglich wie dressiert fremden Vorgaben zu folgen. Nach Kant stellt sich der aufgeklärte Mensch folgendermaßen dar:

Der öffentliche Gebrauch [der menschlichen] Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. [...] So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Obe- ren etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nütz- lichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter, über die Feh- ler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publi- kum zu Beurtheilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vorwitziger Tadel sol- cher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt demohngeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht ent- gegen, wenn er, als Gelehrter, wider die Unschiklichkeit oder auch Unge-rechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert.33

Damit tritt der aufgeklärte Mensch als Theoretiker, als Gelehrter öffentlich auf und läßt seine Mitmenschen an seinen aufgeklärten Gedanken teilhaben, aber er setzt die Früchte seiner Vernunft nicht in die Praxis um, wenn dies gegebene Strukturen beeinträchtigt. Belphegor handelt nicht so; er schreitet ein, wenn etwas seiner vernünftigen Überlegung widerspricht, und er wird dafür bestraft.

Wezels Kritik richtet sich hier nicht gegen den aufgeklärten Menschen, der durch Belphegor dargestellt wird, sondern er zeigt auf, was den Aufklärern passieren könn- te, wenn sie aktive Position beziehen würden. Anders als die Aufklärer betrachtet er den unaufgeklärten Meschen nicht als zwar unmündig, aber auch ungefährlich. Der unaufgeklärte Mensch, und damit leider die gewaltige Mehrheit der Menschen, ist gewalttätig und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Es gilt das Recht des Stärke- ren; gut achtzig Jahre, bevor Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlicht, vergleicht Wezel bereits Affen und Menschen, ohne freilich eine echte Verwandtschaft zwi- schen ihnen andeuten zu wollen, wenn er Fromal seine Philosophie auseinanderset- zen läßt:

Habt ihr nie von den lustigen Affen etwas gehört, denen man einen Korb mit Früchten und ebensoviele Prügel hinlegt als ihrer versammlet sind, wovon alsdann jeder einen ergreift und sich nebst seinem Gefährten so lange her- umprügelt, bis ein Paar die Oberhand behalten, die alsdann mit den nämli- chen Waffen ausmachen, wer von ihnen beiden den Korb allein besitzen und den übrigen allen nach seinem Gefallen davon austheilen soll, was und wie viel ihm beliebt. [...] Wenn das Märchen nicht wahr ist, so hat es jemand zum Sinnbilde für die Geschichte unseres Erdenrundes ersonnen. Kann et-was ähnlicher seyn?34

Das psychologische Vokabular fehlt Wezel natürlich, aber im freudschen Sinne re- duziert er den Menschen, der seine Vernunft nicht wie Belphegor nutzt, auf seine Triebe. Der Geist des Menschen dient lediglich der Rationalisierung seiner Greuelta- ten und nicht als die erhabene, moralische Instanz, die er sein sollte; ein hervorra- gendes Beispiel ist die Rede des Richters, der Belphegor zu Tode verurteilt: "Es [d. h.: die Unterdrückung des Bauernstandes] ist ja immer so gewesen; wenn dirs so nicht ansteht, so ändre das! Mache, daß du morgen nicht gehangen wirst; wenn dus kannst, so hast du Recht, aber bis hieher haben wir es"35. Dies erinnert an die bibli- sche Kreuzigungsszene in Markus 15, 29-30, in der das Volk den gekreuzigten Je- sus verhöhnt und sagt: "Du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Hilf dir doch selbst, und steig herab vom Kreuz!".

Der Mensch streitet sich um "Weiber, Reichthum, Gewalt, Ehre"36, später um Land, Nahrung und Status. Und auch die Philosophie unterscheidet sich im Grunde nicht von diesen Streitereien, wie Fromal wiederum darlegt:

Die Philosophen erfanden sich ein Ding, das sie Wahrheit nennten; um die- ses hinkten sie herum wie die Götzendiener des Baals. Sie erfanden eine Kriegskunst [Die Dialektik oder Disputirkunst, Fußnote Wezels], Regeln des Angriffs und des Rückzugs [...] und die edlen Ritter der Wahrheit sind jeder- zeit die treflichsten Kanonirer gewesen. Das schnurrichste bey dem ganzen Kriege war, daß das bestrittne Ding gar nirgends existirte, sondern erst auf- gesucht werden sollte. [...] Jeder [Philosoph] [...] behauptete: 'Das was mir Wahrheit scheint, ist Wahrheit, und das Glück der Waffen soll entscheiden, wer im Punkte der Wahrheit herrschen und dem Glauben und dem Beifalle der übrigen Gesetze vorschreiben soll.' Man sonderte sich auch hier in Rot- ten und Faktionen, auch hier waren Neid und Vorzugssucht die Waffenträ- ger, auch hier galt es Unterdrückung und Herrschsucht. Es ist alles eins: nur andre Gegenstände, andre Waffen.37

Nicht einmal der Philosoph ist über die menschliche Natur erhaben, selbst die ge- suchte Wahrheit ist keine tatsächliche objektive Wahrheit, sondern nur die Meinung des Stärksten, also des Eloquentesten. Die Philosophie interessiert sich überhaupt nicht für objektive Wahrheit, und es ist Wezels Behauptung, daß die objektive Wahr- heit mit der Meinung der Philosophen von ihr nichts gemein hat. Natürlich ist auch Wezels durch Fromal geäußerte These eine philosophische und muß sich diesem Vorwurf selbst stellen. Aber es geht Wezel nicht um die Darstellung einer objektiven Wahrheit, er ist sich der satirischen Übertreibung und der einseitigen Auswahl seiner Darstellung wohl bewußt, wie seiner Einführung zu entnehmen ist38.

Der Mensch ist nach Wezel nicht nur unaufgeklärt, er will oder kann in den meisten Fällen auch gar nicht aufgeklärt werden. Niemand versteht Belphegors Argumentati- on, niemand hört auf seine Appelle. Nicht einmal die Unterdrückten lassen sich da- von überzeugen, daß ihre Lage geändert werden kann (vgl. auch 3.2.3). Wezel geht sogar so weit, anhand seiner Figuren zu zeigen, daß auch so aufgeklärte Geister wie Belphegor und Fromal selbst nicht viel besser handeln, wenn sie die Gelegenheit haben, andere auszubeuten.

Dabei ist Wezel selbst nicht so radikal, die völlige Abschaffung bestehender Gesell- schaftformen zu fordern. In einer Fußnote schreibt er in bezug auf die Josephini- schen Reformen in Österreich39: "Bis zum Anbeten kann ich den Monarchen lieben, der seinen Blick auf die niedere, verachtete Klasse der Menschheit wirft und [...] von den vielen Einschränkungen der Freiheit [...] diejenigen hinwegnimmt, die ohne Re-volution weggenommen werden können"40. Andererseits stellt er im siebten Buch des Romans in der kleinen Siedlung des Derwisches eine in jeder Hinsicht alternati- ve Gemeinschaftsform dar, die ohne jede Unterdrückung funktioniert, weil nur eine kleine Gruppe von Menschen in ihr lebt, deren jeder seinen Platz zum Gemeinwohl einnimmt. Dennoch kann diese Gesellschaft nicht überleben, weil sie der Aggression ihrer mächtigeren Nachbarn zum Opfer fällt.41

Wezel zeigt eine Welt, die nicht die beste aller möglichen Welten sein kann. Der Zustand der Welt könnte verbessert werden, wenn alle Menschen ihre Vernunft als Kontrollinstanz ihrer Triebe anstatt als rein apologetische Instanz einsetzen würden, aber selbst dies garantiert nicht, daß alle Unterdrückung abgeschafft wird. Wezel teilt nicht die Weltzufriedenheit der Aufklärer. Es liegt in der Hand des Menschen, seine Welt zu verbessern, wie Wezels abschließender Ausblick auf den bevorstehenden Ausgang des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges andeutet42, aber ein schöpferischer Plan scheint alldem nicht zugrunde zu liegen.

3.2.2 Neid und Vorzugssucht

Schon in seiner Einleitung zum Roman stellt Wezel die beiden Grundübel vor, die seiner Meinung nach zur Schlechtigkeit der Welt beitragen: "nach des Verfassers Theorie sind Neid und Vorzugssucht die [...] allgemeinsten Triebfedern der mensch- lichen Natur"43. Diese Begriffe tauchen im Verlauf des Romans beständig auf, meis- tens durch Kursivdruck noch vom Text abgehoben. Tatsächlich geschehen die meis- ten geschilderten Greueltaten, wie in einem Thesenroman zu erwarten, aus diesen Motiven. Der Neid bringt den Menschen gegen all jene auf, die über ihm in der ge- sellschaftlichen Hierarchie stehen, denn er möchte ihre Position innehaben. Die Vor- zugssucht bringt alle Menschen dazu, diejenigen, die unter ihnen stehen, mit Gewalt unten zu halten, während sie, falls noch jemand über ihnen steht, alles tun, um des- sen Wohlwollen zu erregen. Als Beispiel sei insbesondere die asiatische Zwergenko- lonie genannt, deren Bewohner, bis auf wenige Alte, die die Sinnlosigkeit ihres Tuns schließlich eingesehen und sich von den anderen abgesondert haben, in sinnlosen und albernen Wettkämpfen gegeneinander antreten. Neben verschiedenen anderen Tätigkeiten beschreibt Wezel:

Ein Zwerg, der die übrigen an Kleinheit merklich übertraf, lag auf einem sehr erhöhten, von Zweigen geflochtnen Sofa, an welchem eine Menge Zwerge zu ihm hinaufzuklettern versuchten. Ob er gleich nur von der Höhe war, daß ihn [Belphegor und Akante] aufrecht stehend bequem übersehen konnten,so kostete es doch den armen Kreaturen unendliche Mühe, daran hinaufzu- steigen, besonders weil einer dem andern aus Neid die Mühe vielfältig ver- mehrte; [...] Die wenigen aber, die allen diesen Hinderungen wiederstanden, alle diese Beschwerlichkeiten überwanden und glücklich zu dem Sofa em- porkamen, genossen für ihre angestrengte Bemühung kein andres Glück, als daß sie neben dem kleinen Zwerge, der den Sofa inne hatte, sich nie- dersetzen und ihn täglich und stündlich ansehn durften. [...] Sobald einer es durch sein angewandtes Mittel dahin brachte, daß er einen freundlichen Blick [des kleinen Zwerges] weghaschte, so mußte er sogleich mit allen sei- nen Kräften sich Festigkeit auf seinem Sitze verschaffen, um nicht hinunter- gestürzt zu werden; denn sobald die Sehnerven des kleinen Zwerges nur anfiengen, sich in die Richtung nach ihm hinzuwenden, so war der ganze übrige neidische Haufe schon in Bereitschaft, Hand an ihn zu legen, um ihn durch einen wohlabgezielten Stoß aus dem Gleichgewichte von der Höhe hinabzuwerfen.44

Wenn es jemals einen schöpferischen Plan gegeben haben sollte, hat die Menschheit den Kontakt dazu verloren. Fromal erläutert dies:

Die Eigenliebe und das Mitleid wurden dem neugeschaffnen Menschen zu Begleitern gegeben, ihn durch den mannichfaltigen Kampf des Lebens hin- durchzuführen. Jene sollte seine Thätigkeit anspornen, ihm den nöthigen Stoß geben, um sich selbst, wie um seinen Mittelpunkt, zu bewegen, dieses ihm Einhalt thun, wenn ihm in dem Kreise seines Umlaufs eins seiner Ge- schöpfe im Wege stünde, daß er es nicht unbarmherzig in seinen Wirbel hinriß. Jene sollte überhaupt ihn antreiben, dieses zurückhalten [...]. Nach einer kurzen Bekanntschaft mit den Menschen entsprungen aus dem Kopfe der ersten [d. h. der Eigenliebe] zwey Kinder - Neid und Vorzugssucht, die das Amt der Mutter übernahmen und von nun an die Führerrinnen der Menschheit wurden. Sie [...] verdrängten die Gefährtinn ihrer Mutter, das Mitleid, von ihrem Geschäfte.45

Wezel identifiziert eine Kontrollinstanz, das Mitleid, welches selbst bei unaufgeklärten Menschen vorhanden sein und ihre Schlechtigkeit eindämmen sollte, aber es ist längst von Neid und Vorzugssucht übermannt worden. Wezel ist in diesem Punkt verzweifelt; er kann keine Lösung für dieses Dilemma anbieten, denn obwohl er selbst Utopien entwerfen kann, erkennt er doch deren Undurchsetzbarkeit, die im Wesen des Menschen begründet ist46.

3.2.3 Die Rolle der Frau

Die Aufklärung fordert die Überwindung der menschlichen Unmündigkeit, aber die Unmündigkeit der Frau wird nicht angetastet. Die Frau gilt als von Natur aus unvernünftig und rein emotional. Damit ergänzt sie die Vernunft des Mannes. Kant beschreibt die Ehe folgendermaßen:

In dem ehelichen Leben soll das vereinigte Paar gleichsam eine einzige mo- ralische Person ausmachen, welche durch den Verstand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird. [Jenem kann man] mehr auf Erfahrung gegründete Einsicht, diesen aber mehr Freiheit und Richtigkeit in der Empfindung zutrauen [...]. Es ist also in einem solchen Verhältnisse ein Vorzugsstreit läppisch und, wo er sich ereignet, das si- cherste Merkmal eines plumpen oder ungleich gepaarten Geschmackes. Wenn es dahin kommt, daß die Rede vom Rechte des Befehlshabers ist, so ist die Sache schon äußerst verderbt; denn wo die ganze Verbindung ei- gentlich nur auf Neigung gerichtet ist, da ist sie schon halb zerrissen, sobald sich das Sollen anfängt hören zu lassen. Diese Anmaßung des Frauenzim- mers in diesem harten Tone ist äußerst häßlich und des Mannes im höchs-ten Grade unedel und verächtlich.47

Wezel stimmt damit nicht überein. Wie in Punkt 3.1.5 bereits ausgeführt, läßt Wezel seine Akante eine entflammte Rede für die Rechte der Frau halten. Mit dieser Rede überzeugt sie auch Belphegor von der unrechtmäßigen Unterdrückung der Frau, woraufhin beide, vom Opium ermutigt, die erstbesten Frauen von diesem Joch zu befreien versuchen. Sie befinden sich aber in einem islamischen Land und werden schließlich aus dem Haus, das sie zu diesem Zweck betreten haben, ausgerechnet von den geknechteten Frauen vertrieben48. Den Frauen fehlt die Erkenntnis ihrer Unterdrückung, oder sie haben diese Unterdrückung sogar als berechtigt akzeptiert. Akante ist sich der Unterdrückung der Frau ebenso bewußt, wie Belphegor die menschlichen Untugenden von Neid und Vorzugssucht erkennt, aber sie ist auch genauso machtlos.

An anderer Stelle bescheibt Wezel einen skurrilen afrikanischen Stamm, der von Frauen geführt wird, die ihre Männer für sich arbeiten lassen, sich von einer abgerichteten Meerkatzenart bedienen lassen und sich ganz ihrer Freizeit widmen49. Diese Frauen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, andere zu unterdrücken, nicht von den im Roman geschilderten männlichen Herrschern.

Die Frau wird unterdrückt, weil der Mann sie unterdrücken kann. Bei dem afrikani- schen Stamm ist es umgekehrt, weil sich diese isolierte Gesellschaft eben so entwi- ckelt hat. Frauen sind nicht immun gegen die Versuchungen von Neid und Vorzugs- sucht, sondern werden nur durch ihre Machtlosigkeit in den meisten Gesellschafts- formen daran gehindert, höhere Positionen einzunehmen. In der Unterdrückung bleiben den Frauen nur wenige Nischen, in denen sie ihre Ausprägungen von Neid und Vorzugssucht ausleben können, so zum Beispiel in Wettbewerben der Eitelkeit.

So attackieren die Frauen eines Dorfes eine an Stand geringere, aber hübsche junge Frau, weil sie es wagt, besser auszusehen als sie50. Die Antriebskraft, die dazu führt, ist aber die gleiche wie bei Männern, es handelt sich nicht um eine weibliche Schwäche, sondern nur um eine weibliche Ausdrucksform menschlicher Schwäche. Anders als Kant sieht Wezel keinen moralischen Sinn in der Unterdrückung der Frau. Die Frau unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht vom Mann, sie ist genauso ein Spielball von Neid und Vorzugssucht wie dieser. Der Unterschied besteht lediglich in den geringeren Möglichkeiten, die sich der Frau eröffnen.

3.3 Zeitgenössische Kritik

Das pessimistische Weltbild, das Wezel in seinem Roman zur Unterstützung seiner Thesen propagiert, steht im Widerspruch zur eher optimistischen Grundhaltung der Aufklärung. Entsprechend ist der Roman Belphegor auch von der Kritik verdammt worden.

Johann Heinrich Merck befindet in seiner Kritik des ersten Bandes des Romans 1776, daß es diesem an Erbaulichkeit mangele. Er prangert den pessimistischen Ton und die Darstellung der menschlichen Grausamkeit an: "Ist es nicht genug, daß der ehrliche Mann zuweilen durch den Geiffer und das Gebelle eines bißigen Hun- des aus seinem häuslichen Frieden geschreckt, und gezwungen wird, zu sehen, wie es draußen zugeht: daß man ihm noch Bücher darüber poetisirt, um etwas zu be- weisen, das er längst beseufzt"51. Offensichtlich hat Wezel einen wunden Punkt be- rührt, denn Merck stimmt ihm ja zu, daß das menschliche Wesen treffend dargestellt ist. Es macht Merck keinen Spaß, davon zu lesen, er spricht dem Roman unzutreff- enderweise jegliche Komik ab, aber Erbauung war sicher nicht Wezels vordringli- ches Ziel, denn er sieht ja keinen Grund zu einer schönen und optimisitischen Dar- stellung.

Merck kritisiert weiter die Einseitigkeit der Darstellung. Er sieht nicht nur das Schlechte, sondern stellt jedem Schlechten etwas Gutes gegenüber: "Und welcher denkende Mensch sieht nicht statt des Haßes allein, überall Haß und Liebe, wie Tag und Nacht, und Licht und Finsterniß, die Welt regieren?"52 Durch diese Einseitigkeit, so Merck, wird Wezels Darstellung unwahr. Dabei läßt er aber außer acht, daß We-zel selbst in seiner Einleitung darlegt, daß sein Bild einseitig ist, um die Aussage besser zu illustrieren. Bisher wurde die Welt einseitig optimisitisch dargestellt, Wezel läßt nun die pessimistische Seite zu Wort kommen:

Verschiedene Schriftsteller haben uns die Welt und den Menschen als vortreflich geschildert. Aber entweder betrogen sie sich selbst oder wollten sie die Leser betriegen; entweder kannten sie den Menschen nicht genug, nur von einer Seite, oder wollten sie die Leser bestechen und sie überre- den, daß sie die Züge ihres Gemähldes von ihrem eignen Herzen kopirt hät- ten. [...] Doch fehlt es ihm [d.h. Wezel als dem Autor] auch nicht an guten und liebenswürdigen Zügen der menschlichen Natur, und er hat, um ihr Ge- rechtigkeit widerfahren zu lassen, schon längst eine Idee im Kopfe herum- gewälzt, die Idee eines Gemähldes, das alles, was sich mit Wahrheit Gutes vom Menschen und der Welt sagen läßt, in sich schließen soll, und nichts wird ihn von der Ausführung abhalten, es wäre denn Gefühl der Unfähigkeit oder Mangel an Lust und Muße. [...] Denen sein Buch ganz misfällt - was sollte er diesen weiter sagen? 'Tis too much to write books and to find heads to understand them' sagte Sterne und sagte auch er, wenn man ihm nicht als unbescheidnen Stolz anrechnen würde, was man Sternen als Wahrheit gelten läßt.53

Wezel sieht keinen besonderen Sinn darin, das Gute zu schildern, denn er will etwas ändern, er will seinen Lesern in satirischer Übertreibung vorführen, wie schlecht die Welt ist, damit sie aus dieser Erkenntnis lernen können.

Merck erkennt nicht einmal die satirische Darstellung als solche, er wirft dem Roman vor, man sähe "nirgends [...] den geringsten Ironischen Zug"54 und die Figur des Belphegor sei "ohne den Anstrich des Komischen"55. Es scheint, als nehme Merck an, Wezel hielte die Handlung seines Romans für realistisch; damit verfehlt Merck den Sinn des Thesenromans, der nicht darin besteht, ein realistisches Porträt der Welt zu zeigen, sondern bestimmte Thesen zu belegen, auf die die Handlung zuge- schnitten ist.

Auch Wieland hat sich über Belphegor empört und Wezel einen Brief geschrieben, in dem er den Autor zurechtweist:

Es ist beynahe kein wahres Wort an Ihrer ganzen Menschenfeindlichen Theorie; und sie haben aus der Menschl. Natur und der Geschichte der Menschheit ein so verzogenes, verschobenes, affentheurliches und Nau- pengheurliches Unding gemacht, daß unser Herr Gott gewiß seine Arbeit in Ihren Gemählden nicht erkennen wird.56

"An einem Buch, das sie einer 'Menschenfeindlichen Theorie' verdächtigten, konnten die Zeitgenossen mit ihrem Glauben an die Entwicklung des Menschen zum Besse- ren, Höheren, Vollkommeneren, keinen Geschmack finden"; so nimmt es nicht wun- der, daß Wezels Belphegor nicht an den Erfolg seiner Vorgängers Tobias Knaut (1773 -1776) anknüpfen konnte, obwohl auch dieser Roman um einen verunstalteten Mann dazu ansetzt, "die gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit zu entlarven [...] [und] den Leser in dieser Weise aufzuklären und ihm solche ungeschminkte Wahr- heit vorzuführen"57. Dennoch ist die Schilderung dieses Romans nicht so einseitig. In seinem nächsten Roman nach Belphegor, Herrmann und Ulrike (1780), "tritt die kon- stitutive Narren- und Weltsatire zurück zugunsten einer Mischform des 'komischen Romans' [...]. Zwar spielt das satirische, vornehmlich gesellschaftskritische Moment auch hier eine wichtige Rolle, aber [...] [diese Romanform zielt] nicht auf Provokati- on, sondern auf Kommunikation mit dem Leser [ab]"58. Dieser Roman versöhnt Wie- land inoffiziell mit Wezel, und er bezeichnet ihn als "besten Roman, der ihm jemals vor Augen gekommen sei"59.

Wezels Roman war für seine Zeitgenossen zu deutlich. Diese Deutlichkeit hat zu der Ansicht, Wezel habe die letzten 33 Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung verbracht, sicher beigetragen. August von Blumröder (1776-1860), ein Biograph We- zels, schreibt nach Steiner, "daß bereits während seiner Hauslehrerzeit seine geisti- ge Verfassung nicht mehr normal gewesen war, denn wie hätte er sonst das Buch 'Belphegor' schreiben können, in dem er 'seinen ganzen Pessimismus, gepaart mit dem Gefühl des gekränkten, nie zu befriedigenden Ehrgeizes' zum Ausdruck ge- bracht habe"60.

Belphegor wurde nach seinem Erscheinen bis in die Sechziger Jahre unseres Jahrhunderts nicht wieder aufgelegt.

4. Schluß

Der Roman Belphegor ist ein Zeugnis für die Machtlosigkeit des Einzelnen gegen- über der menschlichen Schwäche. Trotz der Erkenntnis dieser Schwäche ist es un- möglich, diese bei anderen wirkungsvoll zu bekämpfen oder selbst dagegen immun zu sein. Der Optimismus der Aufklärung ist unangebracht; solange Aufklärung nur in den Köpfen einiger Auserwählter stattfindet, die ausschließlich jenen, die bereit sind, ihnen zuzuhören, einen Leitfaden zur Herausbildung der eigenen Vernunft bieten und sie so durch ihre Lehrsätze im Prinzip nur aus einer Unmündigkeit in eine ande- re führen, ist keine Verbesserung der menschlichen Situation zu erwarten. Leider kann Aufklärung nicht mit Gewalt oder Argumenten bei den Unwilligen durchgesetzt werden, wie Belphegor am eigenen Leib immer wieder erfährt. Es ist in der Hauptsa- che die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, die den pessimistischen Ton des Ro- mans ausmacht.

Durch das Überschreiten aufklärerischer Grenzen geriet der Roman nach seinem Erscheinen in das Kreuzfeuer heftigster Kritik. Die Vehemenz dieser Kritik legt nahe, daß Wezel seinen Finger auf eine gesellschaftliche Wunde gelegt hat. Die Aussagen des Roman Belphegor haben bis heute nicht an Aktualität verloren; tatsächlich beobachtet Daniela Weiland, daß man "alle schrecklichen Geschehnisse, die Belphegor widerfahren, [...] heute in nur einer Ausgabe einer beliebigen Tageszeitung"61 finde. Es bleibt zu hoffen, daß der Roman bei heutigen Lesern auf fruchtbareren Boden fällt, als es nach seinem Erscheinen der Fall war.

5. Literatur

5.1 Primärliteratur

Wezel, Johann Carl. Belphegoroder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Frankfurt am Main: Insel, 1965

5.2 Sekundärliteratur

Drury, Nevill. Lexikon esoterischen Wissens. München: Knaur, 1988

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 Diese Daten enstammen Diether Krywalski (Hrsg.), Knaurs Lexikon der Weltliteratur, Stichwort 'Aufklärung', 3. überarbeitete Auflage, München 1986, S. 853.

2 Immanuel Kant, "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" in: Walther Killy (Hrsg.), Die deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Band IV: 18. Jahrhundert, München 1983, S. 3.

3 Christian Wolff, "Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes", in: Walther Killy (Hrsg.), Die DeutscheLiteratur, S. 15.

4 Jürgen Jacobs, Prosa der Aufklärung, München 1976, S. 18 f.

5 Immanuel Kant, Die drei Kritiken, Stuttgart 1964, S. 39

6 vgl. Jacobs, Prosa der Aufklärung, S. 10 f.

7 ibid., S. 44.

8 Jörg Schönert, "Fragen ohne Antwo rt. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten 18. Jahrhunderts: Wezels 'Belphegor', Klingers 'Faust' und die 'Nachtwachen von Bonaventura'", in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14, 1970, S. 182

9 ibid., S. 188.

10 vgl. Johann Carl Wezel, Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, Frankfurt am Main 1965, S. 22

11 vgl. Wezel, Belphegor, S. 33 ff.

12 vgl. Wezel, Belphegor, S. 55

13 Papst Alexander VI wurde ca. 1431 als Rodrigo de Borgia in Jativa, Spanien, geboren. Während der Konklave von 1492 nach dem Tod von Papst Innozenz VIII sicherte er sich die Wahl zum Papst durch Bestechung. Sein Pontifikat zeichnete sich durch starke politische im Gegensatz zu religiösen Prägungen aus. Die Familie der Borgia, insbesondere seien Rodrigos Nachkommen Cesare und Lukrezia genannt, hat sich im Verlauf der Geschichte einen Namen als besonders grausame und rücksichtlose Familie gemacht, was wahrscheinlich der Grund war, weshalb Wezel diesen Papst als Akantes Beschützer aussuchte.

14 Wezel, op. cit., S. 312

15 vgl. Wezel, Belphegor, S. 62

16 vgl. ibid., S. 37

17 ibid., S. 7

18 Wezel, Belphegor, S. 8

19 vgl. ibid., S. 139 ff.

20 Gerhard Steiner, "Zerstörung einer Legende oder Das wirkliche Leben des Johann Karl Wezel", in: Sinn und Form, 31. Jahr, 1979, 3. Heft, S. 705.

21 Robert Mansello, Fallen Angels and Spirits of the Dark, New York 1994, S. 224

22 Nevill Drury, Lexikon esoterischen Wissens, München 1988, S. 76

23 Wezel, Belphegor, S. 8

24 vgl. ibid., S. 105 ff.

25 vgl. ibid., S. 287

26 Schönert, "Fragen ohne Antwort", S. 191

27 Schönert, "Fragen ohne Antwort", S. 191.

28 Wezel, Belphegor, S. 8 f.

29 vgl. ibid., S. 272 f.

30 vgl. Wezel, Belphegor, S. 159 ff. 11

31 vgl. ibid., S. 51 ff.

32 Wezel, Belphegor, S. 232 12

33 Immanuel Kant, "Was ist Aufklärung?", S. 4 f.

34 Wezel, Belphegor, S. 105

35 ibid., S. 34

36 ibid., S. 106 14

37 ibid., S. 116 f.

38 vgl. Wezel, Belphegor, S. 10.

39 vgl. Detlef Kremer, Wezel.Über die Nachtseite der Aufklärung, München 1982, S. 124.

40 Wezel , op. cit., S. 35

41 vgl. ibid., S. 188-220

42 Wezel, Belphegor, S. 312

43 ibid., S. 9

44 Wezel, Belphegor, S. 249 f.

45 ibid., S. 114 f.

46 vgl. ibid., S. 10 17

47 Immanuel Kant, Die drei Kritiken, S. 55 f.

48 vgl. Wezel, Belphegor, S. 234 f.

49 vgl. ibid., S. 169 ff.

50 vgl. Wezel, Belphegor, S. 23 f.

51 Johann Heinrich Merck, Werke, 2 Bände, ausgew. und hrsg. von Arthur Henkel, Frankfurt am Main 1968, S. 597

52 cit. loc.

53 Wezel, Belphegor, S. 9 f.

54 Merck, Werke, S. 597

55 ibid., S. 596

56 Wieland, zitiert in Hubert Gersch, "Glosse zu Wezels Belphegor", in Wezel, Belphegor, S. 316 20

57 Wilhelm Voßkamp, "Johann Carl Wezel", in: Benno von Wiese (Hrsg.), Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 585f.

58 Voßkamp, "Johann Carl Wezel", 587f.

59 Gerhard Steiner, "Zerstörung einer Legende", S. 703

60 ibid., S. 705

61 Daniela Weiland, "Wezel als Autor der Nachtwachen von Bonaventura - ein Denkspiel", in: Michael Glasmeier und Rolf Lobeck (Hrsg.), Johann Carl Wezel. Akten des Symposiums der Gesamthochschule/Universität Kassel vom 15. bis 18. Oktober 1992, Kassel 1994/95, S.190

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels `Belphegor`
Note
1-
Autor
Jahr
1997
Seiten
24
Katalognummer
V96981
ISBN (eBook)
9783638096560
Dateigröße
405 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
O-Ton Dozent: `Gründlich durchgeführte, inhaltlich und formal ordentliche Arbeit. Anzumerken wäre allenfalls, daß der Verfasser das kritische Potential der Aufklärung wohl unterschätzt hat. Bei der Interpretation von Wezels Roman hätte man sich eine ausführlichere Berücksichtigung des Schlusses wünschen können.`
Schlagworte
Kritik, Gedanken, Johann, Carl, Wezels
Arbeit zitieren
Robin Pfeifer (Autor:in), 1997, Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels `Belphegor`, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96981

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Kritik am aufklärerischen Gedanken in Johann Carl Wezels `Belphegor`



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden