Das Labor im Park - Zum Englischen Garten in Goethes "Die Wahlverwandtschaften"


Seminararbeit, 1995

15 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Entwicklung des englischen Gartens
2.1 Paradiesbilder
2.2 Die „Gartenrevolution
2.3 Der Englische Garten

3. Die Natur im Roman
3.1 Goethe im Englischen Garten
3.2 Die Protagonisten im Park
3.3 Ein Labor
3.4 Die Naturwissenschaft im Park
3.5 Der Irrationalismus im Park

4. Einstürzende Neubauten?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Themenkomplex der Naturdarstellung in Goethes 1809 erschienenen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ bietet bis in die jüngste Zeit immer wieder Anlaß zu lebhaften Diskussionen. Der Grund dafür mag darin liegen, daß Goethe die Einbettung des Natur - Motivs in den Gesamtzusammenhang im Gegensatz zu anderen Topoi des Romans bewußt unscharf gelassen hat. Dies erlaubt neben völlig differierenden Gesamtwertungen auch voneinander abweichende Akzentsetzungen innerhalb eines

Argumentationsmodells, die hier aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden können. Ich werde mich in den folgenden Ausführungen auf die Darstellung des Parks durch den Autor und den Umgang mit ihm durch die Protagonisten beschränken und zu zeigen versuchen, wie monokausale Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Welt im Zeitalter der Aufklärung zu der am Ende des Romans dargestellten Katastrophe führen können. Eine Beschäftigung mit spezifischen Bereichen des Parks kann an dieser Stelle aus dem o.g. Grund nicht geleistet werden.

Die historische Herleitung der Gartenproblematik wird aus Verständnisgründen und zur Unterstützung der zeitlichen Einbettung des Romans einen großen Teil der Arbeit beanspruchen. Desweiteren werde ich versuchen, die Protagonisten bestimmten Teilen des Parks zuzuordnen. Eine Darstellung von Interpretationsansätzen verschiedener Teile der Problematik wird folgen, um die Natur daraufhin mit zwei anderen, verwandten Themenkomplexen des Romans zu verbinden.

2. Die Entwicklung des Englischen Gartens.

2.1. Paradiesbilder

Seit der biblischen Beschreibung des Paradieses als Garten und Vergils locus amoenus gilt der Garten in der Kunst als Bild der Maximalleistung der Kultur, eine Identität von Mensch und Welt schaffen zu können. War bis zum 18. Jahrhundert diese Möglichkeit der Identität noch getragen von den sozialen und metaphysischen Systemen, in denen die Menschen lebten, so entwickelte sie sich mit dem ‘Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’ immer mehr zum krassen Gegenbild herrschender Zustände. Dies begann mit dem Verlust der Allmacht der Kirche seit der Aufklärung und setzte sich fort mit dem Enden fester, gesellschaftlicher Bindungen durch die Industrialisierung.

Einen Ausweg aus dem immer größer werdenden Abstand zwischen Ich und Außenwelt, zwischen Soll - Welt und Ist - Welt bereiteten die Ästhetik Kants und die ‘Critische Dichtkunst’ von Brodmer und Breitinger, indem sie der Kunst einen eigenen Wirklichkeitsanspruch zuerkannten, der frei von empirischer Überprüfbarkeit eine eigene Ethik situieren konnte.1 Die Fiktion durfte nun das bieten, wozu Religion und Gesellschaft nicht mehr in der Lage waren: Einen Paradiesentwurf auf der Erde, der aufgrund eigener Gesetzmäßigkeiten glaubhaft war.

Da das durch den Garten vermittelte Weltideal ein Ästhetisches war, wurde der Gartenbau konsequenterweise zur künstlerischen Ausdrucksform erhoben, der somit auch der wechselseitigen Beeinflussung durch andere Künste ausgesetzt war. Es wurde von der Prämisse ausgegangen, daß die Natur an sich schon eine Künstlerin sein, die noch einer menschlichen Veredelung bedürfe. Das ‘Credo’ des bekanntesten deutschen Gartenbautheoretikers, C.C.L. Hirschfeld, ist exemplarisch: ‘Bewege durch den Garten stark die Einbildungskraft und die Empfindung, stärker als bloß eine natürlich schöne Gegend bewegen kann.’2

2.2. Die ‘Gartenrevolution’

Im Zuge einer ‘Neuentdeckung der Natur’ im 18. Jahrhundert, die sich vor- nehmlich über den Garten vollzog, wandelte sich die Diskussion um die Gartenkunst zu einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs. An ihm nahmen neben Künstlern auch Politiker und Philosophen teil, die die Gartentheorie immer mehr zum Spiegel der Aufklärung werden ließen.

Unter dem Sichwort der ‘Gartenrevolution’ vollzog sich in dieser Zeit ein tiefgreifender Stilwandel. Die französischen Lustgärten nach Versailler Vorbild, die durch den Feudaladel in Europa eine ungemein große Verbreitung fanden, gerieten zunehmend in die Kritik. Die strengen, geometrischen Formen, nach denen die Gärten sowie die Pflanzen selber geschnitten waren, sollten - zumindest bis zum Rokoko - neben einer ‘göttlichen Ordnung’ auch die Machtfülle und den eigenen Reichtum repräsentierten. Doch dieser die Natur ‘verstümmelnde’ Gartenstil, der mit dem absolutistischen Herrschaftsanspruch bestens korrespondierte, wollte nicht recht dem neuen, aufklärerischen Zeitgeist entsprechen. Von England aus entwickelte sich unter Shaftesbury, Addison und Pope eine neue Gartenästhetik an deren Ausformung und Weiterführung sich bald auch deutsche Gelehrte wie Lenz, Schiller und Goethe beteiligten. Vor allem der Adel in Frankreich hielt unbeirrt am absolutistischen Gartenideal fest, das das Schloß als Zentrum der Anlagen begriff, an dem sich sämtliche Gartenbepflanzungen zu orientieren hatten. In England hingegen begann man schon recht bald, sämtliche französische Gärten in Landschaftsparks umzuwandeln. Mit dieser Änderung ging eine regelrechte Stadtflucht des Adels und vieler reicher Citymagnaten einher, die sich Landsitze leisten konnten. Dies wurde ermöglicht durch die Einhegung der früheren Allmendgüter, die die Landbesitzer aufgrund einer neuen Rechtsauffassung nun als ihr Privateigentum betrachteten. Die dadurch ihrer Existenzgrundlage beraubten Bauern waren willkommene, weil billige Arbeitskräfte für die neu entstehenden Manufakturen. Michael Niedermeyer schreibt dazu: ‘Der englische Park, der Freiheit und Unabhängigkeit der Antike in die moderne Zeit hinüberretten sollte, ver -dankte seine Geburt auch der Entrechtung der englischen Bauern’.3 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts standen diese beiden Gartentheorien unversöhnlich neben einander.

2.3. Der Englische Garten

Ziel des Englischen Gartens war es, eine möglichst natürliche Landschaft künstlich zu schaffen, die in ihren Gestaltungsmöglichkeiten ausgenutzt und perfektioniert sein soll. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildeten sich in England zwei Haupt - strömungen heraus. Die erste Variante wurde von William Kent propagiert und sah die Schaffung von ‘arkadischen Ideallandschaften’ nach Bildvorlagen von Malern wie Claude Lorrain vor. Die Möglichkeit der Anpflanzung von Nutzpflanzen blieb weitestgehend unberücksichtigt. Um 1800 vertraten Humphrey Repton und John Claudius Loudon eine zweite Richtung, die sich schließlich durchsetzen sollte. Hier wurde versucht, eine ästhetische Landschaftsgestaltung mit Land- Milch- und Viehwirtschaft zu verbinden. Die Abgrenzung von wirtschaftlich ge-nutzter Fläche und eigentlichem Park sollte aufgehoben werden, ohne den ästhetischen Gesamteindruck zu schmälern. In Deutschland tat sich vor allem der Kieler Professor der Philosophie C.C.L. Hirschfeld (1742 - 1792) als Theoretiker hervor. Seine 1885 in fünf Bänden erschienene ‘Theorie der Gartenkunst’ gilt als das bedeutendste Werk zu diesem Thema und war auch Goethe bekannt. Neben einigen besonderen Ausformungen der Theorie - wie die Hervorhebung des Schweizer Landlebens als ‘arkadisches Beispiel’ - findet sich auch bei ihm der für diese Zeit typische ‘poetische Tyrannenhaß’. Einfaches, ländliches Leben wurde als Ideal gegen die hektische Betriebsamkeit der Stadt gesetzt. Auch eine pädagogische Wirkung des Englischen Gartens war - ähnlich den Engländern - von Hirschfeld beabsichtigt. Die neue Freiheit in der Gartengestaltung sollte sich in einem freieren Denken, Fühlen und Handeln niederschlagen, weswegen er auch für die Aufhebung der Sklavenhalterei eintrat.

3. Die Natur im Roman.

3.1 Goethe im Englischen Garten

Goethe konzipierte den Park von Eduard und Charlotte eindeutig als Englischen Garten. Dies beweisen zum einen Vergleiche der Parkbeschreibungen mit zeitgenössischen Darstellungen von Englischen Gärten; zum anderen werden von Eduard explizit Beschreibungen von Englischen Gärten zu Rate gezogen.4 Neben der theoretischen Beschäftigung besaß Goethe auch praktische Erfahrungen mit Parks dieser Art. Mehrmals war er im Dessau - Wörlitzer ‘Gartenreich’ bei Leopold Friedrich Franz von Anhalt - Dessau zu Gast; bei der Anlage des Weimarer Parks war er federführend. Der im Roman geschilderte Park läßt sich jedoch nicht auf ein konkretes Vorbild zurückverfolgen; er scheint vielmehr ein Konglomerat der vielfältigen Erfahrungen zu sein, die Goethe mit Englischen Parks gemacht hatte. Auffallend sind die vielen Übereinstimmungen in den Parkbeschreibungen der ‘Wahlverwandtschaften’ mit den Ideen Hirschfelds. So wird eine Schweizreise von Eduard und dem Hauptmann erwähnt, auf denen sie sich Anregungen zur Landschaftsgestaltung holten. Ebenso die Ideen des Hauptmanns, das Bettelwesen zu organisieren und das Dorf unter die Verfügungsgewalt der Polizei zu stellen5 entstammen der ‘Theorie der Gartenkunst’ Hirschfelds.

Es drängt sich der Eindruck auf, als habe Goethe hier einen idealen Englischen Garten geschaffen. Mit Eintreffen des Hauptmanns wird die zaghafte und dilettantische Verschönerungsarbeit Charlottes von einer umsichtigen, da auf der Karte des Hauptmanns basierenden Arbeit abgelöst. Nach der Ankunft des englischen Lords im zehnten Kapitel des zweiten Teiles erlangt der Park sogar Mustergültigkeit. Implizit ist natürlich auch der Paradiesgedanke immer vorhanden. Charlotte hatte den Park für den gemeinsamen Lebensabend gedacht und fürchtet sich vor einer Störung dieser Idylle.6 Weiterhin ist sie darauf bedacht, ‘alles Tödliche zu entfernen.’7 Dies kann aber nicht verhindern, daß der Landschaftsgarten allmählich zu einem Raum des Todes wird, der den Paradiesgedanken stark kontrastiert.

3.2 Die Protagonisten im Park

Die Protagonisten lassen sich räumlich der im Park dargestellten Landschaft zuordnen. Eduard wird in seiner Baumschule arbeitend in den Roman eingeführt. Er bringt dort ‘frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme’8 auf. Desweiteren bebaut er einen Blumengarten und ist dabei sehr experimentierfreudig.9 Im Gegensatz zu diesen räumlich beschränkten Tätigkeiten übertritt er die Grenzen des Landgutes mehrmals. Wie die einander widersprechende Raumauffassung schon andeutet, ist das Wesen Eduards einerseits weder ehelichen, noch gesellschaftlichen Grenzen unterworfen; bis in den Tod verpflichtet sieht er sich jedoch seiner Liebe zu Ottilie. Von seinem Vater stammt noch der alte, nach französischem Geschmack angelegte Schloßgarten.10 Hier zeigt sich besonders der, einem Wechsel von Systole zur Diastole gleiche Übergang von französischem zu englischem Geschmack. Charlotte hingegen bearbeitet die ‘neuen Anlagen’11 ; ein nach englischem Vorbild angelegter Park. Die von Hirschfeld beschriebene, gedanklich frei machende, erzieherische Wirkung findet bei ihr keine Entsprechung. Trotz der ‘weiten Landschaft’ arbeitet sie nur stückweise ohne Rücksicht auf das Gesamtaussehen.12 Bei vorgeschlagenen Veränderungen im Park erinnert sie zuerst immer an die dadurch anfallenden Kosten.13 Der Park, insbesondere die Mooshütte, bietet ihr einen Schutzraum, in dem sie auch ihren Gefühlen freien Lauf lassen kann.14 Analog dazu besitzt sie ein eher erhaltendes, konservierendes und bedächtiges Wesen.

Ihr ist es möglich, allein durch das Appellieren an ihren Eheschwur wieder ihr seelisches Gleichgewicht zu erlangen.15 Auch scheint sie die Einzige zu sein, die bis zum Tode ihres Kindes an ihre Ehe mit Eduard glaubt.

Ottilie scheint an keinen Raum im Roman explizit gebunden zu sein. Sie ist ebensooft im Haus wie im Park. Auch fährt sie häufiger mit dem Boot auf den See und verläßt nach ihrer Ankunft das Anwesen in Richtung Pension, um bald darauf wieder zurückzukehren. Demgegenüber ist sie allerdings am stärksten an Gesetze gebunden - nämlich ihre eigenen.16 Sie zerbricht letztlich an der Erkenntnis, daß sie ihnen aufgrund ihrer Emotionen nicht treu bleiben kann.

Auch der Hauptmann läßt sich nahezu im gesamten Park wiederfinden. Er ist der jenige, der mit der Kartierung des Anwesens einen allgemeinen Überblick verschafft. Von allen Protagonisten scheint er der Ausgeglichenste zu sein. Er ist sehr pflichtbewußt,17 scheut aber auch nicht die Veränderung.18 Obwohl er sich seinen Gefühlen Charlotte gegenüber wohl bewußt ist, versucht er, ihre Ehe mit Eduard zu retten.19 Auch ist der Hauptmann der Einzige, der direkten Kontakt mit dem See hat.20 Er nimmt eher die Rolle eines Katalysators ein, der verschiedene Vorgänge beschleunigt, aber nicht hervorruft.21

3.3 Ein Labor

Elisabeth von Thadden22 vergleicht die ÔExpositionÔ des Romans mit einem Versuchsaufbau. Das Verhältnis von Eduard und Charlotte scheint von einem stabilen Stillstand gekennzeichnet. Beide haben vor ihrer Ehe ein bewegtes Leben gehabt und scheinen sich nun in trauter Zweisamkeit ihres Glückes zu freuen. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit der Natur, die mittlerweile fast der einzige Zeit-vertreib der Beiden ist. Erst mit der Hinzufügung von Ottilie und dem Hauptmann

Adam und Evas, und der Park kann auch anfangs schon als Bild vorhandener (wenn auch noch zu bearbeitetender) Harmonie gelten. Dabei bleibt die Natur jedoch stets autonom und gehorcht ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Für die langsame Verwandlung der Idylle in einen Raum des Todes kann der Park an sich nicht verantwortlich gemacht werden. Die Ereignisse, die zu diesem Eindruck führen - wie der Dammbruch beim Richtfest und des Ertrinken des jungen Otto - sind sämtlich von Menschen verschuldet.23 Es ist auffällig, daß das Landgut als ein Raum der Zeitverlorenheit dargestellt wird. Die menschliche Zeitmessung scheint außer Kraft zu sein. So vergißt der Haupt- mann, seine Uhr aufzuziehen,24 und Charlotte sagt bei dem Gespräch mit dem Gehülfen: ‘Indem uns das Leben fortzieht (...), glauben wir aus uns selbst zu han - deln, unsere Tätigkeit, unsere Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind.’25 Da neben den neuen, englischen Anlagen auch noch die französischen von Eduards Vater auf dem Gut existieren (die in genanntem Gespräch auch erwähnt werden), scheint Charlotte sich der Relativität der Zeit bewußt zu sein. Eine Möglichkeit der Fehlinterpretation der die Zeit erfordernden Handlungen kommt ihr aber nicht in den Sinn.26 Die einzige zeitliche Einteilung liefern die Jahreszeiten. Herrscht zu Beginn des Romans noch der Frühling, so kehrt mit dem Tod Eduards der Winter ein. Interessant ist auch, daß die aufklärerischen Implikationen des Englischen Gartens von den Protagonisten so gut wie gar nicht wahrgenommen werden. Die Landschaft wird rein ästhetisch interpretiert. Lediglich im Gespräch Charlottes mit dem Gehülfen im achten Kapitel des zweiten Teiles kommen einige emanzipatorische Bestrebungen, die eng mit dem Englischen Garten verbunden sind, zur Sprache.

Häufig erscheint der Park eher als das Gegenteil zur neuen aufklärerischen Freiheit: Nachdem Eduard in den Krieg gezogen ist, findet sich Charlotte plötzlich als Aufseherin, die die Gefangene Ottilie vor Eduards Zugriff ausserhalb des Landgutes beschützen muß. Von einer wohltuenden erzieherischen Wirkung des Parks kann auch nicht die Rede sein, da sich Eduard nach der Kartographierung des Geländes für die Verschönerungspläne des Hauptmanns und damit gegen seine Frau entscheidet. Je perfekter der Park, desto zerrütteter die menschlichen Verhältnisse - der Roman erfährt seine katastrophale Zuspitzung erst, nachdem die Mustergültigkeit des Parks durch den englischen Lord zementiert wurde. Hier wirkt der Garten eben nicht als ‘wohltuend für Individuum und Gesellschaft’, wie von den englischen Gartentheoretikern angenommen. Ebenso findet keine Rückbindung der nun einen eigenen Wirklichkeitsanspruch situierenden Kunst (hier des Gartenbaus) an den Menschen statt. Eine normative Kraft - vergleichbar der Religion oder der Gesellschaft - kann die ästhetische Fiktion nicht aufbringen.

3.4 Die Naturwissenschaft im Park

Die rein ästhetische Anschauungsweise der Natur wird im Roman durch die Naturwissenschaftliche kontrastiert. Eduard und der Hauptmann leiten das oft interpretierte Gespräch über die gesetzmäßigen Verbindungen chemischer Elemente im vierten Kapitel des ersten Teiles mit ihrer Erkenntnis ein, daß der Mensch in der gesamten Natur (also auch in der Wissenschaft) Analogien zu seinem Handeln und Denken sucht. Im Laufe des Gespräch versuchen die Protagonisten ständig, die Gesetzmäßigkeiten der Wahlverwandtschaften auf ihre Situation zu übertragen und so die Naturgesetze zu ihren eigenen zu machen. Doch dies gelingt nicht. Am Ende muß Charlotte erkennen, daß die personenbezogenen Beispiele Eduards nicht auf ihren Fall passen. Das Verhältnis von Natur und Mensch bleibt also in der Schwebe und kann somit im Laufe des Romans in vielen Facetten entwickelt werden.27

Eduard und der Hauptmann sind sich darüberhinaus wohl bewußt, daß die Naturwissenschaft im Wandel begriffen ist und daß sich ihre Annahmen über die Wahlverwandtschaften auf ein bereits veraltetes Wissen stützen. Eduard bedauert, ‘daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann’28 und bedauert damit die Tatsache, daß für den von metaphysischen und sozialen Zwängen befreiten Menschen der Aufklärung auch die Naturwissenschaft - gleich der ästhetischen Fiktion - kein geschlossenes Erklärungsmodell bieten kann.

3.5 Der Irrationalismus im Park

Das Spannung zwischen (ästhetischer) Natur und Naturwissenschaft wird ergänzt durch den Irrationalismus oder das durch Benjamin als das ‘Dämonische’ des Romans bezeichnete. Es ist rational nicht erklärbar, warum das Kind von Eduard und Charlotte die Gesichtszüge Ottilies und des Hauptmanns trägt und somit die ‘wahre’, geistige Elternschaft bezeugt. Ebenso ist nicht erklärbar, warum Eduard am Geburtstag Ottilies die Platanen am Ufer des mittleren See gepflanzt hat; wobei hier nochmals die Ambivalenz von Dämonie und Rationalität zum Ausdruck kommt. Im Sinne der Aufklärung wurde der aufgeklärte Mensch mit einem Baum verglichen, der gesund, kräftig und gereinigt nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite wachsen soll. Dazu muß er natürlich von unnützem Ballast befreit werden. Genau das tut Eduard kurz vor dem Richtfest des neuen ‘Lustschlosses’: ‘Unter einem anderen Vorwand ließ daher Eduard den Raum unter den Platanen von Gesträuch, Gras und Moos säubern, und nun erst erschien die Herrlichkeit des Baumwuchses sowohl an Höhe als Breite auf dem gereinigten Boden.’29 Ottilie erweist sich am Ende des Romans als in keinster Weise aufgeklärt. Die Gesetze, nach denen sie gelebt hat, entsprachen den Wüschen Charlottes und machten sie ausgesprochen unfrei. Bezeichnenderweise galten Platanen in der Zeit des Erscheinens des Romans als exotisch und mystisch aufgeladen, da sie erst einige Jahre vorher von Leopold von Anhalt - Dessau in Europa eingeführt wurden.

Die Natur scheint auf ungeklärte Weise mit dem menschlichen Leben zu korres- pondieren. Die Protagonisten scheitern aber nicht an einer totalen Bezugslosigkeit zur Welt, sondern an dem Unvermögen, vorhandene Bezüge richtig zu interpretieren. Sei es das Kind von Eduard und Charlotte oder der aufgefangene Becher bei der Grundsteinlegung: Ständig wird der Natur eine Orakelfunktion zugesprochen, die sie nicht erfüllen kann.Natur wird hier in einem Spannungsdreieck mit Naturwissenschaft und Dämonie benutzt. Ulrike Meinhold meint das Gleiche, wenn sie schreibt: ‘Geistiges erscheint vielmehr durch empirische Naturgesetzlichkeit relativiert, umgekehrt jedoch wird Naturgesetzlichkeit auch durch etwas Übernatürliches eingeschränkt.’30 Dies ist die Ursache, warum Eduard und Ottilie ihr Leben am Schluß nur noch als Rätsel auffassen konnten, an dessen Auflösung sie in diesem Leben nicht mehr glaubten.

4. Einstürzende Neubauten?

Die Naturdarstellung in Goethes ‘Die Wahlverwandtschaften’ fächert eine Vielzahl komplexer Themen auf, die - wenn überhaupt - hier nur angerissen werden konnten. Der Umgang mit der Natur dient zum einen sicherlich der Illustration der Charaktere, sei es kontrastiv oder analog. Zum anderen diente sie Goethe auch der massiven Kritik an der Suche für monokausale Erklärungen für die Beziehung von Mensch und Welt. Dabei nimmt er selbstverständlich keine existentialistische Position ein. Indem er jedoch Menschen zeigt, die durch die Aufklärung (und in diesem Falle auch durch ihren materiellen Wohlstand) von stupider und philiströser Gesetzlichkeit befreit sind, es aber nicht schaffen, ihren individuellen Bezug zur Welt herzustellen, nimmt er einen großen Problembereich der Moderne vorweg. Weder ästhetische Natur, noch pure Naturwissenschaft oder Irrationalismus taugen als ‘Gott’ im Sinne eines ‘was sollen wir tun’.

Eine weitere ÕzeitverloreneÔ Nuance gewinnt der Roman durch die Tatsache, das auch die englische Gartentheorie beim Erscheinen des Romans bereits veraltet war. Bereits 1801/02 prangerte Schlegel die ‘verkehrten Kunstmaximen der Natürlich keit und Täuschung’ an. Siegmar Gerndt31 sieht einen Grund für die Frustration der Personen im Roman in der schuldhaften Verkennung der Zeiterfordernisse. ‘Anstatt Konsequenzen aus der Erkenntnis des Epochenwechsels zu ziehen und neue Wege zu suchen, die auch im Verhältnis zur Literatur sichtbar würden, verharrt die Gesellschaft in der Vergangenheit und gibt sich passiv der Wehmut hin.’32

Die theoretische Idealität des im Roman dargestellten englischen Landschaftsparks

korrespondiert auch mit dem Bild des ‘Versuchsaufbaus’ von Elisabeth von Thadden. Hier stehen natürlich die bürgerlich - emanzipatorischen Implikationen der Aufklärung, die von den Protagonisten nur unzureichend wahrgenommen werden, an erster Stelle. Letztlich ist das negative Ende des Romans nicht die einzige Möglichkeit, das Paradies zu verlieren, so wie es für Ottilie und Eduard im Prinzip auch kein Ende, eher ein Ausweg war. Einen anderen zu finden, kann ab jetzt nur jedem selbst überlassen bleiben.

Literaturverzeichnis

BrosŽ, Claudia: Park und Garten in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Park und Garten im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1978

Gerndt, Siegmar: Idealisierte Natur. Stuttgart 1981

Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. München 1980

Hennebo, Dieter / Hoffmann, Alfred: Geschichte der deutschen Gartenkunst. Hamburg 1963

Niedermeyer, Michael: Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, `Gartenrevolution« in Goethes Roman ‘Die Wahlverwandtschaften’. Berlin 1982

Schepes, Wolfgang: C.C.L. Hirschfelds Theorie der Gartenkunst. In: Hennebo, Dieter / Hoffmann, Alfred: Geschichte der deutschen Gartenkunst. Hamburg 1963 Sühnel, Rudolf: Der englische Landschaftsgarten auf dem Hintergrund der Geistes - und Gesellschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Hennebo, Dieter / Hoffmann, Alfred: Geschichte der deutschen Gartenkunst. Hamburg 1963

Thadden, Elisabeth von: Erzählen als Naturverhältnis - ‘Die Wahlverwandtschaften’. München 1993

Weinhold, Ulrike: Ebenbild und Einbildung. Zur Problematik des Gartenmotivs in Goethes ‘Wahlverwandtschaften’. In: Neophilologus 67. S. 419 - 431

[...]


1 Vergl.: Ulrike Weihhold: Ebenbild und Einbildung. In: Neophilologus 67, S.419 - 431

2 Zitiert nach: Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann: Geschichte der deutschen Gartenkunst.Band 3. Hamburg 1963. S. 112

3 Michael Niedermeyer: Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, `GartenrevolutionÔ in Goethes Roman ‘Die Wahlverwandtschaften’. Berlin 1982. S.135

4 Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. München 1980. S.52 f. Im folgenden: Goethe, Wahlverwandtschaften.

5 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 51

6 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 12

7 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 33

8 Goethe, Wahlverwandtschaften. S.1

9 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 115

10 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 182

11 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 7

12 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 27

13 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 59

14 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 79

15 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 91

16 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 227

17 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 9

18 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 78

19 Goethe, Wahlverwandtschaften. S.213 f

20 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 90 ;S. 102

21 Im sechsten Kapitel des ersten Teiles plant der Hauptmann die Aktivitäten der gewünschten Veränderung anhand seiner Karte; im letzten Drittel des zweiten Teils fungiert er als Bote für Eduard, der durch ihn eine Beschleunigung der Scheidungseinwilligung Charlottes erhofft. Weitere Beispiele ließen sich anführen.

22 Elisabeth von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis - ‘Die Wahlverwandtschaften’ . München 1993

23 Eine andere Auffassung vertritt Claudia BrosŽ. Sie ist der Ansicht, daß vor allem die Beschäftigung mit der Landschaft €nderungen - auch zwischen den Personen - hervorruft. Claudia BrosŽ: Park und Garten in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Park und Garten im 18. Jh. Heidelberg 1978

24 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 55

25 Goethe, Wahlverwandtschaften. S. 182

26 Vergl.: Siegmar Gerndt: Idealisierte Natur. Stuttgart 1981

27 Vergl.: Ulrike Weinhold: Ebenbild und Einbildung. In: Neophilologus 67. S. 419 - 431

28 Goethe, Wahlverwandtschaften.S. 35

29 Goethe, Wahlverwandtschaften.S. 99

30 Ulrike Weinhold: Ebenbild und Einbildung. In: Neophilologus 67. S. 419 - 431

31 Siegmar Gerndt: Idealisierte Natur. Stuttgart 1981

32 Siegmar Gerndt: Idealisierte Natur. Stuttgart 1981

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Das Labor im Park - Zum Englischen Garten in Goethes "Die Wahlverwandtschaften"
Veranstaltung
Proseminar: Goethes "Die Wahlverwandtschaften"
Autor
Jahr
1995
Seiten
15
Katalognummer
V96796
ISBN (eBook)
9783638094719
Dateigröße
367 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Labor, Park, Englischen, Garten, Goethes, Wahlverwandtschaften, Proseminar, Goethes, Wahlverwandtschaften
Arbeit zitieren
Martin Abend (Autor:in), 1995, Das Labor im Park - Zum Englischen Garten in Goethes "Die Wahlverwandtschaften", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96796

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