Ottilie, Olimpia und ihr Narziss


Seminararbeit, 2000

16 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Vergleichender Überblick

2. Eduard und Nathanael, die Narzissten
2.1 Eduard - Ottilie
2.2 Nathanael - Olimpia im Vergleich dazu

3. Ottilie als Puppe gelesen

5. Bibliographie

1. Vergleichender Überblick

Sind „Die Wahlverwandtschaften“1 „der Text eines Erzählers [...], der zuerst und zuletzt ein Leser war, ein Leser von Texten, [der] lesend an den Texten entlangschrieb“2, so ist es „Der Sandmann“3 in Bezug auf „Die Wahlverwandtschaften“. „In der Tat hatte Hoffmann sich [...] einer intensiven Lektüre von Goethes Roman unterzogen.“4 Diese Lektüre findet ihren ausdrücklichsten Niederschlag, indem Nathanael „von psy- chischer Wahlverwandtschaft fantasiert[]“ (SA 35), doch auch andere Parallelen sind kaum zu übersehen.

Schon die Figurenkonstellation ist ähnlich: In den „Wahl- verwandtschaften“ führt Charlotte mit Eduard eine vermeint- lich glückliche Ehe, bis Eduard sich in Ottilie verliebt und Char- lotte sich dem Hauptmann nähert. Analog dazu bildet im „Sandmann“ Clara, der ihr Bruder Lothar zur Seite gestellt ist, mit Nathanael ein Paar, bis dieser sich in Olimpia verliebt. Bei Clara ist der Name Programm: Sie ist das „gemütvolle, ver- ständige“ (SA 20) Mädchen mit dem „gar hellen, scharf sich- tenden Verstand“ (SA 21), der konstatiert, dass all das „Ent- setzliche und Schreckliche“ (SA 13), was Nathanael wider- fährt, „nur in [seinem] Inneren vorginge, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte.“ (ebd.). Auch Charlotte ist „immer gewohnt, sich ihrer bewusst zu sein, sich selbst zu gebieten“ (WV 326) und nimmt gegenüber dem abergläubischen Eduard (vgl. WV 248) die Rolle der Auf- geklärten ein. Sowohl Lothar als auch der Hauptmann sind jeweils beiden Partnern zugetan, stehen von ihren Einstel- lungen her jedoch den jeweiligen Frauen näher. Nun tritt in beiden Werken die schweigsame Vierte auf, Ottilie, bzw. Olim- pia, die auf Eduard, bzw. Nathanael eine „fast magische An- ziehungskraft“ (WV 478) ausübt - eine Leidenschaft, die schließlich im Tod der Liebenden endet. Doch dieses Verhält- nis soll in den nachfolgenden Kapiteln näher erläutert werden. Sowohl in den „Wahlverwandtschaften“ als auch im „Sand- mann“ tritt der Erzähler deutlich als solcher in Erscheinung. Bei Goethe führt er sich gleich im ersten Satz als Machtinstanz ein, „Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter“ (WV 242), bei Hoffmann macht er gar das Erzählen selbst zum Thema (SA 19). Dennoch ist der vermeint- lich auktoriale Erzählerbericht in beiden Stücken an manchen Stellen nicht zu unterscheiden von Figurensicht und erlebter Rede, z. B. als Nathanael sehen muss, wie die geliebte Olimpia von Spalanzani und Coppola oder Coppelius auseinander genommen wird (SA 37). Ironie als Erzählhaltung kann in den „Wahlverwandtschaften“ oft nicht „an Ort und Stelle durchschaut werden“5.

„Ohne ein kommentierendes Wort wird dem Positiven - ihren [sc. Charlottes und Eduards] Beschäftigungen - die Eigenschaft des Problems verliehen, erkennbar allerdings erst aus dem Fortgang der Erzählung.“5

Die Ironie im „Sandmann“ ergibt sich oftmals ganz direkt aus der Geschichte. So als Professor Spalanzani nach dem Fest in seinem Hause zu Nathanael sagt: „Sie haben sich außeror- dentlich lebhaft mit meiner Tochter unterhalten,“ (SA 33) während Olimpia nicht anderes als „Ach, ach!“ (SA 33) von sich gegeben hat.

Was Charlotte schon antizipiert, „[das] wollen wir den Gelehr- ten überlassen, die übrigens, wie ich habe bemerken können, sich wohl schwerlich jemals vereinigen können“ (WV 271), gilt gleichermaßen für „Die Wahlverwandtschaften“ wie für den „Sandmann“. Beide Texte fordern die verschiedensten Deutungen heraus. Goethes Erzähler macht die Brüche zum Erzählprinzip. Deutungsansätze werden angeboten, um schon im nächsten Moment nicht mehr aufzugehen; Oppositionen aufgebaut, die gleich darauf in sich zusammenfallen. So wird Luciane, die lebhafte Musterschülerin als Gegenpol zur schweigsamen Schulversagerin Ottilie eingeführt. Bei genaue- rem Hinsehen treten aber diesbezüglich zumindest Irritationen auf: z. B. ersetzt Luciane einem im Krieg verstümmelten jungen Mann die rechte Hand (vgl. WV 386), während Ottilie dies für Eduard tut, als sie den Vertrag für den Vorwerksverkauf kopiert (vgl. WV 303). z. B. treibt Luciane ein Kind in den Wahnsinn (vgl. WV 400), Ottilie ist für den Tod des kleinen Otto verantwortlich (vgl. WV 457). Die Opposition kann demnach, je nach Betrachtungsweise, ein Stück weit wieder auf- gehoben werden. Auch in der Gleichnisrede sind zwar die Figuren — besonders Eduard, der den Zeichen gern die für ihn passende symbolische Bedeutung unterschiebt 6 — blind (vgl. WV 266-277), aber auch die Deutungen des Lesers gehen nie in Vollkommenheit auf. Auch er legt die Bedeutung selbst hinein, auch bei ihm hängt die Deutung von der Perspektive ab.

Womit ich beim Sandmann wäre. Hier werden zwei mögliche Perspektiven und damit Deutungen der Geschichte schon durch die verschiedenen Positionen des Liebespaars Natha- nael und Clara repräsentiert. Für Nathanael, durch sein Perspektiv betrachtet, ist Olimpia sein „hoher herrlicher Liebesstern“ (SA 30). Für ihn ist Coppola Coppelius und ein „böses Prinzip“ (SA 22), für Clara ein Fantasieprodukt, das „nur der Glaube [...] in der Tat feindlich machen [kann]“ (SA 15). Man kann den „Sandmann“ als Krankheitsgeschichte lesen oder als Gruselgeschichte oder aber man hält es mit dem „Professor der Poesie und der Beredsamkeit“: „Das Ganze ist eine Allegorie - eine fortgeführte Metapher!“ (SA 39) - wofür auch immer, je nach Interpretationsansatz.

„Diese kluge Deutung hätte ebensogut nach der Lektüre von Goethes Wahlverwandtschaften gesprochen worden sein, in denen es ja auch um die Experimente gefährlicher Lieb- schaften in Allegorie chemischer Prozessen geht.“7 Al chemischer Prozesse. Und während „die Wahlverwandt- schaften“ als Roman das “chemisch-alchemistische Experi- ment“8 sind - mit dem Erzähler als Versuchsleiter, den vier Protagonisten als Zutaten und dem kleinen Otto als Ergebnis9, machen Nathanels Vater und „Der Sandmann“ Coppelius ganz konkret Versuche.

2. Eduard und Nathanael, die Narzissten

2.1 Eduard - Ottilie

„Der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“ (WV 270) Mit diesen Worten liefert uns Eduard eine unfreiwillige Charakterisierung auch und vor allem seiner eigenen Person in Bezug auf den weiteren Verlauf des Gesprächs, in dem er sich z. B. in Charlottes Worten als Kalk wiederfinden wird (vgl. WV 274f.), in Bezug auf seine Deutung sämtlicher Zeichen als Symbole für seine Zusammengehörigkeit mit Ottilie, seinem Echo, und nicht zuletzt in Bezug auf eben diese Beziehung.

„Die Wahlverwandtschaften“ fassen die Geschichte von Ovids Narcissus in ein „simultanes Geschehen“10 von Spiege- lung und Echo zusammen, so wie es Nicolas Poussin in seinem Gemälde „Reich der Flora“ verarbeitet hat und wie es in Ovids Gedicht erst kurz vor Narcissus Metamorphose geschieht: „Also sprach er zuletzt, am gewöhnlichen Borne sich spiegelnd:/Ach, umsonst geliebeter Knab´! Und gleich war der Nachhall./Jener rief: Leb´ wohl! Leb´ wohl! antwortet ihm Echo“11.

Eine mögliche Anlehnung an Poussins Gemälde, „das Goethe allem Vermuten nach in der Dresdner Galerie gesehen hat“12 und auf dem „die beiden Partner als lebendes Bild und Ge- genbild in umgekehrter Symmetrie einander gegenübersitzen, in dem sich Rede und Reflex, Stimme und Echo unauflöslich verbunden haben“13, findet sich schon, bevor Ottilie überhaupt aufgetaucht ist, als Eduard von Ottilies Kopfweh liest und sich vorstellt, wenn sie „Kopfweh auf der linken Seite“ (WV 281) habe, er „auf der rechten“ (ebd.) und sie „sitzen gegeneinander, [er] auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gestützt und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben“(ebd.). Verwunderlich daran ist nur, dass Eduard - zumindest nach Wissensstand des Lesers - gar nicht wissen kann, dass Ottilies Kopfweh linksseitig ist. Dies wurde nur Charlotte in einer früheren Nachschrift der Vorsteherin mitge- teilt (vgl. WV 264), ohne Hinweis darauf, dass Eduard auch dieser Korrespondenz ansichtig wurde. Handelte es sich nicht um Goethe und ein derart durchkonstruiertes Werk wie „Die Wahlverwandtschaften“, würde ich hier einen schlechten Lektor vermuten, so aber wohl eher eine Vorausdeutung auf die Wahlverwandtschaft zwischen Ottilie und Eduard oder einen erneuten Beweis für Eduards an dieser Stelle geradezu unverschämte narzisstische Neigung, „sich überall gern selbst [zu bespiegeln]“ (WV 270), obwohl in dem Brief, den Eduard zuvor verlesen hatte, einfach von Kopfweh, nicht von einseitigem und schon gar nicht von linksseitigem, die Rede war. Nach Ottilies Ankunft gewinnt Eduard umgehend den Eindruck, sie sei ein „angenehmes, unterhaltendes Mädchen“ (WV 281), obwohl sie, wie Charlotte bemerkt, „den Mund noch nicht aufgetan [hat]“ (WV 281). „Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte“ (WV 281). Dem Narzissus Eduard reicht diese Einseitigkeit, solange das Gegenüber sich als Projektionsfläche eignet. Und Ottilie eignet sich zunächst hervorragend, denn es fehlt ihr an selbstständiger Aktion; was sie tut, tut sie aus „anständige[r] Dienstfertigkeit“ (WV 284) mit Bezug auf andere, besonders auf Eduard, oder auf Aufforderung. Deshalb ist er auch „so stolz darauf, als ob die Erfindung sein gewesen wäre“ (WV 295), als Ottilie einen guten Vorschlag für den Bau des neuen Hauses macht, wohlgemerkt nachdem er sie dazu aufgefordert hat. Deshalb darf sie ihm auch ins Buch sehen, ohne dass er sich entzweit fühlt (vgl. WV 296). Ottilie tut

ihrerseits einiges dafür, um ihre Eignung zu perfektionieren. Sie lernt einige Sonaten mit Eduards Fehlern zu spielen und ist ihm damit die perfekte Begleitung (vgl. WV 297). Anschließend gibt sie erst ihre Vergangenheit in Form des Amuletts mit dem Bild ihres Vaters bei der Grundsteinlegung in den metallenen Köcher und damit auf, um kurz darauf ihr eigenes Wesen folgen zu lassen, indem sie bei der Abschrift des Vertrags für den Vorwerksverkauf ihre Handschrift immer mehr der Eduards angleicht. Gilt die Schrift doch dem Graphologen als Ausdruck des Charakters, kommt diese Handlung einer Selbstaufgabe zugunsten Eduards gleich. Das muss der Narzissus natürlich als Liebesbeweis verstehen (WV 323f.). Die nun so reduzierte Ottilie trifft Eduards Verlust besonders hart: „In allem beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet werde oder nicht. Nichts interessierte sie in allem als diese Betrachtung“ (WV 348).

Nachdem Ottilie jedoch nach dem Wiedersehen mit Eduard im Park, das „die Begegnung des Narziß mit Echo unter den Bedingungen seiner Begegnung mit dem Spiegelbild [reinszeniert]“14, den Tod des Kindes Otto verursacht, trifft sie aktiv einen Entschluss: „Eduards werd ich nie!“ (WV 463) Prompt verhält sie sich „offen, ja gesprächig“ (WV 464), bekommt zum ersten Mal eine eigene Stimme. Die erneute Annäherung ihres Narziss lässt diese dann wieder verstummen. Dennoch steht sie weiter Eduards Wünschen entgegen und zu ihrem eigenen Entschluss, ihm zu entsagen, um schließlich zu sterben - war Eduard ihr Lebensinhalt, so ist nach der Ent- sagung konsequenterweise ein Leben nicht mehr möglich. Doch trotzdem sie sich als Projektionsfläche entzieht, sich über Eduard „weg gehoben“ (WV 478) hat, bleibt die Affinität zu ihm erhalten; sie waren „nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen“ (ebd.). So erweist sich der Text auch hier wieder als „vieldeutig und deutungsresistent“15. Nach Ottilies Tod ist nun Eduard gefordert, die Einheit wieder herzustellen und damit muss sich ein Rollentausch vollziehen;

Narziss wird zu Echo und Echo zu Narziss. Es beginnt mit Ottilies letzten Worten: „ «Versprich mir zu leben!» ruft sie aus,[...] «Ich versprech es!» rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden“ (WV 484). Ottilie fordert etwas von Eduard, der bestätigt fast echogleich ihre Worte, doch erreichen die seinigen sie nicht mehr, geschweige denn, dass sie zurückkommen. Fortan versucht sich Eduard in Ottilies früherer Rolle, „er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Ge- sprächs zu enthalten“ (WV 489), und muss doch einsehen, dass seine Nachahmung immer nur „ein falsches Bemühen bleibt!“ (WV 489). Wenn der Narzissus nicht mehr da ist, kann das Echo nur versagen. Die einzige Lösung zur erneuten Ermöglichung einer Spiegelung, ist des neuen Echos Tod und so ruhen schließlich „die Liebenden nebeneinander“ (WV 490).

2.2 Nathanel - Olimpia im Vergleich dazu

„Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft, oder in den Himmel verzückt.“ (SA 15)

Mit diesen Worten antizipiert Lothar unwissend, was dem „im Innern zerrissene[n] Nathanael“(SA 42) bevorsteht, als er in der seelen- und wortlosen Olimpia die perfekte Projektionsfläche findet. Der Kauf des Perspektivs lässt die absurde Liebesbeziehung ihren Anfang nehmen. Mit seiner Hilfe beobachtet Nathanael Olimpia durch das Fenster. Er agiert, indem er „immer schärfer und schärfer durch das Glas hin- schaut[]“ (SA 29), und nur dadurch, durch seinen Blick, wird Olimpias „Sehkraft entzündet“ (SA 29). Dieser „narzißtische Charakter seine Projektionen“16 findet sich schon bald bestä- tigt:

„Der verzweifelten Sehnsucht Nathanaels entspringt folgende Halluzination: „Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen aus dem hellen Bach“ (SA 30). Die Intensität dieser narzißtischen Spiegelung, als deren Medium hier - genau wie im antiken Narziß-Mythos - die Wasserfläche fungiert, erhellt aus dem anschließenden Satz: „er dachte nichts, als Olimpia“ (ebd.), dessen Aussage sich vom semantischen Gehalt des üblichen präpositionalen Syntagmas ‚an jemanden denken‘ in aufschlußreicher Weise unterscheidet, und zwar insofern, als die selbstverständliche Subjekt-Objekt-Differenz zwischen Denken- dem und Gedachtem sich hier bereits so weitgehend zu ver- flüchtigen droht, daß eine der Koinzidenz sich nähernde Affinität zum Ausdruck kommt.17

Das Verhältnis zwischen Eduard und Ottilie findet sich im „Sandmann“ überspitzt. Ottilie fügt sich noch freiwillig in ihre Rolle als Echo, als Projektionsfläche, ist innerhalb dieser Rolle auch aktiv, um sie perfekt auszufüllen. Olimpia hingegen bietet nichts als eine schöne, glatte Oberfläche. Was in den „Wahlverwandtschaften“ Eduard beim Spazier- gang wirklich erleben darf, als er „glaubte [...] ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte“ (WV 291), ist im „Sandmann“ nur noch Nathanaels bloße Halluzination (vgl. SA 30). Weil Olimpia keinerlei eigene Persönlichkeit hat, „gänz- liche Passivität“ (SA 36) verkörpert, muss Nathanael sie nicht erst kennen lernen, um „getrieben von Sehnsucht und glühendem Verlangen“ (SA 30) zu sein. Sie ist sein Spiegelbild und das kennt er bereits.

„Die imaginierte Seelenharmonie erweckt in ihm den Eindruck, „als habe Olimpia über seine Werke, über seine Dichtergabe überhaupt recht tief aus seinem Innern gesprochen, ja als habe die Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt“ (SA 36). Hier tritt die (zuvor schon in der synästhetischen Wahrnehmung ihres Gesangs zum Ausdruck gekommene) Doppelfunktion Olimpias als Spiegel und Echo zugleich hervor, die ihren Wert für Nathanaels Narzißmus nur noch steigert.“18

Die Division zwischen der Begegnung mit Echo und der Begegnung mit der eigenen Reflexion, wie sie Ovids Gedicht beschreibt, ist auch hier, wie in den „Wahlverwandtschaften“, aufgehoben. „Olimpia ist wie Ottilie für Eduard eine Phan- tasmagorie, eine Projektion narzißtischen Größenwahns“19. Nathanael wie Eduard glauben fruchtbare Unterhaltungen mit einem schönen weiblichen Gegenüber führen zu können, auch wenn dieses nicht spricht. So lautet Eduards Urteil über Ottilie, die „aufmerksam auf das Gespräch schien, ohne daß sie daran teilgenommen hätte“ (WV 281), „Es ist ein angeneh- mes, unterhaltendes Mädchen“ (ebd.); Nathanael scheint „sich außerordentlich lebhaft mit [Spalanzanis] Tochter unter- halten“ (SA 33) zu haben. Nathanael neigt wie Eduard in seiner Liebe zu Peinlichkeit: Als Olimpia ihre Gesangsdarbie- tung endigt, kann er „sich nicht mehr halten, er mußte vor Schmerz und Entzücken laut aufschreien: «Olimpia!» - Alle sahen sich um nach ihm, manche lachten“ (SA 31); der Hauptmann kann gerade noch „verhindern, daß nicht auch der Name Ottiliens im Giebelfeld glänzte“ (WV 335), als Eduard Ottilies Geburtstag seines Erachtens angemessen begehen möchte. Sowohl bei Nathanael als auch bei Eduard ist angesichts der übergroßen Liebe ein Niedergang der anderen Beziehungen zu konstatieren, „Nathanael hatte rein vergessen, daß es eine Clara in der Welt gebe, die er sonst geliebt; - die Mutter - Lothar - alle waren aus seinem Gedächtnis entschwunden“ (SA 35) und auch Eduards „Herz war verschlossen, und wenn er mit Freund und Frau zusammenzusein genötigt war , so gelang es ihm nicht, seine frühere Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder aufzufinden, zu beleben“ (WV 331).

Letztlich möchte Narzissus die Beziehung zu seinem Echo natürlich legalisieren. Nathanael sucht Olimpia auf, um ihr einen Ring zu schenken, wo doch ein Ringtausch normal gewesen wäre, doch „die Einseitigkeit von Nathanaels Vorhaben ist symptomatisch“20.

„Bezeichnenderweise zerbricht Olimpia als Spiegel genau zu der Zeit, als Nathanael Anstalten macht, die Vereinigung tatsächlich zu vollziehen, indem er sich anschickt, die für die narzißtische Spiegelung konstitutive Subjekt-Objekt-Differenz aufzuheben. Dies geschieht, indem er sie aufsucht, um ihr symbolisch den Ring zu überreichen, mit dem er um ihre Hand anhalten will.“

Ähnlich passiert es in den „Wahlverwandtschaften“. Kurz nachdem „sie (sc. Eduard und Ottilie) glaubten einander anzugehören“ (WV 456), stirbt das Kind und Ottilie beschließt, Eduard zu entsagen.

Doch auch die Interpretation von Ottilie und Eduard, bzw. Nathanael und Olimpia als Transformation der Geschichte um Narziss und Echo, kann keine Ausschließlichkeit für sich bean- spruchen. In den „Wahlverwandtschaften“ wird erzählt, dass auch Charlotte und Eduard in früheren Zeiten „sich nur inein- ander bespiegelten“ (WV 311), sowie Lucianes Bräutigam „ei- nen so ganz eigenen Sinn [hat], alles auf sie (sc. Luciane) und erst durch sie auf sich zu beziehen“ (WV 395). Im „Sandmann“ vergleicht ein Maler „Claras Augen mit einem See von Ruisdael, in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur, Wald- und Blumenflur, der reichen Landschaft ganzes buntes heitres Leben spiegelt“ (SA 20). Auch ihr wird eine „schweigsame Natur“ (SA 21) attestiert. Damit wird den beiden stärker narzisstisch charakterisierten Beziehungen (Eduard-Ottilie, Nathanel-Olimpia) der Stellenwert des Einzigartigen - ob nun im positiven oder im negativen Sinne - genommen, die Opposition zwischen Charlotte und Ottilie, bzw. Clara und Olimpia zumindest ein Stück weit in Frage gestellt und damit diejenige aufgeworfen, ob nicht jede Liebesbeziehung narzisstische Züge trägt.

Sind „philologische Spitzfindigkeiten wie das als ECHO zu entziffernde Akrostichon der im Roman nacheinander auftre- tenden Hauptfiguren, das mit ihrem gemeinsamen, vor- und rückwärts gleichermaßen, das heißt spiegelbildlich lesbaren „Geheimname[n]“ OTTO korrespondiert21, [...] keineswegs illegitim“22, so habe auch ich mit etwas Mut eine solche für den „Sandmann“ anzubieten: Mehrmals preist Coppola, vielleicht alias Coppelius, dem „armen“ (SA 18) Nathanael seine Ware mit den Worten „Sköne Oke!“ (SA 27) an. Berück- sichtigt man nun, dass - zumindest einer Lesart zufolge -

Coppola danach trachtet, Nathanael mit Hilfe seiner Gläser Olimpia zu Nathanaels Echo werden zu lassen, so gewinnt der Ausruf neben dem simplen Marktschrei eines deutsch spre- chenden Italieners noch eine zweite Bedeutung. Liest man das Wort „Oke“ rückwärts, ergibt sich „Eko“, dem deutschen „Echo“ ähnlich, dem italienischen „Ecco“ noch ähnlicher, phonetisch gar damit identisch. In der Tat will Coppola- Coppelius hinter seinen Brillen, geschliffenen Gläsern und Fernrohren - je nach Interpretationsansatz - eigentlich Olimpia, das „Sköne Echo“ vermarkten, und schön ist Olimpia bekanntermaßen.

3. Ottilie als Puppe gelesen

Ottilie ist nicht nur Hexe und Heilige, sie ist auch eine Puppe. Auch unabhängig von ihren jeweiligen „Liebesbeziehungen“ ist Olimpia in mannigfaltiger Hinsicht eine Parodie auf die in folgenden Eigenschaften puppenhafte Ottilie:

Dem Schreiben der Vorsteherin nach, kommt Ottilie ohne Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse des zivilisierten Menschen aus, die da wären Nahrung, Kleidung und ein wenig Geld. „Das erste (sc. Geld) hat sie nicht angegriffen, die andern (sc. verschiedene Zeuge) liegen auch noch da, unberührt“ (WV 263), sie legt „große Mäßigkeit im Essen und Trinken“ (ebd.) an den Tag.

Über Ottilies Lernverhalten informiert der Gehülfe:

„Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht. Sie steht unfähig, ja stöckisch vor einer leicht faßlichen Sache, die für sie mit nichts zusammenhängt. Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das Schwerste begreiflich“ (WV 264f.)

Aus der Perspektive des Interpreten im einundzwanzigsten Jahrhundert betrachtet, beschreibt der Lehrer hier ganz klassisch die Funktionsweise eines Automaten, eines Computers, der - zu eigenen Transferleistungen gänzlich unfähig - Schritt für Schritt programmiert jedoch in der Lage ist, schwierigste logische Operationen durchzuführen.

Weiter hat er

„nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte. Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert“ (WV 280).

Ist nicht ein Mensch, der keine Anforderungen stellt, aber solchen auch nicht nachkommen will, in seiner doppelten Passivität letztendlich leblos?

Leblos kann man jedenfalls auch Ottilies Tagebuch nennen, das so gar nicht dem entspricht, was man sich gemeinhin un- ter den Aufzeichnungen eines verliebten Teenagers vorstellt, enthält es doch größtenteils Aphorismen, die allenfalls abstrakt mit Ottilies Leben in Verbindung gebracht werden können.

Nach ihrer Ankunft scheint Ottilie „aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte“(WV, 281), ist in ihrer „Dienstbeflissenheit“ (WV 283) in einer lautlosen „ewige[n] angenehme[n] Bewegung“ (WV 284) begriffen und hält sich lieber im Haus auf - ein Haushaltsroboter ohne Sprachfunktion, aber mit einer absurden Ähnlichkeit zu Olimpia. Denn wenn Ottilie schweigsam ist, ist Olimpia bis auf ihr wiederholtes „Ach, ach!“ und „Gute Nacht, mein Lieber!“ (SA 36) stumm; wenn Ottilie sich in einer „ewige[n] , angeneh- me[n] Bewegung“ (WV 284) befindet, ist Olimpias Schritt „sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt“ (SA 34); wenn sich Ottilie lieber im Haus befindet, so verlässt es Olimpia niemals. Während Olimpias Klavierspiel „den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine“ (SA 34) hat, überlässt Ottilie den ihrigen Eduards Dilettantismus; während man Olimpia „totalen Stumpfsinn“ (SA 34) attestiert, fällt Ottilie im Internat überall durch; während Olimpia ein „schöne[s]

Äußer[es]“ (ebd.) zu bieten hat, ist Ottilie in ihrer Schönheit „ein wahrer Augentrost“ (WV 283).

Ottilies Augen sind „tief und freundlich“ (WV 283), Olimpias „Blick [...] ganz ohne Lebensstrahl“ (SA 34), doch von beiden kommt das männliche Geschlecht nicht los. Nathanael klebt am Fenster, nachdem er durch das Perspektiv in „Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen“ (SA 29) hat aufgehen sehen; dem Architekten scheint es „unmöglich, von Ottiliens Augen zu scheiden“ (WV 402).

Überhaupt legen die behandelten Texte nahe, dass die schweigende dumme Puppenfrau - das Wort „Puppe“ wird ja auch heute noch von dummen Männern als Bezeichnung für ein Frau benutzt - für bestimmte Typen von einiger Attraktivität zu sein scheint. Ottilie, in ihrer schönen Dienstfertigkeit, sorgt dafür, dass Eduard und sogar der Hauptmann! geselliger und pünktlicher werden (vgl. WV 283). Sie erscheint im Vergleich mit der lebhaften, wortgewandten Luciane, die folgerichtig still stehend als schöner empfunden wird (vgl. WV 392), „we- nigstens den Männern immer die Schönste“ (WV 388). Bei Ottilies Mariendarstellung wird deutlich, welche Eigenschaften auch der Architekt an einer Frau besonders schätzt: „Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheidenheit“ (WV 404). Der Gehülfe ist der Meinung, dass jede Frau „schon ihrer Natur nach“ (WV 409) eine andere ausschließt, folglich nur in Bezug auf den Mann „als Liebende, als Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter“ (ebd.) existiert - und fühlt sich prompt zu Ottilie hingezogen. Auch Nathanael im „Sandmann“ entbrennt in „glühendem Verlangen“ (SA 30) zur Puppe Olimpia, während er seinen Freund Lothar anweist, „Laß das bleiben!“ (SA 16) und damit die Lesungen „logischer Collegia“ (ebd.) meint, die dazu führen, dass Clara „so magistermäßig distinguieren“ (ebd.) kann.

Eigentlich sind die Puppen aber nicht darum zu beneiden, dass sie von verwöhnten Dilettanten, Spießern und Verrückten geliebt werden.

BIBLIOGRAFIE

WERKE

E. T. A. Hoffmanns Sämtliche Werke,

Historisch-kritische Ausgabe mit Einleitungen, Anmerkungen und Lesarten von Carl Georg von Maaßen, Dritter Band, Nachtstücke, München und Leipzig, 1912 (zit. SA)

Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 6, Romane und Novellen, erster Band, mit Anmerkungen versehen von Benno v. Wiese, textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, Hamburg, 51963, (zit. WV)

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, in der Übertragung von Heinrich Voß, Frankfurt a. M., 1990

FORSCHUNGSLITERATUR

Binder, Wolfgang: Zum Ironie-Problem in den

„Wahlverwandtschaften“, in: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur, Zürich/München, 1976, S. 131-147

Neymeyr, Barbara: Narzißtische Destruktion. Zum Stellenwert von Realitätsverlust und Selbstentfremdung, in: Poetica 29 (1997), S. 499-531

Wetzel, Michael: Mignon: die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München, 1999

Wiethölter, Barbara: Legenden. Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften, in: DVjS 56, (1982), S. 1-64

[...]


1 Goethe, Wahlverwandtschaften. Im Folgenden werden Zitate unter Verwendung der Sigle „WV“ nachgewiesen

2 Wiethölter, Legenden, S.7

3 Hoffmann, Der Sandmann. Im Folgenden werden Zitate unter Verwendung der Sigle „SA“ nachgewiesen

4 Wetzel, Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, S. 447

5 Binder, Zum Ironie-Problem, S. 137

6 Vgl. Wiethölter, Legenden 52-63

7 Wetzel, Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, S. 447

8 Wiethölter, Legenden, S. 37

9 Vgl. Wiethölter, Legenden, S. 37-51

10 Ebd., S. 8

11 Ovid, Metamorphosen, S.197

12 Wiethölter, Legenden, S. 8

13 Ebd.

14 Wiethölter, Legenden, S. 13

15 Ebd., S. 15

16 Neymeyr, Narzißtische Destruktion, S. 513

17 Neymeyr, Narzißtische Destruktion, S. 514

18 Ebd., S. 519

19 Wetzel, Kindsbraut als Phantasma, S. 447

20 Neymeyr, Narzißtische Destruktion, S. 524

21 Heinz Schlaffer, „Namen und Buchstaben in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“, Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, 7 (1972), 84-102, Zitat S. 89 in Wiethölter, Legenden, S. 5

22 Wiethölter, Legenden, S. 5

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Ottilie, Olimpia und ihr Narziss
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veranstaltung
Proseminar I: Goethes "Wahlverwandtschaften"
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
16
Katalognummer
V96793
ISBN (eBook)
9783638094689
Dateigröße
418 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ottilie, Olimpia, Narziss, Proseminar, Goethes, Wahlverwandtschaften
Arbeit zitieren
Verena Ludorff (Autor:in), 2000, Ottilie, Olimpia und ihr Narziss, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96793

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