Bildende Kunst zwischen Kunsttherapie u. Joseph Beuys. Grundlegende Aspekte zum heutigen Verhältnis von Kunst u. Gesellschaft


Seminararbeit, 1998

21 Seiten, Note: 14 Punkte


Leseprobe


Inhalt

I. Vorwort

II. Kunst und Gesellschaft
1. Wandel des Verhältnisses in der Renaissance und der Romantik bis ins 20. Jahrhundert
1.1. Renaissance
1.2. Romantik
1.3. Das 20. Jahrhundert

III. Kunst als Therapie
1. Die kranke Gesellschaft
2. Inhalte und Ziele der anthroposophischen Kunsttherapie
2.1. Einführung in die kunsttherapeutische Arbeit

IV. Joseph Beuys
1. Der typische Künstler des 20.Jahrhunderts: weltentrückt, dennoch lebensnah
1.1. Der Privatmensch
2. Werkinterpretation ohne Interpretation
2.1. Beuys` Erbe

V.Fazit
1. Das neue Verhältnis Kunst und Gesellschaft
1.2. Probleme und offene Fragen

ANHANG:

Literaturverzeichnis

I. Vorwort

Den Anstoß, diese Facharbeit auf einem sehr theoretischen Gebiet zu verfassen, gaben mir verschiedene Erfahrungen in meinem Umfeld. Da ich sehr kunstinteressiert bin und versuche, mein Umfeld an dem Gelernten Teil haben zu lassen, machte ich schon oft die Erfahrung, daß Menschen in meinem Umfeld mein Interesse an der modernen Kunst nicht verstehen können. Ich wurde immer wieder mit der Frage konfrontiert, warum ein von mir (mit Begeisterung) geschildertes Werk denn nun Kunst sei, wobei all meine Erklärungsversuche scheiterten. Je mehr unterschiedliche Beispiele ich für Kunst gab, desto mehr stieß ich auf Unverständnis. Das Interesse an der klassischen Kunst war meist hoch, aber den modernen, oft experimentellen Werke unseres Jahrhunderts oder auch nur unseres Jahrzehnts wurde mit Ablehnung begegnet. Ich selbst kann nicht behaupten, daß ich jedes moderne Kunstwerk schätze, geschweige denn verstehe, aber diese negative Grundeinstellung der Kunst gegenüber konnte ich nur ansatzweise verstehen. Mir fiel auf, daß weder ich noch meine Gesprächspartner eine befriedigende Definition der Kunst geben konnten, auf deren Grundlage eine Diskussion erst sinnvoll gewesen wäre. Da ich also schon Erfahrungen mit dem gespannten Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft gemacht habe, entschied ich mich für das Thema „Bildende Kunst zwischen Kunsttherapie und Joseph Beuys“. Ich möchte hier nur einen Einblick gewähren, wie die „Fronten“ aussehen und in weiche Richtung sich das Verhältnis entwickeln könnte. Diese Arbeit soll das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft in ganzheitlicher Weise, also unter Berücksichtigung vieler verschiedener Sichtweisen, betrachten, da diese Betrachtungsweise dem Verhältnis, welches sich auf verschiedenste Lebensbereiche auswirkt, am ehesten gerecht wird.

Durch die Begrenzung in der Bearbeitungszeit und im Umfang der vorliegenden Arbeit, wäre es nicht möglich, auf alle für die Analyse wichtigen Aspekte einzugehen. Ich beschränke mich deshalb auf drei grundlegende Aspekte, um einen „skizzenhaften“ Einblick zu gewähren und ein Grundverständnis für die Schwierigkeiten im Verhältnis Kunst und Gesellschaft zu wecken. Diese drei Aspekte bilden die begrenzenden Eckpunkte, welche repräsentativ von mir ausgewählt wurden, um diese theoretische Arbeit gleichzeitig in einen konkreten Bezug zur Gesellschaft zu stellen.

Da meiner Meinung nach die historische Entwicklung in der Kunst bis heute für das Grundverständnis unerläßlich ist, stelle ich eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung bis heute im ersten Ausführungsteil als Hintergrundanalyse voran. Die anthroposophische Kunsttherapie repräsentiert das neue Selbstverständnis der Kunst in ihrem gesellschaftlichen Stellenwert; Joseph Beuys wählte ich aufgrund seines Rufes als weltfremden Exzentriker aus, um das direkte Verhältnis zwischen Künstler und Publikum zu charakterisieren. In diesen beiden Kapiteln möchte ich nicht nur die Spannungen zwischen Kunst und Gesellschaft aufzeigen, sondern auch positive Aspekte in der modernen Kunst am konkreten Beispiel beleuchten. Grundlage für diese Arbeit bildet hauptsächlich fachspezifische Literatur, neben meinem Grundwissen aus dem Unterricht in den Fächern Bildende Kunst, Ethik, Biologie und Deutsch, um die von mir angestrebte „Ganzheitlichkeit“ dieser Arbeit zu erreichen. Das Thema „Kunst und Gesellschaft - Wandel des Verhältnisses...“ basiert auf meinem Vorwissen aus dem Unterricht der Klassen elf und zwölf, da diese Entwicklung Gegenstand des Kunstunterrichts war. Die verwendete Literatur im Bereich der Kunsttherapie wurde hauptsächlich von praktizierenden Kunsttherapeuten verfaßt, sie beschäftigt sich mit Krankheitsbildern und Therapiemethoden. Schon im Vorfeld der Materialbeschaffung ergaben sich für mich Probleme, welche sich später auf die Bearbeitung dieses Kapitels auswirkten. Da die Kunsttherapie eine eher unbekannte Disziplin im Bereich der Heilberufe ist, ist es sehr schwer generell Fachliteratur heranzuziehen. Die Verlage sind entsprechend klein und nicht von allen Buchhandlungen abrufbar, dadurch war es im Vorfeld selten möglich, zu erkennen, was ein bestimmtes Buch für meine Arbeit leisten konnte. So stellte sich ein großer Teil der von mir verwendeten Literatur als für das eigentliche Thema nutzlos heraus, da sie entweder zu spezifisch auf ein Thema beschränkt oder aber zu theoretisch ohne konkreten Gegenwartsbezug waren. Nachdem ich drei einführende, für fachfremde Leser verständliche Werke gefunden hatte, halfen diese mir zwar, um einen persönlichen Gesamtkontext zu erstellen und mein Allgemeinwissen zu erweitern, aber für das Kapitel über die künstlerische Therapie konnten sie letzten Endes nur wenige konkrete Beispiele geben. Das grundlegende Problem lag darin, daß diese Arbeit im Fach Bildende Kunst verfaßt werden soll, nicht in Ethik oder Psychologie. Die Literatur aber beschäftigte sich meiner Erwartung entgegen weniger auf dem künstlerischen, als auf dem psychologischen Sektor. Obwohl mir also mehrere Bücher über die Kunsttherapie zur Verfügung standen, war das Material für meine Zwecke nicht sehr ergiebig. Im Gegensatz zur Kunsttherapie beschränkte ich mich bei meiner Vorbereitung für das Unterthema Joseph Beuys auf eine einzige, einführende Biographie, da ich mich mit Beuys vorher noch nicht auseinandergesetzt hatte. Allerdings ergab sich hier die Schwierigkeit, daß Beuys‘ Werke und Lehren für mich schwer zu erfassen waren. Aus diesem Problem heraus entschied ich mich, den Beuys hinter der öffentlichen Meinung zu beleuchten, seine Lehren vereinfacht und verständlich auf hohem Niveau wiederzugeben, um damit weiter zu arbeiten.

Ich erhoffe mir von dieser Arbeit Klarheit darüber, was Kunst sein kann. Dabei beanspruche ich bei meinen Schlußfolgerungen und Wertungen keine Allgemeingültigkeit, vielmehr möchte ich Impulse aufzeigen und verdeutlichen, welche in der Gesellschaft vorliegen, ohne wirklich wahrgenommen zu werden.

II. Kunst und Gesellschaft

1. Wandel des Verhältnisses in der Renaissance und Romantik

Die Renaissance und die Romantik sind im Hinblick auf den Wandel des Verhältnisses Kunst und Mensch zwei der bedeutendsten Wendepunkte. Sie bezeichnen nicht nur Veränderungen in der Maltechnik oder im Selbstverständnis der Künstler, es sind Epochen, deren grundlegende Veränderungen Auswirkungen auf jeden Bereich menschlichen Lebens hatten. Aufgrund ihrer Prägnanz sollen also nur diese beiden Epochen als Ausschnitt des Zeitgeschehens betrachtet werden, wobei die Entwicklung hin zur Renaissance und weiter zur Romantik trotz ihrer Wichtigkeit hier im Hinblick auf den Umfang dieser Arbeit ausgeklammert wird. Auch das 20. Jahrhundert soll hier nur einleitend umrissen werden, da die folgenden Punkte sich mit dessen Problematik eingehender befassen werden.

1.1 Renaissance

Die Renaissance barg für den Künstler enorme, neue Möglichkeiten. Die Kunst begann sich vom Handwerk zu emanzipieren, das Können und vor allem die gesellschaftliche Anerkennung des Künstlers überstieg die des Handwerkers mit Fortschreiten der Renaissance immer weiter, der erste Schritt zur Autonomie des Künstlers war getan. Seine Arbeit beschränkte sich nun nicht mehr nur auf sakrale Gemälde, er erhielt nun auch Aufträge von Privatleuten, da Kunst dank Leinwand und Rahmen nun portabel und nicht mehr auf die Kirchlichen Räumlichkeiten beschränkt war. Der Künstler und (bzw. die Kunst) wurde für ein breiteres Publikum zugänglich, auch wenn dieses im Bereich der „privaten“ Kunst noch immer sehr elitär war. Die Gesellschaft, die mit der Kirche und dem Staat noch eine Einheit bildete, integrierte den Künstler voll, sofern er dazu bereit war. Er bekam seine Aufträge von ihr, wußte, was von ihm erwartet wurde und inwiefern er diese Erwartungen erfüllen konnte oder wollte. Er wußte, daß die meist vorgegebenen Themen und Symbole seiner Werke verstanden wurden. Auf der anderen Seite konnte sich die Gesellschaft sicher sein, daß die Kunstwerke direkt an sie gerichtet und auf sie als Betrachter angewiesen waren. Das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft war im Großen und Ganzen ein sehr Entspanntes, da sowohl der Künstler auf die Gesellschaft angewiesen war, als auch umgekehrt. Dadurch, daß sich das gesamte gesellschaftliche Leben dem Diesseits zuwandte, wuchs das Interesse der gebildeten Bürger an kultureller Unterhaltung. Kunst wurde zum festen Bestandteil des Lebens und zum „Schmuck“ der Reichen, was dem etablierten Künstler mittels finanzieller Unterstützung zugute kam. Die Renaissance schaffte es nicht nur, Altes erneut aufleben zu lassen, sondern aus dem Alten neues zu erschaffen und zu beleben. Allerdings war auch in der Renaissance das Leben eines Künstlers nicht leicht, denn obwohl die Anerkennung der Masse und Mäzenen groß war, wollte sie sich erst erkämpft werden. Die Kunst, die zur Wissenschaft erhoben worden war, mußte hart erlernt werden, und nur die Begabtesten gelangten schon zu Lebzeiten zu Ruhm. Gerade deshalb entstand unter den Künstlern ein regelrechter Konkurrenzkampf, wie er zuvor noch nie dagewesen war. Der Auftraggeber hatte nun die freie Wahl, wen er beschäftigte, so daß nur die versierten Künstler die begehrten Aufträge bekamen. Fast jeder Künstler warb in seinen Werken für sein Können, baute, wie Albrecht Dürer in seinem „Selbstbildnis mit Landschaft“1 von 1498, Bildelemente ein, die oft ein scheinbar völlig unbedeutendes Motiv darstellten oder in einem anderem Stil gemalt waren als der Rest der Komposition, ohne aber den Gesamteindruck zu stören. Der Künstler der Renaissance erlangte ein völlig neues Selbstbewußtsein, da er Kunst nun als einen fast gottähnlichen Schöpfungsvorgang ansah. Er zeigte sein Können mit Stolz und begann nun sogar, seine Werke zu signieren, ein für uns selbstverständliches „Ritual“, welches aber in der Gotik noch undenkbar gewesen wäre. In der Renaissance beginnt der Künstler eine neue und weiterführende Individualität zu entwickeln, der ein harter Initiationsweg vorausging. Dieser Weg der Individualisierung ist bis heute erhalten geblieben und hat sich noch weiter verstärkt.

1.2. Romantik

Mit der Romantik beginnt nun eine Entwicklung, die bis heute anhält; nämlich eine immer breiter klaffende Diskrepanz zwischen Kunst und Gesellschaft, wobei gesagt werden muß, daß die romantische Bewegung, die keine einheitliche Stilrichtung bezeichnet, als Reaktion auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen ist.

Die Romantik entstand um 1800 als Gegenbewegung zur Aufklärung und zum strengen Klassizismus in der Malerei; sie gilt allgemein als verklärte Besinnung auf die Vergangenheit. Aber hinter der Romantik steckt mehr, sie ist komplizierter und vielschichtiger als alle vorausgegangenen Epochen. Die Zeit der Romantik ist in aller Hinsicht von permanentem Zerfall geprägt. Dieser Zerfall begann in der gesellschaftlichen Ordnung, denn hier wurden Kirche und Staat von der Gesellschaft separiert, wobei die Kirche ihr politisches Mitspracherecht verlor; der Mensch strebte nach Autonomie, forderte Volkssouveränität und mußte schließlich doch erkennen, daß er gegen das alte politische System nicht ankam. Resignation machte sich breit, die Menschen begnügten sich fortan mit der rein privaten "Existenz", in der die Verantwortung, die sie einst gefordert hatten, sie nicht belasten konnte. Die Kultur zerfiel in ihre Bestandteile Wissenschaft, Kunst und Religion, Bereiche, deren Trennung bis dato undenkbar gewesen wäre. Die Wissenschaft übernahm aufklärerisch die Funktion der Religion, Kunst wurde nur zu dokumentarischen und propagandistischen Zwecken geduldet. Eine „kalte“ Welt entstand, eine Situation, mit welcher der Künstler zu leben hatte. Mit dem entstandenen Wertepluralismus, den vielen gegenläufigen Bewegungen und der allgemein anhaltenden Resignation befand sich der romantische Künstler in einer Art Vakuum. Seine politisch-gesellschaftliche Stellung, die ihm immer Klarheit und feste Werte vermittelt hatte, war verloren, sein Wert in der Gesellschaft, in der Kirche und in der Politik mußte neu definiert werden. Und der Künstler selbst war der Einzige, der diese neue Definition vornehmen konnte und mußte. Der romantische Künstler besann sich auf sein reines Privatleben und somit auf sich selbst zurück, lebte entweder unter Gleichgesinnten oder als völliger Einsiedler am Rande der Gesellschaft.2 Das Bild des Genius entstand, der in seinem Bestreben nach höherem Wissen fern der Welt aus sich selbst heraus schöpft und agiert.3 Auf der einen Seite wollte der Künstler also nichts mehr mit der Gesellschaft, die ihn verstoßen hatte, zu tun haben, andererseits brauchte er zumindest die finanzielle Anerkennung durch sein Umfeld um existieren zu können. Ein friedliches Miteinander war nicht mehr möglich. Manche Künstler nabelten sich völlig ab und verloren den Bezug zu ihrer Umwelt. Andere lernten auf ihre Art und Weise mit der neuen Situation umzugehen: Sie veröffentlichten ihre Werke weiterhin, ließen sich aber keine Konventionen mehr aufzwingen. Je mehr Aufmerksamkeit sie erreichen wollten, desto mehr provozierten sie in Ihren Werken durch Malstil und Thema; sie wollten nicht mehr von jedermann verstanden und bewundert werden. Obwohl sie sich auf die oben beschriebene Weise abkapselten, erhielten sich doch viele ihre Beobachtungsgabe, kommentierten das Geschehen und hielten der Gesellschaft einen Spiegel vor. So stellte Caspar David Friedrich in seinen Bildern stimmungsvolle Landschaften dar, in denen er zeitgleich das politische Geschehen versteckt kommentierte und die Stimmung der Gesellschaft einfing. Er mußte seine Intention verschlüsseln, so daß nur Gleichgesinnte ihn verstehen konnten, da er in einer Zeit der politischen Unsicherheit lebte, in der niemand vor Denunziantentum und Verfolgung sicher war. Trotzdem war die Romantik für keinen der Künstler einfach nur Mittel zum Zweck, um Botschaften zu verschlüsseln. Sie alle sehnten sich nach besseren Zeiten, alle liebten Ihren verklärten und mystischen Blickwinkel als Romantiker. Hier beginnt die Kunst sich in eine neue Richtung zu entwickeln, beginnt vielschichtiger und komplexen als gewohnt zu werden. Zum ersten Mal ist die Kunst nicht mehr jedem (gebildeten) Bürger zugänglich.

1.3. Das 20. Jahrhundert

Der Wandel in der Romantik war prägend für das weitere Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft, denn Tendenzen wie die Separierung sonst zusammengehörender Bereiche nahmen im 18. Jahrhundert erst ihren Anfang. Betrachtet man die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, so stellt man fest, daß sich seit dem Beginn der Romantik nichts verändert, höchstens verschlimmert hat. Der Wertepluralismus hat sich auf alle Bereiche des Lebens ausgeweitet, durch die entstandene Orientierungslosigkeit entwickeln sich eklektizistische Weltanschauungen, Religionen (bzw. Sekten), Kunststile und ähnliches, deren einzige Basis die Angst vor Wertverlust und Wertlosigkeit ist. Die in Staat, Bürger und Kirche aufgespaltene Gesellschaft entfremdet sich immer weiter von der sich auf die Wissenschaft beschränkende Kultur. Die Flut der Massenmedien, Perspektivlosigkeit, Zukunftsangst, Gewalt und Kriminalität nehmen zu, der Mensch befindet sich durch seine Technologien in permanenter Gefahr der Selbstzerstörung. Die Folge daraus, die sich schon in der Romantik erkennen ließ, ist der totale Rückzug des Individuums auf den privaten Bereich. Dieser Rückzug scheint der einzige Weg aus der „Überverantwortung“, die aus der Freiheit für das Individuum entstanden ist. Der Mensch hat nicht nur die freie Wahl, er ist gleichzeitig gezwungen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung für sich und seine Entscheidungen zu tragen. Das höchste Ziel der liberalen Bewegung wendet sich immer mehr gegen die Gesellschaft. Dem Künstler der 90er-Jahre geht es nicht viel besser als dem der Romantik, denn er muß immer wieder individuell seine Funktion für sein Umfeld definieren, er muß nicht nur herausfinden, wer ist und warum; er muß sich gleichzeitig regelrecht rechtfertigen, warum ausgerechnet er in seinem künstlerischen Schaffen für die Gesellschaft wichtig sein soll. Seit der Romantik läßt sich kaum eine Epoche der Bildenden Kunst mehr eindeutig einem Stil zuordnen, der Pluralismus hielt selbst hier Einzug und bis heute laufen viele gegensätzlich Stile parallel.4 Die Kunst verliert ihre einheitliche Definition, weder Künstler noch Laien können sich auf einen Konsens einigen, was letzten Endes dazu führt, daß die anspruchsvolle und oft wenig ästhetische Kunst den Menschen überfordert. Die Konfrontation ist vorprogrammiert, denn je mehr der Künstler in Frage gestellt wird, desto mehr provoziert er sein Publikum, je mehr er provoziert, desto mehr wird er in frage gestellt. Heute sind die „Kunst-Fronten“ regelrecht verhärtet, nicht nur Künstler und Kritiker streiten sich über Definitionen der Kunst, auch verliert die Kunst immer mehr den Bezug zum Menschen. Es gibt keine einheitliche, leicht verständliche Symbolik mehr, vielmehr entstehen immer neue, komplizierte Thesen und Theorien darüber, was Kunst denn nun wirklich ist, die ohne intensive Beschäftigung mit der Materie nicht zu verstehen sind. Die Kunst ist immer mehr isoliertes, fremdes Objekt fern der Wirklichkeit, die den Menschen oft verschreckt. Sie ist heute entweder in Massenproduktion gefertigter, bunter Kitsch, oder aber höchstens ein Schulfach, welches meist als „notwendiges Übel“ ertragen wird. Selbst die große und noch relativ junge Disziplin der Kunst, das Design, findet zwar allgemeine Anerkennung, ist oft allerdings entweder einfach nur schlecht, zu teuer oder aber wieder zu anspruchsvoll. Natürlich ist die Kunst des 20. Jahrhunderts nicht tot, sie ist sogar sehr lebendig, aber ihr Verhältnis zum Menschen gestaltet sich immer schwieriger. In einer Leistungsgesellschaft wie der Unsrigen fragt sich der Mensch zwangsläufig, wofür Kunst überhaupt noch gut sein soll - „Es gibt wichtigeres im Leben als Malen.“5 Dennoch befindet sich die Kunst momentan in einem permanenten Prozeß der Selbsterneuerung, denn die Entstehung neuer Theorien und Anschauungen ist durchaus positiv zu werten, solange die Künstler den Kontakt zu ihrem Publikum suchen und sich nicht hinter alten Strukturen und Konventionen verstecken.

III. Kunst als Therapie

1. Die „kranke“ Gesellschaft

Circa ein Drittel der Bevölkerung leidet heute an psychischen Störungen wie Angstzuständen, Depressionen, etc.6 Da bleibt die Frage, was mit der Gesellschaft nicht in Ordnung ist, nicht aus. Unsere moderne Gesellschaft ist „krank“, aber es geht hier nicht nur um Symptome wie Süchte aller Art, steigende Gewaltbereitschaft und hohe Selbstmordraten. Das Problem liegt in den verschiedenen Ursachen, und jeder Therapeut, Arzt und Sozialarbeiter hat mit ihnen zu kämpfen. Das wohl prägnanteste Phänomen in der heutigen Gesellschaft ist die Menschenfeindlichkeit, welche sich in allen Bereichen des sozialen Lebens widerspiegelt. Aber inwiefern kann eine hochtechnisierte industrielle Gesellschaft mit all ihren medizinischen, ökologischen und menschenrechtlichen Errungenschaften als menschenfeindlich bezeichnet werden? Hier soll natürlich nur ein kleiner Ausschnitt aus den Problemen der modernen Gesellschaft und deren Ursachen aufgezeigt werden.

Wie schon im vorausgehendem Teil erwähnt, haben sich separative und pluralistische Tendenzen aus dem 19. Jahrhundert bis dato weitgehend nur verstärkt. Infolge dessen ergeben sich natürlich neue Probleme für den Menschen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der vorgetäuscht wird, wahres Glück und Erfüllung läge in materiellem Besitz. Erich Fromm bezeichnet dieses Phänomen als „Religion des Industriezeitalters“,7 die in manipulativer Form „[...] die Menschen zu Dienern der Wirtschaft und der Maschinen, die sie mit eigenen Händen gebaut haben [...]“8 reduziert. Auch wenn dieses Modell9 sehr provokativ ist, scheint Fromms These nicht unbegründet, denn tatsächlich werden dem Menschen bei Ungehorsam gegenüber Autoritäten Schuldgefühle anerzogen,10 er soll nicht kritisieren, nur funktionieren. Das heißt daß er nicht nur innerhalb seiner Arbeitszeit, sondern auch in seiner Freizeit möglichst produktiv zu sein hat. Er ist permanentem Druck und somit permanentem Streß ausgesetzt, denn er muß seine Pflicht erfüllen, sei es als Angestellter, Elternteil oder Ehepartner; je mehr Rollen er annimmt, desto mehr Verantwortung (und somit Streß) übernimmt er - bis er sich übernimmt. Er darf keine Zeit für sich in Anspruch nehmen, solange er deren effektive Nutzung nicht beweisen kann, Zeit des Müßiggangs wäre für Außenstehende „verschwendet“, wodurch sich über kurz oder lang Schuldgefühle einstellen. Das Problem liegt im permanenten Leistungsdruck auf der einen Seite, ohne die Möglichkeit des Streßausgleichs auf der anderen Seite - der Mensch kann kein persönliches Gleichgewicht zwischen sich und seinen Rollen finden. Hinzu kommt nun noch der schon erwähnte Wertepluralismus, der den an sich schon unsicheren Menschen nur noch mehr verwirrt. Konventionen bestimmen sein Leben, deren Einhaltung von Außenstehenden strengstens überwacht und bewertet wird. Wer nicht ausgegrenzt werden will, muß sich an die Konventionen halten und darf nicht unangenehm auffallen, wodurch die Autonomie des Einzelnen durch sein unmittelbares Umfeld stark eingeschränkt wird.11 Aus der Belastung heraus, die richtigen Entscheidungen treffen zu müssen, Verantwortung zu tragen, zu funktionieren und ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein, ergibt sich oft die Unfähigkeit, überhaupt noch etwas zu tun. Der Mensch zieht sich zurück von Verantwortung, Druck und Belastungen des Alltags, weil er nicht mehr fähig ist, sich diesen zu stellen. Und hier wird aus dem Problem das Symptom, denn entsprechend der individuellen Kondition entwickeln sich unterschiedliche krankmachende Verhaltensweisen, die oft (selbst-) zerstörerisch gegen den Einzelnen und sein Umfeld ankämpfen. Süchte, Depressionen und Gewalt entstehen, was dazu fährt, daß ein Zehntel der Bevölkerung sich mindestens einmal in ihrem Leben in psychiatrische Behandlung begeben muß,12 wobei die Dunkelziffer der unbehandelten Menschen weitaus höher ausfallen dürfte.13 Die moderne Gesellschaft ist „krank“, weil sie durch ihre Menschenfeindlichkeit selbstzerstörerisch wirkt. Die Probleme der Menschen häufen sich, aber es werden nur die Symptome, das unmittelbar Sichtbare, behandelt, egal ob in der alternativen oder in der Schulmedizin.14

2. Inhalte und Ziele der anthroposophischen Kunsttherapie

Kunst als Therapie - macht das Sinn? Joseph Beuys sagte „Kunst ist ja Therapie!“,15 und er, der die Kunst lebte, mußte es wissen. Einleitend muß hier gesagt werden, daß es die Kunsttherapie nicht gibt, sondern „[...] (fast) so viele Kunsttherapien wie Kunsttherapeuten.“16 Dies beschränkt sich allerdings weitestgehend auf die Therapieformen, nicht auf den Grundkonsens der Kunsttherapie. Was also ist Kunsttherapie?

Betrachtet man rückblickend die Aufspaltung der Kultur in ihre Bestandteile Religion, Kunst und Wissenschaft, so läßt sich eine fortschreitende Verwissenschaftlichung der Welt feststellen. Margarethe Hauschka sieht diese Bereiche der Kultur als „[...] Ausdruck der drei Grundkräfte der Seele, die sich im Wollen, im Fühlen und im Denken erleben [...]“,17 wodurch Mensch und Kultur untrennbar verbunden wären; die Kunst sozusagen als „Verbindungselement“ zwischen Mensch und Welt fungiert. Die Trennung der einzelnen Bereiche und die daraus resultierende einseitige Betrachtung des Menschen führen nun aber zu einer kalten, analytischen Kopfkultur,18 in welcher der Mensch sich verloren fühlt. Beuys sagte, jeder Mensch sei ein Künstler, er meinte damit aber nicht, daß jeder Mensch ein begnadeter Maler oder Bildhauer ist.19 Wichtig ist für jeden Menschen, kreativ in seinem Leben schaffen ( also arbeiten) zu können, um glücklich zu sein. Heute aber wird diese Kreativität und Eigenverantwortung im Beruf immer weiter verdrängt, denn Firmenphilosophien, Effizienzstudien und Gehorsam lassen keinen Handlungsspielraum übrig, negative Erfolgserlebnisse häufen sich mit der Zeit, der Mensch hat keinen persönlichen Bezug zu seiner Leistung. Er spürt die Menschenfeindlichkeit und den Konformismus überall in der Gesellschaft, zieht sich vom Leben in seine Privatheit zurück. Dadurch verliert er den Bezug zu seiner Umwelt und somit seine Kommunikationsfähigkeit. Er entwickelt Ängste und Depressionen, bis er mit dem Alltag nicht mehr fertig wird. Hier will die Kunsttherapie ansetzen, als Gegenbewegung zur Kopfkultur dem Menschen helfen, durch Ausübung künstlerischer Tätigkeit sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Kunsttherapie sieht den Menschen als Ganzes, also als Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele, weshalb sich Schulmedizin, Psychologie und Kunsttherapie nicht gegenseitig ausschließen. Es geht der Kunsttherapie nicht darum, Kunstwerke zu schaffen, sondern den kreativen Prozeß zu fördern. In ihm sollen Körper, Geist und Seele aus ihrer Isolation herausgelöst werden.

2.1. Einführung in die kunsttherapeutische Arbeit

Wie arbeitet ein Kunsttherapeut? Schaut er gemeinsam mit seinen Patienten Werke verschiedener Künstler an und versucht so, den Heilungsprozeß in Gang zu bringen? Wie schon erwähnt will die Kunsttherapie keine Kunstwerke schaffen, sondern zielt auf den kreativen Prozeß hin zum fertigen Bild ab.20 Für den Therapeuten (und für den Patienten) ergeben sich daraus viele neue Möglichkeiten.

Was ist Therapie? Schottenloher definiert sie als einen Prozeß, der „[...] wünschenswerte Veränderungen in der Persönlichkeit oder im Lebensstil ermöglicht oder unterstützt, die die Sitzungen überdauern. Voraussetzungen dafür sind, sich selbst kennenzulernen, die Umwelt real sehen zu lernen, sich zur Umwelt in Beziehung setzen zu können.“21 Der Therapeut muß seinem Patienten also helfen, sich selbst, seine Umwelt und seine Beziehung zu dieser zu erfahren. Da der Mensch in der Lage ist, seine verbalen Äußerungen unbewußt so zu verfälschen, daß sie nicht wirklich wahr sind und ein falsches Bild entstehen lassen, kann eine Gesprächstherapie alleine durch die nötige Analyse der digitalen und analogen Inhalte langwierig sein und sowohl Patient als auch Therapeut in eine Sackgasse führen.22 Die Kunsttherapie macht es sich zu Nutze, daß Empfindungen und Erlebnisse eines Menschen sich unbewußt und unverfälscht durch die Arbeit mit Farbe und Ton in Bildern ausdrücken, da sie auch unbewußt verarbeitet werden und somit authentisch sind. Je nach Krankheitsbild stellt der Therapeut eine Aufgabe oder ein Thema, welches der Patient in Bildern oder Plastiken verarbeiten soll. Diese Aufgaben müssen nicht zwangsläufig komplexe Sachverhalte darstellen, oft wird der Patient aufgefordert, Farbverläufe und Figuren zu malen oder zu modellieren, um sich mit dem Material vertraut zu machen. Bei dem eigentlichen Entstehungsprozeß tritt der Therapeut in den Hintergrund, greift nur hilfestellend ein, wenn der Patient sich überfordert fühlt.23 Mit Fortschreiten der Therapie wird der Patient mehr und mehr gefordert, sich mit Konflikten und Problemen auseinanderzusetzen. Durch den Kontakt mit dem Material, welches er ja „formen“ soll, tritt er aktiv in Kontakt mit seiner Umwelt, der Prozeß der Bildentstehung ist als tastende Kommunikation mit ihr zu verstehen. Das aktive Gestalten mit künstlerischen Materialien soll dem Menschen helfen, aus seiner ihm anerzogenen Passivität herauszutreten, somit aktiv und kritisch mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Oft entstehen dabei Werke von enormer Aussagekraft, entweder individueller oder allgemeiner Natur, wodurch der Patient echten, wertvollen Erfolg verspürt, weil er ohne Druck oder Intention etwas Eigenes erschaffen hat. Er erfährt sein kreatives Potential und lernt, daß dieses sich nicht auf den künstlerisch-gestalterischen Bereich beschränkt. „Jeder Mensch ist Künstler.“,24 und die Kunsttherapie kann den Anstoß geben, die eigene Kreativität zu entdecken und zu fördern, woraus sich für den Menschen wahre Befriedigung und Glück ergeben. Die Kunsttherapie will nicht heilen, sie will den Selbstheilungsprozeß fördern. „Sie bezieht sich dabei auf die von Rudolf Steiner beschriebenen „Wesensglieder“ des Menschen: Physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich-Organismus, die in enger Wechselwirkung zueinander stehen. In der anthroposophischen Kunsttherapie geht es darum, deren Zusammenspiel zu harmonisieren und Übergewichte auszugleichen.“25 Es wird versucht, dem Menschen ein neues Ventil zu geben, damit er sich mit seiner Umwelt aktiv auseinandersetzen kann. Viele Menschen haben durch den permanenten Leistungsdruck Versagensängste, trauen sich nur an Dinge heran, die sie gelernt haben und haben gleichzeitig Angst, Neues zu erlernen. Die Tatsache, kein examinierter Künstler zu sein, erschreckt die meisten Patienten. Aber genau das ist es, was die Kunsttherapie fördern möchte: Der Mensch soll frei von Druck, etwas „Tolles“ zu produzieren, allein für sich selbst etwas schaffen, an dem er Freude hat. Die Therapie bietet eine Möglichkeit zum Ausgleich der krankmachenden Faktoren über die eigentliche Behandlung hinaus, denn das Gestalten in der Therapie ist nur als Wegweiser zu verstehen. Der Mensch soll danach beginnen, weitere Möglichkeiten zum kreativen Schaffen zu finden, zum Beispiel in einer Abendschule einen Abschluß nachzuholen und dadurch in einen Wunschberuf einzusteigen, mehr Freizeit für sich in Anspruch zu nehmen oder selbständig die künstlerischen Fähigkeiten auszubauen. Diese Form der Therapie bietet nicht nur einen Lösungsansatz für Probleme, sie bietet auch durch aktive Auseinandersetzung einen Ausgleich gegen krankmachende Strukturen, beugt sozusagen vor.

Mit der Kunsttherapie hat sich die Kunst ein weiteres Mal in ihrer Beziehung zur Gesellschaft neu definiert. Kunst, die für den Menschen immer mehr zum „Buch mit sieben Siegeln“ avanciert und oft abschreckend wirkt, nähert sich nun plötzlich wieder dem „Durchschnittsbürger“, da er selbst aktiv Kunst erfährt und durch positive Erfahrungen sein Verhältnis zu Kunst und Künstlern neu und kritisch überdenken und reformieren kann. In unserer pluralistischen Zeit zeigt sich nicht nur Dekadenz und Menschenfeindlichkeit, gleichzeitig finden Gegenbewegungen, die den Menschen und seine Umwelt als ganzheitlichen Komplex sehen, immer mehr Beachtung Kunsttherapie ist nur eine von ihnen.26

III. Joseph Beuys

Im folgenden Kapitel sollüber den Beuys hinter der Fassade der Medien berichtet undreflektiert werden.

1. Der "typische" Künstler des 20. Jahrhunderts: weltentrückt, dennoch lebensnah

Joseph Beuys war in seiner Beziehung zur Umwelt ein prägnantes Beispiel für die Beziehung Kunst und Gesellschaft. Er war der „Medienschamane“,27 dessen gesamtes Leben sich in der Öffentlichkeit abzuspielen schien. Beuys war radikal in seinen Ideen, er war „Revoluzzer“, bei ihm gab es keine Kompromisse. Entweder man verehrte ihn, oder man lehnte ihn ab - einen Mittelweg gab es nicht. Wodurch aber ist er charakteristisch für das Verhältnis des Künstlers zum Betrachter? Warum ist er der typische Künstler, wo er doch alle (traditionellen) Rahmen der Kunst zu sprengen suchte?

Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft wurde in den vorigen Kapiteln als gespannt beschrieben, durch Pluralismus und Leistungsdruck fand und findet eine Entfremdung statt. Der Künstler zieht sich zurück von der Welt, um sie von außen zu beobachten und zu kommentieren. Joseph Beuys ist so charakteristisch für das Verhältnis, weil seine Kunst den Menschen verwirrt, sie nie wirklich faßbar ist. Sie scheint befremdend, nicht ohne Vorkenntnisse begreifbar. Beuys` Verhältnis zur Öffentlichkeit war auf der einen Seite zweckgebunden, auf der Anderen fast schon ideologisch. Er wollte seine Thesen in der Öffentlichkeit etablieren, nutzte dafür die Medien und Kunst-Events um seinen Namen im öffentlichen Gedächtnis zu wahren; seine „Ideologie“ bestand darin, dem Menschen eine neue Form des sozialen Lebens zu ermöglichen. Dennoch schien er für den Beobachter nie ganz erfaßbar zu sein, da er zu viele gegensätzliche Charakteristika in sich vereinte. Gleichzeitig suchte er immer den Kontakt zur Masse und zum Einzelnen, um seine Theorien zu überprüfen und Rücksprache zu halten. Aber der öffentlichkeitsliebende Beuys suchte oft auch den Rückzug auf sich selbst, beschäftigte sich oft intensiv mit dem Tod und verarbeitete ihn symbolhaft in vielen Werken. Seine Beobachtungsgabe war enorm, er konnte ganzheitliche Zusammenhänge erstellen, scharf kritisieren, (selbst-)ironisch sein und Forschungen auf fast allen Gebieten der Wissenschaft anstellen. Beuys‘ öffentliche Karriere begann 1961 mit seiner Berufung als Professor an die Düsseldorfer Kunstakademie. So konnte er seine Lehre verbreiten und Schwächen im Bildungssystem aufzeigen, was er natürlich auch mit ganzem Einsatz tat. Beuys suchte medienwirksame Aktionen wie die Lidl-Klassen oder die Besetzung des Sekretariats der Akademie, kommentierte das Geschehen in seiner Kunst mit der 100- Tage-Sitzung auf der Dokumenta 6 oder dem Multiple „Demokratie ist lustig“. Beuys wußte mit den Medien umzugehen, nutzte sie geschickt aus, um auf sich und seine Theorie von der sozialen Plastik aufmerksam zu machen. Er selbst ist Skulptur, wer seine Werke sieht, dem tritt er in Erscheinung. Joseph Beuys war ein charismatischer, fesselnder Mensch mit hohem Wissen; er war das, was man heute medienwirksam nennt. Wo auch immer er auftrat, scharte er die Medien um sich. Kritik in der Öffentlichkeit begegnete er nach momentaner Stimmung, wußte generell die Aufmerksamkeit so auf sich zu ziehen, daß er als zentrale Figur erschien.

1.1. Der Privatmensch

Beuys und die Öffentlichkeit schienen untrennbar. Aber auch Joseph Beuys hatte eine Seite, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Da ein grundlegendes Verständnis für Beuys geschaffen werden soll, wird der „private“ Beuys eingehender betrachtet.

Joseph Beuys war und ist als Medienmensch bekannt, doch nicht immer war Joseph Beuys extrovertiert und konfliktfreudig. Er machte vielmehr eine stete Entwicklung durch hin zum „Medienschamanen“ Beuys. Wie war er vor seiner „Medienkarriere“? Er besaß schon immer seine enormen künstlerischen Fähigkeiten, aber bis zu dem zielstrebigen Beuys, als der er bekannt war, hatte er einen langen Initiationsweg vor sich. Als junger Mann war Beuys in gewisser Weise „introvertiert“, er nahm Umstände seiner Zeit wie den Kriegsdienst im Dritten Reich als gegeben hin, es interessierte ihn nicht wirklich. Die Kriegszeit bezeichnete er als „Bildungserlebnis“,28 und durch seine (lehrreiche) Freundschaft zu Heinz Sielmann war diese Aussage gar nicht so falsch, da Beuys sein Wissen über die Natur in diesen Jahren weiter vertiefte und in Philosophenkreisen neue Weltanschauungen diskutieren konnte. In dieser Zeit zeigte sich wieder Beuys` großes Interesse für die Natur, welches er später in seine Werke einfließen ließ. Beuys hatte laut Sielmann immer Probleme mit der Disziplin und dem geforderten Gehorsam gegenüber Vorgesetzten. Der Krieg als solches war für Beuys von keiner großen Bedeutung, „Wer dabei sein Leben verlor, hatte Pech, wer überlebte, Glück.“29 Glück hatte Beuys - er überlebte insgesamt fünf Flugzeugabstürze und Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg entschied er sich dann gegen die Medizin und studierte Kunst, da er ich nicht auf einem Gebiet spezialisieren wollte, sondern umfassendes Wissen erlangen wollte. Spätestens hier beginnt die künstlerische Karriere Beuys‘. Im Zusammenhang mit Beuys und von Beuys selbst wird der Flugzeugabsturz über der Krim 1943 oft als das einschneidende Initiationserlebnis genannt, da er dort die für ihn prägende Erfahrung mit Fett, Filz und Todesnähe machte. Genauso wichtig für Beuys‘ Entwicklung war aber auch seine schwere Depression zwischen 1954 und 1957. Beuys war, körperlich angeschlagen, nachdem seine Lebensgefährtin die Verlobung aufgelöst hatte, in schwere Depressionen verfallen. Er wollte nicht mehr da sein, mit dem Leben aufhören;30 er war der festen Überzeugung, jegliches künstlerisches Talent verloren zu haben. Zwei psychiatrische Behandlungen schlugen fehl, er nabelte sich von der Welt ab und beschäftigte sich intensiv mit dem Tod, dem er schon mehrere Male nahe war und auf den er sich immer weiter zu bewegte. Erst ein sechswöchiger Aufenthalt bei der mit ihm befreundeten Familie van der Grinten half ihm über den Schock hinweg. Er führte lange Gespräche, hatte die Möglichkeit, in der geliebten Natur zu arbeiten oder sich einfach zurückzuziehen. „Die van der Grintens [...] gaben Beuys das „geschockte Selbstvertrauen“ in sich selbst zurück [...]“,31 und nachdem er sie verließ, erholte er sich äußerst rasch von seiner Depression. Diese Phase war so wichtig für Beuys, da er hier altes und neues verarbeitet hat, das heißt die Kriegserlebnisse auf der einen, den Bruch der Beziehung und die schlechte physische Verfassung auf der anderen Seite. Er selbst verstand diese Zeit als eine Art Läuterung, eine „Umorganisation“32 seines Geistes und seines Körpers, die in seinen Augen in unmittelbarer Beziehung standen. Die Zeit vor dieser Krise war sozusagen eine „Grundsteinlegung“, Beuys sammelte Erfahrungen und schulte seine künstlerischen Fähigkeiten - jetzt mußte er sich im Grunde darüber klar werden, in welche Richtung seine Studien und sein Leben weitergehen sollten. Die Depression war das Initiationserlebnis, in welchem er sich und seine Beziehung zur Umwelt als Künstler (neu) definieren mußte. Er sah die Depression als Therapie, denn, da für ihn ein Zusammenhang zwischen Leiden und Schaffen existierte, erst dadurch etwas geistig Höheres entstehen konnte: „Nicht die Aktiven, sondern die Leidenden bereichern die Welt.“33 Dieses Initiationserlebnis zeigt einen grundlegenden Charakterzug von Beuys: Er mußte immer in Bewegung bleiben, „[...] wäre sicher zugrunde gegangen, wenn er [...] stehen geblieben wäre.“34 Diese Eigenschaft der ständigen Weiterentwicklung machte Beuys zum Lebenskünstler, was auch seine ungewöhnlich schnelle Genesung erklärt. Seine Frau sagte über ihn, daß er immer mehrere Wege gehabt habe, darunter immer einen Fluchtweg.35 Nach der Depression war Beuys bereit für die Öffentlichkeit, aus dem „introvertierten Beuys“ wurde der extrovertierte Medienzar, nicht zu fassen und in seiner Position gestärkt. Dem äußeren Anschein entgegen war der stimmungsabhängige Beuys innerlich sehr ausgeglichen und ständig heiter. Er war ein Familienmensch, seine Sensibilität für seine Umwelt und sein Umfeld zeigten sich in den verschiedensten Bereichen, von seinem umfassendem Naturverständnis über seine Kochkunst bis hin zu seinem Humor. Joseph Beuys war eine in sich ambivalente bis gegensätzliche Figur, er ernährte sich durch Kraftvergeudung36 und war doch immer ausgeglichen, er liebte den Luxus in Kombination mit dem Einfachen. Eva Beuys sagte, Beuys sei sein Leben lang gestorben, sei aber immer so lebendig gewesen.37 Vielleicht beschreibt dies den wahren Beuys hinter der Fassade der Öffentlichkeit am Besten, denn er beschäftigte sich sein Leben lang mit dem Tod, war durch seine Krankheiten immer in Kontakt mit ihm, nahm seinen Antrieb aus dem permanenten Sterben, ohne etwa flüchten zu wollen. Beuys war immer in Bewegung.

2. Werkinterpretation ohne Interpretation

Bis jetzt wurde der „andere“ Beuys in seinem Leben und Auftreten beschrieben, und diesen „anderen Beuys“ gibt es natürlich auch in seinem künstlerischen Schaffen. Da die Analyse einzelner, aus dem Kontext gerissener Werke an dieser Stelle eher verwirrend erscheinen würde, soll die Aufmerksamkeit hier auf das Lebenswerk Beuys‘ gerichtet werden, auf die Grundintention seiner Lehren und seines Handelns.

Beuys, der sich intensiv mit der Anthroposophie Steiners beschäftigte, schuf den „erweiterten Kunstbegriff“, auf welchem seine Basis alles Schaffens, die „soziale Plastik“, ruht. Der erweiterte Kunstbegriff zielt darauf ab, daß die Kunst alle Bereiche menschlichen Lebens durchwirken muß und so alles lebendig machen kann. Für Beuys ist jeder Mensch kreativ, egal auf welchem Gebiet: Verwaltung, Medizin, Justizwissenschaften oder im Familienleben. Deshalb gilt für ihn: „Jeder Mensch ist Künstler.“38 Für manchen Menschen ist diese Theorie eher befremdend, genauso wie Beuys‘ Werke - Kreativität scheint nur auf die traditionelle künstlerische Arbeit beschränkt. Wo würde unsere Welt wohl enden, wenn jeder Mensch kreativ wäre?! Aber was ist Kreativität? Kreativität bedeutet doch, die Einflüsse der Umwelt, das eigene Wissen und das Erleben im Handeln auszudrücken und widerzuspiegeln. Kreativität bedeutet Authentizität für das Individuum. Und das ist es, was Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff fordert. Spezialisierung war ihm ein Dom im Auge, er wollte Ganzheitlichkeit im Beruf, der Medizin und Wissenschaft. Voraussetzung hierfür war seiner Meinung nach eine umfassende künstlerische Ausbildung für jeden. Auf dem erweiterten Kunstbegriff basiert Beuys‘ „soziale Plastik“, welche den erweiterten Kunstbegriff auf das soziale Leben überträgt. Der Mensch soll nach seiner Kreativität gefördert und eingesetzt werden, nur so kann er als kreatives Individuum auch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden. Beim oberflächlichen Betrachten von Beuys‘ Werken entsteht oft der Eindruck, er habe sich völlig von der Welt isoliert, habe überhaupt keinen Realitätsbezug. Aber Beuys hatte eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe, er sah Schwachstellen, Absurditäten und Stärken seiner Umwelt. Indem er die Erhöhung der Berliner Mauer um fünf Zentimeter forderte, löste er sie von ihrer Funktion ab und sah sie nur noch als Stein- und Zementgebilde, bei dem noch nicht einmal die Proportionen stimmten. Er erkannte, daß die Mauer keine Berechtigung und keine Zukunft hatte, führte sie ad absurdum - wo sie hingehörte. Natürlich veranstaltete Beuys mit diesem und ähnlichen Aussprachen eine gefährliche Gratwanderung zwischen Fehlinterpretation und Verständnis, aber auch das war in gewisser Weise Teil seiner Strategie. Er erkannte schon in den Sechzigern Mängel im, bundesdeutschen politischen System, welche heute wieder aufgegriffen werden und neue Streitthemen bieten. Sein Ansehen vom Menschen und dessen schöpferischer Kraft war sehr hoch, er sah den Menschen als den wahren Schöpfer an. Aber er sah sich trotz seiner kompromißlosen Thesen und Auftritte nicht als Aufklärer oder Volkserzieher.39 Joseph Beuys forderte: „Zeige deine Wunde“40 Er wollte wachrütteln, wollte die wunden Stellen der Gesellschaft aufzeigen, um ein neues Problembewußtsein zu wecken. Er wollte nicht erziehen, er wollte den Menschen wachsam und sensibel machen, damit er selbst als "Schöpfer" die Dinge verändern kann. Er wollte den Menschen als Ganzes sehen, in seiner Entwicklung und in seinen Bedürfnissen, war der festen Überzeugung, daß auch die Kunst in dieser ganzheitlichen Sicht eine neue, große Rolle spielen muß. Er wollte den Heilungsprozeß der Gesellschaft in Gang setzen, weg von der Spezialisierung und der Menschenfeindlichkeit im Alltag und in der Arbeitswelt. Natürlich wußte er, daß dieser Prozeß nicht innerhalb kurzer Zeit abgeschlossen sein würde, aber er hoffte, den ersten Impuls hin zur sozialen Skulptur geben zu können. Heute sagen viele Menschen, daß Beuys letzten Endes in der Kunst nichts bewegt hat, sich in Gedanken auf Fett und Filz als seine Kunst beschränkend. Aber Joseph Beuys hat Kunst neu definiert, sie in einen völlig neuen Kontext gestellt. Er hat einen Stein ins Rollen gebracht, der zwar noch immer langsam, aber in steter Bewegung rollt. Beuys bewirkte eine unterschwellige Veränderung in der Gesellschaft: Es sind nicht nur die Werke, die seine Botschaft aufrecht erhalten; seine Lehren, welche von Kritikern verrissen oder absichtlich verdreht wurden, werden mittlerweile in vielen Bereichen des Lebens angewandt. Es scheint, als sei die Gesellschaft reif für Beuys‘ Theorien, die nun in diesem neuen Licht als Vorgriff des Geschehens erscheinen. Ganz wie der Schamane, mit dem er von Stachelhaus verglichen wird, wußte er, welche Bewegungen in Zukunft für die Heilung „seines Stammes“, also der Gesellschaft, nötig sein würden - er „zeigte die Wunde“.

2.1. Beuys' Erbe

Das Erbe eines Künstlers besteht generell aus seinem materiellen Nachlaß wie Bildern, Skizzen, und Schriftstücken. Auch bei Joseph Beuys ist es nicht anders, aber außer den dokumentierten Erinnerungen für die „kunstverrückte Nachwelt“ ist sein Erbe vor allem ideeller Art, welches, ganz in seinem Sinne, sich auf alle Bereiche des sozialen Lebens bezieht.

Schon 1976, als Joseph Beuys noch lebte, erkannte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom neunten November Beuys‘ wahren Erfolg: „Beuys-Schüler sind heute in pädagogischen und sozialen Berufen zu finden, in Schulen, Fürsorgeheimen, Krankenhäusern. Die utopische Leitidee einer Durchdringung des ganzen Lebens mit Kunst hat sich hier in Ansätzen verwirklicht.“41 Einer dieser sozialen Berufe ist die anthroposophischen Kunsttherapie, für deren Mitbegründer Rudolf Steiner Beuys große Bewunderung hegte. Sie ist Teil der ausgleichenden Gegenbewegung, die er für den Menschen forderte, sie weckt und fördert die Kreativität - „Jeder Mensch ist ein Künstler.“42

Aber nicht nur in sozialen Berufen findet die Kreativitätsförderung Anklang, selbst im firmeninternen Management findet ein Wechsel zu neuen Methoden und Anforderungen statt, Eigenschaften wie Kreativität, Verantwortungsgefühl und soziales Denken werden heute mehr und mehr von Führungskräften verlangt. Das Management erkennt, was Beuys vor Jahren schon „verkündete“: Kreativität stärkt den Menschen. Natürlich ist diese Erkenntnis nicht selbstloser Natur, denn Kreativität im Beruf und ausgleichende Strukturen erhöhen die Effizienz und somit den Umsatz. Diese Entwicklung konzentriert sich zwar noch hauptsächlich auf den Bereich der Führungskräfte, aber auch bei Arbeitern und Angestellten werden neue Impulse angestrebt, wie zum Beispiel bei dem Autohersteller VOLVO, welcher seinen Arbeitern in den Werken durch Gruppeneinteilung ermöglicht, den Bau des Autos von Anfang an durchzufahren und so einen direkten, persönlichen Bezug zu dem Produkt herzustellen, zu erfahren, daß er für den Betrieb wichtig ist.

Beuys legte auch gewissermaßen den Grundstein für das ökologische Bewußtsein. Noch immer herrschen ökologische „Mißstände“, aber mittlerweile ist eine gewisse „ökologische Grundverpflichtung“ in der Gesellschaft verankert. Beuys sah den Menschen als Teil der Natur, die er achten und schützen soll. Er forderte „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, legte Düsseldorfs „grüne Lunge“ an und verbesserte somit die Lebensqualität für Mensch und Natur. Als Mitbegründer der Partei der Grünen lebt seine Botschaft auch auf politischer Ebene weiter, denn auch wenn die Grünen sich rasch von Beuys distanzierten, da er ihnen nicht geheuer war, so kann die erste ökologische Partei Deutschlands ihren gedanklichen Vater dennoch nicht abstreiten. Denn sie hat nicht nur sein Gedankengut, sondern auch seine kompromißlose Argumentationsweise - und damit oft Ablehnung durch den Bürger - geerbt.

Beuys sah den Menschen als Ganzes, wollte ihn fördern und die Gesellschaft heilen. Er war der Meinung, daß das allgemeine „[...] Kreativitätspotential [...] durch Konkurrenz und Erfolgsaggression verdeckt wird.“43 Die Heilung der Gesellschaft bestand für ihn darin, die Lebensbedingungen im Sinne der sozialen Plastik, also durch den erweiterten Kunstbegriff, zu ändern. So missionarisch sich seine Aufrufe auch anhören mochten, wollte er dem Menschen ein neues soziales, humanes Leben ermöglichen, indem er Kunst und Mensch neu zusammenführte. Er wußte, daß dieser Prozeß der Heilung sich erst im Anfang befand. Beuys gab nicht nur der Kunst durch den erweiterten Kunstbegriff neue Impulse, er gab auch dem sozialen Leben durch die Kunst neue Impulse.

V Fazit

1. Das neue Verhältnis Kunst und Gesellschaft

In den vorangegangenen drei Kapiteln habe ich das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft an konkreten Beispielen aufgezeigt, wobei ich versucht habe, sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte zu zeigen. Im ersten Kapitel beleuchtete ich die Entwicklung in der Kunst unter dem sozialen Aspekt, um zu zeigen, daß die Spannungen zwischen der Kunst und dem Menschen kein Phänomen unserer Zeit sind, da ihre Wurzeln bis in die Romantik zurückgehen. Der Ursprung der Entwicklung lag in den gesellschaftspolitischen Tendenzen, durch die alle Lebensbereiche separiert wurden und welche bis heute weiter fortschreiten. Die Entwicklungen in der Kunst laufen nach wie vor durch ihren geistig hohen Anspruch in gewisser Isolation ab, neue und berechtigte Theorien entstehen, werden aber dem Menschen nicht nahe gebracht. Durch das Unverständnis wird also die offensichtliche Distanz gewahrt, diese Distanz abzubauen ist nach wie vor sehr schwer. Ich habe behauptet, daß die allgemeinen pluralistischen Tendenzen sich auch auf die Kunst auswirkten, wodurch viele gegensätzliche Stile und Bewegungen entstanden. Pluralismus ist meist ambivalent, und so gibt es auch zu der allgemeinen Isolation der Kunst eine positive, zusammenführende Gegenbewegung. Das Kapitel über Kunsttherapie demonstrierte, daß Kunst in der modernen Gesellschaft nicht zwangsläufig vom Menschen isoliert ablaufen muß, sondern daß auch heute noch der Mensch aktiv mit einbezogen wird. Der Schwerpunkt lag hier auf der „Funktion“ der Kunst für den Menschen. Mit dem Kapitel über Beuys zeigte ich am konkreten Beispiel die Beziehung zwischen Künstler und Gesellschaft in der modernen Gesellschaft auf, wobei der Schwerpunkt auf dem Selbstverständnis des Künstlers lag. Die Kunsttherapie und Joseph Beuys repräsentieren ein neues Selbstverständnis der Kunst in ihrer gesellschaftlichen Rolle. Es wurde die Notwendigkeit erkannt, die zerspaltene Kultur wieder zusammenzuführen, also den von Beuys geforderten Heilungsprozeß der Gesellschaft in Gang zu setzen. Kunst erkennt ihre frühere Funktion der ausgleichenden und belebenden Struktur in der Gesellschaft und greift diese neu auf, Kreativität und Plastik wurden neu definiert, wie in der Renaissance wird auch heute wieder aus alten Strukturen Neues erschaffen, wenn auch auf einer zunächst sehr theoretischen Ebene. Die Kunst sieht den Menschen als Ganzes, will sich nicht mehr distanzieren, sondern ihm helfen - egal, ob dem Individuum oder der gesamten Gesellschaft. Unter diesem Aspekt der Kunstbetrachtung findet ein gesunder Annäherungsprozeß zwischen Kunst und Gesellschaft statt.

1.2. Probleme und offene Fragen

Es bleiben viele Fragen offen und genausoviele Probleme entstanden, wie ich zu lösen versuchte. Ein Problem ist, daß der Prozeß der Annäherung zwischen Kunst und Gesellschaft lobenswert ist, aber daß die Öffentlichkeit noch immer das Bild des weltfremden Künstlers hat, welcher im Grunde nichts anderes tut, als den hart arbeitenden Bürger zu provozieren. Nach außen hin propagiert die Kunst noch immer Distanz zum Publikum, der Mensch will oft Kunst gar nicht verstehen. Die „Kunst-Fronten“ sind noch immer so verhärtet wie vor Jahren - trotz aller Gegenbewegungen. Wahrscheinlich ist es einfacher, sich gegenseitig abzulehnen, als über Kunst und Publikum zu reflektieren. Und solange das so bleibt, wird auch jede positive Veränderung in der Kunst weiterhin unbewußt ablaufen müssen, neue Therapieformen ein Schattendasein führen und jede gesellschaftliche Veränderung schleppend ablaufen. Auf diesem Problem basierend bleiben Fragen offen, die sich alle um eine zentrale Frage drehen: wie kann man den „Fronten“ neue Kompromißbereitschaft und Offenheit vermitteln? Wo muß der erste Schritt getan werden? Soll diese Änderung laut und kompromißlos propagiert werden? Ist diese Veränderung überhaupt zu erreichen, und wenn ja, wann wird die Gesellschaft dafür reif sein? Vielleicht liegt hier die Lösung. Anhänger des Determinismus sind der Ansicht, daß jede Handlung und jede Entscheidung des Menschen (und somit der Gesellschaft) durch sein Umfeld und seine Erfahrungen vorbestimmt sind. Geht man von diesem Standpunkt aus, so kommt man zwangsläufig zu dem Schluß, daß die Gesellschaft durch ihr Verhalten einfach noch nicht für ein neues Kunst-Verständnis bereit ist. Es scheint verständlich, daß momentan jede Veränderung unbewußt und in kleinen Schritten ablaufen muß, bis der Mensch seine Grundhaltung so weit geändert hat, daß er für neues bereit ist. Ich denke, daß auch Gegner des Determinismus hier zustimmen werden, denn aus dem Verhalten der Menschen (und der Kunst!) läßt sich unumstritten eine momentane „Unreife“ für Neues und Kompromisse feststellen. Beuys hat diese Tatsache erkannt, denn er sagte deutlich, daß der Prozeß der sozialen Plastik, also des neuen universalen Kunstverständnisses jeglicher Art, noch lange Zeit in Anspruch nehmen würde. Und mit dieser Erkenntnis kann ich meine Arbeit beruhigt schließen, da dieser Stillstand nur temporär bedingt ist und der Prozeß der Annäherung zwischen Kunst und Gesellschaft irgendwann wieder spürbar in Bewegung gerät. Solange wir uns noch in diesem Stillstand befinden, müssen der Mensch und die Kunst sich mit unterschwelligen Veränderungen zufrieden geben. Solange weder der Mensch, noch die Kunst stehenbleiben, sind die offenen Fragen und ungelösten Probleme mehr eine Herausforderung, als eine Bedrohung für die Kultur.

Nachtrag zur Bereitstellung bei Hausarbeiten.de:

Diese Facharbeit spiegelt meinen Wissensstand 1998 wider, sie ist noch unverändert. Dennoch werde ich mich in nächster Zeit wieder an dieses Thema begeben und alle aus meiner Sicht „kantigen“ Stellen ausbessern. Natürlich bin ich für weiterführende Informationen, Denkanregungen, oder Kritik dankbar, freue mich auch über mailkontakte. J Marina Diezler mina.dlr@knuut.de

Anhang:

Literaturverzeichnis

Monographien

Altmaier, M.: Der kunsttherapeutische Prozeß, Das Krankheitstypische und die individuelle Intention des Patienten am Beispiel von Rheuma und AIDS, Stuttgart 1995

Beckett, W.: Die Geschichte der Malerei, Acht Jahrhunderte in 455 Meisterwerken, Köln 1995

Goethe, J W. von: Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart 1997

Herrmann, R.: Der Künstler in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1971

Schottenloher, G.: Kunst- und Gestaltungstherapie. Eine praktische Einführung. München, 4. Auflage, 1995

Stachelhaus, H.: Joseph Beuys. Düsseldorf, 2. Auflage, 1997

Vester, F.: Phänomen Streß. Wo liegt sein Ursprung, warum ist er lebenswichtig, wodurch ist er entartet? München, 15. Auflage, 1997

Sammelbände

Gerber U. (Hrsg.): Anthropologie. Kurs Ethik. Materialien für den Unterricht in Ethik. Werte und Normen in der Sekundarstufe II. Frankfurt a. M. 1995

Kraus, W. (Hrsg.): Die Heilkraft des Malens. Einführung in die Kunsttherapie. München 1996

Verein für Erweitertes Heilwesen, e. V, Bad Liebenzel1 (Hrsg.): Helfen und heilen durch Kunst. Neue Wege der Therapie. Was bedeutet Seelenpflege? Heilpädagogik und Sozialtherapie, künstlerische Therapie, Musiktherapie, Heileurythmie. Der Heilberuf als Lebensaufgabe. Stuttgart 1989

[...]


1 Hier übernimmt die Landschaft im (vom Betrachterstandpunkt aus gesehen) rechten Bildrand die für die Bildanalyse keineswegs irrelevante „werbende“ Funktion. Dürer zeigt sein Können in verschiedenen Maltechniken, perspektivischer Darstellung, Portrait- und Landschaftsmalerei.

2 Vgl. Leben und Werk von Heinrich Kleist (1777 - 1811).

3 Vgl. Goethes Heinrich Faust, der in seinem Streben nach Wissen erkennen will [...]was die Welt/ Im Innersten zusammenhält, [... ]" (Faust I, Vers 382 - 385) und doch in der Gesellschaft versagt, weil es ihm an Erfahrung mangelt.

4 Vgl. Sturm und Drang, Romantik, Aufklärung im 18. bzw. 19. Jahrhundert.

5 Vgl.: Kraus 1996, S. 14.

6 Vgl.: Kraus 1996, S. 7.

7 Vgl.: Gerber 1995, S. 50.

8 Vgl.: Gerber 1995, S. 50.

9 Fromms Bild von der Religion des Industriezeitalters zeigt, daß die modernen Werte der Industrialisierung die konservativ- religiösen Werte soweit verdrängt haben, daß sie nun den Stellenwert einer neuen Religion einnehmen, auch wenn diese nur „geheim“ agiert.

10 Vgl.: Gerber 1995, S. 50.

11 Mit Konformismus sind an dieser Stelle nicht übergreifende soziale und politische Vereinbarungen gemeint, dieser Konformismus ist als eine Art Gruppenzwang zu verstehen. Ich richte mich hier ausdrücklich gegen den einschränkenden Zwang, sich nach den Erwartungen der unmittelbaren Umwelt verhalten zu müssen, da der Mensch dann nicht mehr authentisch handelt und sich durch die auferlegten Verhaltensweisen nicht mehr wirklich privat fühlen kann.

12 Vgl.: Kraus 1996, S. 2.

13 Natürlich soll das nicht bedeuten, daß jeder Mensch ein potentieller Psychopath ist.

14 Anthroposophie: Lehre, bei der „[...] es nicht um ein Wiederaufgreifen historischer Verfahren und Traditionen [...]“ geht, sondern „[...] die medizinische Wirkung einer Kunst auf den Menschen für die einzelnen Künste differenziert erarbeitet und entsprechend gezielt zur therapeutischen Anwendung gebraucht wird. Dabei ist entscheidend, daß der heilende Prozeß unter therapeutischer Begleitung vom Patienten selbst vollzogen wird.“ (aus: Pro£ R. M. Pütz: Blätter zur Berufskunde. Diplom- Kunsttherapeut/ Diplom-Kunsttherapeutin. Bielefeld, 6. Auflage 1996, Seite 6).

15 Vgl.: Kraus 1996, S. 10.

16 Vgl. Kraus 1996, S. 9.

17 Vgl.: Hauschka 1989, S. 41.

18 Vgl.: Hauschka 1989, S.41.

19 Vgl.: Stachelhaus 1997, S.79.

20 Da die Kunsttherapie eine äußerst junge Form der Therapie ist und oft mit der Ergotherapie verwechselt wird, soll hier noch einmal eine klare Abgrenzung stattfinden. Die Ergotherapie arbeitet zwar auch mit künstlerischen Mitteln, allerdings geschieht dies nur zur Beschäftigung und Rehabilitation motorischer Fähigkeiten der Patienten. Die Kunsttherapie dagegen will innere Kräfte mobilisieren und zu einem körperlich-seelischem Gleichgewicht führen. Forschungsergebnisse haben gezeigt, daß der Malstil sich positiv oder negativ auf die Körperfunktionen auswirken kann, auch diese Tatsache macht sich die Kunsttherapie zu Nutze, um dem Patienten je nach Bedürfnis Konzentration oder Entspannung zu ermöglichen. Die positive Erfahrung im Künstlerischen führt dazu, daß der Patient dann seine Erfahrungen in anderen Lebensbereichen weiterhin anwendet (=Konditionierung). Eine Therapie ohne Kenntnis der Vorgeschichte ist auch hier nicht möglich. Die Kunsttherapie bewegt sich durch ihren geringen Bekanntheits- und Anerkennungsgrad in einer rechtlichen und wissenschaftlichen Grauzone, aber ihre Leistungsfähigkeit darf trotz allem nicht verkannt werden, da die erzielten Ergebnisse für sich sprechen. Entscheidend ist, daß es generell kein Allheilmittel gibt, weder in der alternativen, noch in der Schulmedizin, eine Methode erhält ihre Berechtigung, sobald sie helfen kann und sich dabei nicht absolut setzt.

21 Vgl.: Schottenloher 1995, S. 136.

22 Watzlawick stellte die These auf, daß Sprache in analoge und digitale Kommunikation gegliedert ist. Die analoge Kommunikation beschränkt sich auf allgemein verständliche Verständigung, wie Gestik und Mimik, welche intuitiv verstanden wird und zwangsläufig durch ihre unterbewußte Steuerung authentisch ist, während die digitale Kommunikation auf sozialen Übereinstimmungen basiert und der Weitergabe von konkreten Inhalten dient. (Aus: Watzlawick, P. [u. a.]: Menschliche Kommunikation. Stuttgart 1969).

23 Vgl.: Schottenloher 1995, S. 11.

24 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 2.

25 Vgl.: Kraus 1997, S. 24.- die anthroposophische

26 Die folgenden Unterpunkte dieses Kapitels basieren auf: Stachelhaus, H.: Joseph Beuys. Düsseldorf, 2. Auflage 1997.

27 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 94ff.

28 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 23.

29 ebenda.

30 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 64.

31 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 68.

32 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 69.

33 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 221.

34 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 70.

35 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 218.

36 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 98.

37 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 215.

38 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 7.

39 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 88.

40 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 192ff.

41 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 108.

42 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 2.

43 Vgl.: Stachelhaus 1997, S. 146.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Bildende Kunst zwischen Kunsttherapie u. Joseph Beuys. Grundlegende Aspekte zum heutigen Verhältnis von Kunst u. Gesellschaft
Veranstaltung
Kunst - LK
Note
14 Punkte
Autor
Jahr
1998
Seiten
21
Katalognummer
V96714
ISBN (eBook)
9783638093897
Dateigröße
403 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Entwicklung neuer, alternativer Kunstauffassungen am Bsp. von J. Beuys u. der Kunsttherapie und deren Auswirkungen auf das Leben des "Normalbürgers". Helfe gerne bei Fragen, bin interessiert an Denkanstößen.
Schlagworte
Bildende, Kunst, Kunsttherapie, Joseph, Beuys, Grundlegende, Aspekte, Verhältnis, Kunst, Gesellschaft, Kunst
Arbeit zitieren
Marina Diezler (Autor:in), 1998, Bildende Kunst zwischen Kunsttherapie u. Joseph Beuys. Grundlegende Aspekte zum heutigen Verhältnis von Kunst u. Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96714

Kommentare

  • Gast am 1.12.2001

    Kunstterapie.

    Hallo Marina
    Ich bin durch zufall auf deine arbeir gestossen und finde sie total interesant. Du schreibst in deinem vorwort das du beziehungen zu Kunstterapheuten hast. Ich suche dringent jemanden mit dem ich mich über diese Thema unterhalten kann. Kunsttherapheut ist mein absuluter traumjob. Leider kenne ich niemand mit dem ich mich mal genauer darüber unterhalten kann.Ich würde mich riesig freuen wenn du mir antworten würdest.
    Tschüssi Marie-Luise 18 Jahre

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Titel: Bildende Kunst zwischen Kunsttherapie u. Joseph Beuys. Grundlegende Aspekte zum heutigen Verhältnis von Kunst u. Gesellschaft



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