Frieden durch Interdependenz und Regimebildung


Hausarbeit, 1999

16 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1 FRAGESTELLUNG

2 INTERDEPENDENZ
2.1 FORSCHUNGSKONZEPTE
2.2 ‚ POWER AND INTERDEPENDENCE ‘ NACH K EOHANE UND NYE
2.3 BEWERTUNG

3 REGIME
3.1 REGIMEBEGRIFF
3.2 THEORETISCHE MODELLIERUNG
3.3 ZWEI -E BENEN -M ODELL
3.4 SCHWACHSTELLEN

4 FRIEDENSLEISTUNG DER ANSÄTZE

LITERATUR

1 Fragestellung

Die internationale Politik kennt eine ganze Reihe unterschiedlicher Friedensbegriffe. Negative Friedensdefinitionen, die die bloße Abwesenheit von Gewalt postulieren bis hin zu fast schon philantropen positiven Friedensumschreibungen zeigen das weite Spektrum der Begriffsverständnisse. Kaum kann es daher verwundern, daß die Erklä- rungsansätze, wie ein eben solcher Frieden zu erreichen ist, beinahe ebenso weit gefä- chert sind. Die beiden klassischen Erklärungsansätze - die realistische und die idealisti- sche Schule - sind bereits an anderer Stelle eingehend erörtert worden.

Diese Arbeit wird sich mit wesentlich weniger populären Ansätzen befassen, die erst aus dem Widerstreit der beiden o.g. Denkschulen hervorgehen konnten: Interdepen- denz- und Regimetheorie sollen in den nachfolgenden Kapiteln eingehend diskutiert werden. Die eingeschränkte Spektakularität bezieht sich dabei vorrangig auf die Vor- aussetzungen dieser Ansätze. Ihre Ergebnisse können mit denen der beiden ‚klassi- schen‘ Ansätze durchaus mithalten. Denn wo der Realismus von rational agierenden Staaten in einem anarchischen internationalen Umfeld ausgeht, der Idealismus von re- publikanisch-wohlgeordnetem Zusammenleben aller Individuen in einer universalistisch verfaßten Weltgesellschaft, da legen die hier zu erörtenden Theorien wesentlich nahe- liegendere Variablen zugrunde. Sie sind Ansätze für die Welt, wie wir sie alltäglich vor- finden - nicht für idealtypische Laborversuche. Ideengeschichtlich verstehen sich die beiden Theorien eindeutig als Abgrenzung zu realistischen Erklärungsversuchen, daß sie beide das rein staatenorientierte Billard-Ball-Modell des Realismus‘ nicht anerken- nen.

Dies hat zur Folge, daß die Untersuchungen interdependenter und regimeorientierter Ansätze nicht kriegerische Konflikte und Auseinandersetzungen der Staaten zum we- sentlichen Inhalt haben, sondern vielmehr das alltägliche Zusammenleben, die gewöhn- lichen inhaltlichen Debatten um Ziele und Wertordnungen zwischen den international agierenden Akteuren.

2 Interdependenz

Der Interdependenz-Ansatz bildet sich gegen Ende der 1960er Jahre aus. In durchaus modifizierender Anlehnung an das Gedankengut idealistischer Annahmen, stellt er eine Überwindung des Billardkugel-Modells des klassischen Realismus‘ dar. Er umgeht die im Realismus prädominierende Analyseebene der Nationalstaaten, indem er die zwi- schenstaatlichen Verflechtungsmechanismen in den Mittelpunkt des Interesses rückt.1 Auf der Akteursebene finden sich hier nicht mehr nur die Nationalstaaten wieder, son- dern darüber hinaus eine Reihe nichtstaatlicher Institutionen, denen der Inderdepen- denz-Ansatz eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der politischen Entscheidungs- findung zugesteht. Die globalistische Denkrichtung erinnert dabei stark an die Grund- annahmen des Idealismus‘.

Hintergrund dieses Vorgehens waren Veränderungen in der Wahrnehmung und auch der Wirklichkeit der internationalen Beziehungen. Konkret sind dies die zunehmende Dys- funktionalität des Krieges als Mittel des internationalen Verkehrs, die beginnende wirt- schaftliche Globalisierung sowie die Erkenntnis, daß Veränderungen in einem bestimm- ten Politikfeld zwangsläufig mit Veränderungen in anderen Bereichen einhergingen (Vernetzung)2. Die Einführung eben dieser ‚Politikfelder‘ als Analyseebene darf als ei- ne der wichtigsten Ergebnisse des Interdependenz-Gedanken gelten. Innerhalb der un- terschiedlichen Politikfelder (issue areas) gelten spezifische Interaktions- und Lösungs- ansätze. So kommen zum einen den beteiligten Akteuren je nach issue area völlig unter- schiedliche Rollen und Bedeutungen zu. Der dominante Akteur des einen Politikfeldes kann in einem anderen Feld von nachgeordneter Wichtigkeit sein. Zum anderen sind es die einzelnen issue areas, die die Form des Konfliktaustrages wesenhaft bestimmen. Während der Realismus eine hierarchische Ordnung der Politikfelder und eine damit verbundene Reduktion der internationalen Politik auf Konflikt als höchste und damit dominierende Form der Interessendurchsetzung angenommen hatte, gibt es beim Inter- dependenz-Ansatz eine Vielfalt von Lösungsmöglichkeiten, die in keinerlei hierarchi- scher Ordnung zueinander stehen. Als Hauptvertreter des Interdependenz-Ansatzes sind David Baldwin, Richard Rosencrance, Robert Keohane und Joseph Nye zu nennen3.

Nach dieser kurzen Einführung soll nachfolgend der Versuch unternommen werden, die Forschungskonzepte des Interdependenz-Ansatzes zu typisieren. Eine eingehende Ana- lyse des Idealtypus von Interdependenz nach Keohane und Nye4 soll danach die Bedeu- tung des Ansatzes für die internationale Politik beleuchten und schließlich mit Definiti- onsversuchen den gedanklichen Brückenschlag zur Schule der Regime-Analyse bilden.

2.1 Forschungskonzepte

Die unterschiedlichen Forschungskonzepte lassen sich direkt auf die oben bereits ange- führten Veränderungen innerhalb der internationalen Beziehungen zurückverfolgen. So entwickelt James S. Rosenau 1969 das Linkage-Konzept. Er zeigt, daß es durchaus Wirkungszusammenhänge zwischen der Innen- und Außenpolitik der staatlichen Akteu- re gibt. Im Gegensatz zur ‚black box‘ des klassischen Realismus führt Rosenau Transaktionsmuster auf, die, von einem bestimmten System ausgehend, Auswirkungen auf verschiedene andere Systeme haben. Der Erklärungswert dieses Ansatzes liegt in der Beschreibung des Bezugsrahmens, innerhalb dessen derartige Vernetzungen stattfinden (linkage framework), und in der anschließenden Analyse der Wirkmechanismen. Methodisch ist die Entwicklung dieser Rahmen hilfreich bei der Konzeption und Bewertung von empirischen Analysen in den einzelnen Politikfeldern.5 Die Entwicklung eben dieser Politikbereiche (issue areas) ist ebenfalls ein Verdienst des Linkage-Konzeptes Rosenaus.

Das transnationale Konzept von Karl Kaiser führt den Linkage-Gedanken weiter. Neben bloßer Interaktion betont er zum einen den Begriff der Penetration. Danach ‚durch- dringt‘ der eine Akteur den anderen in bestimmten Politikfeldern und beeinflußt gezielt dessen Entscheidungsverhalten aufgrund von personellen oder institutionellen Verflech- tungen. Zum anderen liegt ein starker Akzent auf dem Begriff der Integration. Hier wird der dem Realismus eigene Bezugsrahmen der Nationalstaaten um mehrschichtige Akteursebenen erweitert, die allesamt zur Entscheidungsfindung beitragen.6

Die Betonung ökonomischer Interdependenz geht zurück auf die wachsende Rolle wirtschaftlicher Faktoren in den internationalen Beziehungen. Richard Kooper und andere betonen, daß ökonomische Entwicklungen wie Inflation oder supranational operierende Konzerne formend in das internationale Geschehen eingreifen, ohne sich von den nationalstaatlichen Grenzen des Flächenstaates einschränken zu lassen.7

Die Ungleichheit der Akteure innerhalb der issue areas und die damit verbundenen Ent- scheidungen betont der Ansatz von Keohane und Nye. Dieser ist nicht gleichzusetzen mit dem dependenztheoretischen Ansatz, der von strukturellen, einseitigen Abhängig- keiten der Peripherie-Staaten von mächtigen Einzelstaaten ausgeht.8 Jedoch bemühen sich die beiden Autoren, die unabhängigen Variablen zu identifizieren, die den Ausgang interdependenter Entscheidungsfindungsprozesse bestimmen. Da dieses Forschungs- konzept mehr oder weniger auf alle drei zuvor genannten zurückgreift, um sie für die Theoriebildung zu instrumentalisieren, soll die Argumentation aus „Macht und Interde- pendenz“9 näher betrachtet werden.

2.2 ‚ Power and Interdependence ‘ nach Keohane und Nye

Die Analyseebene, vor deren Hintergrund Keohane und Nye das Handeln internationaler Akteure betrachten, ist die Kosten-Nutzen-Ebene. Danach verursacht jede interdependente Handlung einerseits Kosten und bringt andererseits Nutzen. Diese Annahme impliziert zwei Kernpunkte:

a) Die Kosten-Nutzen-Verteilung ist keineswegs immer ausgeglichen.
b) Die Möglichkeit, auf dieses Kosten-Nutzen-Gefüge Einfluß zu nehmen bestimmt über Erfolg oder Mißerfolg eines Akteurs innerhalb des Systems.

Verbunden mit den spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Politikbereiche, muß sich der Akteur nun fragen, welche Handlungsalternativen ihm zur Verfügung stehen und welche Ziele er damit verfolgen kann. Zwei Größen bestimmen wesentlich die Antwort auf diese Fragen: Die Empfindlichkeit (sensitivity) ist der Maßstab für die „Reaktionsfähigkeit innerhalb eines gegebenen politischen Rahmens“10. Verwundbarkeit (vulnerability) mißt die Bedingungen, unter denen der Akteur den gegebenen politischen Rahmen verlassen kann. Sie „beruht also auf der relativen Verfügbarkeit und Kostspieligkeit der Alternativen“11. Damit steht fest, welches der beiden Kriterien wichtiger für das politische Handeln ist: Während die Empfindlichkeit die Fähigkeit eines Akteurs mißt, innerhalb eines Rahmens zu handeln, bewertet die Verwundbarkeit seine Fähigkeit, diesen Rahmen zu modifizieren oder ggf. selbst neu zu setzen.

Zusammen genommen sind die Kriterien Empfindlichkeit und Verwundbarkeit in der Lage, die Übersetzung von Macht im Prozeß des politischen Verhandelns zu erklären. Sie sind das Bindeglied, das die interdependente Struktur mit dem tatsächlichen Han- deln der Beteiligten verbindet. In ihnen ist letztlich auch die Begründung für bestimmte Entscheidungen zu suchen: das Motiv des Akteurs. Struktur allein kann lediglich einen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen ein Akteur handelt. Entscheidungen zu treffen und damit eine bestimmte Handlungsmöglichkeit zu realisieren - das sind die Merkmale, die politisches Handeln ausmachen. Die strukturellen Rahmenbedingungen müssen berück- sichtigt, jedoch nicht überbewertet werden.

2.3 Bewertung

Als wesentliche Erkenntnis aus diesen Erörterungen läßt sich bereits an dieser Stelle folgern, daß jede auch noch so gute Analyse der Wirkungszusammenhänge interdepen- denter Strukturen nur solange gut und aussagekräftig sein kann, wie diese vom passen- den Politikbereich angewendet wird. Das Konzept eignet sich hervorragend, um Mehr- Ebenen-Analysen zu konzipieren, wie sie für die Erörterung sozialwissenschaftlicher und damit auch politischer Probleme unerläßlich sind. Doch ist „die Aussagekraft des Interdependenzbegriffes … letztlich abhängig vom Kontext, in dem man ihn jeweils be- nutzt“12. Der nachfolgende Regime-Ansatz versucht, genau dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen, indem er spezifische, auf die issue areas zugeschnittene Rahmenbedingungen definiert bzw. analysiert und dadurch von großer Bedeutung für das Verstehen des Miteinanders der einzelnen Akteure ist.

Problematisch wird immer der Vorwurf bleiben, der Interdependenz-Ansatz halte sich allzu sehr mit deskriptiver Schilderung einzelner Handlungs- und Entscheidungsprozes- se auf.13 Doch dürften die Erkenntnisse dieser Einzelfall-Analysen durchaus ihre Legi- timation innerhalb einer Wissenschaft finden, die kaum experimentelle Forschung zu- läßt. Die Analyse der internationalen Beziehungen muß sich damit abfinden, daß sie kaum andere Erkenntnisquellen hat, als bereits existierende Prozesse zu untersuchen. Die experimentelle Arbeit mit Versuchsanordnungen bleibt ihr durch die Natur ihres Forschungsgegenstandes verwehrt. Somit ist Prozeßanalyse, gekoppelt mit der Einord- nung in bestimmte issue areas, durchaus ein fruchtbarer Ansatz, politisches Handeln internationaler Akteure zu erklären. Als Instrument konkreter Politikberatung freilich ist es nur in sehr begrenztem Maße tauglich.

3 Regime

Die Analyseebene der Politikfelder macht sich auch der Regime-Ansatz zu Nutze. Auch er versucht, das Verhalten der handelnden Akteure innerhalb eines definierten Kontex- tes zu analysieren. Auch hier spielen die Verflechtungen und Interaktionen zwischen den Akteuren eine große Rolle. Stärker noch als der Interdependenz-Ansatz steht der Prozeßcharakter der analysierten Entscheidungen im Vordergrund. Auch konstatiert die Regimeanalyse nicht mehr nur noch die Abhängigkeiten und Verflechtungen zwischen den Akteuren. Vielmehr macht sie sich zur Aufgabe, Strukturen echter Kooperation zu erklären. Aus der Untersuchung spezifischer Entscheidungsfindungsprozesse will der Regimetheoretiker Schlüsse für das Verständnis politischen Entscheidens und Koope- rierens in der internationalen Politik ziehen. Diese dem Kern nach induktive Methode wird durch die Betonung der issue area, innerhalb der das Wirkungsgefüge des Analy- segegenstandes gilt, elegant verfeinert. Als Vertreter dieses Ansatzes sind Stephen

Krasner, Peter Katzenstein und auch Joseph Nye und Robert Keohane zu nennen. Die beiden Letztgenannten spielten bereits bei der Entwicklung des Interdependenz- Ansatzes eine wichtige Rolle. Harald Müller, Michael Zürn sowie Volker Rittberger dürften wohl die bedeutendsten deutschen Denker dieses Ansatzes sein.14

3.1 Regimebegriff

Im wesentlichen stellt die Regimeanalyse eine Weiterentwicklung des Interdependenz- Ansatzes dar. Jedoch entwickelt sie eigene und neue Charakteristika, die sie für die Theoriebildung und -verifizierung wesentlich tauglicher machen, als es die Interdepen- denz-Theorie war. In beiden Fällen gilt es, Erklärungen für das Verhalten von Akteuren unter der Grundbedingung internationaler Anarchie zu finden. Der Regime-Gedanke erweitert diesen Erklärungsversuch um das Ziel, diese Anarchie schließlich in eine ko- operative Ordnung zu verwandeln.

Als ‚Regime‘ im Sinne dieser Denkschule gelten „Institutionen internationaler Koopera- tion, die auf jeweils politikfeldspezifischen Vereinbarungen über Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren der politischen Konfliktbearbeitung beruhen“15. Analog des stark an In- und Output orientierten interdependenten Denkens stellt der Regime-Ansatz diese ‚Institutionen internationaler Kooperation‘ gerne als intervenierende Variable zwischen In- und Output des internationalen Systems dar. So kann der strukturelle Realist Macht und Interesse als Input-Variablen wählen, der Idealist die normativen Motive für eine Weltgesellschaft. Das Regime steht in beiden Fällen als regulativer Rahmen zur Verfü- gung, der die Wirkungsmöglichkeiten der jeweiligen Input-Variablen bestimmt und damit letztlich das Ergebnis wesentlich beeinflußt.

Nach Müller gibt es drei wesentliche Voraussetzungen für das Entstehen und letztlich auch Bestehen eines Regimes:

a) Die Ausbildung oder Änderung von Präferenzstrukturen und Situationsdefinitionen der Akteure, so daß eine die Kooperation begünstigende Struktur entsteht.
b) Die Einsicht der Akteure in die Existenz dieser Struktur.
c) Der Aushandlungs-Prozeß, der die Einsicht in die Regime-Konstruktion umsetzt.16

Der Nutzen derartiger Regime für wissenschaftliche Erklärungsmodelle ist hoch, da die Variable Regime in zweifacher Hinsicht Bestandteil einer Theorie der internationalen Politik sein kann: Geht es darum, das Zustandekommen von internationalen politischen Prozessen zu begreifen, kann das Regime als abhängige Variable eingesetzt werden. Mit Hilfe des Regimebegriffs läßt sich die These konstruieren, daß die Entscheidungsprozesse im internationalen Bereich mehr sein müssen, als lediglich die Summe der einzelnen Außenpolitiken der nationalen Akteure. In diesem Fall ist das Regime als Phänomen der erklärungsbedürftige Faktor der These.

Als unabhängige Variable eingesetzt liefert das Regime selbst Erklärungsansätze für beobachtbare Phänomene der internationalen Politik. In diesem Fall sind die Letzteren die abhängigen Variablen, die vor dem Hintergrund der Regimeanalyse entwickelt wer- den.17

Die so entstandenen Regime haben sog. Funktionsleistungen18 zu erbringen. Zunächst sollen sie Transaktionskosten senken. Diese Forderung ist vor dem Hintergrund der in 2.2 eingeführten Begriffe von Empfindlichkeit und Verwundbarkeit einsichtig. Gibt es einen gültigen, regulativen Rahmen, der jede Form staatlichen Han- delns innerhalb des betreffenden Politikfeldes konditioniert, wird insbesondere die Verwundbarkeit der Akteure ein Stück weit gerechter. Denn wo ein stabiler Rahmen vorhanden ist, da ist es für alle Beteiligten gleichermaßen schwer, sich den Regeln und Normen zu entziehen, auf die man sich zuvor geeinigt hat. Daraus resultiert die zweite Funktionsleistung, die dem Regime zukommt: Es soll allen Akteuren einen Informati- onsgewinn bringen. Dieser Gewinn entsteht zum einen durch die gegebene Transparenz der Rahmenbedingungen allen Handelns. Zum anderen regt die eingeführte Kooperation dazu an, sich über Motive und Erkenntnisse auszutauschen, um wiederum selbst infor- miert zu werden. In einem kooperativen Umfeld gilt die Maxime, Wissen und Informa- tion als Machtressourcen einzig für sich zu behalten, nicht mehr. Teilweise wird kom- munikative Verständigung sogar „als notwendige Bedingung des Zustandekommens internationaler Kooperation“19 bezeichnet. Die dritte und letzte Funktionsleistung des Regimes ist schließlich die Stabilisierung der Verhaltenserwartungen unter den Akteu- ren. Das bedeutet, daß - allein schon durch die beiden zuvor genannten Funktionsleis- tungen - die Akteure sehr viel seltener mit unerwarteten Handlungen ihrer vermeintli- chen Konkurrenten rechnen müssen. Dies als ein Zustand des Vertrauens zu bezeichnen wäre sicherlich übertrieben. Doch wird die Unsicherheit und Zerbrechlichkeit, die rein machtzentrierte Erklärungsansätze postulieren, stark eingeschränkt. In dieser letzten Funktionsleistung liegt auch - wie später zu zeigen sein wird - eine wesentliche Be- gründung für die These, daß Regime tatsächlich Frieden sichern und zum Teil sogar schaffen können.

Die genannten Funktionsleistungen erreicht das Regime interessanterweise unter den anarchischen Prämissen, von denen auch der Realismus ausgeht. Internationale Politik als Nullsummenspiel entspricht hingegen gar nicht der Regime-Vorstellung. Vielmehr schafft ein gewisses Maß an „strategischer Rationalität“20, mit deren Hilfe die Akteure zu Regimen gelangen, ein Klima der Kooperationsbereitschaft. Dieses resultiert aus der Erkenntnis der durchaus egoistischen, nutzenkalkulierenden Akteure, so daß ihr unilate- rales Handeln zu suboptimalen Ergebnissen führt. Ein kurzer Exkurs in spieltheoreti- sche Modelle hilft, diesen Gedankengang und das weitere Verständnis des Regime- Ansatzes zu erhellen.

3.2 Theoretische Modellierung

Spieltheorie kann einen Beitrag leisten, auf einer abstrakten Ebene zu zeigen, „wie und weshalb internationale Regime, wenn einmal geschaffen, die Zusammenarbeit von internationalen Akteuren erleichtern und stabilisieren und damit dazu beitragen, daß kollektiv betrachtet suboptimale Ergebnisse verhindert werden“21. Daß diese Überlegung auch für die Rolle von Regimen zur Friedensschaffung und -sicherung von Bedeutung ist, wird sich im nachfolgenden Kapitel zeigen.

Der Kooperationsgedanke, wie er dem Regime-Ansatz zugrunde liegt, geht von zwei zentralen Prämissen aus, die sich anhand verschiedener spieltheoretischer Modelle si- mulieren lassen:

Das erste Modell stellt den Unterschied zwischen kollektiver und individueller Nutzenmaximierung in den Vordergrund der Betrachtung. Subsumiert unter dem Theorem des „Marktversagens“22, sind zwei Probleme identifizierbar:

a) „Die Erzeugung kollektiver Kosten infolge individuell-rationaler Nutzenentschei- dungen, also die Erzeugung von ‚(Markt-)Externalitäten‘“.
b) Die „Nichterzeugung kollektiver Nutzen als Folge von individuell-rationalen Nut- zenentscheidungen, also die Nicht-Erzeugung von Gemeinschaftsgütern“23.

Wollen Regime erreichen, daß internationale Kooperation erfolgreich verläuft, müssen sie Hilfestellungen geben, dieses Marktversagen zu überwinden, ohne dabei die zuvor als gültig anerkannten Prämissen der internationalen Politik zu verwerfen.24 Die Regime müssen also Funktionen übernehmen, wie sie Einzelstaaten im Verhältnis zu ihrem In- neren wahrnehmen: Schaffung von Wohlfahrt und Verteilungsgerechtigkeit.

Ein zweites, diesmal spieltheoretisch umschriebenes Problem ist das des ‚mixed- motive-game‘. Das prisoner’s dilemma zeigt, daß es nicht einzig auf die zur Wahl ste- henden Handlungsalternativen ankommt, wenn es darum geht, Entscheidungen zu be- gründen. Vielmehr sind die Rahmenbedingungen, innerhalb der die Akteure die Ent- scheidung zu treffen haben, maßgeblich für den Ausgang. Dieser Ansatz betont, daß individuell-rationale Entscheidungen in kollektiver Hinsicht oft nur die zweitbesten Lö- sungen hervorbringen.

Abbildung 1 “ Prisoner ’ s Dilemma ”

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Dilemma-Situation (siehe Abbildung 1) ergibt sich daraus, daß das vermeintlich rationale Verhalten der Akteure unter bestimmten Bedingungen nicht zu der Lösung führen, die für beide auch wünschenswert wäre. Ganz gleich, was Spieler A über das Verhalten von Spieler B zu wissen glaubt: Rational wird es sich für ihn immer auszahlen, ‚defect‘ zu wählen (4 bzw. 2 Punkte statt 3 bzw. 1). Rationales Verhalten vorausgesetzt wird auch B sich so entscheiden, so daß die wahrscheinlichste Lösung ‚de- fect‘ / ‚defect‘ ist - keinesfalls die optimale Lösung.

Kooperation und damit Regime bieten Lösungsansätze, dieses Dilemma zu überwinden. Beispielhaft sollen hier nur aufgeführt werden:

a) Durch erneutes Aufeinandertreffen der Akteure in einem neuen Spiel mindert die Wahrscheinlichkeit eines einmaligen Fehlverhaltens dem Anderen gegenüber. Der ‚Schatten der Zukunft‘25 beeinflußt ihr Verhalten schon in der Gegenwart.
b) Spielregeln führen zu einer Konvergenz der Erwartungen. D.h., beide können ein bestimmtes Verhalten des anderen zumindest erwarten.
c) Gelegenheit zum Informationsaustausch ermöglicht abgestimmtes Verhalten und damit die Festlegung auf das für beide Seiten optimale Ergebnis.26

Beide theoretischen Betrachtungen zeigen, daß der Regime-Ansatz durchaus in der La- ge ist, Lösungsansätze zu offerieren. Was er nicht kann, ist, die Unwägbarkeiten die mit diesen beiden Problem-Theoremen angeschnitten werden, mit absoluter Sicherheit aus dem Weg zu räumen. Internationale Beziehungen und das Handeln ihrer Akteure wer- den, auch unter gut funktionierenden Regimen, stets mit diesen Problemen zu kämpfen haben.

3.3 Zwei-Ebenen-Modell

Wichtige Erkenntnisse über die Erklärungskraft von Regimen liefert - neben den eben gemachten theoretischen Besonderheiten - die Analyse der Akteure selbst. Risse- Kappen weist in seinem Zwei-Ebenen-Modell darauf hin, daß es keineswegs ein inter- nationales Regime losgelöst von nationalpolitischen Interessen und Zielsetzungen geben wird.27 Da die staatlichen Regierungen sowohl bei der nationalen als auch bei der inter- nationalen Entscheidungsfindung die ausschlaggebenden Akteure sind, ergeben sich indirekte Verschränkungen von nationaler Interessendurchsetzung und internationaler Politik. Neben Interessenvertretern und gesellschaftlichen Meinungsbildnern spielen auf der einzelstaatlichen Ebene auch politische Konstellationen eine wichtige Rolle. Sie müssen letztlich die Entscheidungen der Regierung im internationalen Kontext mittragen, wenn diese Erfolg haben sollen.

Das win-set ist die Meßlatte, an der sich das Handeln der einzelnen Akteure sowohl im nationalen wie im internationalen Bereich messen läßt. Hohe innenpolitische win-sets stehen für eine Größere Chance der Kooperation im internationalen Bereich; kleinere innenpolitische win-sets lassen den Akteur hingegen seine Verhandlungsmacht ausspie- len. Die funktionalistischen Wurzeln regimetheoretischer Betrachtung kommen hier deutlich zum Vorschein.

3.4 Schwachstellen

Die Theoriedebatte zeigt, daß auch die im Regime-Ansatz angestellten Überlegungen nicht immer einwandfrei sind. So zweifelt John J. Mearsheimer an der Zwangsläufigkeit des Schlusses, daß bloße Einsicht der Akteure in die Vorzüge pareto-optimaler Hand- lungsmaximen tatsächlich auch Kooperation zur Folge habe. Für ihn ist von großer Be- deutung, daß sich, unter Bedingungen mehr oder weniger definierter Handlungserwar- tungen die Möglichkeit des Betruges sehr viel mehr lohnt, da der Betrüger zum einen das Verhalten der übrigen Akteure wesentlich zuverlässiger erahnen kann und zum an- deren der Betrug meist eine wesentlich höhere ‚Rendite‘ erzielt. Nach Mearsheimer kommt internationales Handeln nicht ohne ein Mindestmaß an Repression aus: „Three messages must be sent to potential cheaters: you will be caught, you will be punished immediately, and you will jeopardize future cooperative efforts.“28

Die zweite ‚Schwachstelle‘ ist vielmehr ein Mißverständnis, dem Regimeanalyse oft unterliegt. Im Sinne der bereits unter 3.3 beschriebenen win-sets darf das Regime nicht als eine Struktur angesehen werden, die über dem Einfluß der Akteure steht und diese lediglich in ihrem Handeln konditioniert. Die Kernelemente eines jeden Regimes, näm- lich die gemeinsamen Normen, Regeln und Verfahren, sind schließlich aus den selben Akteuren hervorgegangen, die sich letztlich auch dem Regime unterwerfen. Das bedeu- tet, daß Regime „nicht nur auf Politikentwicklungsprozesse einwirken, sondern auch von diesen beeinflußt und gestaltet werden“29.

4 Friedensleistung der Ansätze

Ob und wie Integrations- bzw. Regimeanalyse letztlich zu einer friedlicheren Welt bei- tragen können, bleibt abschließend zu erörtern. Von Theorien, deren Kernziel Koopera- tion und die Substitution nackter Gewalt durch Mechanismen der Zusammenarbeit ist, dürfte in dieser Hinsicht eigentlich einiges erwartet werden. Allerdings stellt Michael Zürn hierzu fest: „Die wissenschaftliche Literatur über IR [internationale Regime, Anm. d. V.] beschränkt sich … weitgehend auf die Erklärung von IR. Es wird gefragt, unter welchen Bedingungen IR entstehen, sich wandeln oder sich auflösen. Die andere Frage, welchen Einfluß IR auf Politikergebnisse haben, blieb in der Regimeanalyse bisher ver- nachlässigt.“30 Die Betrachtungen, insbesondere der Regimeanalyse, haben gezeigt, von welch großer Bedeutung diese für die Überwindung der Dilemmasituationen und des Marktversagens im internationalen Bereich sind. Der institutionelle Rahmen, den die beiden Ansätze annehmen, hat die Steuerung der Transaktionen zwischen den Akteuren ex ante zum Ziel. Daß diese Form internationalen Zusammenlebens sicherlich friedens- stiftender ist, als ein System, in dem jeder Akteur mit direkter Gewalt als legitimer Re- aktion des Anderen auf ihm widerstrebende Entscheidungen oder Situationen rechnen muß, liegt auf der Hand.

Ungeklärt bleibt jedoch zum einen die bereits erwähnte Problematik des ‚Betrügers‘ im Sinne von Mearsheimer. Einsicht in gemeinschaftliche Werte führt schließlich nicht zwangsläufig zum Willen nach deren Verwirklichung. Zum anderen liefern weder der Interdependenz- noch der Regimeansatz eine befriedigende Antwort auf die Frage, was ‚gute‘ Regime sind. Dieses normative Problem darf, gerade wenn es um Frieden oder Krieg geht, nicht unterschätzt werden. Die Maxime ‚gut ist, was nützt‘ taugt hier nicht viel. Auch der Ausschluß physischer Gewalt ist kein sehr aussichtsvolles Kriterium. Denn „man kann auch gegen den Frieden gewaltfrei zusammenarbeiten“31.

Literatur

- Kaiser, Karl / Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Die neue Weltpolitik, Bonn 1995

- Keohane, Robert O. / Nye, Joseph S.: Macht und Interdependenz, in: Kaiser, Karl (Hrsg.): Weltpolitik, Stuttgart 1986

- Lehmkuhl, Ursula (Hrsg.): Theorien internationaler Politik, München 1996

- Lichbach, Mark Irving: Regime Change and the Coherence of European Govern- ments, Denver, Colorado 1984

- Mearsheimer, John J.: The false promise of international institutions, in: International Security, Vol. 19, Nr. 3, Winter 1994/95

- Meyers, Reinhard: Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven der In- ternationalen Beziehungen, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.): Grundwissen Politik, Bonn 1993

- Müller, Harald: Die Chance der Kooperation: Regime in den internationalen Bezie- hungen, Darmstadt 1993

- Nohlen, Dieter u.W. (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 2, Politikwissenschaftliche Methoden, München 1994

- Risse-Kappen, Thomas: Internationale Kooperation, Regime, Organisationen, in: www.uni-konstanz.de/FuF/Verwiss/Risse-Kappen/kursdocs.htm, 14.06.1999

- Rittberger, Volker / Wolf, Klaus Dieter: Problemfelder internationaler Beziehungen aus politologischer Sicht, in: Arbeitsgruppe Friedensforschung (Hrsg.): Tübinger Ar- beitspapiere zur internationalen Politik und Friedensforschung, Nr. 5, Tübingen 1991

- Rittberger, Volker: Über die Friedensleistungen internationaler Regime, in: Seng- haas, Dieter (Hrsg.): Den Frieden denken, Frankfurt a.M. 1995

- Zürn, Michael: Gerechte internationale Regime: Bedingungen und Restriktionen der Entstehung nicht-hegemonialer internationaler Regime untersucht am Beispiel der Weltkommunikationsordnung, Frankfurt a.M. 1987

[...]


1 vgl. Rittberger, Volker / Wolf, Klaus Dieter: Problemfelder internationaler Beziehungen aus politologischer Sicht, in: Arbeitsgruppe Friedensforschung (Hrsg.): Tübinger Arbeitspapiere zur internationalen Politik und Friedensfor- schung, Nr. 5, Tübingen 1991, S. 5 f.

2 vgl. Meyers, Reinhard: Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven der Internationalen Beziehungen, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.): Grundwissen Politik, Bonn 1993, S. 249

3 vgl. Lehmkuhl, Ursula (Hrsg.): Theorien internationaler Politik, München 1996, S. 193

4 vgl. Keohane, Robert O. / Nye, Joseph S.: Macht und Interdependenz, in: Kaiser, Karl (Hrsg.): Weltpolitik, Stutt- gart 1986

5 vgl. Lehmkuhl, a.a.O., S. 198 f.

6 vgl. Lehmkuhl, a.a.O., Kapitel VII, S. 223 ff.

7 vgl. Meyers, a.a.O., S. 248

8 vgl. Nohlen, a.a.O., S. 195

9 Keohane, a.a.O.

10 ebd., S. 79

11 ebd., S. 81

12 Lehmkuhl, a.a.O., S. 198

13 vgl. Nohlen, a.a.O., S. 194

14 vgl. Lehmkuhl, a.a.O., S. 255

15 Nohlen, a.a.O., S. 402

16 vgl. Müller, Harald: Die Chance der Kooperation: Regime in den internationalen Beziehungen, Darmstadt 1993, S. 34

17 vgl. Zürn, Michael: Gerechte internationale Regime: Bedingungen und Restriktionen der Entstehung nicht-

hegemonialer internationaler Regime untersucht am Beispiel der Weltkommunikationsordnung, Frankfurt a.M. 1987, S. 20 f

18 vgl. Nohlen, a.a.O., S. 402

19 Risse-Kappen, Thomas: Internationale Kooperation, Regime, Organisationen, in: www.uni- konstanz.de/FuF/Verwiss/Risse-Kappen/kursdocs.htm, 14.06.1999, S. 12

20 Risse-Kappen, a.a.O., S. 7

21 Zürn, a.a.O., S. 26

22 ebd., S. 27 f.

23 beide Zitate ebd.

24 vgl. „Coase-Theorem“, Keohane 1984, in: ebd. S. 28 f.

25 vgl. Risse-Kappen, a.a.O., S. 8

26 b) und c) vgl. Zürn, a.a.O., S. 35

27 vgl. Risse-Kappen, a.a.O., S. 14

28 Mearsheimer, John J.: The false promise of international institutions, in: International Security, Vol. 19, Nr. 3, Winter 1994/95, S. 17

29 Zürn, a.a.O., S. 25

30 ebd., S. 37

31 ebd. S. 36

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Frieden durch Interdependenz und Regimebildung
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Übung "Theorien des Friedens"
Autor
Jahr
1999
Seiten
16
Katalognummer
V96674
ISBN (eBook)
9783638093507
Dateigröße
367 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frieden, Interdependenz, Regimebildung, Theorien, Friedens
Arbeit zitieren
Marc-André Souvignier (Autor:in), 1999, Frieden durch Interdependenz und Regimebildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96674

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