Sind die Mitgliedstaaten der EU reif für die Aufgabe des Einstimmigkeitszwangs innerhalb des Rates der EU?


Hausarbeit, 2000

13 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


1. Einleitung

Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 und den Römischen Verträgen 1957 über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begann die Zusammenarbeit von 6 europäischen Staaten auf wirtschaftlicher Ebene und stellten somit die Grundlage der heutigen Europäischen Union der 15. Die EU hat sich seitdem zu einem der erfolgreichsten supranationalen Integrationsmodelle entwickelt.1Doch trotzdem war die letzte Vertragsänderung in Amsterdam nur ein weiterer Schritt in der Integration der Mitgliedstaaten. Es ist schon einiges geschaffen worden, jedoch gibt es noch genügend Herausforderungen.

Mit Blick auf den Rat der Europäischen Union (Ministerrat) soll in dieser Arbeit der Fortgang der institutionellen Reform behandelt werden. Für den Ministerrat als zentrales Organ der Legislative heißt das, inwieweit in den letzten Politikfeldern, in denen noch mit dem Einstimmigkeitsverfahren abgestimmt werden muß, die qualifizierte Mehrheitsentscheidung eingeführt werden kann, um dessen Handlungsfähigkeit zu verbessern.

Doch zunächst sollen die Änderungen des Entscheidungsverfahrens seit den Verträgen von Rom vorgestellt werden, um dann die heutige Situation des Rates darzulegen.

2. Historische Änderungen des Entscheidungsverfahrens innerhalb des Rates der Europäischen Union

In den ersten Jahren der EWG war für fast alle Ratsbeschlüsse Einstimmigkeit vorgesehen. Nach Ablauf einer Übergangszeit sollten laut Vertrag mehr Entscheidungen des Rates mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden, was zur Politik des "leeren Stuhls" Frankreichs unter de Gaulle führte, der sich weigerte, diesen Übergang zuzulassen. Nach Meinung de Gaulles sollte die Gemeinschaft zumindest in dem damaligen Entwicklungsstadiums nicht gegen den Willen eines einzelnen Staates entscheiden können. Sieben Monate lang nahm keine französische Delegation an Sitzungen des Rates teil, was zur Folge hatte, das durch den Anwesenheitszwang in keinem Politikfeld eine Entscheidung zustande kam.

Beigelegt wurde dieser Konflikt durch die Luxemburger Erklärung im Januar 1966, in der es heißt, daß selbst in Bereichen, in denen qualifizierte Mehrheiten laut Vertrag vorgesehen waren, kein Staat in einer Frage von „vitalem nationalen Interesse“2im Ministerrat überstimmt werden dürfe. In dem Fall, daß ein Mitgliedsstaat ein solches Interesse anmeldet, sieht die Erklärung vor, daß die Beratungen bis zu einem Konsens weitergeführt werden sollen. Doch dadurch, daß nicht konkret darauf eingegangen wird, welche Fälle ein wichtiges „nationales Interesse“ darstellen, kann man dies je nach eigenem Empfinden auslegen, weswegen sich bis Mitte der 80er Jahre jeder Staat auf diesen Kompromiß berief. Das führte dazu, daß in vielen Fällen überhaupt keine Entscheidungen zustandekamen. Interessensdivergenzen zwischen den sechs Gründungsstaaten ließen sich durch sektorübergreifende Verhandlungspakete noch relativ einfach lösen, doch aufgrund der schrittweisen Erweiterung der Gemeinschaft zeichnete sich eine „Pluralisierung von Grundpositionen“3ab. Gerade in den frühen 80ern begegneten die Mitgliedstaaten den zunehmenden wirtschaftlichen Problemen mit nationalen Alleingängen, indem zum Beispiel einseitig sektorale Handelshemmnisse geschaffen wurden. Hinzu kam, daß mit der Schaffung von neuen Interventionsfeldern für die Gemeinschaft keine eindeutige, sektorübergreifende Normenhierachie gekoppelt wurde und somit der Entscheidungsmodus in den einzelnen Politikfeldern immer häufiger zum Streitpunkt im Ministerrates wurde.

Innerhalb der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 konnten sich die Staatsund Regierungschefs dann darauf einigen, für weite Teile des Binnenmarktes qualifizierte Mehrheitsentscheidungen einzuführen.

Nach dem Vertrag über die Europäische Union von Maastricht und den Amsterdamer Verträgen, in denen diese Reformen noch weitergeführt wurden, kann man nun sagen, daß zumindest im vergemeinschafteten Bereich (1. Säule) qualifizierte Mehrheitsentscheidungen die Regel sind.

Was der Rat der Europäischen Union darstellt, welche Kompetenzen er besitzt, wo welche Entscheidungspraktiken angewendet werden und wie eine qualifizierte Mehrheit aussieht, soll im nächsten Teil dieser Arbeit behandelt werden.

3. Die Reformzwänge und ihre Durchführbarkeit

3.1 Der Rat der Europäischen Union in seiner heutigen Form

Der Rat der Europäischen Union ist die Vertretung der Mitgliedstaaten innerhalb der Union und gleichzeitig das eigentliche Entscheidungszentrum der EU. Es nimmt eine „Scharnierfunktion“ in seiner Doppelrolle einerseits als Gemeinschaftsorgan, andererseits als Abordnung der Mitglieder ein4, was auch seine Hauptfunktion darstellt. Er ist die Legislative, gleichzeitig verfügt er aber auch über Exekutivrechte. Er besitzt die größte Kompetenzfülle der Union.

Der Ministerrat ist unterteilt in mehrere Räte je nach den Politikfeldern. Jedes Mitgliedsland stellt einen Vertreter im Rat, pro Fachbereich den Minister der nationalen Regierung, unterdessen föderale Systeme wie die Bundesrepublik Deutschland oder die Schweiz auch befugt sind, Vertreter ihrer Gliedstaaten als verbindlich Handelnde zum Rat zu entsenden. Die Außenminister stellen den Allgemeinen Rat, die einzelnen Ressortminister die jeweiligen Fachräte. Die Präsidentschaft wechselt zwischen den 15 Mitgliedern halbjährlich. Der jeweilige Vorsitzende beruft die Sitzungen des Ministerrates ein, stellt die Tagesordnungen auf, unterzeichnet die Rechtsakte des Rates und ordnet deren Bekanntmachung an. Ebenso vertritt er den Rat innerhalb der Institutionen der EU und gegenüber Drittländern.

Der Rat entscheidet über gemeinschaftliche Gesetzesvorlagen und ist verantwortlich für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsstaaten als Mittel zur Erreichung der Vertragsziele, wobei besondere Bedeutung den Regelungen zur Erreichung des Binnenmarktes und der Marktfreiheiten zukommt. Ebenso beschließt er mit Abstimmung des Parlamentes Erweiterungen der EU und ist zuständig für die Außenbeziehungen derselben. Im Rahmen der 2. - und 3. Säule koordiniert er die Interessen der einzelnen Staaten. Außerdem stellt der Rat auf Vorschlag der Kommission den Gemeinschaftshaushalt auf und ernennt die Mitglieder der einzelnen Ausschüsse.5

Es gibt drei verschiedene Arten des Abstimmungsverfahrens im Ministerrat: die Abstimmung erfolgt mit einfacher Mehrheit, mit qualifizierter Mehrheit oder einstimmig. Welche Möglichkeit zu wählen ist, kann man aus den einzelnen Vertragsartikeln entnehmen. Ist nichts anderes festgelegt, genügt eine einfache Mehrheit der Minister, was jedoch nur selten und nur bei Verfahrensfragen untergeordneter Stellung vorkommt. In den meisten Fällen wird mit den beiden anderen Verfahren abgestimmt.

Wenn eine qualifizierte Mehrheit benötigt wird, werden die Stimmen der Vertreter nach der Bevölkerung gewichtet, damit eine Minderheit der EU-Bürger die Majorität nicht überstimmen kann. Gemessen an den Bevölkerungszahlen haben die kleineren Staaten aber mehr Stimmen im Rat als die großen Staaten, damit auch sie ihre Interessen wahrnehmen können.6Die erforderliche Sperrminorität bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen liegt aktuell bei 26 Stimmen, also reichen 62 der 87 Stimmen (71,3%) für eine Mehrheit. Während die 5 großen Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien mit 10, Spanien mit 8 Stimmen) noch mindestens 3 kleinere Staaten benötigen, um eine Mehrheit zu erlangen, reichen schon derer 6 mit 15,6% der Gesamtbevölkerung um einen Beschluß zu verhindern. Die 1994 gefaßte „Vereinbarung von Ionnina“ (zu vergleichen mit der Luxemburger Erklärung), nach der Entscheidungen schon bei einer Minorität von 23 ablehnenden Stimmen bis zu einem Konsens verschoben werden sollen hat zur Folge, daß schon 11,5% der EU-Bevölkerung einen Entschluß blockieren können.

Wie bereits aufgeführt, hat der Anteil der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Laufe der Jahre immer mehr zugenommen. Doch in den von den Staaten als besonders sensibel geltenden Politikbereichen hat nach wie vor die Regel der Einstimmigkeit bestand. Dies gilt vor allem für Rechtsakte mit quasi-konstitutionellen Charakter, für Rechtsakte, die vom Binnenmarkt abweichen oder sich direkt auf den Gemeinschaftshaushalt auswirken. Aber auch bei Prestigeobjekten wie der Kulturpolitik und institutionellen Angelegenheiten (Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofes, der Kommission, usw.) ist weiterhin Einstimmigkeit vorgeschrieben.7

Man kann beim Rat der EU auch von einer „Maschinerie der Konsensfindung“8reden. Denn unabhängig von der jeweiligen Abstimmungsmodalität wird auf drei Ebenen (Arbeitsgruppen, Ausschuß der ständigen Vertreter, Ministerebene) versucht, eine größtmögliche Zustimmung für eine Regelung zu finden.

3.2 Die heutigen Sachzwänge zur Ausweitung des Prinzips der qualifizierten Mehrheit

Seit den Verträgen zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor rund 40 Jahren, in der eigentlich die Kommission als wichtigste Institution vorgesehen war, hat sich das Gewicht immer mehr hin zum Rat der Europäischen Union, ursprünglich als Zugeständnis an die Mitgliedstaaten gedacht, verlagert. Dadurch ist die Frage der institutionellen Reform vor allem in diesem Gremium der EU von immenser Bedeutung. So ist die Weiterführung der Integration der Staatengemeinschaft besonders abhängig von einem entscheidungsfreudigen und handlungsfähigen Ministerrat.

Doch die Effizienz des Rates ist sehr stark gebunden an die Art und Weise der Abstimmung, ob nun einstimmig entschieden werden muß oder mit qualifizierter

Mehrheit. Gerade bei Einstimmigkeitszwang stellt sich die Normsetzung durch den Rat besonders schwierig dar. Beispielsweise wurde mit der Umsetzung einer gemeinsamen Verkehrspolitik erst 20 Jahre nach der Verabschiedung der gemeinsamen Agrarpolitik und nach einer erfolgreichen Untätigkeitsklage begonnen. Über die Rechtsform einer europäischen Aktiengesellschaft innerhalb eines europäischen Handelsrechts wird nun schon seit 32 (!) Jahren ergebnislos diskutiert.9 Vielfach gleichen Entscheidungen im Ministerrat Nullsummenspielen (Gewinner/ Verlierer), insbesondere bei der Besetzung von Gremien oder bei der Gewichtung von Stimmen. Das macht es natürlich schwer, Kompromisse zu erarbeiten, gerade wenn auch noch alle 15 Mitglieder zu überzeugen sind.10So ist auch zu verstehen, daß kontinuierlich Entscheidungen an den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs weitergeleitet werden, ohne daß dieser eine größere Handlungsfähigkeit zeigt.

Dies beweist auch der Versuch des Europäischen Rates, innerhalb des Vertrages von Amsterdam einen großen Teil der einstimmigkeitspflichtigen Themenbereiche in Bereiche zu überführen, in denen eine qualifizierte Mehrheit ausreicht. Ein Großteil der Felder, in denen noch einstimmig entschieden werden muß, sollte reformiert werden, es blieben jedoch nur vier Bereiche übrig, also nur sieben Prozent (!) der ursprünglich vorgesehenen, von denen nur der Forschungsbereich relevant ist. Immer wieder stellen die Mitgliedstaaten ein „nationales Interesse“ in den Vordergrund und legen ihr Veto ein. Wenn dann auch durch Übergangsregelungen oder Ausnahmen kein Kompromiß zustandekommt, versucht man ein „Beschlußpaket“ zu schnüren, um für den betreffenden Mitgliedstaat in einem anderen Bereich eine Kompensation zu erhalten. Dadurch melden dann auch die übrigen nationalen Regierungen ihre Einzelinteressen an, wodurch sich die Verhandlungen immer schwieriger gestalten. Daß auch partikulare Interessen schnell zu Nationalinteressen wachsen können, zeigt das Beispiel der Altautoverwertung. Auf Druck der deutsche Autoindustrie deklarierte die deutsche Regierung dieses Thema zu einem besonders sensiblen Thema und verhinderte so einen Entschluß. Zwar mußte Deutschland in diesem Fall Koalitionäre finden, was auch gelang, aber man kann hier sehr gut aufweisen, wie nach

(Hrsg.): Europa von A-Z. Taschenbuch der Integration, Bonn 1995, S.283.

Auffassung der Regierungen (manchmal) „nationale Interessen“ aussehen. Geht man dann davon aus, daß Demokratien eigentlich die Wohlergehen des ganzen Volkes, in diesem Fall die Bevölkerung der Union, wahren sollen und nicht die Interessen einzelner, wirft das kein gutes Licht auf die demokratisch legitimierten Regierungen der Mitglieder.

Wie sehr Einstimmigkeitsbeschlüsse die EU blockieren, konnte man auch gerade bei der Debatte über die europäische Zinssteuer erkennen.11

Will man jedoch Japan und die USA wirtschaftlich überflügeln - und die Union ist im Begriff dies zu tun - muß die Handlungsfähigkeit, bei den beiden Konkurrenten wesentlich höher, gestärkt werden, was mit ständigen Vetos nicht zu erreichen ist. In diesem Zusammenhang bewies die EU zum Beispiel bei der Besetzung des IWFChefpostens nicht gerade sehr hohe Effizienz.

Besonders schwierig stellt sich die Entscheidungsfindung in den rein zwischenstaatlichen Komplexen der Zusammenarbeit in Justiz und Inneres und vor allem in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. So verkörpert insbesondere die GASP das Feld, in denen die Staaten sich mit Kompromissen besonders schwer tun. Anscheinend genießen hier noch alte Freund- sowie Feindschaften einen großen Einfluß. So verhinderte zum Beispiel Griechenland etwa zwei Jahre lang die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der EU mit Mazedonien.12

Sieht man den Einsatz in Kosovo als Präzedenzfall, muß die GASP wesentlich entschlossener und effizienter arbeiten, will man noch vor den USA zuständig sein für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit innerhalb Europas. Vor allem wegen den verschiedenen Grundauffassungen der Mitgliedsländer im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, zum Beispiel die der traditionell neutralen Staaten wie Österreich oder Finnland im Gegensatz zu den Atommächten Großbritannien und Frankreich, sind Entscheidungsfindungen hier ohnehin höchst problematisch, besonders bei einer notwendigen Einstimmigkeit.

Nach der Überantwortung einer so weitreichenden Kompetenz wie der Währungshoheit gleicht die „ .. EU heute bildlich gesehen einem Fahrrad, das vorangetrieben werden muß, um nicht umzukippen.“13Speziell bei den Verfahren zur Entscheidungsfindung heißt das: entweder die Staaten geben ein zusätzliches Stück Souveränität (nämlich das Vetorecht) ab, oder sie müssen sich schon verlorene Macht wieder zurückholen. Denn eine Union (bzw. eine einheitliche Währung), die abhängig ist von eventuellen Stimmungsschwankungen in einem von 15 Staaten steht nicht gerade auf festem Fundament. Aktuell könnte man hierfür das Beispiel Österreich aufführen. Bis jetzt kam es noch zu keiner Totalblockade seitens der neuen Regierung, doch angesichts der anhaltenden Sanktionen der übrigen EU- Staaten (nicht der EU) aufgrund der Regierungsbeteiligung der FPÖgehört das nicht in den Bereich des Unmöglichen

Betrachtet man dies alles im Licht des anstehenden Anwachsen der Europäischen Union von heute 15 Staaten auf - schrittweise - 27, gewinnt eine umfassende Reform der Entscheidungsmodalitäten noch wesentlich mehr an Bedeutung. Bei einer zusätzlichen Erweiterung der EU werden sich die Grundpositionen der Staaten angesichts des Integrationsprozesses stark vermehren.14Nicht nur wirtschaftliche und politische Probleme verstärken sich durch die Beitrittsländer - man vergleiche nur die wirtschaftlichen Strukturen - auch Ballast kultureller, religiöser und historischer Art wird die Handlungsfähigkeit der Union nicht gerade erhöhen. So sind zum Beispiel das Verhältnis der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten mit Rußland oder Zyperns ungelöster Konflikt mit dem türkischen Teil zu nennen. Die Gefahr von Blockierungen erhöht sich also im Gegenteil mit jeder Ausdehnung.

Deswegen muß vor einer Erweiterung die Frage der institutionellen Reformen gelöst sein, denn auch diese können nur einstimmig beschlossen werden. Diese Probleme wurden auf dem Amsterdamer Gipfel 1997 zwar auch erkannt und die Lösung derselben als notwendig deklariert, aber das einzige, wozu man sich durchringen konnte, war der Text eines Vertragsprotokolls, der zumindest den Weg für eine Institutionenreform für die nächsten Gipfel aufweist. Hier zeigt sich die übliche Politik der EU, wonach erst im spätestmöglichen Zeitpunkt auf akute Krisen oder strukturrelle Änderungen der Union reagiert wird.15

Doch inwieweit die Frage einer solch weitreichenden Umgestaltung überhaupt relevant ist und welche Gefahren eventuell in ihr stecken können, ist das Thema des nächsten Abschnitts.

3.3 Die Möglichkeit einer weitreichenden Reform der Entscheidungsmodalitäten im Rat aus Sicht der Mitgliedstaaten

Schaut man sich die Reaktionen der Staats- und Regierungschefs auf den Amsterdamer Gipfel 1997 an, kann man feststellen, daß sie durchaus die Notwendigkeit einer Änderung im Entscheidungsverfahren des Rates anerkennen.16 Im Vorfeld des Gipfels jedoch meldete jeder Staat die für ihn besonders sensiblen Politikfelder an, in denen einer Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung nicht zugestimmt werden konnte. Diese so angemeldeten „nationalen Interessen“ verhinderten eine durchgreifende Reform des Entscheidungsmodus (siehe S. 6).

Interessant ist aus dieser Sicht der Begriff des „nationalen Interesses“. Obwohl nur ein kleiner Teil der europäischen Staaten ein wirkliches Staatsvolk aufweisen, also eine Nation, wird der Ausdruck von allen Staaten doch immer wieder verwendet. Dabei stellen diese Gemeinschaftsinteressen nur die Politik der Regierungen eines Nationalstaats dar, gestützt höchstens von einer Mehrheit des Volkes, oft aber auch nur von Minderheiten, wie beispielsweise durch einflußreiche Wirtschaftszweige.

Der Begriff „Nationales Interesse“ erhält seine Bedeutung durch den Wert, der den heutigen territorialen Nationalstaaten zugesprochen wird. Durch sie, so die Ideologie, verwirklicht sich die Selbstbestimmung selbstständiger Völker. Handeln im Rahmen der Nation bedeutet den Vollzug der kollektiven Interessen und des gemeinschaftlichen Willens. Dieser Nationalismus wird gefördert durch die Unterscheidung zwischen „innen“ und „außen“. Also zwischen einer nationalen Einheit und einer völlig antagonistischen Außenwelt. So können zum Beispiel Partikularinteressen der Wirtschaft als „nationale Interessen“ ausgegeben werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Nation zu gewährleisten. Dadurch, daß sich alle Staaten auf dieses Nationale berufen, verwirklicht sich erst die antagonistische Außenwelt in einer Wechselwirkung zwischen den Staaten.17 Überhaupt zeigen die ständigen Ersatz- und Ausnahmeforderungen, wie heterogen die wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen der Mitglieder unter der homogenen Oberfläche wirklich sind. Selbst die Vorstellungen zur komplementären Wirtschaftsunion (Beschäftigungspolitik, Lohnpolitik, Sozialstandard und besonders die Vollendung des Binnenmarktes) gehen noch weit auseinander18und werden mit einer Erweiterung noch vielschichtiger. Selbst die wirtschaftlichen Strukturen der jetzigen EU-Staaten unterscheiden sich stark voneinander, vergleicht man beispielsweise Deutschland mit Griechenland, wodurch sich eine breite Fächerung der Interessen erklären läßt.

In erster Linie geht es in diesem Zusammenhang jedoch um das „nationale Interesse“ der Machtausübung, also um den Einfluß der einzelnen Nationen auf die Institutionen der EU. Und zwar Macht als Steuerungskapazität, als Entscheidungskompetenz und nach Weber als Instrument zur Durchsetzung des eigenen (hier nationalen) Willens.19 Und diese wäre mit der Abschaffung des Vetorechts arg beschnitten. Die Regierungen müßten sich darauf einstellen, überstimmt zu werden, selbst in von ihnen besonders sensibel angesehenen Politikbereichen. Um also auch in den letzten verbliebenen Fällen des Einstimmigkeitszwangs eine Wende hin zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen hinzubekommen, müßten die Staaten sich dieser Id eologie des Nationalen entledigen. Doch wie stark dieses Denken immer noch vorherrscht, zeigt auch das Beispiel der Demission der alten Kommission. Frankreich und Spanien hätten die beiden besonders belasteten Kommissare zurückziehen können, doch für beide hätte das eine Demütigung des nationalen Ehrgefühls bedeutet. So wurde die komplette Kommission vom Parlament abgesetzt, wobei sich bezeichnenderweise die Luxemburger Abgeordneten ihrer Stimme enthielten, da der damalige Kommissionspräsident Luxemburger war. Und bei der Neubesetzung der in: Jopp, a.a.O., S. 283ff.

Kommission hatte der neue Präsident der Kommission, Romano Prodi, entgegen den Amsterdamer Verträgen nur beschränkt freie Auswahl. Deutschland und Frankreich zwangen ihm ihre Kandidaten einfach auf. So ging Macht vor Recht und nationales Prestige sowie Parteizugehörigkeit noch vor Kompetenz. Entscheidend auf die Bereitschaft der Staaten, inwieweit sie ihre Souveränität aufgeben wollen, wirkt sich die Frage der Finalität der Europäischen Union aus, ob dies nun ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sein soll.20Von einer bestimmten Erwartungshaltung hinsichtlich des einen oder anderen Modells hängt die Bewertung einer institutionellen Regelung der EU ab. Stellt man sich die EU auch in Zukunft eher als Staatenbund vor, wird man zum Beispiel den jetzigen Status der GASP als ausreichend empfinden, als Anhänger eines föderalen Bundesstaates als unzureichend.21 Dies spiegelt sich auch in den Auffassungen der jeweiligen Regierungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Überführung von Einstimmigkeitsentscheidungen zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen wider. Während als Beispiel Italien eine generelle Überführung wünscht, klammern andere Staaten wie Frankreich oder Großbritannien die aus ihrer Sicht wichtigsten Themengebiete gegen eine Überführung aus.

Hier spielt auch die Neugewichtung der einzelnen Stimmen bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat eine große Rolle. Ohne eine Neugewichtung könnten zumindest die bevölkerungsreichsten Staaten der EU einer Änderung der Entscheidungsverfahren nicht zustimmen. Es geht nämlich dabei um die Machtbalance der Mitglieder, die sich bei einer Erweiterung ohne Neugewichtung in Richtung der kleinen Staaten verschieben würde. Durch den Beitritt vieler kleinerer und mittlerer Staaten, würde es den großen Staaten bei der dann zu erreichenden Stimmenzahl sehr schwer fallen, die geforderte Beschlußmajorität zu bekommen, während die kleinen Länder über eine eigene Sperrminorität verfügen würden. Zudem würde eine Mehrheit der Stimmen nur noch knapp über 50% der EU- Bevölkerung repräsentieren. Das jetzige System der Gewichtung braucht also einen Nachfolger, der zum einen die Benachteiligung der mittleren und großen Staaten aufhebt, zum anderen aber auch das von den kleineren Staaten befürchtete „Direktorium der Großen“ nicht zuläßt. Wahrscheinlich ist in dieser Frage eine Paketlösung. Das heißt, die großen Staaten geben einen ihrer zwei Kommissarposten auf und im Gegenzug stimmen die kleinen einer Neugewichtung zu.22Doch noch ist umstritten, welches Modell der Gewichtung angewandt wird: ein degressiv-proportionales, eine Mischung aus einfacher Mehrheit der Staaten im Rat plus der Bevölkerungsmehrheit oder die „superqualifizierte Mehrheit“, soll heißen, eine Mischung aus qualifizierter Mehrheit im Rat nach dem heutigen Modell plus einer Mehrheit der Bevölkerung.

Diskutiert wird auch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, in dem Staaten, die eher bereit sind für eine Vertiefung der Union als der Rest der Mitglieder, sich zu einer schnelleren Integration mit nur einem Teil der Mitglieder entschließen können. In der Praxis wurde dies Modell schon beim Euro und beim Schengener Abkommen angewendet.23

Ein weiteres Problem stellt die Vermittelbarkeit einer Institutionenreform dar. Die Politiker wenden sich lieber populären Schlagwörtern zur inneren Sicherheit oder der Beschäftigungspolitik zu, als zu versuchen, den Bürgern, die eh schon mit Skepsis auf die sogenannte „Eurokratie“ schauen, ein so komplexes Thema darzulegen. Überhaupt reagieren die Politiker auf niedrige Wahlbeteiligungen und schlechte Ergebnisse bei Europawahlen eher damit, daß sie mehr Rücksicht auf „nationale Wünsche“ nehmen wollen. Dänemarks Minderheitsregierungen bremsen zum Beispiel immer wieder den Integrationsprozeß oder fordern Ausnahmeregelungen, um Niederlagen im Parlament oder bei Referenden zu vermeiden.

Was fehlt, ist eine europäische Identität. Das könnte vor allem dann ein Problem werden, wenn die Bevölkerung eines der Mitglieder mit ansehen müßte, daß ihre Regierung in einem wichtigen Feld wie der Außen- und Sicherheitspolitik überstimmt würde. In einem solchen Fall könnte eine pro-europäische Stimmung schnell ins Gegenteil umschlagen. Die Ideologie des Nationalstaats ist auch bei den Bevölkerungen der Staaten noch tief verwurzelt. Das heißt, es stellt sich nicht nur die Frage, ob die Staaten reif sind für eine Reform, sondern auch die Bevölkerungen.

Die Legitimation der Beschlüsse im Rat steht dagegen bei einer Ausweitung der Mehrheitsentscheide nicht in Frage. Auch bei Mehrheitsentscheiden können ernsthafte Widerstände eines oder mehrerer Staaten nicht übergangen werden. Im Gegenteil zeigt sich, saß in den Feldern, in denen nur eine Mehrheit erforderlich ist, sich die Konsensfähigkeit erhöht. Denn jeder Staat kann einmal eine Minderheitsmeinung vertreten und wird sich somit hüten Minoritäten einfach zu überstimmen, wenn er die Mehrheitsmeinung vertritt.24

4. Fazit

Man darf gespannt sein, ob sich die Staats- und Regierungschefs vor der nächsten Erweiterung zu einer umfassenden Reform der Entscheidungsmodalitäten im Rat der Europäischen durchringen können oder ob es nur zu einem faulen Kompromiß reicht. Im Moment jedenfalls sieht es nicht so aus, als ob die Mitgliedstaaten ihre Furcht vor einem solch schwerwiegenden Souveranitätsverlust fallen lassen können. Dies zeigten auch die langwierigen und insgesamt frustrierenden Verhandlungen über dieses Thema in Amsterdam 1997. Es bleibt somit abzuwarten, ob auch wirklich erkannt wird, in welchem Umfang Probleme auf die Union zukommen können, bei einer annähernden Verdoppelung der Mitgliedstaaten der EU.

Auch die vielen anderen Schwierigkeiten, wie die Frage der Finalität, die Ängste der Bürger und die vielfältigen (u. a. wirtschaftlichen) Grundpositionen lassen nicht gerade den Schluß zu, daß eine umfassende Neugestaltung der Institutionen, insbesondere des Ministerrates, zu erwarten ist.

[...]


1vgl. Stüwe, Klaus: Der Staatenbund als europäische Option. Föderative Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Vierteljahreszeitschrift, Heft 2/ 1999, S. 22ff.

2vgl. Thiel, Elke: Die Europäische Union. Von der Integration der Märkte zu gemeinsamen Politiken, 5., völlig neugest. Aufl., Opladen 1998, S. 79 - 81.

3 Maurer, Andreas: Die Institutionellen Reformen: Entscheidungseffizienz und Demokratie, in: Jopp, Matthias u. a. (Hrsg.): Die Europäische Union nach Amsterdam. Analysen und Stellungnahmen zum neuen EU-Vertrag, Bonn 1998.

4 vgl. Woyke, Wichard: Europäische Union: erfolgreiche Krisengemeinschaft. Einführung in Geschichte, Strukturen, Prozesse und Politiken, Wien 1998, S.116.

5vgl. Woyke, a.a.O., S. 118.

6 Vgl. Thiel, a.a.O., S. 79 - 81.

7vgl. Maurer, a.a.O., S. 52 - 53.

8 Engel, Christian: Rat der Europäischen Union, in: Weidenfeld, Werner/ Wessels, Wolfgang

9 vgl. Pöhle, Klaus: Hat die Europäische Union Bestand? Zur Fragwürdigkeit zweier Dogmen der Integrationspolitik, in: Integration, Nr. 4/ 1999. S. 235.

10vgl. Lehme, Stefan: Institutionenreform 2000, in: Integration, Nr. 4/ 1999.

11vgl. Oldag, Andreas: Größe XXL für Europa?, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. 12. 1999, S. 4.

12 vgl. Pöhle, a.a.O., S. 236.

13ebd., S.240.

14vgl. Deubner, Christian/ Janning, Josef: Zur Reform des Abstimmungsverfahrens im Rat der Europäischen Union: Überlegungen und Modellrechnungen, in: Integration, Nr. 3/ 1996.

15 vgl. Lehme, a.a.O., S. 225.

16 vgl. Stellungnahmen der Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten zum Vertrag von Amsterdam,

17vgl. Häckel, Erwin: Ideologie und Außenpolitik, in: Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 5. aktual. und erw. Aufl., Opladen 1993, S. 142ff.

18vgl. Jochimsen, Reimut: Europa 2000 - Herausforderungen für die EU nach dem Vertrag von Amsterdam, in: Integration, Nr. 1/ 98, S.1.

19vgl. Albrecht, Ulrich: Internationale Politik. Einführung in das System internationaler Herrschaft, 5. völlig neu bearb. und erw. Aufl., München 1999, S. 47ff.

20vgl. Stüwe, a.a.O., S. 22.

21 vgl. Lehme, a.a.O., S. 222.

22vgl. Riddell, Peter: Britain must decide where it stands on Europe now, in: The Times vom 16. 02. 2000, S.13.

23 Vgl. Deubner/ Janning, a.a.O., S. 149.

24 vgl. Scharpf, Fritz W.: Demokratieprobleme in der europäischen Mehrebenenpolitik, in: Merkel, Wolfgang/ Busch, Andreas (Hrsg.): Demokratie in Ost und West, Frankfurt a. M. 1999, S.679.

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Details

Titel
Sind die Mitgliedstaaten der EU reif für die Aufgabe des Einstimmigkeitszwangs innerhalb des Rates der EU?
Note
1.3
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V96582
ISBN (eBook)
9783638092586
Dateigröße
367 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
manche Argumente werden nur angerissen, die im Fazit noch eine Rolle spielen könnten
Schlagworte
Sind, Mitgliedstaaten, Aufgabe, Einstimmigkeitszwangs, Rates
Arbeit zitieren
Thomas Amshove (Autor:in), 2000, Sind die Mitgliedstaaten der EU reif für die Aufgabe des Einstimmigkeitszwangs innerhalb des Rates der EU?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96582

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