Makarenko. Menschenbild, Erziehungsziel, Methoden, Zielgruppe


Seminararbeit, 2000

11 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Menschenbild

3. Erziehungsziele
3.1 Kollektivismus
3.2 Patriotismus
3.3 Diszipliniertheit
3.4 Produktivität

4. Methode der kollektiven Erziehung
4.1 Explosionsmethode
4.2 Entwicklung von Perspektiven
4.3 Spiel
4.4 Abteilungs- und Kommandeursystem
4.5 Arbeit
4.6 Strafe
4.7 Körperliche Ertüchtigung - militärische Übungen und Auftreten
4.8 Theater

5. Beziehung

6. Zielgruppe

7. Anmerkungen

1. Einleitung

Um die pädagogische Sicht von Makarenko verstehen zu können, ist es notwendig die Zeitumstände darzustellen.

1920 lebten geschätzte 7 - 9 Millionen Kinder heimat- und obdachlos in der Sowjetunion, eine "be-sonders schwere soziale Hypothek - im Gefolge von Weltkrieg, Bürgerkrieg und Revolution."

War die Situation schon vor 1905 verheerend - so gab es unter den Zaren und Adligen noch bis 1861 die Leibeigenschaft - so war wohl die Lebenssituation nach der Revolution katastrophal. Innerhalb von 12 Jahren erlebte Rußland fünf (Bürger-)Kriege: Weite Landesteile in der Ukraine wurden verwüstet, viele Menschen wurden getötet oder starben an Mangel, Kinder verloren ihre Eltern und ihre Heimat . "Das Schicksal des Entwurzeltwerdens bedeutet [...] den Verlust der Sicherheit, des Gleichgewichts und des Fundaments alles sinnhaft geordneten Verhaltens zum Mitmenschen." Mord und Raub waren den Kindern durch die Geschehnisse wohl vertraut. So haben sie das Gelernte umgesetzt, "der ent-wurzelte Mensch, aller Sicherungen von außen beraubt, sieht sich ja auf Selbsthilfe angewiesen und sinkt dabei auf die primitive Form sozialen Daseins herab, auf das 'solitäre' Dasein. Der Aufbau der Persönlichkeit durch eine Ordnung des sozialen Verhaltens unterbleibt."

Im Jahr 1920, es war noch Krieg gegen Polen, Rußland erlebte eine der größten Hungersnöte, übernahm Makarenko den Aufbau und die Leitung einer Arbeitskolonie für minderjährige Rechtsbre-cher. Er trifft vor Ort eigentlich nur eine Ruine an, die er zusammen mit den Kindern wiederaufbaut. Es gab keine Barrieren wie Mauern oder Zäune. Die Kinder konnten sich frei bewegen. Es geschahen auch in der ersten Zeit, von der Kolonie aus, Verbrechen bis hin zum Mord.

Die meisten dieser Kinder waren vernachlässigt, verwildert und nicht für die Verwirklichung seines "sozialerzieherischen Wunschtraums geeignet." Anton Semjonowitsch Makarenko zerfloß nicht vor Sympathie und Mitleid mit diesen in die Gosse geworfenen Kindern, ihrem Leid und "furchtbaren seelischen Schäden," sondern ihm war klar, daß er "zu ihrer eigenen Rettung die Pflicht habe, unerbittlich streng, hart und fest zu sein." Makarenko entwickelte ein eigenes System aus Disziplin und Gruppenarbeit, indem er wie ein Mensch und "nicht wie ein Formalist" handelte. Weil er auch nicht überzeugt war "vom erzieherischen Wert der Arbeit als solcher", "schließlich war die Gorkij-Kolonie eine [reine] 'Arbeitskolonie'," beginnt er eigene Vorstellungen von Erziehung umzusetzen, die er bereits 1917 an einer Schule in Grundzügen entwickelt hat: "An die Stelle der individuellen Berufsberatung und Führung setzt Makarenko die kollektive Perspektive und schafft das ihr zugeordnete System einer kollektiven Lebensordnung." Er schuf die organisatorische Gliederung seiner Kolonie in Abteilungen mit Kommandeuren, ein System, das als Arbeitskollektiv seiner Vorstellung von der Disziplin als den Grundwert der Erziehung in glei-cher Weise entgegenkommt wie dem jugendlichen Bedürfnis nach Selbständigkeit, denn "sollen die Zöglinge ihr eigenes Leben leben, dann müssen sie auch die eigentlichen Herren im Hause sein." "Man muß sich dazu den unwahrscheinlichen Mangel an Gebrauchsgütern im Rußland der zwanziger Jahre vorstellen, und die Lumpen, mit denen die Verwahrlosten bekleidet waren. Schon eine Uniform, wenn sie nur aus einem weißen Hemd und Turnhosen bestand, erst recht eine 'mit weißem Kragen', erweckte eine freudige Stimmung."

2. Das Menschenbild Makarenkos:

Bei Makarenko sind meines Erachtens nicht nur ein Menschenbild zu finden, sondern mehrere, die sich zum Teil widersprechen. Ob dies durch Änderung im Wesen seiner Person bedingt ist oder durch die Zeitumstände zu erklären ist, mit denen er auch im Widerspruch stand, würde hier zu weit führen.

Für Makarenko ist der Mensch ein Rohstoff, der formbar ist, als Produkt der Gesellschaft, beliebig wieder umformbar, wenn das Alte hinter sich gelassen wird, die Vergangenheit abgeschlossen ist. Das Verbrennen der Akten der Zöglinge, später das öffentliche Verbrennen der Kleidung ist ein Zeichen, das Alte abzulegen, um "ihn umzuerziehen, das heißt so erziehen, daß er nicht bloß ein unschädliches und ungefährliches Mitglied der Gesellschaft wird, sondern ein tätiger Mensch, der aktiv am Aufbau der neuen Epoche mitwirkt." "Die Vergangenheit müsse vergessen werden, und es hieße jetzt immer nur vorwärts, immer vorwärts gehen...!" Alle Menschen hätten von Natur aus die "ungefähr die gleichen Arbeitsanlagen," "im Leben aber die einen besser, die anderen schlechter Arbeiten, die einen nur zu einfachsten Arbeiten, die anderen zu komplizierter und somit zu wertvoller Arbeit fähig sind. Diese unterschiedlichen Arbeitseigenschaften sind dem Mensch nicht von Natur aus gegeben, sie werden im Laufe seines Lebens, besonders in der Jugend, anerzogen."

Bei Makarenko ist das Verhalten nicht angeboren, sondern erlernt.

Der "Mensch [ist] viel Klüger als die Natur, wieviel höher er steht," also ist er zwar Teil der Natur, doch er steht darüber.

Makarenko glaubt nicht an die Beständigkeit eines guten Wesens, wenn der Mensch in eine schlechte Umgebung kommt. Er ist somit Formbar.

Also bestimmt die Umwelt das Wesen des Menschen. "Zu mir kamen unglückliche Menschen, denen das Leben unter den früheren Verhältnissen schwergefallen war. Ich glaube nicht daran, daß es moralisch defekte Menschen gibt. Man braucht einen Menschen nur in normale Lebensbedingungen zu versetzen, man braucht nur bestimmte Forderungen an ihn zu stellen und ihm nur die Möglichkeit zu geben, diese Forderung zu erfüllen, dann wird er ein Mensch wie wir alle, ein vollwertiger Mensch, ein normaler Mensch."

Er war überzeugt, daß eine gute Umgebung, eben sein Kollektiv, einen guten Menschen hervor- bringt.

Im allgemeinen hält er viel von der Brüderlichkeit, der Kameradschaft, klagt über den Verlust der ihn liebgewonnenen Menschen, als Zöglinge zur Arbeiterfakultät gehen, schreibt andererseits, daß der Mensch in Beziehungen austauschbar sei.

Im Menschenbild von Makarenko hat die Arbeit einen hohen Stellenwert, da das Leben danach ausgerichtet ist. Er spricht von der "Schönheit der Arbeit in einem freien Kollektiv," und der Mensch wird erst zum Mensch durch die Arbeit. Er untermauert deren Wert fürs persönliche Leben, für die Bindungen und den Wert der Person an sich. Er reduziert die Person m. E. auf ein produzierendes Element.

Die Interessen des Einzelnen müssen gegenüber den Interessen des Kollektivs zurücktreten. Dies gilt auch für die Kinder. Denn wenn es dem Kollektiv wohl geht, dann geht es nach seiner Vorstellung auch allen Mitgliedern des Kollektivs gut.

Das Zurückstecken werde von den Kindern "keineswegs als Opfer empfunden," sondern er beschreibt es als "Genuß", der bereichert. Bei ihm ist das Kind nicht der Mittelpunkt der Welt, wie es bei anderen Pädagogen ist.

Makarenko ist antireligiös, scheint darin sehr intolerant zu sein, akzeptiert keine andere Lebensauffassung. Religiöse Sitten und Gebräuche werden in der Kolonie unterbunden. Gegen besitzende Großbauern äußert er sich richtiggehend feindselig, läßt seinen Protagonisten zum Kampf gegen die Kulaken aufrufen, was mich besonders nachdenklich macht, denn in den folgenden Jahren kommt es unter Stalin zum Genozid gegen Minderheiten. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ihm selbstverständlich, der erste Delinquent, der die Kolonie verließ um zu studieren, war eine Frau.

Die Jungen hätten "zäh und mutig" zu sein, "keine Gefahren fürchten, noch weniger körperliche Schmerzen." "Ein Mensch muß Selbstachtung besitzen, stark und stolz sein."

3. Erziehungsziele:

Die Erziehungsziele bei Makarenko entspringen der sozialistische Idee. Sie sollen ein zufriedenen, neuen Menschen schaffen, der ein produktives Mitglied der neu erstandenen Sowjetunion ist. Dieser Mensch ist Mitglied einer Gemeinschaft, dem Kollektiv. Die Zöglinge in der Anstalt bilden mit ihrem Kollektiv ein Teil des großen Kollektiv 'sozialistischer Staat', in dem jeder nach seinem besten können zum Wohle aller wirtschaftlich, kulturell und persönlich beiträgt.

Die Erziehungsziele ergänzen und überlagern sich zueinander:

3.1 Kollektivismus

Die sozialistische Gesellschaft, deren glühender Anhänger Makarenko war, - meiner Meinung nach ob der Zeitumstände aufgrund seiner Menschenliebe sein mußte - fußte auf dem Prinzip der Kollektivität, anders beschrieben als "Kooperation". "In ihr darf es keine isolierte Persönlichkeit geben, die bald wie ein Pickel hervorspringt, bald zu Straßenstaub zerkleinert wird, sondern nur das Mitglied eines sozialistischen Kollektivs."

Daraus ergibt sich das Interesse des Einzelnen der Anordnungen des Kollektiv unterliegt, "der Unter-ordnung unter der Mehrheit, der Unterordnung des Kameraden unter den Kameraden." "Das Erzie-hungsziel gilt als erreicht, wenn ein Mensch nicht von der primitivsten, sondern von der letzten Per-spektive einen derartigen Antrieb erhält, daß die kollektiven zu persönlichen Perspektiven werden."

Das Ziel ist, das die Ziele der Allgemeinheit zu individuellen Zielen werden.

3.2 Patriotismus

Froese beschreibt, daß Makarenko das allgemeine sozialistische Ziel, Mitglied im Sowjetstaat zu sein, eben ein kleiner Teil dessen, zu einem "Heimpatriotismus" ausnutzte. Die Ehre und das Wohlergehen des ganzen sowjetischen Volkes liegt in der Hand jedes Einzelnen. Jeder ist für diese Ehre verantwort-lich. Dies geschieht bereits im kleinsten, persönlichen Rahmen, eben für die Abteilung, im übergeord-neten Rahmen, für die Kolonie, eben das Heim. Auch solle für einen junge Mann der "erhabenste Beruf [...] Kämpfer und Mensch" sein, der furchtlos, für das Wohlergehen des Volkes, Landes, der Gemeinschaft unerschrocken dienlich ist.

3.3 Diszipliniertheit

Aus dem Patriotismus ist auch die "Ordnungsliebe" mit abzuleiten. "Das Kollektiv ist ein Teil der Sowjetgesellschaft. [...] Auf ihm lastet die erste Verantwortung vor der Gesellschaft. Es trägt die erste Pflicht vor dem ganzen Land."

Aus dieser Diszipliniertheit, und dem Kollektiv, geht ein "guter und ehrlicher Mensch" hervor, der "nicht nur für sein eigenes Verhalten, sondern auch für das seiner Kameraden verantwortlich ist." Auch ist für ihn die "Disziplin nicht Ursache, nicht Methode, nicht Mittel einer richtigen Erziehung, sondern ihr Ergebnis."

Wenn die Disziplin fehlt, bleibt der Mensch in seiner Entwicklung stehen, sei faul und sind unselbständig.

3.4 Produktivität

"Unser Staat ist ein Staat der Werktätigen, in unserer Verfassung stehen die Worte: 'Wer nicht arbei-tet, soll auch nicht essen.'"

"Das Kollektiv vereinigt Menschen nicht nur zu einem gemeinsamen Ziel und zur gemeinsamen Arbeit, sondern zur gemeinsamen Organisierung dieser Arbeit."

Dazu benötigt das Kollektiv einen "abgehärteten, kräftigen Menschen, der auch unangenehme und langweilige Arbeit verrichten kann."

Es stand wohl in der Gorkij-Kolonie noch ein anders Ziel der Arbeit: für "'Arbeitsamkeit' stand still-schweigend eine andere Devise Pate als bei der Produktivitätsnorm 'Müßiggang ist aller Laster Anfang'. Praktisches, konkretes Tun, vor allem die manuelle Arbeit, vermittelt nach Auffassung Makaren-kos ein Selbstwertgefühl und entwickelt ein Selbstbewußtsein (Ich habe das getan!)."

"Die Arbeit hat nicht nur einen Wert in der gesellschaftlichen Produktion, sondern ist auch im persönlichen Leben von großer Bedeutung." Eine Innere Befriedigung des Einzelnen ist die Folge.

4. Methode der kollektiven Erziehung

"Pestalozzi, Rousseau, Natrop, Blonskij! Wieviel Bücher, wieviel Papier, wieviel Ruhm! Und dabei völlige Leere. Nichts! Nicht einmal mit einem Rowdy kann man fertig werden, keine Methode, kein Werkzeug, keine Logik - einfach nichts." Dies wetterte Makarenko gegen die Theorien, als er vor dem Problem des gewaltsamen Antisemitismus in der Kolonie steht und eine praktikable Lösung sucht.

Makarenko bezog und stützte die Erziehung seiner Jugendlichen und jungen Erwachsenen hauptsäch-lich auf das Kollektiv, der Gemeinschaft der Jugendlichen untereinander. "Niemand, weder ich noch ein anderer Pädagoge, kann durch Reden erreichen, was ein richtig organisiertes, selbstbewußtes Kollektiv leisten kann."

Für Makarenko ist das Kollektiv "zunächst einmal eine überschaubare pädagogische Größe, eine Gruppe mit eigener Struktur und Dynamik, in der jeder jeden kennt und zur Verantwortung heran-ziehen kann."

Die Anfänge des Kollektivs beschreibt er so, daß in der Anfangszeit, als noch Hunger im Lager war, auch die Erzieher hatten offenbar nichts zum Essen, ein paar Kinder eigenmächtig Fische angelten. Irgendwann boten sie Makarenko freundlich einen an. Er lehnte den Fisch ab, weil dieser ohne das Wissen aller heimlich gegessen wurde. Zur Zubereitung aber das Fett und das Geschirr usw. der Kolonie benutzt wurde, also das Eigentum aller. Die nichts von dem Fisch abbekommen haben wurden auch noch um ihr Allgemeingut gebracht, also bestohlen. Es wurde folglich der Reihe herum jeder am Fang mit eingesetzt und beteiligt. Der gemeinsame Kampf gegen Holzdiebe schweißt die Gemein-schaft noch mehr zusammen. "Nicht moralische Reden, Überzeugungen und Zornesausbrüche, son-dern dieser interessante und auch wirklich sachliche Kampf waren die ersten Keime kollektiven Gei-stes."

Die Gorkijer erzogen sich gegenseitig, "die Erziehung des Kollektivs durch das Kollektiv."

Dies erfolgte durch die "Selbstverwaltung, die nicht nur auf Wahl, sondern auch auf Ernennung be-ruht. [ ] (die Ernennung erfolgte nicht durch den Leiter, sondern durch das Organ der Selbstver-waltung)." Das Organ war der Rat der Kommandeure, der kurzfristig einberufen werden kann. Er entscheidet über Vorgänge in der Kolonie und Organisation der Dienste, hält bei kleineren Vergehen Gericht. Schwerwiegende Entscheidungen oder gravierende Verstöße werden vor einer Vollversamm-lung behandelt. Auch Makarenko und die Erzieher hielten sich an die Entscheidungen, ja sie arbei-teten sogar in den Einsatzgruppen mit und unterstellten sich dem ernannten Einsatzleiter.

Die älteren gaben ihre Lehnerfahrungen an die jüngeren weiter. Nicht von Makarenko oder den Erziehern wird erzogen, sondern die Jugendlichen erziehen sich selbst.

"Die Erziehung des Einzelnen soll sich nicht isoliert, vielmehr stets im Gruppenverband vollziehen. Diese Gruppe mit ihren eigenen Mechanismen sorgt dafür, daß der einzelne zu einem 'kooperativen Verhalten kommt - und liefen dessen persönliche Interessen dem noch so sehr zuwider."

Nebenbei entsteht langsam ein System aus "Entdeckungen, Traditionen und Einrichtungen" , die gesammelten Erfahrungen und Gewohnheiten der älteren Kolonisten darstellen und fortführen. Dies sind die eigensten Erfahrungen der Kolonie und erzeugen ein kollektives, gemeinsames "Wir-Bewußt-sein" der Gorkijer.

Zum Beispiel prüfte Makarenko jeden Morgen die Zöglinge. Als ihm das nicht mehr möglich war, übertrug er dies an die Kommandeure, die auch folglich Strafen verhängen durften, also Befugnisse des Leiters innehatten. Für neue Zöglinge war es nicht mehr nachvollziehbar, wie dies entstanden war, sie übernahmen diese Tradition.

Die Tradition übernimmt die Rolle eines Erziehers, da dadurch Ordnung und Kontinuität geschaffen wird. Sind noch keine Traditionen da, muß ein Erzieher einschreiten und zwang ausüben.

Die Sauberkeit wurde zu solch einer Tradition, auf die alle gegenseitig Achteten. Es war zum Beispiel untersagt auf den Boden zu spucken. Bevor die Sauberkeit sich als Tradition verfestigt hatte, wurde genauso oberflächlich gearbeitet wie die Werte und Normen angenommen wurden; der Dreck wurde nur in die Ecke gekehrt. Später achteten die erfahrenen Kolonisten darauf, daß sich alle dies zu eigen machten.

Die Traditionen und Einrichtungen wurden von den Zöglingen schriftlich festgehalten und als "Tagesbefehle" und Gesetze deklariert, an die alle gebunden waren.

Damit diese Gemeinschaft entstehen konnte, benutzte er weitere vielfältige Methoden, die als einzelne bereits eine Methode für sich sind, die sehr kreativ eingesetzt wurden. Um die Wirkung der Kollektiv-methode als Ganzes zu verstehen, muß man m. E. all seine einzelnen Methoden mit betrachten, denn erst in ihrer Komplexität, wie sie ineinander übergreifen, um dann die Gemeinschaft mit dem "Wir-Gefühl", der Identität des Kollektivs, der Verantwortung, die der Einzelne und das Gesamtsystem erzeugen, führten zu den Erfolgen der Konditionierung der Schwererziehbaren. Darum gehe ich hier, zumindest kurz, auf die mir wichtig erscheinenden ein:

4.1 Explosionsmethode

Die wohl eigentümlichste Erziehungsmethode bei Makarenko dürfte wohl die Explosionsmethode sein. Es wird immer auf das erste, mir spontan wirkende, Zusammenschlagen eines Zöglings verwiesen; meines Erachtens sollte dies auch so betrachtet werden, daß dies auch die Funktion des Erringen eines Führungsanspruches, vergleichbar eines ?-Wolfes in der Zoologie, hatte.

Oder die Angst der Zöglinge um ihren Leiter, als er den Eindruck der persönlichen Verzweiflung hin-terließ und sie um sein Leben fürchteten. Hier spielt m. E. Authentizität eine nicht zu unter-schätzende Rolle, die Echtheit der Gefühle gegenüber den Zöglingen, "mit unverstellter Wut," die solcherart in ihrem Leben noch nicht auf ihre Person bezogen erlebt haben dürften.

Eindrucksvolle geplante Erschütterungen waren wohl mehr solcherart, als die dritte Kolonie im 'Ein pädagogisches Poem' übernommen wurde. Die neuen Kinder wurden einfach geschoren und gewa-schen. So wurden sie aus ihren Verwahrlosung, dem Trott, der Gewohnheit, herausgerissen und in die Reihe der Gorkijer, in das Kollektiv, eingereiht. Richtig Planvoll eingesetzt wurde diese Explosions-methode später in 'Flaggen auf den Türmen' beschrieben, als auf einen Schlag 150 Neulinge aufge-nommen wurden, die extra von einer Einsatzgruppe aus den Zügen am Bahnhof geholt wurden. Da wurde zusätzlich noch der Bruch mit der Vergangenheit so radikal vollzogen, daß die Kleidung der neuen Zöglinge öffentlich verbrannt wurde. Makarenko selbst sagt dazu: "Ich scheue das Risiko nicht und weiß, daß eine Veränderung der Umgebung sehr nützlich ist, daß es manchmal gut ist, wenn man Erschütterungen erlebt." "Die Verwunderungsmethode wird den gewünschten Erfolg nur zeigen, wenn sie selten angewandt wird."

4.2 Entwicklung von Perspektiven

Das System der Perspektiven hat bei der Erziehung "erstaunliche Erfolge [...] erzielt." Es ist die Entwicklung von Plänen, Zielen, auch wenn sie noch so weit weg sind; ob das nun Kühe sind, die die Kolonie haben könnte, oder der Gang zu Arbeiterfakultät und Studium. "Bei uns [muß] das Kinder-kollektiv unbedingt wachsen und reicher werden, daß es eine bessere Zukunft vor sich sehen muß und ihr in freudiger gemeinsamer Anstrengung, in beharrlichen, frohen Träumen entgegenstrebt." Er fordert bei der Verwaltung: "Geben Sie uns etwas Großes, damit uns vor Arbeit schwindelig wird." Denn eine zentrale Aussage ist wohl: "Die Daseinsform eines Kollektivs freier Menschen ist Fortschritt, die Form des Todes dagegen - Stillstand."

Es gibt zwei Möglichkeiten für Makarenko Perspektiven zu schaffen: über persönliche Interessen; Makarenko befürwortete die Ausbezahlung eines Arbeitslohnes und trat für ein Taschengeld in der Familienerziehung ein.

Der andere Weg war die Schaffung von kollektiven Perspektiven: kollektive sollten zu persönlichen Interessen werden. In der nahen Perspektive die Freude zur Arbeit z. B., mittleren Perspektive z. B. die Feste im Kollektiv oder der Abschuß des Schuljahres, die weitere Perspektive die allgemeine Zu-kunft der Kolonie.

"Jeder Mißerfolg in der Erziehung hängt mit der Schwäche und Unklarheit der Perspektive zusammen, weil dann weder gute Arbeit noch Disziplin erzielt werden kann."

4.3 Spiel

"'Ein Kinderkollektiv, das nicht spielt, kann kein wirkliches Kinderkollektiv sein.'"

Makarenko meinte nicht, das dann extra Spielstunden abgehalten werden, etwa Fußball gespielt, "sondern er möchte, daß die Kinder in jedem Augenblick ihres Lebens ein wenig spielen." Bereits im Spiel würde die Anlage für spätere Arbeitsleistung gewonnen, "gutes Spiel ähnelt guter Arbeit, schlechtes Spielen schlechter Arbeit," denn "jedes gute Spiel bringt vor allem Arbeitsanstrengung und Anstrengung des Denken mit sich." Und so würde das qualifizierte, dauerhafte und disziplinierte Arbeiten gelernt. Das Spiel der Kinder unterteilte Makarenko in drei Altersstufen: bis ca. sechs Jahren "die Zeit des spielen im Zimmer, die zeit des Spielzeugs." Es spielt hauptsächlich alleine, ja kann sogar nicht in einer Gruppe spielen, und entwickelt Phantasie, konstruktive Fertigkeiten, Fertigkeiten der materiellen Organisation." Von sechs bis zwölf Jahren kommt den ein "steigendes Interesse des Kindes an Bewegungspielen im Freien". Sie treten in ein größeres Umfeld, spielen mit anderen. Ab den zwölf-ten Lebensjahr, der Einfluß der Schule nehme zu, ist das Kind bereits Mitglied eines Kollektives wie Sportverein, es lernt in den kollektiven Formen Regeln und Disziplin. Ein Spiel in der Kolonie ist augenfällig: 'Dieb und Denunziant'. Es werden Rollen für Dieb, Polizei, Henker, Richter usw. vergeben. Der entdeckte Dieb bekommt Schläge auf die Hand. Dabei werden die Rollen immer wieder vertauscht, so daß jeder an der Rolle ist zu strafen und bestraft zu werden. Die Kinder lernen dabei so gerecht zu den anderen zu sein, wie sie selbst gerne behandelt werden wür-den. Makarenko beschreibt, daß seine Hand des öfteren angeschwollen war nach einem Spieleabend. Führen und sich Unterorden ist das Prinzip. Und es erinnert an das Motto, 'tue anderen nicht an, was Dir nicht angetan werden soll.'

4.4 Abteilungs- und Kommandeursystem

Die Zöglinge wurden in Gruppen aufgeteilt, in Abteilungen, die verschieden Werkstätten oder Aufga-ben zugeordnet waren, zum Beispiel Schmiede, zur Holzbeschaffung usw. Die Abteilungen wurden von Kommandeuren geleitet, die besonders verdienstvolle, meist langjährige Kolonisten waren.

Als mit der Übernahme der Landwirtschaft saisonal so viel Arbeit anfiel, das dies von einer Abteilung nicht mehr zu schaffen war, machten sie "die wichtigste Erfindung unseres Kollektivs in den dreizehn Jahren unserer Geschichte:" die Einsatzabteilungen. "Das System der Einsatzabteilungen bringt Spannung und Abwechslung in das Leben des Kollektivs durch den ständigen Wechsel von Arbeits- und Organisationsaufgaben; es schafft darüber hinaus im Wechsel von Leiden und Sichunterordnen, durch die Wechselwirkungen der kollektiven und der persönlichen Interessen ein verflochtenes Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten, bei welchem es dem einzelnen möglich wird, sich eine echte Wertschätzung zu erwerben."

Jeder konnte Einsatzkommandeur werden: selbst bei zwei Leuten, die eine Aufgabe zu erfüllen hatten, wurde einer zum Verantwortlichen ernannt, mußte am Ende Bericht erstatten. Für jeden Dienst wurde ein anderer ernannt, maximal eine Woche. Dadurch konnte sich "keine erstarrten Herrschaftsmechanismen herausbilden." So lernte jeder sich sowohl unterzuordnen als auch zu führen und organisieren. Auch die Kommandeure der Gruppe mußten sich den Einsatzkommandeuren fügen. So entstanden keine fest gefügte Machtstruktur, keiner hatte irgendwelche Privilegien. Da bei den Arbeitseinsätzen auch die Erzieher bisweilen mitarbeiteten, auch Makarenko, gab es da keine Hierarchie.

Die Kommandeure waren genauso für die Gruppe verantwortlich wie für das Arbeitsgerät, die Arbeitsleistung und Qualität bei der Ausführung. So gab es einen konkreten Ansprechpartner, die Verantwortung konnte nicht einfach verschoben werden oder sich niemand zuständig fühlen.

Der hauptsächliche Einfluß Makarenkos auf die Kolonie war indirekt und beruhte darauf, daß er die Kommandeure der Kompanien ernannte. "Er ist nicht mehr der Diktator, der der Kolonie seine Forderungen vorschreibt - aber er ist der verborgene Leiter aller Bewegungen im Kollektiv, dessen Forderungen von den Organen des Kollektivs als eigene übernommen und beim ganzen Kollektiv durch-gesetzt werden."

4.5 Arbeit

Die gemeinsame Arbeit, Planung und Durchführung, verbindet die Kolonisten ungemein.

Jeder trägt die Verantwortung. Bei Nichtgelingen droht eine Krise, ja man ist davon existentiell abhängig, denn die Kolonie muß sich in der allgemeinen wirtschaftlichen Krise weitestgehend selbst versorgen, um nicht Mangel zu leiden. Das schafft Verantwortung. Die Zöglinge finden "in und an der Arbeit innere Befriedigung. " Sie haben Freude bei der Arbeit und gewinnen an Selbstsicherheit.

Auf den Aspekt der Arbeit wird häufig einseitig eingegangen. Der Tag bestand aus vier Stunden Arbeit und vier Stunden Schule. Auch sie muß gut gewesen sein, denn Kolonisten schafften die Aufnahme auf die weiterführende Schule und Studium.

4.6 Strafe

"Ohne Strafe kann ich nicht erziehen, diese Kunst muß man mir erst beibringen."

Makarenko erteilte später in der Kolonie selbst keine Strafen, außer Arrest, der bei ihm im Arbeitszimmer abgesessen werden mußte. Er delegierte diese Befugnis an das Kollektiv: der Rat der Kommandeure und die Vollversammlung vergaben Strafen, zum Teil festgelegt in Gesetzen, z. B. für Bodenspucken 3 Tage Hofkehren, zum Teil nach individuellem Fall, zum Beispiel wurde jemand durch Umgangsverbot isoliert, der der Kolonie geschadet hat, um ihn seine Zugehörigkeit bewußt zu machen. Die Strafe ist nur wirksam, wenn sie aus der Gesellschaft ausschließt, darum werden neue, die 'Wilden', nicht bestraft, maximal einen Strafdienst, wie Hofkehren, da sie die Regeln noch nicht kennen. Die Neuen sind noch nicht als Teil der Gemeinschaft, fühlen nicht mit dem Kollektiv, sie haben nicht die Kennt-nisse und das Ansehen, die Ehre, welche den Rang eines verdienstvollen Kolonisten innewohnt. Nur Kolonisten, die ernannte werden, und besonders die Kommandeure, erfahren Strafen.

4.7 Körperliche Ertüchtigung - militärischeÜbungen und Auftreten

Makarenko führte einen millitärähnlichen Drill ein, um körperliche Übungen durchzuführen. Er beob-achtete, daß dadurch die körperliche Haltung nicht mehr so lax war, die Personen Sicherer auftraten, Disziplin angenommen wurde. Bald folgte einheitliche Kleidung: im Sommer kurze (Turn-)Hose und weißes T-Shirt würde es wohl heute bezeichnet. M. E. war das Einkleiden damals eine Zeiter-scheinung, denn in Deutschland war 'Marinemode' angesagt.

Das gleiche Auftreten stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl auch nach außen hin. Er selbst sah es auch unter "ästhetische Ordnung, die die Bedeutung der Bewegung des Gesamtkollektivs unter-streicht, also das, was man hinsichtlich der M.-Gor'kij-Kolonie aus irgendeinem Grunde »Militarisie-rung« (Salut, Fahnen, Musik-Kapelle) nennt

4.8 Theater

In der Kolonie wurden sehr viele Theateraufführungen gezeigt. Außer, daß damit die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften gebildet wurden, erwarben sich die Zöglinge eben Bildung, Sprachfertig-keit und selbstsicheres Auftreten. Offenbar war an den Aufführungen die ganze Kolonie beteiligt. Die Kinder zeigten eine große Begeisterung in einer extra geschaffenen Einsatzabteilung viel persön-lichen Einsatz. Durch die Aufführungen sahen sie wohl, daß sie gemeinsam beachtliches zustande brachten, zumal wöchentlich ein anderes Stück aufgeführt wurde

5. Beziehungen

Makarenko vertrat "konsequent das Prinzip der Erziehung in der Gruppe". Die Erziehung erfolgte in den Abteilungen und den Einsatzkompanien, und dazu noch durch gleichaltrige Jugendlichen. Heute nimmt man dazu den Begriff 'Peer-Group', in der jedes Mitglied in einer ähnlichen Situation ist. Die Gruppen waren gemischt. Neue, "Wilde", wurden unter der Obhut erfahrener Kolonisten gestellt , aber halt nur eben erfahrener. Die neuen, "der Sumpf" , lernen von den Kolonisten und von den Komman-deuren. Makarenko nennt dies "parallelen pädagogischen Einwirkung" , im Gegensatz zu "paarhaften Bezug", der einem Lehrer-Schüler- Bindung gleicht.

"Diese Gruppe mit Ihren eigenen Mechanismen sorgt dafür, daß der einzelne zu einem 'kooperativen Verhalten' kommt - und liefen seine persönlichen Interessen dem noch so zuwider." Nur so ist es nach Makarenkos Auffassung möglich, "das Meisterstück zu vollbringen [...], asoziale junge Menschen nicht allein zu produktiven Mitgliedern einer Gesellschaft zu machen, sondern diese [Anm. die Gesellschaft] aus vollen Herzen bejahen zu lassen." Makarenko tritt nur noch nach außen hin als Leiter der Kolonie auf, nach innen organisiert sich das Kollektiv selbst. Er greift nur wenig direkt ein, so bei der Ernennung von Kommandeuren oder bei der Verhängung von Arrest, sein Einfluß ist mehr indirekt spürbar durch die Form, den Aufbau der Organi-sation.

Die Kolonisten zeigten untereinander eine mehr oder weniger rauhe, aber meist herzliche "Kamerad-schaftlichkeit" , die aus dem gemeinsamen Arbeiten und Leben erwuchs. Die älteren Zöglinge hätten die kleineren geliebt und "stets wie jüngere Brüder behandelt, liebevoll, streng und fürsorglich."

6. Zielgruppe

In der Gorkij-Kolonie waren hauptsächlich verwahrloste zum großen Teil straffällig gewordene Jugendliche und junge Erwachsene beiderlei Geschlechts. Mädchen waren aber die Minderheit. Die Kinder waren in einem Alter von zehn bis ca. 20 Jahren. Viele hatten langjährige Erfahrungen mit dem Leben auf der Straße. Sie mußten sich von Bettelei, Diebstahl, Einbrüchen bis zum Raub ernähren. Bei den Mädchen kam offenbar auch Prostitution vor. Ein allgemeines Mittel für jeden Zögling war die Kolonie nicht. Makarenko mußte die aggressivsten Fälle abgeben.

Später, nachdem er nur noch schriftstellerisch Tätig sein konnte, übertrug er seine Erziehungsmethode in die Familie, die er ebenso als Kollektiv verstand.

7. Resümee/Anmerkungen

Die Hauptkritik an dem Erziehungssystem von Makarenko dürfte die Vernachlässigung des Individuums sein. Das Kollektiv steht über allem. Oder wie Dietrich formuliert: "Die Arbeit ist das Mittel zur Erziehung des kollektiven Menschen. Das ist ihr politisch- gesellschaftlicher Charakter. Die Erziehung als Ganzes geschieht im Kollektiv und durch das Kollektiv [Anm. Makarenko]. Das Wesen des Kollektivs besteht aus [seinem] Gruppencharakter; der Einzelperson wird keine Indivi-dualität zugebilligt. Das Kollektiv ist das Primäre, das Ganze, die Einheit, von dem der einzelne, das Glied, der Teil abgeleitet ist. Die Person geht im Kollektiv unter."

Die "'Persönlichkeit' - ein von Makarenko häufig genutzter Begriff - ist immer >kollektive Persönlichkeit<, d.h. sie vertritt die Interessen des Kollektivs. Zwar behauptet Makarenko wiederholt, daß nur die sozialistische Gesellschaft und somit auch das Kollektiv der Persönlichkeit 'eine bis dahin unerhörte Freiheit' gewährleistet. Aber 'die Freiheit des Bürgers in einer vollendeten Gesellschaft' bestimmt eben das Kollektiv der Partei der Bolschewiki." Wer außerhalb des Kollektives steht, weil er sich mit diesem nicht identifizieren kann, sei "'einsam' und >erleide< ein 'isoliertes persönliches Schicksal'."

Trotz aller Kritik bei Dietrich, einem Buch auf der Höhe des 'Kalten Krieges' geschrieben, erkennt er an, daß Makarenko es richtig erkennt, "daß der Mensch sein Leben auf die Zukunft ausrichten und sich Ziele setzen muß, die er nach Kräften verfolgen muß."

Der Sozialismus scheiterte, weil u. a. offenbar das Individuum nicht beachtet wurde, denn "man müsse die persönlichen Wünsche und Interessen möglichst stark einschränken, um sie den gesellschaftlichen unterzuordnen. Marx habe aber bereits eine derartige Überlegung als 'ahistorisch, ab-strakt, das reale Leben und die konkreten Menschen nicht berücksichtigend' abgelehnt."

Es wird immer wieder betont, auch in Diskussionen unter Studenten, daß der Mensch bei dieser radikalen Umerziehung mehr oder weniger gewaltsam eine neue Persönlichkeit entwickelt. Das ihm eigene würde verschwinden. Es ist nichts einzuwenden, wenn sich schillernde, eigenwillige Charaktere entwickeln, soweit dann die Betroffenen damit zufrieden sind. Oftmals ist es aber nicht so. Die Sinnsuche im Leben läßt sie straucheln, Ersatzziele werden notwendig, Frustrationen im Rausch er-drückt, Konsumwünsche läßt die Menschen in Konflikt mit dem Gesetz kommen, öffentliche Hilfe wird beansprucht. Die Erziehung in unserem Gesellschaftssystem zielt eben auf eine "eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit" ab.

Meines Erachtens war es damals der richtige Weg von Makarenko, diesen vom Schicksal gebeutelten und abgehärteten jungen Menschen einen Sinn zu geben, wenn er mit Härte, aber Gerechtigkeit, sie einem neuen Lebenssinn unterwarf. Die Erfolge waren nicht zu verkennen. Als er noch in der Leitung der Kolonie war, gingen seine ersten Kolonisten gar auf die Universität! Daß Härte und eine "Explosionspädagogik" Sinn macht, erlebte ich in meinem Praktikum bei der Bewährungshilfe: Jugendliche wurden mit Ermahnungen von Richtern und "rührselige Pädagogen" überschüttet. Ich hatte auch den Eindruck, die Delinquenten begegneten den "eindringlichen sozialer-zieherischen Vorhaltungen mit verhaltenem Lächeln." Es passierte nichts, was sie beeinflußte. Sie erlebten keine Sanktionen, den Hintergrund einer Bewährungsstrafe konnten sie nur partiell überblic-ken. Nur Aufmerksamkeit um ihre Person erlebten sie im Vorfeld und im Prozeßgeschehen. Eine Erschütterung war für sie meist erst der Arrest oder gar die Haft - die oft erst ein Jahr nach einer erneuten Tat erfolgte und sie sich dann mehr als Opfer sahen, da das andere schon wieder in Verges-senheit geriet. Dann war es oftmals schon ein 'wachrütteln' diese Inhaftierung - da sie dann aus ihren Leben, wel-ches sich oft genug auf der Straße, Kneipen und Kaufhäusern abspielte, da sie den Schulen nicht tragbar waren, gerissen wurden. Der Trott wurde durchbrochen. Diese Erschütterung, der Einschnitt, bestätigten mir Probanden, tat gut, sie kamen zur Ruhe und zum Nachdenken über sich und ihre Lage.

Die "Kommandeurspädagogik" erlebte ich selbst in einer Suchtklinik: die ca. 100 Patienten waren in überschaubare Gruppen zu je 15 aufgeteilt. Aus jeder Gruppe wurde ein Sprecher ernannt, der z. B. über die Anwesenheit kontrollierte. Falls ein Mitglied fehlte, weil es verschlafen hatte, mußte die gesamte Gemeinschaft mit dem Morgensport warten, bis der Säumige erschienen war. Der Druck der Gruppe deutlich spürbar. Es wurde in kurzer Zeit Disziplin erlernt. Ein weiterer Faktor war ein Ehrge-fühl. Wenn sich in einer Gruppe Fehltritte häuften, dann war die Gruppe von der Gesamtgemeinschaft geringschätzig behandelt. So waren hinreichend Gründe da, um in der Gruppe das Problem des ein-zelnen zu bearbeiten. In der Fehlenden Ordnung steckte meist versteckt eine Auflehnung und Sucht-problematik. Selbstverantwortung und Verantwortung gegenüber Mitmenschen wurden so sehr drastisch erlernt. Weiterhin ist das Training von Selbstdisziplin sehr wichtig, damit in Suchtsituationen darin ein Halt gefunden werden kann.

Doch wohin soll das Gegenteil führen?

Individualismus nagt an unserem Staat, das Sozialsystem ist ins Wanken gekommen.

Meines Erachtens wäre es überlegenswert, die ideologisch besetzten und beschränkten Begriffe wie 'Kollektiv' und 'Brigade' mal außer Acht zu lassen und 'Gemeinschaft', 'gesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung', 'Gruppe' und 'Gruppendynamik' für derlei pädagogische Ansätze zu benutzen. Ich denke, es steckt viel nutzbares Potential dahinter.

In unserem Staat werden immer mehr Rücksichten auf Einzelne genommen. Oberflächlich betrachtet begrüßenswert. Es zeigen sich inzwischen aber auch negative Auswirkungen. Jeder kann gerichtlich fordern, daß die Mehrheit seinen (Nicht-) Glauben nicht nur zu tolerieren hat, sondern den anderen die Ausübung hindert, weil es seiner Individualität stört, wie es beim Kruzifixurteil zu sehen ist.

Mehr Solidarität und gesellschaftliche Anteilnahme, gegen die Individualisierung des Staates - ein Widerspruch in sich - forderte auch unser scheidender Bundespräsident Herzog anläßlich des 50jährigen Bestehens des Grundgesetzes an Pfingsten in einer live übertragenen Festrede.

Literaturverzeichnis

Adolphs, Lotte: A. S. Makarenko, Erzieher im Dienste der Revolution, Versuch einer Interpretation: Bad Godesberg: Verlag Dörrsche Buchhandlung/Bonn: Köllen-Verlag 1962

Bach, Uwe: Kollektiverziehung als moralische Erziehung in der sowjetischen Schule 1956 - 1976. Berlin, Wiesbaden: In Kommission bei Otto Harrassowitz 1981

Dietrich, Theo: Sozialistische Pädagogik - Ideologie ohne Wirklichkeit, Grundlagen Erziehungs- und Schulkonzeptionen Erkenntnisse. Bad Heilbrunn/Obb. Verlag Julius Klinkhardt 1966

Feifel, E.: Personale und kollektive Erziehung. Katholisches Erziehungsverständnis in Begegnung und Auseinandersetzung mit der Sowjetpädagogik bei Anton Semjonowitsch Makarenko. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1963

Hierdeis, Helmwart, (Hrsg.): Sozialistische Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert. Bad Heilbrunn/Obb. Verlag Julius Klinkhardt 1973

Makarenko, Anton S.: Ein pädagogisches Poem, "Der Weg ins Leben". Frankfurt/M, Berlin, Wien: Verlag Ullstein 1984

Makarenko, Anton S.: Ein pädagogisches Poem, "Der Weg ins Leben". Berlin: Aufbau-Verlag 1952 Makarenko, Anton S.: Flaggen auf den Türmen. Berlin: Aufbau-Verlag 1953

Makarenko, Anton S.: Vorträge über Kindererziehung. Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag 1980

Paschke, Uwe K., (Hesg.): Enzyklopädie der Weltgeschichte, von der Entdeckung der Welt zur Eroberung des Universums. Baden-Baden: Holle Verlag ohne Datum

Rüttenauer, Isabella: A. S. Makarenko, Ein Erzieher und Schriftsteller in der Sowjetgesellschaft. . Freiburg, Basel, Wien: Herder 1965

Scheuerl, Hans, (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Zweiter Band, Von Karl Marx bis Jean Piaget. München: Verlag C.H. Beck 1979

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Makarenko. Menschenbild, Erziehungsziel, Methoden, Zielgruppe
Autor
Jahr
2000
Seiten
11
Katalognummer
V96524
ISBN (eBook)
9783638092005
Dateigröße
401 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Makarenko
Arbeit zitieren
Bernd Maier (Autor:in), 2000, Makarenko. Menschenbild, Erziehungsziel, Methoden, Zielgruppe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96524

Kommentare

  • Gast am 15.11.2006

    guter Überblick.

    Danke - guter Überblick über Person, Schaffen und Umfeld Makarenkos - ein idealer Einstieg in das Thema

  • Gast am 9.12.2004

    Flasche Infos.

    Leider hat es einige gravierende Fehler in dem Vortag. Statt einfach alles zu übernehmen, sollte man sich auf einem anderen Weg, der stimmt erkundigen!!!

  • Gast am 1.12.2004

    Gute Arbeit.

    es ist eine gute arbeit nur fehlen leider die quellen nachweise

  • Gast am 24.5.2001

    Makarenko.

    danke, dass ich die Möglichkeit hatte hier eine komprimierte HÜ zu lesen. Bin keine "Fachfrau" und gebe somit auch keine Beurteilung ab. Mir hat es geholfen über Makarenko mehr zu erfahren - ich teile seine Erziehungsmethoden nur sehr wenig - es gibt sicher gute Ideen aber... das würde zu weit führen
    Liebe Grüße
    Dagmar

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Titel: Makarenko. Menschenbild, Erziehungsziel, Methoden, Zielgruppe



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