Der Begriff der Modernisierung


Referat (Ausarbeitung), 1997

10 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Herkunft des Wortes (Etymologie)

2 Abgrenzung des Schlüsselwortes von anderen soziologischen Begriffen
2.1 Sozialer Wandel
2.2 Fortschritt

3 Exemplarischen Beschreibung des schlüsselwortes in der alltäglichen Verwendungsweise

4 Eigene Definition des Begriffs "Modernisierung" in lexikalischer Form

5 Überblick über soziologische Theorieansätze und Forschungsbereiche

6 Konzentrierte Darstellung einer Studie

1. Herkunft des Wortes (Etymologie)

Der zu erklärende Begriff dieser Arbeit, "Modernisierung", ist nicht in den allgemein verwendeten etymologischen Wörterbüchern definiert. Zunächst soll deshalb die Herkunft des Wortes "modern" erläutert werden, das als Wortstamm in "Modernisierung" enthalten ist. Aus diesem Adjektiv soll dann das eigentliche Schlüsselwort hergeleitet werden.

Im "Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache" wird die Herkunft des Ausdrucks "modern" aus dem französischen Wort "moderne" abgeleitet, das aus der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts stammt. (MACKENSEN, 1985, S.262).

Im deutschen Sprachraum erscheint das Fremdwort seit 1727 in der Bedeutung von "neu".

Eine ausführlichere Begriffsanalyse bietet das Herkunftswörterbuch des Dudens:

"modern: Das seit dem Anfang des 18 Jh.s bezeugte Adjektiv ist aus frz. moderne "neu; modern" entlehnt, das auf lat. modernus "neu; neuzeitlich" zurückgeht. […] In diesem Sinne steht ‘modern’ gleichsam im Gegensatz zu antik, wie auch das Substantiv Moderne "neue, neuste Zeit; moderner Zeitgeist; moderne Kunstrichtung" (19.Jhd.) zeigt. Die heute vor allem gültigen Bedeutungen von ‘modern’ "neuartig", "auf der Höhe der Zeit", "modisch, dem Zeitgeschmack entsprechend" zeigen deutlichen Einfluß des Wortes Mode (Entsprechendes gilt für frz. moderne). - Lat. modernus ist abgeleitet von dem Adverb lat. modo "eben, eben erst" […]. Abl.: modernisieren "erneuern; modisch zurecht machen, neuzeitlich herrichten" (18.Jhd.; aus frz. moderniser)." (DROSDOWSKI, 1989, S.464/465)

In diesem Zitat wird aus dem Adjektiv "modern" das Verb "modernisieren" abgeleitet. Weiterhin läßt sich daraus auf das Substantiv "Modernisierung" schließen, im Sinne einer Entwicklung, von der etwas erneuert oder neuzeitlich hergerichtet wird. "Modernisierung" beschreibt den Prozeß in Richtung auf die Modernität und deutet auf einen zeitlichen Ablauf hin.

2. Abgrenzung des Schlüsselwortes von anderen soziologischen Begriffen

Im folgenden möchte ich den Begriff "Modernisierung" von zwei soziologischen Begriffen abgrenzen, die in der Alltagssprache oft mit Modernisierung gleichgesetzt oder verwechselt werden.

1. Sozialer Wandel

Sozialer Wandel ist eine "allgemeine Bezeichnung für die in einem Zeitabschnitt erfolgten Veränderungen in einer Sozialstruktur" und genauer eine "[…] zeitliche Abfolge von sozialen Handlungen, die von routinemäßigen Tätigkeitsfolgen verschieden sind." (RAMMSTEDT, 1994c, S.734)

Eine exaktere Definition formuliert Wieland Jäger in seinem Werk "Gesellschaft und Entwicklung". Darin faßt er unter der Bezeichnung "sozialer Wandel" Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft zusammen:

"ökonomischer und technologischer Wandel ebenso Wandel im Wertesystem, sozialstruktureller Wandel, Wandel im Bildungssystem und politischer Wandel."

(JÄGER, 1981, S.21)

Helmut Schoeck vermerkt ergänzend, daß sozialer Wandel nicht gleichbedeutend mit sozialem Fortschritt ist, da dieser von Werturteilen festgelegt wird, "während sozialer Wandel in wertfreien Aussagen registriert werden soll." (SCHOECK, 1982, S.350)

Damit soll verdeutlicht werden, daß der Begriff des sozialen Wandels nicht aussagt, in welche Richtung sich etwas verändert. Die oben angesprochenen Bereiche der Gesellschaft können sich sowohl "vorwärts" als auch "rückwärts" entwickeln. Die Interpretation dieser Richtungsangaben hängt von der subjektiven Beurteilung jedes einzelnen ab. Das Fehlen jeglichen Urteils über die Richtung der Entwicklung in den oben genannten Definitionen kann als Beweis gelten, daß der Begriff des sozialen Wandels frei von Wertaussagen ist.

Während der Begriff des sozialen Wandels ausschließlich in wertfreiem Kontext gebraucht wird, ist der des Fortschritts oft mit Werturteilen behaftet.

2. Fortschritt

"Fortschritt", ein Ausdruck, der inhaltlich sowohl in "sozialem Wandel" als auch in "Modernisierung" enthalten ist und somit als Unterbegriff dieser beiden gilt, bezeichnet laut "Lexikon zur Soziologie" die "Entwicklung von niederen zu höheren Zuständen." Es handelt sich dabei um einen "einheitlichen, gesetzmäßigen, zielgerichteten und nicht umkehrbaren Prozeß." (RAMMSTEDT, 1994a, S.211)

Eine präzisere Begriffserklärung, die explizit darauf hinweist, daß dieser Ausdruck bereits wertgeladen ist, bietet Helmut Schoeck:

"Fortschritt bedeutet im Gegensatz zum sozialen Wandel eine Feststellung oder Forderung in Form eines Werturteils: Fortschritt, auf politischem […], wirtschaftlichem […], oder wissenschaftlich-technischem Gebiet […] gilt allgemein als eine Verbesserung, eine Perfektion der Daseinsbedingungen, der Lebensumstände, vor allem dann, wenn sie der gesamten Bevölkerung zuteil wird." (SCHOECK, 1982, S.116)

In diesem Zitat wird deutlich, daß der Begriff des Fortschritts nicht neutral verwendet werden kann, da schon die Definitionen Bewertungen wie "Verbesserung" und "Perfektion" enthalten, die einen Schritt nach vorne andeuten. Das Werturteil besteht darin, daß diese Bezeichnungen auf etwas Besseres oder Moderneres hinweisen, die jedoch immer nur subjektiv beurteilt werden können.

3. Exemplarischen Beschreibung des Schlüsselwortes in der alltäglichen Verwendungsweise

"Modernisierung" ist ein Wort, das sehr viele verschiedene Bedeutungen hat. Es kommt also immer darauf an, in welchem Kontext man es verwendet.

Aus diesem Grund führte ich eine kleine Befragung in meinem Freundeskreis durch, um mir ein Bild davon zu machen, was unter diesem Begriff verstanden wird. Ich bekam viele, breit gefächerte Definitionen, von denen ich hier einige zitieren möchte. Die Zitate werden im folgenden nicht wörtlich sondern sinngemäß wiedergegeben.

- "Im technischen Bereich ordnet man Anpassungen an neue Bedürfnisse, verbesserten Produktionstechniken oder -verfahren und den damit verbundenen Arbeitsvereinfachungen den Begriff Modernisierung zu."
- "Modernisierung heißt die Verdrängung des Alten und die Einführung neuer, moderner Technologien."
- "Veränderungen in den Verhaltensweisen und dem Verständnis der Menschen und sowie in ihren Denkweisen fallen unter den Begriff der Modernisierung."
- "Modernisierung nennt man die Anpassung an ein neues Zeitalter."
- "Unter Modernisierung verstehe ich die technische und soziale Entwicklung der Gesellschaften."

4. Eigene Definition des Begriffs "Modernisierung" in lexikalischer Form

Ganz allgemein ausgedrückt bezeichnet Modernisierung einen Prozeß, bei dem Altes oder Bisheriges durch Neues ersetzt wird. Wie schon in meiner Umfrage deutlich wurde, kann von materiellen Dingen wie z.B. Gebäuden bis hin zu ideellen Werten wie z.B. Denkweisen fast alles modernisiert werden. Wenn man diesen Begriff wertfrei benützt, versteht man unter Modernisierung einen sozialen Prozeß, bei dem bisher nicht vorhandene Elemente in eine Sozialstruktur eingesetzt und bisher vorhandene ersetzt werden oder ihre Gültigkeit verlieren. Modernisierung beschreibt in diesem Fall den sozialen Wandel und die Umstrukturierung in "größeren Sozialsystemen, wie etwa Gesellschaften oder Organisationen". (ENDRUWEIT, 1987, S.305)

Oft fließen aber schon in Definitionen Werturteile ein, die die neue Situation im Vergleich zum bisherigen Zustand als besser bewerten. Dabei wird Modernisierung als sozialer Prozeß verstanden, bei dem Strukturen in Sozialsystemen in einen Zustand gebracht werden, der im Vergleich zur Vergangenheit die Möglichkeit bietet, Lebensumstände so zu gestalten, daß sie von den meisten Menschen als besser beurteilt werden. Durch diese Verknüpfung mit dem Fortschrittsbegriff wird Modernisierung als ein langfristiger, höherwertiger und unumkehrbarer Prozeß in Richtung auf Modernität gesehen.

Die wohl häufigste Begriffsbestimmung beschreibt Modernisierung als Entwicklungsprozeß von traditionellen oder "unterentwickelten" zu modernen Gesellschaften, wobei schon hier ein Werturteil enthalten ist, da die Moderne im allgemeinen als die bessere Gesellschaftsform gilt. Traditionelle Gesellschaften werden in diesen Modellen als "unterentwickelt" bezeichnet und somit als minderwertig angesehen.

Wolfgang Zapf schreibt dazu: "Modernisierung ist die Entwicklung von einfachen und armen Agrargesellschaften zu komplexen, differenzierten und reichen Industriegesellschaften, die nach innen und außen ein bestimmtes Maß an Selbststeuerungsfähigkeit besitzen." (ZAPF, 1993, S.182)

Laut Zapf stammt eine der besten Definitionen von Reinhard Bendix (1969), der schreibt:

"Unter Modernisierung verstehe ich einen Typus des sozialen Wandels, der seinen Ursprung in der englischen industriellen Revolution von 1760-1830 und in der politischen Französischen Revolution von 1789-1794 hat… Modernisierung… besteht im wirtschaftlichen und politischen Fortschritt einiger Pioniergesellschaften und den darauf folgenden Wandlungsprozessen der Nachzügler." (ZAPF, 1993, S.183)

Mit anderen Worten ist Modernisierung also der Entwicklungsprozeß, der sich mit Beginn der Industrialisierung zuerst in Westeuropa und Nordamerika vollzogen hat und dann auf andere europäische Länder sowie auf Südamerika, Asien und Afrika ausgedehnt wurde. Da die einzelnen Aspekte des Modernisierungsprozesses nicht in allen Gesellschaften in gleichem Ausmaß vorangeschritten sind, ist der zielgerichtete Entwicklungsprozeß der Modernisierung auch nicht überall identisch verlaufen. "Im internationalen Vergleich" versucht man Modernisierung "an der Zunahme des Bruttosozialprodukts (d.h. heute eher an der des Bruttoinlandsprodukts), an Veränderungen der sozialen Institutionen des Organisationssystems und an Phänomenen wie Bürokratisierung, Demokratisierung und sozialer Mobilität" zu messen. (RAMMSTEDT, 1994b, S.447) Weitere Aspekte des Modernisierungsprozesses und Kennzeichen der modernen Gesellschaft sind: ein verbindliches Rechtssystem, zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung, hohe Technisierung und fortschreitende Individualisierung, ein ausgeprägtes Bildungssystem, Säkularisierung sowie ein pluralistisches System der Parteien und eine große Vielzahl der Lebensstile.

5. Überblick über soziologische Theorieansätze und Forschungsbereiche

Zu dem von mir gewählten Schlüsselbegriff "Modernisierung" gibt es bisher keine umfassende sozialwissenschaftliche Theorie. Man kann höchstens von Konzepten, Modellen und theoretischen Ansätzen sprechen, die sehr unterschiedlich sein können, da es immer darauf ankommt aus welcher Perspektive man Modernisierung betrachtet. (vgl. LOO & REIJEN, 1992, S.13)

Günter Endruweit unterscheidet im "Handbuch Politikwissenschaft" verschiedene Verwendungszusammenhänge, von denen die klassischen Theorieansätze umrahmt werden.

Zunächst kann Modernisierung als Industrialisierung gesehen werden. In diesem Ansatz ist die Industriegesellschaft Maßstab für Modernität. Es wird nur zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften unterschieden, die dann mit vorindustriellen und industriellen gleichgesetzt werden. Auch wenn sich auf diesen Ansatz weitreichende Theorien aufbauen lassen, wird "die Gleichsetzung von Modernisierung und Industrialisierung […] überwiegend abgelehnt". Inzwischen ist man davon abgekommen, zu glauben , daß die Industrialisierung alle anderen erwarteten Folgen, die Modernisierung ausmachen, automatisch mit sich bringen werde. (ENDRUWEIT, 1987, S. 306)

"Andere Ansätze […] sehen Modernisierung als schrittweise Verwestlichung an."

(ENDRUWEIT, 1987, S.306) Sie besagen, daß die westliche Entwicklung schrittweise von den unterentwickelten Gesellschaften übernommen werden soll, und zwar ohne einzelne Entwicklungsstufen zu überspringen.

Wolfgang Zapf beschreibt in dem von Schäfers herausgegebenen Buch "Grundbegriffe der Soziologie" kritische Reaktionen auf diese Sichtweise der Modernisierung:

"Die marxistischen Entwicklungstheorien argumentieren, daß die westliche Entwicklung wesentlich auf der Ausbeutung der Dritten Welt (Imperialismus) beruht." (ZAPF, 1986, S.369)

Eine dieser marxistischen Theorien, die "Dependencia-Theorie", ist Mitte der 60er Jahre in Lateinamerika entstanden und spricht von einer "Entwicklung der Unterentwicklung" in den Ländern der Dritten Welt. Ihr zufolge hat sich die Unterentwicklung in einem jahrhundertelangen Prozeß als Ergebnis der zwangsweisen Eingliederung der Entwicklungsländer ("Peripherien") in den (von den kapitalistischen Metropolen beherrschten) Weltmarkt "entwickelt". (vgl. ZAPF, 1986, S.76). Dadurch ist eine Abhängigkeit der Peripherien von den kapitalistischen "Zentren" (d.h. westlichen Industriestaaten) hervorgerufen worden, die diese Länder nun durchbrechen wollen. (vgl. ZAPF, 1986, S.369).

Modernisierung kann auch als eine Form des sozialen Wandels gesehen werden, wobei diese Theorieansätze eine lange Tradition in der allgemeinen Soziologie haben. (vgl. ENDRUWEIT, 1987, S. 307)

Hans van der Loo und Willem van Reijen stellen in ihrem Buch "Modernisierung" unter der Überschrift "Bausteine des Modernisierungsdenkens" einige dieser klassischen Theorieansätze vor:

Den Anfang machten zu Beginn des 19. Jahrhunderts einige Intellektuelle in England und Frankreich, die versuchten, jene Veränderungen, die in dieser Zeit um sie herum geschahen, zu erfassen, zu erklären und zu beurteilen. Dabei entstand die "Idee des Fortschritts", die nichts anderes aussagt, als daß die Geschichte der Menschheit als Entwicklung gesehen werden müsse, die notwendigerweise zum Fortschritt führe. Turgot, Condorcet, Comte und Saint-Simon waren einflußreiche Denker jener Zeit, die diese Theorie vertraten. (vgl. LOO & REIJEN, 1992, S.14)

Ferdinand Tönnies (1855-1936) beschreibt in seinem 1887 veröffentlichten Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" den Gegensatz von einem Gesellschaftstyp, den er "Gemeinschaft" nennt und einem Typ, den er mit dem Begriff "Gesellschaft" umschreibt. "Kennzeichnend für die "Gemeinschaft" ist es, daß die zwischenmenschlichen Beziehungen eine gefühlsmäßige Grundlage haben." (ebenda, 1992, S.14) Weitere Charakteristika der Gemeinschaft sind: Harmonie zwischen dem Individuum und seinen Mitmenschen; Beziehungen, die nicht auf ein Ziel gerichtet sind; und eine geringe Mobilität. ("Man wird innerhalb eines bestimmten Standes und an einem bestimmten Ort geboren und kann sich im allgemeinen nicht mehr daraus lösen." (ebenda, 1992, S.15)) Typische Kennzeichen für die "Gesellschaft" sind, laut Tönnies, Beziehungen "aus rationalen Erwägungen"; menschliches Handeln, das "zielgerichtet und sachlich" ist und die Mitgliedschaft durch freiwilligen Beitritt und nicht durch Geburt. Unter Modernisierung versteht Tönnies den Übergang von "Gemeinschaft" zu "Gesellschaft". (vgl. LOO & REIJEN, 1992, S.14 / 15)

Diese Art des Entwicklungsdenkens, bei dem "Modernisierung als Übergang von zwei […] entgegengesetzten Typen des Zusammenlebens betrachtet wird", findet man bei vielen anderen Klassikern wieder. (LOO & REIJEN, 1992, S.15). So auch bei Émile Durkheim (1858-1917), der in diesem Zusammenhang zwischen mechanischer und organischer Solidarität unterscheidet. Unter mechanischer Solidarität versteht er eine "zwischenmenschliche Verbundenheit", die unmittelbar gegeben ist, da aufgrund einer "wenig gegliederter Arbeitsteilung" ein direkter "Zusammenhang zwischen Individuum und Gemeinschaft" besteht. (ebenda, 1992, S.15). Diese Art von Solidarität kommt vorwiegend in vormodernen Gesellschaften vor. Organische Solidarität definiert Durkheim als wachsende "Abhängigkeit der Menschen voneinander". Sie entsteht in "sich modernisierenden Gemeinschaften mit zunehmender Arbeitsteilung". Durkheim sah in der wachsenden Arbeitsteilung die Gefahr, daß "das Individuum aus der Einbindung in die Gemeinschaft herausgelöst und auf sich selbst zurückgeworfen werde." (LOO & REIJEN, 1992, S.15).

In den Theorien von Tönnis und Durkheim sind wertende Elemente kaum oder gar nicht enthalten. Diese Ansätze, aber auch die von Max Weber, Henry Maines, Robert Redfield und Talcott Parsons, sind von politischer Bedeutung, da sie "Modernisierung als eine schrittweise Auflösung bisher geltender Wertordnungen und den Aufbau neuer Wert- und Normgefüge interpretieren […]." (ENDRUWEIT, 1987, S.307)

Im weiteren Verlauf seiner Arbeit geht Endruweit (ebd., 1987, S.307) auch noch auf komplexe und Metamodernisierungstheorien ein, deren Erläuterungen jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden.

6. Konzentrierte Darstellung einer Studie

Als Studie, die den Schlüsselbegriff "Modernisierung" und seine empirische Bedeutung näher erläutert, habe ich das Buch mit dem gleichnamigen Titel von Hans van der Loo und Willem van Reijen ausgesucht.

Im ersten Kapitel weisen die beiden Autoren darauf hin, "daß der Begriff in sehr unterschiedlichem Kontext und auf sehr verschiedene Art und Weise verwendet wird." (LOO & REIJEN, 1992, S.11). Meistens handelt es sich dabei um eine Entwicklung, die "den letzten Schrei" bezeichnet. Sozialwissenschaften können mit derart wechselnden Trends jedoch recht wenig anfangen, sondern brauchen Begriffserklärungen, auf die sie sich langfristig stützen können und die somit den Aufwand einer Theoriebildung rechtfertigen. Aus diesem Grund definieren LOO & REIJEN Modernisierung als einen "Komplex miteinander zusammenhängender […] Veränderungen" und zählen einige Merkmale moderner Gesellschaften auf wie z.B. Demokratisierung, Urbanisierung und Individualisierung, die kennzeichnend für jeden Modernisierungsprozeß sind. (ebd., S.11)

Das Ziel dieses Buches ist es den Charakter dieser modernen Welt klarer herauszuarbeiten.

Auf der Suche nach "einfachen und handlichen Kriterien" für den Modernisierungsprozeß kam man zu dem Schluß, daß die einfachste Form eine Gesellschaftsdynamik zu erfassen, "die scharfe Gegenüberstellung von zwei oder mehreren Gesellschaftsformen" ist. Dieses Modell nennt man in der Literatur komparative Statik. (LOO & REIJEN, 1992, S.12 sowie FÜRSTENBERG, 1978, S.153). Zum Thema Modernisierung bietet es sich an traditionelle und moderne Gesellschaften gegenüberzustellen und voneinander abzugrenzen. Man konstruiert sich damit sogenannte Idealtypen als "stark vereinfachte Darstellungen der Wirklichkeit", die herangezogen werden, um den Modernisierungsprozeß überblicken zu können. (LOO & REIJEN, 1992, S.13)

Im zweiten Abschnitt stellen die Autoren einige Theorien vor, die ich bereits im fünften Kapitel dieser Arbeit erläutert habe. (ebd., S.14ff). Im nächsten Absatz bringen sie dem Leser die wichtigsten Kritikpunkte dieser Theorieansätze näher, bevor sie dann zum eigentlichen Thema ihres Werks übergehen, nämlich der Entwicklung eines "konzeptionellen Schemas", das ihnen erlaubt, "Modernisierung zu beschreiben und zu analysieren". (ebd., S.28)

Dabei stützen sie sich auf ein bereits bestehende Schema, das 1975 von Parsons entwickelt und später von Adriaansens (1981) generalisiert wurde. Dieses Schema "erfaßt gesellschaftliche Wirklichkeit und das menschliche Handeln" von folgenden vier Seiten:

Struktur, Kultur, Person und Natur. (ebd., S.29).

"Diese vier Perspektiven […] lassen sich in jeder Handlung und an jedem Handlungskomplex unterscheiden.[…]. Es geht nämlich darum, die wechselseitige Kombination von Struktur, Kultur, Person und Natur zu betonen." (ebd., S.30). Wenn man dieses allgemeine Handlungsschema auf Modernisierung anwendet, ordnet man den vier Perspektiven andere Bezeichnungen zu.

Die Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur, in der das Individuum in bestimmten gesellschaftlichen Rollen interagiert, drückt man im Hinblick auf Modernisierung als Prozeß der Differenzierung aus.

Kulturelle Veränderungen, in Form von anderen Werten, Normen und Ideen, faßt man als Prozeß der Rationalisierung zusammen.

Aus der Perspektive der Person, wendet man sich vor allem Prozessen der Individualisierung zu, in denen die Entwicklung eines neuen Persönlichkeitstyps analysiert wird.

Die Dimension der Natur bezeichnet man als Prozeß der Domestizierung und meint damit die zunehmende Beherrschung der Natur durch den Menschen.

"Von diesem Schema aus betrachtet, deutet Modernisierung also auf die Kombination von Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung." (ebd., S.30). Diese vier Aspekte werden dann von den beiden Autoren näher beschrieben und erklärt:

"Differenzierung bezieht sich auf die Spaltung eines ursprünglich homogenen Ganzen in Teile mit eigenem Charakter und eigener Zusammensetzung." (ebd., S.31) Damit wird auf eine zunehmende Spezialisierung aller gesellschaftlicher Bereiche hingewiesen.

Mit Rationalisierung ist die Veränderung des menschlichen und Denkens Handelns gemeint, mit dem Ziel die Wirklichkeit "vorhersehbar und beherrschbar zu machen". (ebd., S.31). Man sucht nach Methoden und Verfahren, die das Leben vereinfachen und jegliches Handeln effizienter machen. Dabei verändern sich die Weltbilder der Menschen. Sie glauben nicht mehr an Dämonen, Schamane und Götter, sondern versuchen alles rational zu erklären.

Individualisierung bezeichnet die zunehmende Unabhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft, von sozialen Schichten und von der Natur. Durch die Zugehörigkeit zu immer mehr sozialen Einheiten verringert sich die Loyalität des Individuums zu den einzelnen Einheiten und eine "gewisse persönliche Unabhängigkeit" wächst. (ebd.,S.32). Damit soll verdeutlicht werden, daß in einer modernen Gesellschaft die Bindung des Einzelnen an ein Kollektiv abnimmt, und an deren Stelle ein Streben nach Selbstverwirklichung tritt.

Domestizierung beschreibt schließlich den Prozeß, in dem Menschen versuchen die Natur immer mehr zu beherrschen und sich ihrer biologischen und natürlichen Begrenzungen zu entziehen. Durch die zunehmende Beherrschung steigt aber nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die "Abhängigkeit von den Mitteln, die beherrscht werden". (ebd., S.31).

Die beiden Autoren betonen daraufhin noch einmal, daß die vier Dimensionen eng verwandt sind und eigentlich in jedem Modernisierungsprozeß kombiniert vorkommen.

Im nächsten Abschnitt dieses Kapitels sprechen LOO & REIJEN den paradoxen Charakter der Modernisierung an. (ebd., S.34ff). Dieser besagt, daß jede der vier oben beschriebenen Dimensionen von zwei unterschiedlichen, sich scheinbar widersprechenden Seiten betrachtet werden kann. Zum einen wäre da jeweils eine Maßstabverkleinerung und zum anderen eine Maßstabvergrößerung. LOO & REIJEN vertreten den Standpunkt, daß es sich dabei "weniger um zwei entgegengesetzte Prozesse handelt als vielmehr um zwei Seiten derselben Modernisierungsmedaille". (ebd., S.35)

Im zweiten Kapitel dieser Studie wird in Form eines historischen Überblicks der Frage nachgegangen wie Modernisierung entstanden und vorangeschritten ist. Welche Voraussetzungen und Kriterien also erfüllt sein müssen, damit sich eine Gemeinschaft zu einer modernen Gesellschaft entwickelt. Dabei gehen die beiden Autoren nach dem oben entwickelten Schema vor. (ebd., S.44ff)

Anhand dieser Systematik, die wiederum auf Parsons` Handlungsschema beruht, stellen LOO & REIJEN in den folgenden Kapiteln die wichtigsten und bekanntesten Modernisierungstheorien vor.

Das dritte Kapitel hat die strukturelle Differenzierung zum Gegenstand. Dabei werden die Veränderungen der gesellschaftlichen Solidarität, die abnehmenden sozialen Unterschiede sowie die zunehmende Beherrschung des Verhalten und der Emotionen gezielter untersucht. (ebd., S.81ff).

Das darauf folgende Kapitel beschäftigt sich intensiv mit der Rationalisierung, die sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht. LOO & REIJEN analysieren in diesem Zusammenhang die Veränderung der Weltbilder sowie die Ebenen des kollektiven und die des individuellen Handelns. Dabei beschreiben sie den Übergang von einer mythischen und religiösen zu einer rationalen Weltanschauung und die Rationalisierung des menschlichen Handelns. (ebd., S.118ff).

Im fünften Kapitel erscheint Modernisierung als Prozeß zunehmender Individualisierung.

Zunächst wird ein kurzer Überblick über die Entstehungsgeschichte des modernen Individuums gegeben, bevor man dann der Frage nachgeht ob dieses Individuum in der modernen Gesellschaft wirklich freier ist. (ebd., S.159ff).

Domestizierung steht schließlich im sechsten Kapitel im Vordergrund. Dort erläutern LOO & REIJEN wie es Menschen gelungen ist, natürliche und körperliche Kräfte anzupassen und zu kontrollieren und warum eine fortschreitende Domestizierung zwangsweise eine größere Abhängigkeit von technischen Mitteln zur Folge hat. (ebd., S.196ff).

Im siebten, dem letzen Kapitel formulieren die beiden Autoren einige Optionen für die Zukunft. Sie können und wollen keine Vorhersagen machen, da die Zukunft nicht vorhersehbar ist und die Wege der Modernisierung immer wieder neue Entscheidungen fordern. Aus diesem Grund wird lediglich hinterfragt wie es mit dem Modernisierungsprozeß weiter geht, (d.h. ob ein Ende der Modernisierung abzusehen ist oder sogar eine De-Modernisierung oder ob sich daraus ein völlig neuer Gesellschaftstyp entwickelt) ohne sich an Vorhersagen zu wagen. LOO & REIJEN haben folgende Optionen ausgesucht, die sie in diesem abschließenden Kapitel beschreiben: die Option der globalen Gesellschaft, die der kommunikativen Rationalität, die des Postmodernismus und die des Holismus. (ebd., S.236ff).

Ende der Leseprobe aus 10 Seiten

Details

Titel
Der Begriff der Modernisierung
Hochschule
Universität Konstanz
Veranstaltung
Soziologische Theorienlehre
Note
2,0
Autor
Jahr
1997
Seiten
10
Katalognummer
V96480
ISBN (eBook)
9783638091565
Dateigröße
351 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Begriff, Modernisierung, Soziologische, Theorienlehre
Arbeit zitieren
Dagmar Placzek (Autor:in), 1997, Der Begriff der Modernisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96480

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