Kinder aus Alkoholikerfamilien - eine soziale Risikogruppe?


Hausarbeit, 1996

24 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Was hat Alkoholismus in der Familie mit Kinderarmut zu tun?

2 Die Situation von Alkoholikerkindern
2.1 Die Situation in der Kernfamilie
2.1.1 Das Erziehungsverhalten der Eltern
2.1.2 Die Rollen der Kinder im kybernetischen Familiensystem
2.2 Folgen im außerfamiliären Bereich
2.2.1 Kontakte der Kinder zu Nicht-Familienmitgliedern
2.2.2 Schulische Leistungen
2.3 Mögliche Folgeschäden
2.3.1 Körperliche Folgeschäden
2.3.2 Psychische Folgeschäden und Verhaltensstörungen

3 Die Reproduktion von Alkoholismus als soziale Problemlage
3.1 Die Situation von erwachsenen Alkoholikerkindern
3.1.1 Emotionale und psychische Befindlichkeit
3.1.2 Körperliche Beschwerden
3.1.3 Zwischenmenschliche Beziehungen
3.1.4 Das Verhältnis zu Alkohol und anderen Suchtmitteln

4 Zusammenfassung

5 Ausblick

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Was hat Alkoholismus in der Familie mit Kinderarmut zu tun?

Seit 1968 das Bundessozialgericht Alkoholismus als Krankheit definierte, sind fast dreißig Jahre vergangen. Zu klären, was Alkoholismus eigentlich ist, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Festzustellen bleibt, daß es unterschiedliche Definitionen von Alkoholismus gibt und allein diese Tatsache macht eine exakte zahlenmäßige Erfassung aller Alkoholiker/Innen in der Bundesrepublik schwierig. Ein weiteres Problem dürfte die Tatsache sein, daß die Alkoholkrankheit sich meistens lange Zeit im Verborgenen entwickelt, unsichtbar zunächst für die Familie und unsichtbar später für den Rest der Gesellschaft. Die Alkoholsucht muß schon ziemlich weit fortgeschritten sein, ehe sie sich in medizinischen und sozialen Folge- erscheinungen äußert und somit als Krankheit nach außen erkennbar wird. Somit sind wir auf Schätzungen angewiesen, die sich zwischen 1,5 und zwei Millionen für die alten Bundesländer bewegen. Etwa vier bis fünf Millionen Angehörige sind von der Sucht eines Familienmitglieds unmittelbar betroffen (vgl. Brakhoff: 7). Zu diesen unmittelbar betroffenen Angehörigen zählen zweifellos auch Kinder.

Alkohol kann Kinder arm machen. Alkohol kann ein materieller Risikofaktor für die ganze Familie sein, wenn er beim Alkoholkranken zu Arbeitsunfähigkeit, Arbeitsplatz- verlust, Verschuldung oder Scheidung führt. Die hier aufgeführten Risiken gelten in der Armutsforschung als Hauptindikatoren für materielle Armut (vgl. FHH: 13). Diese Indikatoren sind nicht nur ein Risikofaktor für den Alkoholkranken selbst, sondern für die ganze Familie, wobei Kinder das schwächste Glied der Kette sind. Zudem ist eines der wesentlichen, bisher ungelösten Probleme in der Bekämpfung von Kinderarmut das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Wo mehr Geld für Suchtmittel aufgewandt wird, bleibt weniger Geld für die Kinder übrig. Ist das immer und in jeder Alkoholikerfamilie so? Die Antwort lautet nein. Alkoholiker lassen sich weder einer speziellen sozialen Schicht noch ausschließlich einem Geschlecht oder einer Altersgruppe zuordnen. Es gibt lediglich Indikatoren, die Suchtmittelabhängigkeit begünstigen. Genauso gibt es Faktoren, die die Gefahr der materiellen Armut vergrößern. Alkohol ist so ein Risikofaktor.

Alkoholismus ist aber nicht nur ein Risikofaktor für materielle, sondern auch für soziale Armut in der Familie. Auf diesen Aspekt wird sich meine Untersuchung konzentrieren.

Ich gehe dabei von folgenden Thesen aus, deren Wahrheitsgehalt ich im Anschluß an die Untersuchung prüfe:

I. Das Risiko, sozial arm zu werden, ist für Kinder aus Alkoholikerfamilien größer, als für Kinder aus Familien ohne Alkoholproblem.

II. Alkoholismus wird oft sozial vererbt. Soziale Problemlagen werden dabei repro- duziert. Kinder aus Alkoholikerfamilien sind im Vergleich zu Kindern aus Nicht- Alkoholikerfamilien einer größeren Gefahr ausgesetzt, entweder selbst süchtig zu werden oder eine Allianz mit einem Süchtigen einzugehen.

Die vorgelegte Untersuchung soll lediglich einen Überblick über die Folgen des Alkoholismus eines Elternteils für die Kinder bieten. Geschlechtsspezifische Folgeerscheinungen bei Söhnen und Töchtern von alkoholsüchtigen Müttern oder Vätern mußten deshalb weitgehend unberücksichtigt bleiben.

2 Die Situation von Alkoholikerkindern

2.1 Die Situation in der Kernfamilie

AL-ANON, die Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholkranken, geht in ihrer Präambel davon aus, daß Alkoholismus eine Familienkrankheit ist (vgl. Neuen- dorff/Schiel: 46). Das heißt, daß es sich bei einer Alkoholikerfamilie um ein kompli- ziertes Beziehungssystem handelt, in dem jeder Erwachsene und jedes Kind mit der Sucht konfrontiert und gezwungen wird, in irgendeiner Art und Weise zu reagieren. Müller kam in seiner empirischen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß Alkohol in allen betroffenen Familien einen „steuernden Faktor“ darstellt (vgl. Müller: 74), Bertling beschrieb es sehr viel plastischer folgendermaßen: „In einer Alkoholikerfamilie bestehen Regeln, nach denen sich alle Familienmitglieder richten müssen. Aufgestellt werden sie von dem Alkoholiker der Familie, der die übrigen Familienmitglieder in ihrem Handeln, Denken und Fühlen am meisten beeinflußt und damit die größte Macht über alle anderen ausübt...“ (Bertling: 60).Die Erörterung der Frage, warum es gerade der Alkoholiker ist, der die Familienregeln macht, und nicht die Mehrzahl der anderen Familienmitglieder, würde hier zu weit führen. Angemerkt sei nur, daß sich ein Alkoholiker überwiegend dysfunktional verhält und daß im sozialen System Familie anscheinend ein großes Bedürfnis besteht, dieses Verhalten zu kompensieren. Zu diesem Zweck nehmen alle Familienmitglieder, auch die älteren Kinder ab ca. fünf Jahren, Rollen ein, die den Alkoholismus des Familienmitglieds erst ermöglichen. Der Lebenspartner des Alkoholikers übernimmt dabei oft die Rolle des Co-Alkoholikers, Enablers oder Zuhelfers. Seine Aufgabe ist die Alkoholbeschaffung, die Verleugnung des Problems vor den Kindern und vor der Außenwelt, das Vertuschen und Bagatellisieren (z.B. indem er/sie lügt, um den Alkoholkranken am Arbeitsplatz zu entschuldigen) sowie die Übernahme all jener Aufgaben, zu denen der Alkoholiker selbst nicht mehr in der Lage ist. Co-Alkoholiker sind mit dem dysfunktionalen Verhalten ihres Partners keinesfalls einverstanden und stehen unter einem großen Leidensdruck. Auf die Gründe für das Verhalten des Co-Alkoholikers wird an anderer Stelle noch einmal näher eingegangen, genauso wie auf die Rollen der Kinder.

Jeder, der schon einmal zuviel Alkohol getrunken hat weiß, daß Sprach- und Denk- störungen zu den unerwünschten Folgen übermäßigen Alkoholkonsums gehören.

Insofern ist eine Kommunikation mit einem Menschen, der stark alkoholisiert ist, nur sehr begrenzt möglich. Dies trifft auch auf Alkoholiker und ihre Familien zu. Die Kommunikationsstörung erstreckt sich jedoch nicht nur auf den Zeitraum der Alko- holisierung und auf die Kommunikation zwischen dem Alkoholiker und den anderen Familienmitgliedern, sondern sie erfaßt alle Familienmitglieder zu jeder Zeit innerhalb und außerhalb der Familie. Die Einschätzung und Einordnung von Interaktionsstrukturen in der Familie spielte bei allen empirischen Untersuchungen zu diesem Thema eine entscheidende Rolle. Bei Villiez wurden beispielsweise 14 von 20 Alkoholikerfamilien als extrem konfliktvermeidend und nach außen verschlossen eingestuft (vgl. Villiez: 25 ff). Dieses Ergebnis deutet schon auf die zweite Regelmäßigkeit hin, die bei der Mehrzahl der Alkoholikerfamilien auffällt: Die Tabuisierung des Themas Alkohol und die ungeschriebene Regel, das Familiengeheimnis Alkoholismus unter allen Umständen zu wahren. Aus Angst vor Statusverlust und weil es immer schwieriger wird, den Alkoholismus vor der Außenwelt zu verbergen, isoliert sich die Familie typischerweise immer mehr.

Unausgesprochene Konflikte prägen ebenso wie massive Auseinandersetzungen die Atmosphäre in Alkoholikerfamilien. In der Untersuchung von Müller gaben 50 % der Ehefrauen an, von ihren alkoholkranken Männern geschlagen zu werden, davon die Mehrzahl häufig. 5 von insgesamt 22 männlichen Alkoholikern bezog in die Gewalt- tätigkeiten auch die Kinder mit ein (vgl. Müller: 69). Inwieweit körperliche Mißhandlung und sexueller Mißbrauch von Kindern im Zusammenhang mit Alkoholismus in der Familie stehen, ist schwierig nachzuweisen. Auf diesem Gebiet mangelt es an statistisch auswertbaren Daten. Da Alkohol aber langfristig die Frustrationstoleranz und die moralische Hemmschwelle herabsetzt (vgl. Müller: 7), ist zu vermuten, daß ein Zusammenhang besteht. „Nach Appel (1985) ist in mehr als 50 % der Fälle Sucht oder Alkoholismus eine der Ursachen des Mißbrauchs“ (Arenz-Greiving: 265).

2.1.1 Das Erziehungsverhalten der Eltern

Das Erziehungsverhalten von Alkoholikern und ihren Partnern ist geprägt von Unbe- ständigkeit. Das liegt zum einen im Wesen der Sucht selbst. Ein betrunkener Mensch fühlt und handelt oft ganz anders, als derselbe Mensch im nüchternen Zustand. Zum anderen hat der Alkoholiker auch ein ständiges Bedürfnis nach der Kompensation von Schuldgefühlen. Mal greift er autoritär durch, weil er glaubt, er könne so beweisen, daß er sehr wohl noch in der Lage ist, die Erziehungsaufgaben wahrzunehmen, mal ist er bereit, alles dafür zu tun (und auch kritiklos alles zu erlauben), um den Verlust seiner emotionalen und sozialen Rolle (vgl. Müller: 70 ff) auszugleichen. Der nicht alkoholabhängige Elternteil verhält sich oft genauso unbeständig. Ein Großteil der Energie, die normalerweise für die Kindererziehung aufgebracht wird, wird nun für das süchtige Familienmitglied aufgewandt. Oft kommen noch finanzielle Belastungen hinzu, so daß auch der nichtabhängige Elternteil mit Erziehungsarbeit, unter Umständen zusätzlicher Erwerbsarbeit und der Übernahme all jener Aufgaben des täglichen Lebens, die früher der Alkoholkranke ausfüllte, völlig überfordert ist.

Dies kann bezüglich der Erziehungsaufgaben entweder zu totaler Vernachlässigung führen oder zu einem besonders rigiden Erziehungsstil. Das Funktionieren der Kinder im Hinblick auf ihre Loyalität gegenüber der Familie und das Einhalten des relativ starren Rollenschemas (siehe hierzu auch Kap. 2.1.2) werden so auch dann garantiert, wenn die Eltern nicht verfügbar sind. Bei der Untersuchung von Villiez wurden nur 3 von 20 Familien als flexibel in ihren Verhaltensmustern eingestuft (vgl. Villiez: 83 ff). Es darf vermutet werden, daß aus einem eingeschränkten Verhaltensrepertoire eher ein rigider Erziehungsstil mit festen Regeln folgt, wobei sich die Regeln weniger an den emotionalen Bedürfnissen der Kinder, sondern eher an den Bedürfnissen des Alkoholkranken orientieren.

Selbsthilfegruppen für Alkoholiker und ihre Angehörigen machen immer wieder die erstaunliche Erfahrung, daß viele Eltern glauben, ihre Kinder hätten vom Alkoholismus ihres Elternteils nichts bemerkt. Der nachvollziehbare emotionale Rückzug der Kinder wird als Nichtwissen interpretiert. Doch der Versuch, das Alkoholproblem vor den Kindern zu verheimlichen, erweist sich durchweg als erfolglos (vgl. Müller: 91 f).

Die Annahme, Kinder würden ihren alkoholkranken Elternteil grundsätzlich ablehnen, ist ebenso falsch wie die Annahme, daß sie ausschließlich und immer Partei für den nicht alkoholkranken Elternteil ergreifen. Die Kindheit in einer Alkoholikerfamilie ist geprägt von enttäuschten Erwartungen, Versprechungen und Hoffnungen und manchmal bringen Kinder dem Alkoholiker in der Familie mehr Zuneigung entgegen als dem Nicht- Alkoholiker, was wiederum zu Eifersucht und unter Umständen erzieherischem Druck führen kann. In Müllers Untersuchungsgruppe vergrößerte sich in 13 von 22 Familien die Distanz der Kinder zum Kranken, in 5 Familien aber auch die Distanz zum nicht alkoholkranken Elternteil (vgl. Müller: 89).

2.1.2 Die Rollen der Kinder im kybernetischen Familiensystem

Das kybernetische Modell geht davon aus, daß sich Systeme zirkulär selbst regulieren und Einflüsse von außen mit Rückkopplungsvorgängen kompensieren. Übertragen auf das System Alkoholikerfamilie bedeutet das, daß Mitglieder der Familie eine Rolle annehmen, die das Weiterfunktionieren der Familie ermöglicht. Wie schon in Abschnitt 2.1 kurz angeführt, geschieht dies keineswegs immer gewollt und bewußt. Im Gegensatz zum erwachsenen Co-Alkoholiker haben Kinder aber fast keine Chance, diesem System zu entrinnen. Sie können sich der Familie weder räumlich noch emotional entziehen. Beim erwachsenen Co-Alkoholiker ist das Verbleiben in der Familie eine subjektive Notwendigkeit, bei Kindern eine objektive.

Die folgende Charakterisierung der Rollen der Kinder in der Familie stammt von Wegscheider, einer amerikanischen Familientherapeutin. Sie wird hier verkürzt und in eigenen Worten wiedergegeben:

Die Rolle des „Helden“ nimmt typischerweise das älteste Kind ein. Die Rolle ähnelt der des erwachsenen Enablers. Das Kind übernimmt Aufgaben der Erwachsenen, ist häufig in der Schule erfolgreich und wirkt erwachsener und reifer, als es seinem Alter entspricht. Im Beziehungsgeflecht der Eltern übernimmt es häufig die Rolle der Vertrauensperson bzw. des Ersatzpartners.

Der „Sündenbock“ zieht im Gegensatz zum „Helden“ durch Versagen, aggressives Verhalten usw. negative Aufmerksamkeit auf sich. Dadurch lenkt er vom tatsächlichen Familienproblem, dem Alkohol, ab. Häufig handelt es sich hierbei um das zweite Kind.

Das „verlorene Kind“ paßt sich seiner Umgebung dadurch an, daß es praktisch unsichtbar wird. Es stellt keine Anforderungen, äußert keine Meinung und geht Konflikten aus dem Weg, bekommt aber dafür weder positive noch negative Aufmerksamkeit. Häufig flüchtet es sich in Tagträume.

Das „Maskottchen“ oder der „Clown“ heitert die gespannte Familienatmosphäre durch Späße auf. Dadurch sind ihm Beachtung und Sympathie der anderen Familienmitglieder sicher. Er wird aber oft nicht ernstgenommen und neigt zu Hyperaktivität (vgl. hierzu: Rennert: 31 f und Bertling: 71 ff).

Diese vier Grundrollentypen wurden von der Familientherapeutin Black noch um den Rollentypus „Friedensstifter“ ergänzt. Er geht ähnlich wie das „verlorene Kind“ Konflikten aus dem Weg, flüchtet sich aber im Gegensatz zu diesem nicht in Tagträume, sondern spielt Probleme herunter. In der Familie wird er als guter Zuhörer geschätzt (vgl. Bertling: 73).

Lambrou ergänzte die Rollen von Wegscheider und Black noch um folgende Typisierungen:

Das „Chamäleon“ versucht immer so zu sein, wie andere es brauchen.

Der „Übererwachsene“ wirkt äußerlich ähnlich reif wie der „Held“ und hält seine Gefühle ständig unter Kontrolle. Als Erwachsener fehlt ihm die Erfahrung, Kind gewesen zu sein.

Der „Distanzierte“ will durch nichts und niemanden verletzbar sein und kapselt sich und seine Gefühle vollständig ab.

Und schließlich gibt es noch den „Unverletzten“, der ohne traumatische Erfahrung die problematische Kindheit übersteht, weil er die Probleme in der Familie nicht ignoriert, sondern sich offen und flexibel mit ihnen auseinandersetzt (vgl. Bertling: 73 f).

Im Zusammenhang mit den Rollen der Kinder in der Familie kam Müller in seiner Untersuchung zu folgenden interessanten Ergebnissen: In 6 von 22 Familien füllten Kinder die Rolle der Vertrauensperson aus. In der Hälfte der Familien mit mehreren Kindern übernahmen Kinder Haushalts- und Erziehungspflichten.

Während ältere Kinder sich aktiv in den Familienkonflikt einmischten und Position bezogen, waren jüngere Kinder eher Objekte und fungierten z.B. als Liebesersatz oder Erpressungsobjekt gegenüber dem alkoholkranken Partner. Dementsprechend riefen kleinere Kinder am ehesten Eifersucht beim Alkoholkranken hervor. 4 von 18 Müttern mit alkoholkranken Partnern gaben an, Aggressionen gegen den Partner gelegentlich auf die Kinder zu übertragen. Alle hiervon betroffenen Kinder waren unter 5 Jahre alt (vgl. Müller: 94).

2.2 Folgen im außerfamiliären Bereich

Das Rollenverhalten der einzelnen Familienmitglieder hat aber nicht nur den Sinn, das dysfunktionale Verhalten eines Familienmitglieds zu kompensieren, sondern es soll die Familie auch vor Statusverlust und sozialer Stigmatisierung bewahren. Daß die Angst vor dem Verlust des finanziellen und damit auch sozialen Status berechtigt ist, zeigen die Befragungen von Müller, in denen nach Angaben der Ehefrauen in 14 von 22 Familien die Alkoholsucht des Mannes zu finanziellen Problemen führte. 8 Ehefrauen von Alkoholikern gaben an, sie wären nur deshalb berufstätig, um die finanzielle Situation der Familie zu verbessern. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, daß in vielen Fällen zumindest der Versuch unternommen wird, durch die Alkoholsucht entstandene Engpässe auszugleichen. Dabei dürfte ein wesentliches Motivationsmoment für diese Bemühungen auch die Tatsache sein, daß mit einem Verlust des finanziellen Status auch fast immer ein Verlust des Sozialprestiges verbunden ist. Bei Alkoholikerfamilien ist die Gefahr der sozialen Stigmatisierung groß. Übermäßiger Alkoholkonsum wird zwar durch die Gesellschaft gefördert (z.B. durch Werbung oder Trinkrituale zu bestimmten Anlässen), Alkoholsüchtige aber als willensschwach und für die Gesellschaft belastend verachtet. Dies kann für die ganze Familie zu sozialer Abwertung führen, die sich unter dem Begriff der sozio-strukturellen Gewalt einordnen läßt (vgl. Bertling: 120 ff). Die Verheimlichung des Alkoholproblems vor der Außenwelt hat also durchaus objektiv nachvollziehbare Gründe, wirkt sich aber langfristig fatal aus, weil eine Korrektur der nach außen sichtbaren Folgen der Alkoholkrankheit diese nicht heilt, sondern eher verschlimmert. In allen Untersuchungen entschloß sich die übergroße Mehrheit der Alkoholiker erst dann zu einer Therapie, als die Ehepartner ernsthaft mit Scheidung drohten (vgl. u.a. Villiez: 96).

2.2.1 Kontakte der Kinder zu Nicht-Familienmitgliedern

In der primären Sozialisationsphase macht das Kleinstkind seine ersten Gruppen- erfahrungen in der Kernfamilie. „Das Kind lernt, welche Bedeutungen die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung mit ihren Worten, Gesten, Mienen und mit ihrem Tun

und Lassen verbinden;...Fachlich gesprochen werden damit kognitive, sprachliche, motivationale und affektiv-emotionale Persönlichkeitsmerkmale...zunächst elementar ausgeformt“ (Henecka: 43). Welche Folgen es für ein Kleinkind hat, wenn Mitglieder der Kernfamilie, die ihm Normalität und Sicherheit im Umgang mit anderen vermitteln sollen, zutiefst unberechenbar in ihrem Verhalten und in ihren Gesten sind, läßt sich leicht folgern. Wenn Unberechenbarkeit die Regel und Unsicherheit Normalität sind, kann das Kind kein Vertrauen zu anderen Menschen entwickeln. Je weiter die Sozialisation sich auf andere Menschen außerhalb der Kernfamilie ausdehnt, desto schmerzlicher wird das Kind begreifen, daß irgend etwas in seiner Familie „nicht stimmt“. Viele Kinder aus Alkoholikerfamilien haben zeitlebens ein sehr geringes Selbstwertgefühl, weil sie sich als Kinder ihrer Familiensituation schämten. Auch und gerade Kinder haben den verständlichen Wunsch, sozialer Stigmatisierung zu entgehen. Freunde können nicht nach Hause eingeladen werden, weil das Kind sich nie sicher sein kann, ob ein Elternteil betrunken ist oder ob andere Indizien zu Hause auf das Alkoholproblem hinweisen. In 6 von 18 von Müller untersuchten Familien brachten die Kinder keine Freunde mit nach Hause und versuchten, die Alkoholkrankheit vor Freunden und Mitschülern geheimzuhalten. Zwei Kinder lebten tageweise auf der Straße unter alkoholkranken Jugendlichen (vgl. Müller: 98).

Gleichzeitig haben Kinder aus Alkoholikerfamilien oft das Gefühl, „anders“ als andere zu sein. Sie distanzieren sich, weil sie glauben, es könne sie sowieso niemand verstehen. Sie fühlen sich oft verantwortlich, mit ihrem Rollenverhalten das Familienleben in Krisensituationen wieder in Ordnung zu bringen. Sie wissen nie, ob sie gerade gebraucht werden und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie einmal nicht verfügbar sind. Dieses Verantwortungsgefühl wird von der alkoholkranken Familie unterstützt und es wird direkt oder indirekt mit Sanktionen gedroht, falls das Schweigegebot nicht eingehalten wird. Vor allen Dingen der Geheimhaltungsfaktor trägt dazu bei, daß sich die Familie zunehmend von der Außenwelt abschottet. Soziale Kontakte werden auf ein Minimum beschränkt. Wohl aus diesem Grund bezeichnete Villiez Suchtfamilien als besonders „familiensüchtig“ und stellte fest, daß sie auf Heirat, Pubertät oder Auszugswünsche eines Kindes besonders sensibel reagieren (vgl. Villiez: 95).

2.2.2 Schulische Leistungen

Gerade für Kinder aus gestörten Familien kann die Schule zu einem Ort werden, an dem sie unabhängig von der Familie soziale Kontakte in einem fest abgesteckten Rahmen aufnehmen können. Einige Kinder aus Alkoholikerfamilien spornt dies sogar zu ungeahnten schulischen Höchstleistungen an. Kinder, die die Rolle des Helden oder des Übererwachsenen eingenommen haben, sind sogar für gute schulische Leistungen prädestiniert. Diese Kinder sind im Allgemeinen sozial weniger auffällig.

Leistungsstörungen hingegen gehen oft einher mit Verhaltensstörungen, die bei vielen Alkoholikerkindern auftreten und auf die in Abschnitt 2.3.2 noch einmal näher eingegangen wird. Hyperaktivität und aggressives Verhalten beispielsweise werden von Lehrkräften und Mitschülern als störend empfunden und entsprechend sanktioniert. Ständige geistige Abwesenheit führt ebenfalls zu einer Minderung der Konzentrationsfähigkeit. Das „verlorene Kind“, das sich häufig in Tagträume flüchtet, wird auch hier oft verkannt und muß mit Sanktionen rechnen. Viele Lehrkräfte erkennen nicht, daß ein Alkoholikerkind nicht faul oder dumm, sondern häufig schlichtweg übermüdet und mit häuslichen Arbeiten überlastet ist.

Müller stellte bei 5 von 18 Familien mit schulpflichtigen Kindern massive schulische Probleme bei mindestens einem Kind fest. Dazu zählten plötzlicher Leistungsabfall, Klassenwiederholungen und Versetzungsgefährdung. In 8 von 18 Familien hatten ein oder mehrere Kinder Probleme in Ausbildung (wozu auch die Schule zählte) und Beruf (vgl. Müller: 97). „Als Ursache gaben alle betroffenen Eltern übereinstimmend an, sie hätten nicht genug Kraft, ihre Kinder zu fördern. In einer Familie hatten beide, in einer weiteren eines der Kinder die Lehre abgebrochen. Hier gaben die Befragten an, sie hätten keinen Einfluß mehr auf das Verhalten ihrer Kinder“ (Müller: 97).

Die Ergebnisse der Untersuchungen und Erfahrungsberichte von Kindern aus Alkoholikerfamilien lassen den Schluß zu, daß die Schulleistung dieser Kinder wesent- lich vom Ausmaß der Schädigung in der Familie abhängt. Physische Gewalt, sexueller Mißbrauch oder ein niedriges Sozialprestige verstärken den negativen Einfluß, den die Alkoholabhängigkeit eines Elternteils ohnehin für die Schulleistungen der Kinder hat. Andererseits ist gerade die Schule ein Ort außerhalb der Familie, an dem Alkoholikerkinder Vertrauen fassen und soziales Verhalten lernen können. Lehrer werden gerade für diese Kinder oft zu wichtigen Vertrauenspersonen. Diesen Aspekt hat auch die Hamburger Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung erkannt. Die Dienststelle Schülerhilfe, die zu dieser Behörde gehört, hat an vielen Schulen Beratungslehrer, an die sich Schüler/Innen mit eigenen Drogenproblemen oder bei Drogenproblemen im Elternhaus wenden können. Auch die Berater/Innen sind bei Bedarf an den Schulen präsent.

2.3 Mögliche Folgeschäden

Alkoholismus im Elternhaus kann für die Kinder sowohl körperliche und psychische Störungen als auch Verhaltensauffälligkeiten zur Folge haben. Die Bandbreite der möglichen Beeinträchtigungen reicht hierbei von der medizinisch indizierbaren Behin- derung (Alkoholembryopathie) bis zu nicht so ohne weiteres erkennbaren Kommunikations- oder Beziehungsstörungen. Keine der aufgeführten schädlichen Folgewirkungen muß zwangsläufig auftreten, wenn ein Elternteil alkoholsüchtig ist. Viele Schädigungen können auch langfristig wieder korrigiert werden, wenn der Alkohol- abhängige den Weg aus der Sucht findet oder wenn das Kind erwachsen ist. Andererseits treten viele der Störungen parallel auf und haben sich im Laufe der Zeit so manifestiert, daß eine Heilung nur mit Hilfe von Ärzten oder Therapeuten möglich ist.

2.3.1 Körperliche Folgeschäden

Die Alkoholembryopathie ist im Hinblick auf die späteren Lebenschancen des Kindes die folgenschwerste Behinderung, die durch die Alkoholsucht der Eltern entstehen kann. Sie wird durch übermäßigen Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft hervorgerufen. Die Liste der möglichen Symptome ist lang und eine ausführliche Darstellung würde den Rahmen dieser nicht-medizinischen Untersuchung sprengen. Als beispielhaft seien hier genannt: Minderwuchs und Untergewicht, abnorme Verkleinerung des Gehirnschädels bei normaler Gesichtsgröße, Gaumenspalte, Genitalfehlbildung, geistige Entwicklungsverzögerungen wie Sprachstörungen, Hörstörungen, Eß- und Schluckstörungen, Schlafstörungen, Hyperaktivität, Autismus usw. Pro Jahr werden in der Bundesrepublik etwa 2200 Kinder mit Alkoholembryopathie geboren (vgl. Löser/Neumann/Rustemeyer: 303 ff).

In die Kategorie der nur begrenzt reparablen physischen Behinderungen gehören auch alle anderen dauerhaften körperlichen Schädigungen, die im Zusammenhang mit dem Alkoholismus eines Elternteils stehen, also Behinderungen, die durch Schläge, Verwahrlosung oder sexuellen Mißbrauch in Kombination mit übermäßigem Alkoholkonsum entstanden sind.

Der emotionale Druck in einer Alkoholikerfamilie kann sich bei erwachsenen Familienangehörigen und Kindern gleichermaßen in psychosomatischen Symptomen äußern Es kann sich hierbei um Kopfschmerzen, Übelkeit, Magenbeschwerden u.ä. handeln. Auf den Zusammenhang zwischen psychischen Symptomen und körperlichen Beschwerden wird in Kapitel 3.1.2 noch einmal näher eingegangen.

2.3.2 Psychische Folgeschäden und Verhaltensstörungen

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind folgende psychische Beeinträchtigungen von Alkoholikerkindern bekannt:

- Nachlassende Schulleistungen,
- emotionale Labilität,
- Tendenzen zu unangemessenem Sozialverhalten, z.B. übersteigerte oder unterschwellige Aggressionen,
- Überanpassung,
- Stottern,
- Bettnässen,
- Einkoten,
- nervöse Schlafstörungen,
- Nägelbeißen,
- Hospitalismus,
- Zukunftsunsicherheit,
- Selbstunsicherheit, geringes Selbstwertgefühl,
- Unsicherheiten in der Beziehung,
- soziale Isolation, Abbruch von Sozialkontakten,
- große Schamgefühle (insbesondere beim Mißhandlungssyndrom sexuelle Mißhandlung),
- Störungen im Sozialverhalten,
- Ausagieren der Schwierigkeiten durch auffallendes Verhalten wie z.B. als Klassenclown,
- kriminelles Ausagieren (Delinquenz, Heimkarriere),
- extreme Introvertiertheit“ (Huck/Arenz-Greiving: 138 f).

Viele Kinder leiden auch unter Depressionen oder Angstsymptomen (vgl. Bertling: 126). Die aufgeführten Störungen erhöhen die Gefahr, daß Alkoholikerkinder eine eigene Suchtproblematik entwickeln, etwa im Bereich Alkohol, Medikamente und illegale Drogen. Eßstörungen wie Bulimie und Magersucht gehören ebenfalls in diese Kategorie (vgl. Huck/Arenz-Greiving: 139).

3 Die Reproduktion von Alkoholismus als soziale Problemlage

3.1 Die Situation von erwachsenen Alkoholikerkindern

Art und Umfang der bei Alkoholikerkindern festgestellten Störungen werfen die Frage auf, inwieweit diese Störungen Einfluß auf das spätere Erwachsenenleben der Kinder haben bzw. inwieweit sich diese Störungen im Erwachsenenleben fortsetzen. Salloch-Vogel, Chefarzt der psychosomatischen Abteilung in einem Berliner Krankenhaus, hat sich speziell mit der Gefühlswelt von Alkoholikerkindern befaßt. Er untersuchte im Rahmen eines Pilotprojekts der AL-ANON 46 Kinder von Alkoholiker/Innen. In seine Untersuchungen bezog er auch bereits erwachsene Kinder mit ein, die 46% der Untersuchungsgruppe ausmachten. 76% der untersuchten Erwachsenen waren Frauen.

Bei allen untersuchten Personen stellte Salloch-Vogel eine „generalisierte Beziehungs- störung“ fest. (vgl. Salloch-Vogel: 14 ff). Das Verhalten, das aus dieser Beziehungsstörung resultiert, läßt sich am ehesten mit dem Bedürfnis umschreiben, alte Beziehungsmuster zu wiederholen. Deutlich wird dies an der erhöhten Affinität von Alkoholikerkindern zu Suchtmitteln und zu Suchtmittelabhängigen (siehe Kap. 3.1.4).

3.1.1 Emotionale und psychische Befindlichkeit

Die emotionale und psychische Befindlichkeit eines Menschen ist nicht quantifizierbar. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Forschung in diesem Bereich. Die aussagekräftigsten Ergebnisse wurden mit Befragungen und Selbsteinschätzungen von erwachsenen Alkoholikerkindern erreicht. Salloch-Vogel kam in seiner schon in Kapitel

3.1 vorgestellten Untersuchung zu folgendem Ergebnis:

Tabelle 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Salloch-Vogel: 20)

Die Ergebnisse der Befragung sind ein Beleg dafür, daß sich die in Abschnitt 2.3.2 genannten kindlichen Verhaltens- und Beziehungsstörungen von Alkoholikerkindern im Erwachsenenleben fortsetzen.

Winkelmann ging der Frage nach, ob es signifikante Unterschiede zwischen erwach- senen Alkoholikerkindern und erwachsenen Nicht-Alkoholikerkindern gibt, im folgenden ACAs und Non-ACAs genannt. Die Untersuchungsgruppe setzte sich aus 82 Personen zusammen. Davon kamen 20 aus einer Alkoholikerfamilie. 60% der ACAs, aber nur 25,8% der Non-ACAs wiesen „starke bis sehr schwere Persönlichkeitsstörungen“ auf. 90% der ACAs wurden als überdurchschnittlich depressiv eingeschätzt, 65% als ungesellig, zurückhaltend, irritierbar und zögernd (zitiert nach Bertling: 174 ff).

3.1.2 Körperliche Beschwerden

Die Grenzen zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen sowie zwischen psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten sind oft fließend. Körperliche Beschwerden sind z.B. in Wirklichkeit oft psychosomatisch bedingt.

Eine Befragung erwachsener Alkoholikerkinder bezüglich körperlicher Folgeschäden führte zu folgendem Ergebnis:

Tabelle 2

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Salloch-Vogel: 21)

Es kann als erwiesen gelten, daß seelische Probleme oft körperliche Beschwerden hervorrufen. Dennoch wenden sich viele Patient/Innen zuerst einmal an den Hausarzt, um mit Medikamenten das Symptom zu kurieren. Von vielen Ärzten wird das Familienproblem Alkohol als Ursache körperlicher Beschwerden nicht erkannt. Vor diesem Hintergrund kann man nur erahnen, wieviele Erwachsene und Kinder medikamentös behandelt werden, ohne daß der Ursache des Problems auf den Grund gegangen wird. Das ändert erstens langfristig nichts am Problem und leistet zweitens der Gefahr einer weiteren Suchtmittelabhängigkeit, die gerade für (erwachsene) Alkoholikerkinder gegeben ist, Vorschub.

3.1.3 Zwischenmenschliche Beziehungen

Die emotionale und psychische Befindlichkeit von Alkoholikerkindern wirkt sich vor allen Dingen auf ihre zwischenmenschliche Beziehungen aus. Wie in Kapitel 3.1 schon kurz angeführt, leiden viele Alkoholikerkinder unter einer massiven Beziehungsstörung.

Gerade für erwachsene Alkoholikerkinder haben zwischenmenschliche Beziehungen jedoch einen hohen Stellenwert. Ihre persönliche Tragik besteht darin, daß sie in ihrer Kindheit kaum die Chance hatten, intakte Beziehungen aufzubauen. Die Beziehungen zwischen Alkoholikereltern und ihren Kindern ist geprägt durch „...eine Verwischung natürlicher Grenzen, ein maßloses Verletzen der Intimität sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder“ (Salloch-Vogel: 14). Viele erwachsene Alkoholikerkinder haben deshalb Angst vor Nähe, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß sie verletzt werden, wenn sie sich öffnen. Weil sie unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden und sich für alles verantwortlich fühlen, halten sie andererseits aber auch oft um jeden Preis an einer einmal eingegangenen Beziehung fest und haben große Angst, verlassen zu werden. Das erhöht für sie die Gefahr, in einer Beziehung die Rolle des Co-Abhängigen einzunehmen.

3.1.4 Das Verhältnis zu Alkohol und anderen Suchtmitteln

Insbesondere die soziale Vererbbarkeit von Alkoholismus ist schon oft Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gewesen. So lange Alkoholismus aber nur als indi- viduelles Problem gesehen wurde, wurden lediglich hospitalisierte Alkoholkranke befragt. Mit der Erweiterung der Fragestellung auf die Familie als (Sucht)system tat sich zwangsläufig auch die Frage auf, ob das Verhalten eines Co-Alkoholikers nicht ebenso „ererbt“ ist, wie das Verhalten des Süchtigen selbst. In Salloch-Vogels Untersuchung gaben 14 von 20 erwachsenen Kindern von Alkoholikern an, sie hätten mindestens einmal, ohne es zu wissen, eine enge Beziehung zu einem Süchtigen aufgenommen. Bei 8 von 14 Personen passierte dies sogar mehrfach (vgl. Salloch-Vogel: 22).

Müllers Befragung hinsichtlich des Vorhandenseins von Alkoholismus in der Herkunfts- familie führte zu folgendem Ergebnis: „27% der Alkoholiker hatten alkoholkranke Väter, 13% hatten alkoholkranke Verwandte zweiten Grades, 7% alkoholkranke Geschwister...Erwähnenswert ist auch, daß 23% der Partner von Alkoholikern in ihrer eigenen Familie alkoholkranke Verwandte ersten Grades nennen konnten“ (Müller: 99).

Die Gründe für die soziale Vererbbarkeit von Alkoholismus liegen u.a. auch in den aus dem Alkoholikerelternhaus übernommenen Ritualen. Gerade die in Abschnitt 3.1.1 aufgezeigten Defizite im Hinblick auf Konfliktbewältigung und Beziehungen sowie die bei Alkoholikerkindern oft geringe Frustrationstoleranz machen diese anfällig für Suchtmittel als Problemlöser.

4 Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich körperliche und seelische Störungen, die bei Alkoholikerkindern schon im Kindesalter typischerweise auftreten, im Erwachsenenalter fortsetzen. Diese Störungen wirken sich vor allen Dingen auf die Fähigkeit von erwachsenen Alkoholikerkindern aus, „normale“, d.h. stabile Beziehungen einzugehen. Die geringe Frustrationstoleranz von erwachsenen Alkoholikerkindern, die falschen, weil oft idealisierten Vorstellungen von einer „normalen“ Beziehung sowie mangelnde Techniken zur Konfliktbewältigung erhöhen für sie das Risiko, daß sie mit all den materiellen Nachteilen einer Scheidung oder Trennung konfrontiert werden, die materielle Armut begünstigen.

Erwachsene Alkoholikerkinder gehen oft wiederum eine Beziehung mit einem Suchtabhängigen ein oder werden selbst suchtabhängig. Sie reproduzieren somit ungewollt das „Familiensystem Sucht“, das sie in ihrer eigenen Kernfamilie kennengelernt haben, mit allen materiellen und sozialen Risiken. Auch die eigenen Kinder werden in diesen Reproduktionsmechanismus einbezogen.

Auf den Zusammenhang zwischen, durch Alkoholismus im Elternhaus verursachten, schlechten Schulleistungen und späterem beruflichen Erfolg konnte in dieser Untersuchung nicht hinreichend eingegangen werden. In Kapitel 2.2.2 wurde dargelegt, daß der Alkoholismus im Elternhaus oft negativen Einfluß auf die Schulleistungen hat. Da im deutschen Bildungssystem aber ein qualifizierter Schulabschluß unbedingte Voraussetzung für eine gut bezahlte, nicht krisenanfällige berufliche Tätigkeit ist, ist zu vermuten, daß ein Zusammenhang besteht.

Es kann angenommen werden, daß Alkoholismus ein Indikator für materielle und soziale Problemlagen ist. Aus den in Kapitel 3 gemachten Ausführungen kann weiterhin angenommen werden, daß bei erwachsenen Alkoholikerkindern eine Tendenz besteht, diese Problemlagen fortzuführen bzw. zu reproduzieren. Die Frage, ob Kinder aus Alkoholikerfamilien einer sozialen Risikogruppe zuzurechnen sind, kann somit eindeutig mit „JA“ beantwortet werden.

5 Ausblick

Zum Thema „Kinder aus Alkoholikerfamilien“ steht wenig literarisches, aber noch viel weniger statistisches und empirisches Material zur Verfügung. Über die unter- schiedlichen Auswirkungen des Alkoholismus im Elternhaus auf Kinder unter- schiedlichen Alters ist beispielsweise fast kein verwertbares Material vorhanden. Deshalb konnte in der Untersuchung auf diesen Aspekt leider nur am Rande eingegangen werden.

Das Augenmerk dieser Untersuchung ist vor allen Dingen auf die Folgeerscheinungen gerichtet, die später zu einem sozialen Scheitern des Kindes führen können. Zu diesem Zweck wurden auch Erklärungsmodelle herangezogen, die die Mechanismen in einer Alkoholikerfamilie verdeutlichen. Die Situation von Alkoholikerkindern in der Familie zu verstehen ist die erste Voraussetzung, um Maßnahmen zu ergreifen, die für sie die Gefahr des sozialen Scheiterns vermindern. Medizinische und psychologische Hilfen für die Familien sind notwendig. Oft kommen diese Hilfen für die Kinder aber zu spät, d.h. erst dann, wenn sich bereits Verhaltensauffälligkeiten herausgebildet haben oder wenn sie bereits erwachsen sind. Befindet sich die Alkoholikerfamilie noch in der Phase der Geheimhaltung und Verleugnung, sind die Kinder darauf angewiesen, daß jemand ihre Sorgen erkennt und schlechte Schulleistungen oder Verhaltensauffälligkeiten hinterfragt. Lehrkräfte könnten in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen, denn sie haben die Chance, Alkoholikerkinder außerhalb der Einflußsphäre ihrer Familie zu beobachten. Eine bessere Schulung der Lehrkräfte über die psychosozialen Folgen von Alkoholismus im Elternhaus, körperlicher Mißhandlung und sexuellem Mißbrauch wären notwendig. Nach dem Vorbild der „Schülerhilfe“ (siehe Kapitel 2.2.2) sollte es an jeder Schule mindestens einen Vertrauenslehrer geben, der sich mit der Thematik auskennt.

Manchmal ist es unumgänglich, daß Kinder zeitweise in Wohngruppen untergebracht werden. Da nicht genug Plätze vorhanden sind, geschieht dies aber meistens nur in Fällen von sexuellem Mißbrauch, krasser körperlicher Mißhandlung oder extremer Verwahrlosung. Eine zeitweise außerhäusliche Unterbringung wäre aber auch in weniger krassen Fällen oft von Vorteil. Dazu wären mehr Wohngruppenplätze notwendig.

Die Autorin ist der Ansicht, daß ein größeres Angebot an Ganztagsschulen ebenfalls eine sinnvolle bildungspolitische Maßnahme wäre, um die Folgen unterschiedlichster sozialer Problemlagen für Kinder auszugleichen. In einer Ganztagsschule hätten Alkoholikerkinder die Chance und Zeit, schulische Defizite auszugleichen und unabhängig vom Elternhaus eigene Interessen zu entwickeln. Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität oder Aggressivität könnten beispielsweise durch Sportangebote ausgeglichen werden, Wahrnehmungs- und Beziehungsstörungen mit Gruppenarbeit und kreativer Förderung im Bereich Malen, Werken oder ähnliches. Ein solches Angebot wäre für viele, nicht nur Alkoholikerkinder, vorteilhaft und würde mehr Chancengleichheit gewährleisten.

Die Benachteiligung von Alkoholikerkindern auszugleichen, ist eine große Aufgabe, die mit vielen kleinen Schritten bewältigt werden muß. Nach meiner Einschätzung wird noch viel wissenschaftliche Arbeit notwendig sein, um der Situation von Alkoholikerkindern gerecht zu werden. Je mehr wir über die unterschiedlichen Ausprägungen des Alkoholismus und seine Folgen für Kinder wissen, desto besser können therapeutische, medizinische und sozialpolitische Maßnahmen entwickelt und abgestimmt werden.

Literaturverzeichnis

1. Ingrid Arenz-Greiving: Kinder von Suchtkranken; Auswirkungen der Suchterkrankung auf die Kinder in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Sucht und Familie, Freiburg/Breisgau 1993

2. Annette Agnes Bertling: Wenn die Eltern trinken; Mögliche Auswirkungen der Alkoholsucht der Eltern auf deren Kinder, Berlin 1993

3. Jutta Brakhoff (Hrsg.): Kinder von Suchtkranken; Situation, Prävention, Beratung und Therapie, Freiburg/Breisgau 1987

4. Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales/Landessozialamt/Arbeitsgruppe Armuts- und Sozialbericht des Verwaltungsausschusses beim Amt für Soziales und Rehabilitation (Hrsg.): Armut in Hamburg; Beiträge zur Sozialberichterstattung, Hamburg 1993

5. Hans Peter Henecka: Gesellschaft als Erfahrungsfeld; Einführung in die Soziologie, Tübingen 1994

6. Wilfried Huck/Ingrid Arenz-Greiving: Das Kind als Symptomträger in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in: Jutta Brakhoff: Kinder von Suchtkranken; Situation, Prävention, Beratung und Therapie, Freiburg/Breisgau 1987

7. Hermann Löser/ Gabriele Neumann/ Peter Rustemeyer: Kinder alkoholkranker Frauen- körperliche, mentale und soziale Entwicklungen bei 211 Kindern mit Alkoholembryopathie in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Sucht und Familie, Freiburg/Breisgau 1993

8. Norbert-Wolfgang Müller: Ein alkoholkranker Patient in der Familie-Auswirkungen auf Partnerschaft und Eltern-Kind-Beziehung (Diss.), Erlangen/Nürnberg 1991

9. Steffen-Luis Neuendorff/Jürgen Schiel: AL-ANON: Selbsthilfe für Angehörige von Alkoholkranken, Frankfurt/Main 1985

10. Monika Rennert: Rollenverteilung in belasteten Familien und die Entdeckung von Co-Abhängigkeit in Familien von Suchtkranken, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Sucht und Familie, Freiburg/Breisgau 1993

11. Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern: Was wird aus diesen Kindern? in: Jutta Brakhoff (Hrsg.): Kinder von Suchtkranken; Situation, Prävention, Beratung und Therapie, Freiburg/Breisgau 1987

12. Thomas von Villiez: Sucht und Familie, Berlin 1986

Abkürzungsverzeichnis

FHH Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales/Landessozialamt/Arbeitsgruppe Armuts- und Sozialbericht des Verwaltungsausschusses beim Amt für Soziales und Rehabilitation

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Kinder aus Alkoholikerfamilien - eine soziale Risikogruppe?
Hochschule
Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (ehem. Hochschule für Wirtschaft und Politik)
Veranstaltung
Integrierter Grundkurs
Note
bestanden
Autor
Jahr
1996
Seiten
24
Katalognummer
V96470
ISBN (eBook)
9783638091466
Dateigröße
379 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der "Integrierte Grundkurs" ist Bestandteil des Grundstudiums an der HWP. Prüfungsleistungen werden lediglich mit "bestanden" oder "nicht bestanden" bewertet.
Schlagworte
Kinder, Alkoholikerfamilien, Risikogruppe, Integrierter, Grundkurs
Arbeit zitieren
Birgit Mamood (Autor:in), 1996, Kinder aus Alkoholikerfamilien - eine soziale Risikogruppe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96470

Kommentare

  • Gast am 1.11.2000

    Der fehlende Glied in der Kette.

    Ich finde den Beitrag für mich äusserst nützlich, weil ich arbeite an meinem Abschlussarbeit "Therapie statt Strafe".Es ist ein Projektplan für straffälig gewordene Suchtkranke und dessen Familienangehörige.Ich empfehle statt Freiheitsentzug, Zwangstherapie oder Geldstrafen das Ermöglichen von Kodo-Naikan (1 Jahr lang dauernde, durch Einsicht motivierte, nachhältige Verhaltensänderungsprozess als Dauerlösung.
    Die Volksgesundheitliche und -wirtschaftliche Folgen waren mir bekannt aber so stichhältig konnte ich es nicht beweisen.
    Danke nochmals und alles Gute!

Blick ins Buch
Titel: Kinder aus Alkoholikerfamilien - eine soziale Risikogruppe?



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