Tonträger statt Theaterkarten, Selbstbedienungswirtschaft statt Dienstleistungswirtschaft. Nachindustrielle Gesellschaft bei Jonathan Gershuny


Seminararbeit, 1999

31 Seiten, Note: 1,0 ("sens


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Gershunys Dimensionen der Selbstbedienungswirtschaft
1. Konsum von Dienstleistungen
2. Substitution von Dienstleistungen durch Güter
3. Konsequenzen
4. Folgerung und ein aufgedecktes Mißverhältnis
5. Drei mögliche Erklärungen
Re-Definition des Problems
Dienstleistungsjobs sind "besser" "Ehernes Gesetz der Bürokratie"
6. Was jetzt: Güter oder Dienstleistungen?
7. Eine Art Fazit und Bewertung

III. Einige Beispiele aktuelle Problemfelder
1. Geld macht nicht glücklich vs. das "Gefühl der Geborgenheit"
2. Befreiung des Dienstmädchens vom Glastisch durch Rot-Grün
3. Kajaks in Berlin-Mitte und der ÖPNV als "Hochpreisprodukt"
4. Weglänge des Durchschnittsbremers und Abkopplung der Kernstädte
5. Zusammenfassung und Abschluß

IV. Verwendete Literatur und weitere URLs

I Einleitung

In der Diskussion um die nachindustrielle Gesellschaft ist implizit ein Schritt bereits getan, nämlich die Feststellung, daß wir in einer solchen leben oder nahezu unausweichlich auf eine solche hinsteuern, und daß diese als Dienstleistungsgesellschaft besteht oder bestehen wird. In der gegenwärtigen Entwicklung werden von Jean Fourastié und Daniel Bell darauf hindeutende Tendenzen ausgemacht und als gewissermaßen zukunftsfrohe Prognosen Weise ausformuliert.

Kennzeichen einer solchen Gesellschaftsform wären vor allem diese beiden, die von Häusermann und Siebel formuliert werden: eine Beschäftigungsstruktur, die durch ein "Übergewicht"an Beschäftigten in Dienstleistungstätigkeiten gekennzeichnet ist, und eine gleichzeitige Veränderung der Verbrauchergewohnheiten hin zu steigendem Konsum von Dienstleistungen. Jonathan Gershuny prüft diese theoretischen Überlegungen, die z.B. von Bell als Vorhersage über die Zunahme von Konsum- und personenorientierten Leistungen formuliert wurden, an empirischen Daten. Dabei widerlegt er sowohl die Annahme der engen Bindung von Beschäftigungs- und Konsumstruktur wie auch die Existenz der Dienstleistungsgesellschaft. Die bestehenden Strukturen von Konsum und Tätigkeiten werden mit den aufgestellten Erwartungen und Vorhersagen abgeglichen und mit der Aufstellung der alternativen (und verhalten pessimistischen) These der "Selbstbedienungs wirtschaft"beantwortet.

In dieser Arbeit zeige ich die für die relevanten Auffassungen grundlegenden Züge der gegensätzlichen Argumationen Bells und Gershunys unter Einbeziehung statistischer Wirtschaftsdaten Großbritanniens der Jahre 1954-1974 auf (Teil II). Die Darstellung von Bell geschieht dabei eher knapp und wird jeweils als Ausgangspunkt für solche Kritikpunkte hergenommen, die Gershuny anbringt. Ich schließe ab mit der Diskussion einiger im weiten Sinne politisch aktueller Themen, die sich auf bestimmte Aspekte der Dimensionen der Argumentationen beziehen und dabei die Thesen Gershunys in verschiedener Weise stützen (Teil III).

II Gershunys Dimensionen der Selbstbedienungs wirtschaft

II.1 Konsum von Dienstleistungen

Mittelpunkt des Konzepts der Dienstleistungsgesellschaft ist das "Engelsche Gesetz", das die hierarchische Organisation von Bedürfnissen beschreibt: Wachsende finanzielle Mittel werden danach bei gedecktem lebensnotwendigem Grundbedarf für die Erfüllung der weniger dringlichen Wünsche verwendet. Veranschaulicht wird das durch Abbildung 5-2:

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Die Ausgabekategorien sind darin nach ihrer Bedeutung geordnet.

a. Lebensmittel weisen eine relative Abnahme der Ausgaben bei steigendem Wochenbudget auf
b. dauerhafte Konsumgüter, deren Ausgabenanteil in etwa gleich bleibt und
c. Dienstleistungen, deren Anteil bei höherem Wochenbudget proportional zu diesem ansteigt.

Empirisch prüfen läßt sich das an Daten des "Household Expenditure Survey", einer differenzierten Analyse der Ausgabenstruktur von Privathaushalten in Großbritannien. Eine grafische Darstellung gibt Abbildung 5-3:

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Zumindest der Verlauf für die Nahrungsmittel entspricht der Kurve (a): die Ausgaben haben relativ abgenommen. Für Dienstleistungen gibt es diese Übereinstimmung nicht, im Gegensatz zur Vorhersage (c) sind die Ausgaben für Dienstleistungen konstant geblieben. Transport ist hier die einzige Kategorie mit deutlich proportionalem Zuwachs. Auch Bell erwähnt das Transportwesen als Kategorie, für die er einen Anstieg der Ausgaben erwartet. Hier scheint eine Übereinstimmung vorzuliegen. Sehen wir noch etwas genauer hin:

Ein möglicher Zusammenhang zwischen den Kategorien "Transport" und "Dienstleistungen" sieht zum Beispiel so aus: Öffentlicher Nahverkehr (als Transport sowohl von Personen wie auch von Gütern) erfordert nach der Aktivitätsdefinition (synchrone, d.h. gleichzeitige Beteiligung des Diensterbringers und des Dienstnehmers) die Mitwirkung von Dienstleistungsarbeitern, für Automobile gilt das dagegen nicht. Entsprechend sind die Ausgaben für Dienstleistungen zu zählen. Tabelle 5-1 gibt hier Auskunft:

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Splittet man die Daten für "Transportausgaben" der allgemeinen Form in güter- und dienstbezogene Ausgaben, erkennt man, daß das gesamte Wachstum der Kategorie ausschließlich auf gestiegene Ausgaben für Kauf, Betrieb und Reparatur von Privatautos zurückzuführen ist, die Ausgaben für Transportdienste wie Busse, Eisenbahn und andere sind zurückgegangen. Dieser Einfluß wird in der zusammengefaßten Kategorie sogar überkompensiert.

Tabelle 5-2 zeigt, daß der Anteil der Ausgaben für Transportgüter sich verdreifacht hat, während im gleichen Zeitraum die Ausgaben für Transportdienste auf etwa zwei Drittel ihres Niveaus von 1954 gefallen sind. Über 80% der Transportausgaben entfallen dabei auf Transportgüter, und diese haben einen Anteil von 11% an den Gesamtausgaben gegenüber dem Anteil von nur noch 2,4% der Transportdienste.

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Der reale Reichtum von Haushalten in Großbritannien ist im selben Zeitraum 1954 bis 1974 um 50% gestiegen. Die Prozentsätze der Ausgaben für Dienstleistungen des Konsumbereichs wie Sport und Unterhaltung, Kino, Theater, Rundfunkgebühren und Leasing, aber auch Wohltätigkeitsspenden und Haushaltshilfen sind dagegen nicht gestiegen, sondern gleich geblieben. Gershuny faßt es so zusammen: "ein nachindustrielles Wachstum im Konsum von Dienstleistungen ist nicht zu erkennen." (Gershuny 1981:89)

Nach Bell und dem "Engelschen Gesetz" besteht die Erwartung für ein schnelleres Wachstum der Kategorie "Transport" nach als für die andere Ausgabenkategorien. Doch dieses findet nicht statt, was zum Problem des "weshalb" überleitet. Warum hat die Verallgemeinerung des "Engelschen Gesetzes" keine Gültigkeit? Und was bedeuten die steigenden Ausgaben für güterbezogene Ausgaben im Kontext der nahezu gleichbleibenden Ausgaben für Dienste?

Die erste dieser Fragen wird mit einer Beschränkung auf einen bestimmten Zeitpunkt sinnvoll beantwortet werden, die zweite vorerst noch genauer ausgeführt.

II.2 Substitution von Dienstleistungen durch Güter

Intuitive Gültigkeit besitzt das "Engelsche Gesetz" nach wie vor. "Wenn wir darüber nachdenken, kommen wir alle zu dem Schluß, daß wir, wären wir in diesem Moment ein bißchen reicher, unser Geld anders ausgeben würden. Gewiß würden wir nach wie vor für ein Dach über dem Kopf und unser Frühstücksei sorgen, aber ebenso würden wir einen neuen Einkommenszuwachs nicht durch zusätzliche Nahrungsmittel ausgegeben, sondern, sagen wir, für Theaterkarten." (Gershuny 1981:90)

Eine empirische Antwort gibt eine Auswertung der Ausgabenstruktur einer Reihe von Haushalten oder Individuen mit unterschiedlichen Budgets zu einem gegebenen Zeitpunkt. Der Querschnitt in Abbildung 5-4, nach den Kategorien Dauerhafte Konsumgüter, Nahrungsmittel und Dienstleistungen aufgeschlüsselt, sieht quasi haargenau aus wie Abbildung 5-2, wir finden fallende Ausgaben für Nahrungsmittel bei steigender Größe des Budgets, außer für die Ärmsten der Armen. Die proportionalen Aufwendungen für Dauerhafte Konsumgüter steigen zunächst und fällen dann wieder, und die Aufwendungen für Dienstleistungen steigen mit wachsendem Vermögen.

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Synchron, für nur einen Zeitpunkt betrachtet ist das "Engelsche Gesetz" tatsächlich gültig, weshalb ist es dann über die Zeit nicht anwendbar? Für eine angenäherte Antwort könnte man für zwei verschiedene Zeitpunkte Querschnitte erstellen und vergleichen und die Fragen stellen: was ändert sich? Wie ändert es sich?

Eine erste Antwort gibt die Kurve der Ausgaben für Dienst leistungen: 1974 liegt real unter der für 1954. Gershuny begründet dies mit der marginalen Neigung für Dienstleistungskonsum für jede Budgethöhe, welche für 1974 geringer sei als 1954. Der Anteil von einem zusätzlichen Pfund Sterling, der für Dienst leistungen ausgegeben wird, also der Teil der gegenüber 1954 größeren Budgets (d.h. der Realsteigerung), der für Dienst leistungen ausgegeben wird, ist gesunken, so daß der Ausgabenanteil für Dienstleistungen nahezu konstant geblieben ist, obwohl das Land reicher geworden ist.

Nach Kategorien aufgeschlüsselt finden sich die Graphen in Abbildung 5-5, und Gershuny vermutet auch für Nahrungsmittel und langlebige Konsumgüter die Gültigkeit derselben Faktoren der 1974 geringeren marginalen Neigung für Ausgaben im jeweiligen Bereich:

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Mögliche Erklärungen für die Verschiebungen der Ausgabenquerschnitte mögen zu finden sein in der Einkommenselastizität der Nachfrage oder in der Diskussion um Manipulation durch Werbung für überflüssige Konsumartikel. Gershuny verweist auf die entsprechenden Abschnitte über Galbraith in seinem Buch und darauf, daß für sein Thema es nicht notwendig ist, Begründungen zu finden, sondern es ausreicht, das Auftreten dieser Phänomene festzustellen. Um den Rahmen dieser Arbeit überschaubar zu halten, schließe ich mich dem an.

Die Dienstleistungsausgaben sind in Tabelle 5-3 strukturiert dargestellt und lassen Details der Struktur des Wandels erkennen, die den Eindruck von Gershunys Pessimismus stützt: Alle die Ausgaben, die mit engen persönlichen Kontakten verbunden sind wie für Unterhaltung und Sport, für Kinos und Theater, sowie für Haushaltshilfen und Wäschereien sind deutlich abgefallen, wohingegen Aufwendungen für Leasing von Fernsehgeräten, Rundfunkgebühren, Haushaltsgeräte, Telekommunikation sowie Urlaubsreisen stark zunehmen. Die maschinenvermittelten Posten der Liste sind im Aufwind:

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Eine knappe Darstellung wäre: Haushaltsdienste werden durch -geräte ersetzt (Waschmaschinen vs. Reinigung im Fachgeschäft), UnterhaltungsDienstleistungen durch Unterhaltungsgüter (Theater vs. Fernsehapparate) und TransportDienstleistungen durch Transportgüter (eigene Pkw vs. ÖPNV). Genauer gefaßt, ist zu erkennen, daß die maschinenvermittelten ("technischen") Posten von 1954-1974 Zuwächse von etwa 200% bis über 300% hatten, und die "intersubjektiven" Dienstleistungen im gleichen Zeitraum auf ein bis zwei Drittel ihres ursprünglichen Ausgabenniveaus gesunken sind. Auf erstere Kategorie wird 1974 etwa 80% des Gesamtbudgets verwandt (vorher unter 45%), auf letztere etwa 20% (1954 noch über 55%).

Bisher sind lediglich die Anteile des Gesamtbudgets untersucht, welche auf die verschiedenen Ausgabenkategorien entfallen; wo wir die Ausgaben für dieselben Kategorien zu verschiedenen Zeitpunkten miteinander vergleichen wollen, sind die Ausgaben lediglich auf einen aggregierten, d.h. zusammengefaßten "Verbraucherpreisindex" bezogen. Damit werden Preistrends, die naturgemäß unterschiedlich (zumindest nicht fraglos gleich) für verschiedene Waren sind, nicht angemessen berücksichtigt.

Unter dem Hinweis, daß "das Wesen der einzelnen Güter sich […] im Laufe der Zeit gewandelt [hat], so daß sich möglicherweise die Preisindizes für verschiedene Zeitpunkte auf verschiedene Wertstandards beziehen" (Gershuny 1981:95), ist die Entwicklung der Preise für die Kategorien Konsumgüter und Dienstleistungen zu sehen:

Wenn wir denn aggregierten Preisindex von 1954 gleich 100 setzen, so beträgt er 1974 267,8. Im Vergleich dazu ist der Preisindex für langlebige Konsumgüter auf 187 gestiegen, der für Dienst leistungen aber auf 321,5. Der Preis für Dienstleistungen ist 1,72 mal so schnell gestiegen wie der für langlebige Konsumgüter.

Eine Angabe über reale Konsumniveaus für diese Güter im Gegensatz zu den sie repräsentierenden monetären Budgetanteilen muß jede Konsumkategorie mit ihrem spezifischen Preisindex deflationiert werden, was in Abbildung 5-6 geschieht.

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Jetzt können wir erkennen, daß der Trend zu steigendem Realverbrauch materieller Güter "beachtlich" ist und eine deutliche Abnahme des Dienstleistungskonsums stattgefunden hat. Nach derselben Methode kann die Tabelle über den Rückgang der Dienstleistungsposten in Relation zu kompensierenden Gütern deflationiert werden, und so ergibt sich ein hochausgeprägtes Verkaufsmuster der Substitution von Dienstleistungen durch Güter, wie erneut gezeigt werden kann: Tabelle 5-5 belegt eindrucksvoll die Substitution von Dienst leistungen durch Güter mit preisbereinigten Indizes für einzelne Kategorien:

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Die bloße Substitution von Dienstleistungen durch Güter festzustellen, ist ein wichtiger Schritt, aber ein besonderes soziologisches Interesse hat ein möglicher Zusammenhang der beiden Formen der Erfüllung von Bedürfnisse sicherlich verdient. Zu der Frage, ob die substituierenden Güter tatsächlich dieselben Funktionen erfüllen, was keinesfalls automatisch der Fall sein kann, da der intersubjektive Charakter verlorengeht, schweigt Gershuny bzw. stellt die Frage nicht. Ich verweise hier auf einen möglichen Zusammenhang mit der Kategorie "Zufriedenheit" und in diesem Kontext auf Kapitel III.1 in dieser Arbeit.

II.3 Konsequenzen

Welche Konsequenzen ergeben sich aus den bisherigen Zahlen?

- Einmal gilt, daß Daniel Bell recht hat, wenn er behauptet, der Bedarf für die Befriedigung typischer, nachindustrielle Gesellschaften kennzeichnende Bedürfnisse steigt. Konsum meint hier aber nicht den Konsum nach der Aktivitätsdefinition, wie etwa eine Wäscherei, deren Leistungen immer dann, wenn die Wäsche schmutzig ist, in Anspruch genommen werden, sondern den allein auf den jeweils anschaffenden Haushalt bezogenen gesamten Nutzenstrom der Haushaltsanschaffung in Form der Berücksichtigung des Ertrages im Sozialprodukt.
- Dagegen ist die Investition von Kapital in der Industrie mit dem Ziel verbunden, daß von der Industrie Dienste für die Individuen und Haushalte bereitgestellt werden. Wenn Investitionen nur noch in Haushalten getätigt werden, also Güter des Konsums mit langer Lebensdauer gekauft werden, ist die fertigende Industrie vor allem damit beschäftigt, diese Kapitalgüter herzustellen in intermediärer, vermittelnder Produktion: die Waschmaschine wird benutzt, um im Haushalt das Endprodukt — von fraglich gleicher Funktionalität — herzustellen.
- Damit ist nach Gershuny der Trend zu einem "Do-it-yourself"-Wirtschaftssystem gegeben und eine Antithese zu Bells Dienstleistungsökonomie. An dieser Stelle drängt sich auch eine Karikatur zu Fourastiés "pluralistischen Lebensformen" als Kennzeichen des Übergangs von industrieller zu nachindustrieller Gesellschaft im so fundierten Bild des technisch vollständig, aber sozial unvollständig ausgestatteten, eben monetär privilegierten und unglücklichen Singlehaushalts auf.

Was ist mit den anderen Bereichen, die Wachstum aufweisen sollten, trifft Bells These dort zu? Zweifellos weisen Bildungs- und Gesundheitswesen Wachstum für die Jahre 1954 bis 1974 auf. Doch was verleitet uns dazu, anzunehmen, die Ausgeben würden notwendig weiter steigen? Ist nicht bereits einerseits ein Trend Haushaltsinvestitionen in Ausbildungsmaschinen und Gerätemedizin, also der Ersatz der gesellschaftlichen Investitionen in Gesundheits- und Ausbildungseinrichtungen erkennbar?

Zusätzlich zu den bisher betrachteten Haushaltsausgaben müssen auch die Staatsausgaben betrachtet werden. Tabelle 5-6 zeigt eine beachtliche Zunahme der Staatsausgaben für Dienstleistungen als Anteil an den gesamten Staatsausgaben: fast 34% der laufenden Ausgaben der öffentlichen Hand von 1954 und fast 60% der laufenden Ausgaben der öffentlichen Hand 1974 werden für Dienstleistungen ausgegeben, davon jeweils der größte Teil für Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitswesen, was Bells These vorerst stützt: die tatsächlichen Wachstumsbereiche der Vergangenheit innerhalb der öffentlichen Dienste in Großbritannien werden korrekt herausgestellt.

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Ein ganz anderes Licht auf die Theorie wirft der Vergleich dieser Zunahme mit den Privatausgaben derselben Kategorie. Tabelle 5-7 zeigt, daß "die Staatsausgaben […] immer noch weniger als ein Viertel der gesamten laufenden Ausgaben [betragen], so daß, obwohl die öffentlichen Ausgaben für Dienstleistungen die des privaten Sektors in den Schatten stellen, beide zusammen immer noch weniger als ein Drittel der privaten Ausgaben für Güter ausmachen." (Gershuny 1981:99) Mit anderen Worten, die Privathaushalte geben mehr als zweimal soviel Geld für langlebige Konsumgüter aus wie von Staat und Privathaushalten zusammengezählt für Dienst leistungen ausgegeben wird.

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Die drei Komponenten der nationalen Ausgaben in Tabelle 5-7 sind teilweise schon untersucht worden: die privaten Konsumausgaben enthalten zu etwa 9-10% der Gesamtausgaben Dienstleistungen, die Daten des "National Income and Expenditure" ergeben bei Einschluß der Ausgaben für "außerhäusliche Verpflegung" einen Abfall von 11,9% im Jahre 1954 auf 10,6% im Jahre 1974, siehe Tabelle 5-8. Die Analyse der Beträge für Dienstleistungen in laufenden öffentlichen Ausgaben aus Tabelle 5-6 findet sich in Tabelle 5- 9 in absoluten Zahlen.

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Die Unterscheidung von güter- und dienstleistungsbezogenen Elementen in der Kapitalbildung ist schwierig; Gershuny verweist auf den Unterschied der Höhe von Investitionen im Dienstleistungsbereich und im Bereich der güterproduzierenden Industrie, der "klar" sei, nämlich in ersterem wesentlich geringer als im letzteren. Er beschränkt sich dabei auf die Schätzung der laufenden Haushaltsausgaben und faßt in Tabelle 5-10 noch andere Tabellen zusammen, und erstellt eine Übersicht des Anteils der Dienst leistungen am Konsum in Großbritannien der behandelten Periode 1954-1974 in laufenden Millionen engl. Pfund.

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Im beschriebenen Zeitraum stiegen die Preise für Dienstleistungen um 20% schneller als die durchschnittliche Preissteigerung, und unter der Annahme eines ähnlich hohen Wachstums der Preise für öffentliche Dienste betrug der reale Konsum an Dienstleistungen 1974 — in mit den Schätzungen von 1954 vergleichbaren Zahlen — nur 19,6%. Er schließt, daß "diese Zunahme des Dienstleistungs konsums von 3,4% […] über einen Zeitraum von zwanzig Jahren wirklich nicht sehr signifikant [erscheint]."(Gershuny 1981:100) und stellt die berechtigte und sogar naheliegende Frage, ob dies das Wirtschaftssystem sei, in dem die Erteilung von Dienstleistungen bereits gewichtiger sei als die industrielle Güterproduktion, welches von den "Advokaten" der Dienstleistungsgesellschaft beschworen werde, der Anteil der Dienstleistungen von etwa einem Fünftel an der Wirtschaft hin oder her.

II.4 Folgerung und ein aufgedecktes Mißverhältnis

"Wohin führt das alles?" fragt Gershuny in der Überschrift zum letzten Abschnitt des Kapitels. Gemeint ist die Antwort auf das Problem, welche Folgerungen sich denn aus den bisherigen Abschnitten ziehen lassen. Dabei läßt sich vor allem folgendes festhalten:

Es kann nicht so sein, daß der gestiegene Bedarf an bestimmen Dienstleistungsbereichen die allgemeine Zunahme der Beschäftigtenhöhe in allen Dienstleistungsbereichen bewirkt. Lediglich bei einigen Dienstleistungen kann die Zunahme spezifischer Kategorien der Dienstleistungsbeschäftigung dies hinreichend erklären.

Ein Blick in die Zahlen des "National Income and Expenditure" zeigt, daß bei von 16,4% auf 22,5% gestiegenem Konsum von Dienst leistungen (gemessen am Anteil des Dienstleistungskonsums an laufenden Ausgaben) die Dienstleistungsbeschäftigung (erfaßt als Anteil an der Gesamtbeschäftigung) von 34,5% auf 48,1% gestiegen ist. "Der Anteil des Dienstleistungskonsums am gesamten Endverbrauch beträgt erheblich weniger als die Hälfte des Anteils der Dienstleistungsbeschäftigung an der Gesamtbeschäftigung." (Gershuny 1981:100)

Vergleicht man den Bereich Bildung und medizinische Versorgung mit den anderen (übrigen) Kategorien wie in Tabelle 5-12, findet sich ein sogar noch größeres Mißverhältnis zwischen Beschäftigtenanteil in Dienstleistungsbereichen und Konsum der korrespondierenden Dienstleistungen.

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Der gestiegene Konsum allein ist als erklärender Faktor für das stetige und ansehnliche Wachstum somit nicht überzeugend. Gershuny findet hierfür die Formel: "Schätzungsweise 35% der Erwerbsbevölkerung sind nicht damit beschäftigt, das Angebot für 11% des Endkonsums herzustellen. Was aber machen sie dann?" (Gershuny 1981:101f).

II.5 Drei mögliche Erklärungen

Gershuny selbst bietet drei mögliche Wege der Erklärung an: über

- eine plausible Neudefinition des Problems,
- eine Begründung über die Meliorationstheorie und
- eine zynische Reduktion.

Alle drei zusammengenommen sollen zu einer befriedigenden Antwort beitragen.

II.5.1 Re-Definition des Problems

Eine genauere Betrachtung des Wachstums innerhalb der einzelnen Kategorien von Dienstleistungsberufen zeigt, daß es zur Hauptsache in einer gestiegenen Beschäftigung für die Berufe besteht, die zum Endverbrauch von Gütern statt von Dienstleistungen beitragen.

1974 sind etwa ein Viertel der Dienstleistungsarbeiter mit Verkauf und Versicherung von Gütern beschäftigt. — Die am schnellsten expandierende Berufsgruppe ist die der Ingenieure und die verwandter technischer Berufe, und es scheint eine Korrelation zwischen der Zahl der Dienstleistungsbeschäftigten in der Industrie und der Produktivität zu geben. — Gershuny warnt davor, insbesondere hier nach einfachen Erklärungen zu fahnden, denn jeglicher Versuch, eines der Subsysteme zur treibenden Kraft zu machen, führe "notwendigerweise" in die Irre.

Beispielsweise führt die Aufnahme von Lehr- und medizinischen Berufen in die Gruppe derjenigen Berufe, die in der materiellen Produktion mitwirken, zu einer Überstrapazierung dieser Argumentation. Wohl aber trägt die gestiegene Produktionseffizienz dem Beschäftigungsanstieg in diesem Bereich Rechnung, und das so gestiegene Potential wird nicht direkt zur Bereitstellung von Dienstleistungen für den Endverbrauch verwandt. Insbesondere die "technischen" Berufe werden so als Beschäftigungsbereich, der v.a. zur Steigerung der Effizienz der Güterproduktion beiträgt, ansehen.

II.5.2 Dienstleistungsjobs sind "besser"

Dienstleistungsberufe seien irgendwie "besser - hygienischer, weniger entfremdend, motivierender - als andere Berufe", was

- mit der Meliorationstheorie oder alternativ
- mit der Notwendigkeit der Bereitstellung "angesehener" Jobs erklärt werden kann.

Gershuny führt u.a. Bell für die einfachere Erklärung nach a) an: "Geht die Gesellschaft von ökonomischen zu soziologischen Entscheidungskriterien für die Entwicklung und Gestaltung wirtschaftlicher Institutionen über, so können wir Arbeitsplätze und -bedingungen "verbessern", sogar auf Kosten der Produktivität, und diese Melioration schließt auch die Ausweitung der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich ein" (Gershuny 1981:103) und unterstellt damit, daß Dienst leistungen kaum materielle Güter produzieren und daher - ganz im Gegensatz zu den durch Zahlen belegten Tatsachen - in einer kapitalistischen Wirtschaft nicht von selbst expandierten. Daß eine Zunahme der Dienstleistungsbeschäftigung sowohl in Sektoren der Privatindustrie als auch der öffentlichen Versorgung mit sozialen Leistungen stattfindet, leitet ihn zur zweiten Begründung.

Bei allgemeiner Vollbeschäftigung und nach Gershuny

"großzügigen"Arbeitslosenunterstützung lassen sich die gestiegenen Kosten der Bereitstellung von angenehmeren und befriedigenderen Arbeitsplätzen möglicherweise durch Reduktion von Abwesenheits- und Fluktuationsverlusten und durch höhere Effizienz der Arbeitsleistung mehr als ausgleichen, und diese verbesserten Jobs seien notwendig, um die "zu Wohlstand gekommene Arbeiterschaft" noch anlocken zu können.

II.5.3 "Ehernes Gesetz der Bürokratie"

Eine "institutionelle Eigendynamik" an Stelle von realen Vorteilen der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich macht die dritte Begründung geltend. Ursache für die Zunahme von Dienstleistungsberufen sei eine vom jeweiligen Beitrag zum Output der Institution - insbesondere in der Verwaltung - unabhängige Instanz. Gershuny nennt die Begründung "zynisch", welche u.a. von Weber und Galbraith und in prägnanter Formulierung als "Gesetz" von C. Northcote Parkinson, einem englischen Historiker und Humoristen stammt:

"Arbeit läßt sich wie Gummi dehnen, um die Zeit auszufüllen, die für sie zur Verfügung steht…(Es besteht)…geringe oder gar keine Beziehung zwischen einem bestimmten Arbeitspensum und der Zahl der Angestellten, die das Pensum erledigen sollen… Jeder Beamte oder Angestellte wünscht die Zahl seiner Untergebenen, nicht aber die Zahl seiner Rivalen, zu vergrößern… Beamte oder Angestellte schaffen sich gegenseitig Arbeit." (Gershuny 1981:104)

Diese dritte Erklärung teilten sich Kritiker und Befürworter der Dienstleistungsgesellschaft. Ich persönlich finde in dieser dritten Erklärung eine wichtige Teilbegründung, die mit meinen bisherigen Arbeitsalltagserfahrungen korreliert; entsprechend ist diesem Befund keine besondere oder abwertende Auffassung zuzuschreiben.

II.6 Was jetzt: Güter oder Dienst leistungen?

Zwei grundlegende Einwände macht Gershuny gegen Bell und die These von der Dienstleistungsökonomie geltend:

- die ungenügende Trennung von Endverbrauch an Dienstleistungen und Beschäftigung in Dienstleistungsberufen oder Dienstleistungsindustrien: Dienstleistungskonsum erfordert Dienstleistungsarbeiter, aber Dienstleistungsarbeiter leisten nicht notwendig Dienste.
- die inadäquate Umstellung der alleinigen Möglichkeit der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse durch Dienstleistungen: beobachtbar sei dagegen ein konsistenter Substitutionsprozeß von Dienst leistungen durch Güter.

Ein formal-logischer Fehler liege in der These der Dienstleistungsökonomie: "obwohl Dienstleistungen Dienstleistungsberufe mit sich bringen, führt eine Beschäftigung in Dienstleistungsberufen nicht notwendigerweise zu Dienst leistungen." (Gershuny 1981:105); steigendes Einkommen bewirkt nicht steigenden Dienstleistungskonsum, steigendes Einkommen bewirkt nicht Beschäftigungswachstum im Dienstleistungssektor, gestiegene Dienstleistungsbeschäftigung ist dementsprechend nicht Indikator für den Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, auf dem wir uns befänden.

Zur Gewißheit wird der Irrtum bei Betrachtung des Abfalls der Ausgaben für Dienstleistungen in Großbritannien und anderen entwickelten Wirtschaftsgesellschaften in der letzten zwanzig Jahren von 1954 bis 1974 aus gesehen: das Bildungs- und Gesundheitswesen bildet hier eine rühmliche Ausnahme. Doch insgesamt bezeichnet Gershuny die These von der Dienstleistungsökonomie als Erklärung des jüngsten historischen Wandels als überzeugend widerlegt. Ich stimme darin überein.

II.7 Eine Art Fazit und Bewertung

Eigentlich wollen Daniel Bell und andere Theoretiker nicht bloß eine synchrone Zustandsbeschreibung geben, sondern eine Vorhersage machen. Mit Gershuny wird der Zukunftsvision einer Gesellschaft, deren wesentliches Kennzeichen die Versorgung mit Dienstleistungen und Annehmlichkeiten ist, eine empirisch begründete und umfassende Argumentation entgegengesetzt.

Der erste Teil eines alternativen Vorschlags ist bereits gemacht worden.

Dienstleistungsberufe, technische, administrative und freie Berufe haben wegen einer Reihe von Gründen zugenommen, die auch weiterhin bestehen (Produktivität, inhärente Erwünschtheit und Parkinsons Gesetz) und auch für die Zukunft eine ähnliche Erweiterung erwarten lassen.

Der zweite Teil ist der Widerspruch zu Bell, nämlich die beobachtbare reale Abnahme des Dienstleistungskonsums. Da einzelne Bedürfnisse nicht auf genau eine Art und Weise befriedigt werden, und sich diese Weisen im Laufe der Zeit ändern können, und dazu auch nicht spezifisch auf Güter oder Dienste gerichtet sind, ist die Anwendung des "Engelschen Gesetzes" in verallgemeinerter Form auf Dienstleistungen verfehlt. Wichtig ist jedoch der Aspekt, der auch in der von Bell vorgeschlagenen Richtung liegt: je weiter sich die Bedürfnisse von Lebensnotwendigkeiten entfernen, desto abstrakter und komplizierter werden sie wahrscheinlich sein, und desto eher werden sie mit Hilfe von Dienstleistungen als durch Güter befriedigt werden. Wenn das zutrifft, weshalb stellen wir an den Zahlen eine Tendenz hin zu den Gütern fest?

Gershuny selbst vermutet auch die Antwort bei Bell, wenn er betont, das Wesen von Dienstleistungen liege im persönlichen Charakter der Zwei-Personen-Beziehung, dem aktiven Spiel zwischen Personen, das nicht durch Sachen vermittelt ist. Eine ungleiche Einkommensverteilung in der Gesellschaft ist immer auch eine Ungleichheit der Bedürfnisse; die Reichen werden marginal abstrakte und komplizierte Wünsche haben, die Armen streben nach Lebensnotwendigkeiten, und so sind die Reichen in der Lage, die Voll-Zeit-Dienste der Armen zu kaufen. Luxusbedürfnisse würden in dieser Situation durch angestelltes Personal befriedigt. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wird in Kapitel III.2 näher beschrieben.

Eine tendenziell gleiche Einkommensverteilung in der Gesellschaft bewirkt dagegen, daß weniger Menschen bereit sind, niedrige Sklavendienste zu verrichten, und die marginalen Bedürfnisse würden sich einander angleichen und immer mehr Leute fragten kompliziertere Luxusartikel nach. Deshalb besitze ich eine Stereoanlage statt ein Orchester zu engagieren, zumindest nach Gershuny. — Was in meiner Formulierung zuerst einmal unangemessen oder zynisch klingen kann, gewinnt an Ernsthaftigkeit, wenn nur allzu menschliche Vorbehalte gegen das (u.U. prinzipiell ungerecht bezahlte) "Ausbeuten", vorsichtiger das "arbeiten lassen" anderer, von der Bezahlung existenziell abhängiger Personen mit in den Blick genommen werden. Diese Art von Vorbehalte können durch "Klänge aus der Konserve" ausgeräumt werden.

Einige Dienstleistungen wie Theater oder Bildung stellen kein Zwei-Personen-Spiel dar, obwohl auch sie persönlichen Charakter besitzen. Steigende Reallohnsätze machen auch hier die Leistung teurer, aber ihre Kosten verteilen sich auf viele, und die Folgen sind steigende Individualisierung und der Wunsch nach größeren Wahlmöglichkeiten. — Verdeutlicht werden kann das an Hand von Konzertprogrammen, die nicht auf den Wunsch jedes einzelnen Hörers zugeschnitten werden können. Daß im Gegenzug eine Anpassung von Tonträgersammlungen an den jeweiligen Einzelgeschmack sehr wohl geschehen kann, leuchtet da unmittelbar ein.

Für Gershuny scheint, zumindest unter Einbeziehung beider Aspekte, also der fortschreitenden Einkommensgerechtigkeit und der Nachfrage nach individueller Auswahl, die vorgefundene Entwicklung nachvollziehbar. Ein vertretbarer und geradliniger Standpunkt zum technologischen Entwicklungspfad innerhalb der schwierigen Deckung neuer Bedürfnisse ist die Mechanisierung genau der Fertigkeiten, die früher den Einsatz menschlicher Fertigkeiten und Kenntnisse erforderten: der Ersatz von Dienstleistungen durch Güter. Auf der Strecke bleibt dabei allerdings die "absichtlich" handgewirkte Schaffung und Herstellung von Gegenständen, die z.B. aus genau diesem Grund gekauft werden oder etwa Ausdruck vage-unbestimmten, vorkünstlerischen Schaffens sind; von diesen Dingen ist zu vermuten, daß ihnen die Gewohnheit der maschinenvermittelten Bedürfnisbefriedigung über kurz oder lang den Garaus machen könnte, was ihnen nicht zu wünschen ist.

Damit befürwortet Gershuny diese Entwicklung, und gelangt doch zu politischen Forderungen. In dieser Verbindung ist sein Standpunkt für mich akzeptabel: der Weg von der Güter- zur Dienstleistungsökonomie über eine entsprechende Gesellschaftsform politisch zu erzwingen, um die eher noch zunehmende Ersetzung von Dienstleistungen durch Güter aufzuhalten, scheint ein tatsächlich gangbarer Weg zu sein. Es verbindet sich für Gershuny hiermit die Hoffnung, diese noch zu schaffende künftige Dienstleistungsgesellschaft "könnte uns eine verringerte Nachfrage nach unersetzbaren Ressourcen, Gerechtigkeit für die allerärmsten Gesellschaftsmitglieder, Verbesserungen der Lebensqualität bringen. […] Das Schlußwort dieses Buches hat sich genau einer Argumentation verschrieben, die besagt, daß solches Handeln partiell wünschenswert sei." (Gershuny 1981:110)

Ich unterstütze diese Forderung. Wenn das Gegenteil eine ressourcenausbeutende, maschinisierte und folgerichtig "menschenleere" Gesellschaftsform ist, die durch Entkleidung vom nur "Natürlichen" und intuitiv "Richtigen" der unmittelbaren, prinzipiell unvorhersagbaren und falliblen Natur der face-to-face-Interaktion gekennzeichnet ist, dann muß jeder nur mögliche Schritt hin zu einer politisch gebündelten Einflußnahme gegen eine solche Entwicklung unternommen werden. Gershuny selbst gibt hierfür im beschriebenen Abschnitt implizite Hinweise, und im weiteren Verlauf des Buches expliziert er mögliche, aber durchaus in Bezug auf ihre tatsächliche Anwendung skeptisch zu sehende handlungspraktische Optionen. Ich stelle diesen im Folgenden seiner Argumentation nahe Beispiele zur Seite und lenke die Diskussion in gefestigte Bahnen.

III Einige Beipiele aktueller Problemfelder

Die Frage nach allgemeiner Gültigkeit seiner Argumentation und schlußfolgernder Befunde beantwortet Gershuny nicht, oder allerhöchstens in einer Andeutung, in der in allgemeiner Form "andere westliche Industrienationen" genannt werden. Sein Text bleibt in dieser Hinsicht auch bei erneuter Lektüre unbefriedigend. Wie weiter oben zu ersehen ist, stütze ich seine These der Gütergesellschaft, und untermauere daher mit einigen erläuternden Beispielen seine Argumentation im folgenden Teil dieser Arbeit.

Zumindest skizzenhaft kurz zeichne ich Aspekte aus den von Gershuny beschriebenen Dimensionen der Dienstleistungsgesellschaft nach, die aus aktuellen, öffentlich- nichtakademischen Diskussionen stammen, und die in Tageszeitungen aufzufinden sind bzw. waren. Dabei gehe ich vom "großen" hin zum "kleinen", nämlich von der Frage nach internationaler Anwendbarkeit aus eher globaler Perspektive zu Überlegungen wirtschaftsund verkehrspolitischer Aspekte des fließenden Grenzbereiches der Bundesländer Berlin und Brandenburg wie auch des Ballungsraums Bremen.

III.1 Geld macht nicht glücklich vs. das "Gefühl der Geborgenheit"

In der Tagesspresse wurde um den 09. Dezember 1998 herum eine Untersuchung veröffentlicht, die von der London School of Economincs durchgeführt worden war. Gegenstand der Erhebung war der Zufriedenheitsgrad der Menschen in den verschiedenen Ländern der Welt.

Der Zusammenhang zu Gershunys Auffassung einer suboptimal verlaufenden Entwicklung der Gesellschaft ist in den "sozialen Kontakten" zu finden, die hier wie dort eine zentrale Rolle spielen und die auch in Holger WucholdsArtikel benannnt werden. Innerhalb von Gershunys Argumentation finden Sozialkontakte in verringertem Maße statt, weil Güter hierfür die Notwendigkeit verkleinern. Ich zitiere aus der entsprechenden Stelle der Zeitung "Der Tagesspiegel".

"Fündig geworden" auf der Suche nach Glück wären die Forscher dort, "wo der materialistische Europäer es am wenigesten vermutet hätte: im armen Ländern wie Nigeria, den Philipinen, Indien und Ghana. Die Weltrangliste der Glücklichsten führen die Menschen in Bangladesch an. Dieses Land bildet laut UNO zusammen mit Pakistan die ärmste Region der Welt. Die wohlhabenden Deutschen sind dagegen ein Volk von Miesepetern." Deutschland landet unter 54 Staaten, in denen Menschen nach ihrem subjektiven Glücksempfinden befragt wurden, auf Platz 42, noch drei Plätze hinter Österreich.

Der "schnöde Mammon", die Verfügung über Geld also stehe der Glückseligkeit sogar im Weg, für Großbritannien gelte die Aussage, daß, obwohl die Menschen "sich zweimal soviel leisten können wie vor vierzig Jahren, sind sie nicht der Überzeugung, daß sich im gleichen Zeitraum auch die Lebensqualität verbessert hat. Statt mehr Geld haben sich andere Werte in den Vordergrund geschoben. Zwei Drittel würden es lieber sehen, wenn die Umwelt suaberer würde, als weiteres Wirtschaftswachstum oder ein höheres Einkommen." Für andere europäische Länder gehen die Forscher von ähnlichen Annahmen aus: Ein "Sättigungsgrad" sei erreicht, der eine Steigerung des Glücksempfindens bei steigendem Wohlstand verhindere - für die armen und ärmsten Länder gelte dagegen, daß "jedes noch so kleine Einkommenswachstum eine große Wirkung auf die Lebensqualität haben [könne]".

Der diese Differenz begründende Aspekt sei das, was die Menschen in den armen Ländern gegenüber denen in den Industrieländern glücklicher mache, nämlich "die sogenannten sozialen Kontakte. Die traditionellen Bindungen an Familie, Freunde und Nachbarn sind in den armen Ländern ausgeprägter als in den reichen" , und das Gefühl der Geborgenheit mache den entscheidenen Unterschied im Glücksempfinden aus. Nach Meinung der Wissenschaftler werde der materielle Reichtum in der westlichen Hemisphäre "mit emotionaler Armut erkauft".

So populär diese Darstellung in ihrer Vagheit und Raffung auch ist, eines wird deutlich. Unter den ersten sechs Plätzen befindet sich kein einziges europäisches Land. Westeuropa tritt erst hinter Rang 26 (Irland) auf. Schweden, im Seminarreferat vom 06. Januar 1999 modellhaft vorgestellt für wirtschaftlichen Wohlstand, der v.a. durch staatliche Strukturpolitik erreicht wurde, liegt genau in der Mitte (Rang 27).

Die westlichen Industrienationen sind auch hier dadurch ausgezeichnet, daß sie den hinteren Teil der Rangliste bilden, sie fundieren und rechtfertigen damit die von Gershuny vorgenommene pauschale Zusammfassung. Generell bestätigt die Studie damit auch den Eindruck der Thesen Gershunys als "pessimistisch", zumindest aber als "skeptisch" bezüglich der scheinbar automatischen Steigerung des Wohlstands durch den Austritt aus der Industriegesellschaft.

Klärungsbedürftig für eine genauere Abwägung bleibt die genaue Vorgehensweise der Untersuchung (Auswahl und Anzahl der Personen, Frageitems und Erhebungszeitraum usw.). Widersprüche zeigen sich auch in der vorschnellen Typisierung der Tendenz, die in fahrlässiger Zusammenfassung "je reicher, desto unglücklicher" heißen könnte. Rußland, die Ukraine, Weißrußland, Bulgarien und Moldawien wären demnach die reichsten Länder der Erde, was reichlich kontraintuitiv ist. Eine präzisiere Darstellung der Erhebungsdaten und die Heranziehung nationaler Wirtschafts- und Finanzdaten würde hier Klarheit schaffen. Die sich abzeichnende Tendenz halte ich jedoch für deutlich: Gershunys Befund wird gestützt.

III.2 Befreiung des Dienstmädchens vom Glastisch durch Rot-Grün

Nach dem Wechsel der Regierung in Deutschland von einer christlich-demokratisch- konservativen zu einer sozialdemokratisch-ökologischen (Rot-Grün) ist eine der frühen Handlungen der Legislaturperiode die Abschaffung des sogenannten "Dienstmädchenprivelegs". Damit wird ein steuerlicher Vorteil bezeichnet, der es privten Arbeitgebern ermöglicht, den Lohn der Haushaltshilfen inklusive der anfallenden Nebenkosten vom eigenen zu versteuernden Gehalt abzuziehen. Der Bezug auf Gershuny liegt unter anderem im Bestehen einer sozialen Hierachie zwischen "arm" und "reich" und widerum dem personalen Charakter von Dienst leistungen.

Ich beziehe mich im folgenden auf einen Artikel von Barbara Sichtermannim Tagesspiegel, in dem über "das Verhältnis der Linke zum Hauspersonal"nachgedacht wird, und der mit Verweis auf Gershuny besser verstanden werden kann.

Der "Glastisch" in der Überschrift ist im Artikel zum einen eine Metapher für das "Ausgeliefertsein" von Dienstpersonal, dem die "Habenichtse"inzwischen fern seien. Davon spricht auch Gershuny, wenn er "steigende Einkommensgleichheit" und damit fortschreitende Einkommensgerechtigkeit als Grund für die geringere Bereitschaft zum Leisten von Haushaltsdiensten benennt; Sichtermann nennt das "psychosoziale Emanzipation". Zum anderen ist der Glastisch ein tragendes Element bzw. das physisch getragene Element des Tisches in einem Kunstobjekt von Allen Jones, "Hatstand, Table, Chair" von 1969, das u.a. ein am Boden auf Händen kniendes nacktes Mädchen zeigt, das eine durchsichtige Glasplatte auf seinem Rücken trägt. Diese untergeordnete Haltung kann als Allegorie der hier beschriebenen hierarchisch organisierten Sozialverhältnisse gelten.

Diese Allegorie für das heute unerträgliche Gefühl derjenigen, die anderen "sklavisch"dienen, steht in direktem Zusammenhang mit der "heiklen Intimität persönlicher Dienstleistung". Diese sei der Grund dafür, daß "der Arbeiter seine Tochter lieber Näherin oder Verkäuferin lernen [ließ], anstatt sie in Stellung zu geben", und genau dies faßt Gershuny zusammen, wenn er vom "Aufwind der maschinenvermittelten Dienste" gegenüber dem "Spiel zwischen Personen" spricht. Daß heute keine sozial prekären Vorfälle geschehen wie der von Helene Demuth, "die sich für ihre Herrschaft opferte, vom Dienstherren geschwängert wurde und auch noch hinnehmen mußte, daß Hausfreund Engels für die Vaterschaft einstand", somit "unerfreuliche Zustände"seltener auftreten, ist nach Sichtermann wie folgt zusammenzufassen. Karl Marx schuf die Theorie für einen "Lohn, der den Werktätigen ihren Anteil am BSP, auch Kuchen genannt, sicherte - inklusive Schutz vor Not bei Krankheit, Stellenverlust und Alter. Dieses Ziel wurde erreicht."

Es sei nötig, daran zu erinnern, daß dieser Zustand nicht etwa "gewährt"wurde, sondenr mühsam erkämpft werden mußte, und als Ausgleich für den Ausschluß des vierten Stands vom Produktivvermögen gelte. Also hat der "säkulare Anstieg des Lohnniveaus [hat] diese gewerkschaftliche und sozialdemokratische Jahrhundertleistung, die das Dienstmädchen von der Liste der altehrwürdigen und hochwichtigen Berufe gestrichen", worauf die Industrie "geschmeidig"reagiert und "den Markt der langlebigen Konsumgüter" mit entsprechenden Produkten quasi überschwemmt habe. Dies stellt auch Gershuny fest.

Die Argumetation von Barbara Sichtermann kann auch verstanden werden als Kritik an der Methode Gershunys. Indem dieser offizielle Statistiken heranzieht, die nur tatsächlich versteuerte Ausgaben für Haushaltshilfen verzeichnen, fällt das "Nachbarskind, das mal eben für'n Zehner zum Babysitten rüberkommt, die frisch hergezogene Polin, über deren Lebensumstände man nichts weiß, die prima putzt und der man mehr gibt als sie verlangt" sozusagen "unter den Tisch" und tritt nicht in der Statistik auf, genau wie z.B. stundenweise beschäftigte Haushälterinnen auf 620-Mark-Basis. Doch "das Dienstmädchen mit Lohnsteuerkarte"bleibe die Ausnahme, und so bleibt eben der wild wachsende "Dschungel"von "Billigjobs und Schwarzarbeit" ungelichtet. Dabei ist der Anteil der nichterfaßten und nicht erfaßbaren Leistungen dieser Art vermuteterweise durchaus beachtlich hoch.

Die Konsequenzen verbindet sie mit einer Prognose. Der moderne Sozialdemokrat müsse "deshalb nach wie vor zusammenzucken, wenn [er] in Amerika, wo es fast keine Arbeiterbewegung gegeben hat, einem Schuhputzer begegnet, der ihm unschuldig seine Dienste anbietet. Er hat das Gefühl, daß er den Mann erniedrigt; der wiederum will nur ein paar Cents verdienen." Dieser Widerspruch sei aus historischen Gründen unauflöslich. Hier ist nach meiner Meinung Sichtermann voll zuzustimmen.

Wenn die neue Regierung, die ihre politischen Wurzeln zu großen Anteilen in den sozialen Emanzipationsbewegungen hat, mit "Verrechtlichung, Sozialabgaben und Lohnsteuern" durchgreife, hätte sich "die halbe Republik als Sünder wider den Geist gewerkschaftlicher Vollabsicherung [zu] outen." Wenn das "einigermaßen tolerable und durchlässige Miteinander", das heutzutage bestehe, nicht durch "linke Regulierungswut" und der nahezu als "linkstypisch" zu bezeichnenden Beschneidung von "Privilegien" gekappt werde, dann hätten mit Gershuny auch die "nichtmaschinenvemittelten Dienste" eine Chance, sein Pessimismus würde somit ein Stück weit entkräftet und das im voherigen Absatz beschworene schlechte Gewissen wäre mit der Zeit leichter annehmbar.

III.3 Kajaks in Berlin-Mitte und der ÖPNV als "Hochpreisprodukt"

Ebenfalls holzschnittartig zeigen sich bisher beschriebene Aspekte aus Gershunys Argumenten in der Struktur des Naherholungsverkehrs in der Region Berlin-Brandenburg ab. Ein Thesenpapier des Verkehrswissenschaftlers Wolfgang Heinze, das die Entwicklung des Nahverkehrs und der Anforderungen an die Transportinfrastruktur beschreibt, wird in einem Artikel des Tagesspiegels vom 29. Dezember 1998 vorgestellt.

Ein knapper Rekurs auf Daniel Bell und mögliche, von neuen privaten Dienstleistungsunternehmen oder Dienstleistungen der öffentlichen Hand geschlossene "Marktlücken" kann dabei die im Text gegebenen Informationen unter dem Aspekt der postindustriellen Gesellschaft fundieren.

Diejenigen Vorraussetzungen, die für den reibungslosen Ablauf des touristischen Verkehrs z.B. aus Berlin erfüllt sein müssen, seien in der Region nicht gegeben. Kurzzeitreisenden, die "in Brandenburg ein bißchen um die Seen laufen und dann irgendwo einkehren" wollen, begegneten nicht ausgebaute Wanderwege vor Ort und auf dem Weg bereits für das hohe Verkehrsaufkommen am Wochenende nicht angelegte Straßen.

Daniel Bell impliziert genau dies, indem er für die Kategorie Verkehr steigende Ausgaben erwartet. Heinze sagt, daß man mit mehr Freizeitverkehr zu rechnen sei, "ob man ihn will oder nicht", und daß dieser Verkehr ungeachtet der verkehrlichen und touristischen Möglichkeiten auftrete und zieht den Schluß, daß Brandenburg zudem mit seiner Ausrichtung auf Gäste, die über Wochen bleiben, falsch liege. Allein die Verstärkung des Straßenbaus, "selbst wenn das Land ihn bezahlen könnte", würde nicht ausreichen, und so fordert Heinze eine starke qualitative Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs. Hier läßt sich bereits eine Kritik anbringen, doch in Bezug auf den defizitären Landeshaushalt hat er sicherlich recht.

Zeigen nicht Gershunys Zahlen den Rückgang von Ausgaben für den öffentlichen Personennahverkehr überdeutlich? Da klingt es in gewisser Weise trotzig, wenn Heinze "Kombinationen von Bussen und Kleinbahnen im Sinn" hat. Sicherlich trifft zu, daß erforscht ist, "wer warum in seiner Freizeit sein Auto benutzt", und ein großer Teil der Fahrten, die Individualreisende unternehmen, von solch freizeitfähigen öffentlichen Verkehrsmitteln übernommen werden könnte. Auf der Möglichkeit muß die Betonung liegen. Mit der Essenz aus Gershunys Argumentation im Hinterkopf landen wir allerdings bei einem Dilemma: wie kann bei sinkender Bereitschaft sowohl für die Benutzung des ÖPNV zu Gunsten des eigenen Autos wie auch für eine allgemeine Abwendung von personenvermittelten Dienstleistungen diese Idee verwirklicht werden? Was kann die faktisch rückäufige Benutzung auch nur in der Tendenz umkehren?

Heinze unternimmt hier den Schritt nach "übermorgen", wenn er vom ÖPNV als "Hochpreisprodukt" spricht. Dessen "Benutzung [soll] Vergnügen machen" und ist, was der Artikel ebenfalls expliziert, "im gegenwärtigen Brandenburg unvorstellbar". Der Blick auf Wintersportorte lohne in dieser Hinsicht: dort hätten die Verkehrsorganisatoren "längst Methoden entwickelt, um flexibel mit den verschiedensten Fahrbedürfnissen umzugehen - und größere Gegenstände zu transportieren". Für die derzeit vorherrschenden Hindernisse in dieser Richtung gibt der Artikel ein Gedankenspiel, das gleichzeitig ein analoges Spektrum an Möglichkeiten aufzeigt. Es müsse möglich sein, "ein Kajak öffentlich von Berlin-Mitte an den Werbellinsee zu transportieren", doch die direktem Hemmnisse hier wären von zweierlei Art. Es seien nämlich nicht nur die Naturschützer, die Brandenburgs erholsame Landschaften vor allzu großen Besucherströmen und Begleiterscheinungen schützen wollten (damit zweifellos voll und ganz richtig lägen), verhinderten eine verkehrliche Umorientierung, sondern insbesondere die Verkehrsplaner, die "mit altmodischen Angeboten auf eine moderne Nachfrage" reagierten.

In einer Bündelungsfunktion für den von Gershuny beobachteten, stark zunehmenden Individualverkehr würden beispielsweise konzentrierte Freizeit- und Einkaufszentren stehen, die Chancen zur aktiv gestaltbaren Siedlungsentwicklung böten und damit eine Gegenposition zum 'quellenden Siedlungsbrei', der sich um Berlin herum ausbreite, darstellten.

In den Beispielen des Thesenpapiers für die Neuorientierung des öffentlichen Freizeitverkehrs ist kein einziges aus Brandenburg verzeichnet. Das mag zum einen beispielhaft für die nicht optimal verlaufende Entwicklung in diesem Bundesland gelten, und zum anderen das notwendig zu nutzende Entwicklungspotential für die Zukunft aufzeigen.

Mit Gershuny darf man skeptisch sein, was die angestrebte Steigerung der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angeht, selbst wenn diese effizienter sind als heute, aber sehr wohl auch zuversichtlich. Die Preise für Dienstleistungen steigen, und mit einer angenommenen, intellektual begründeten und von den Individuen gewollten Differenzierung des Konsumverhaltens könnte die Einbindung gediegener (durch höhere Preise als solche aufgefaßt) Transportmittel im Freizeitverhalten im Ansehen durchaus auf ein hohes Niveau und damit auf eine höhere Quote steigen. Wolfgang Heinze mag mit seiner Forderung auf dem richtigen Weg sein.

III.4 Weglänge des Durchschnittsbremers und Abkopplung der Kernstädte

Auch das Auswuchern von Städten berührt Aspekte der von Gershuny aufgezeigten Dimensionen. Eine neue Untersuchung der Geographin Kerstin Albers widerlegt die bisher als gesichert angesehene These, das stetiges Wachsen von Städten ins jeweilige Umland hinein bringe zwangsläufig mehr Verkehr in der Innenstadt, weil die außerhalb wohnenden Menschen zu ihren innerstädtischen Arbeitsplätzen gelangen müssen.

Ich beziehe hier direkt mich auf die skizzierende Wiedergabe der Arbeit durch Gideon Heimann in einem Artikel des "Tagesspiegels". Eine wesentlich genauere, aber im Zusammenhang dieser Arbeit unangemessene Darstellung ist in den "Mitteilungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft", Heft 4/98 zu finden.

p>Essenz der Arbeit ist, daß der Weg zur Arbeit praktisch unverändert geblieben ist, was sich aus der ebenfalls sich verändernden Wirtschaftstruktur resultiert. Danach wandern die Unternehmen, die in den neuen Siedlungsgebieten gebraucht würden, ebenfalls mit den Arbeitnehmern mit, so etwa Dienstleistungsunternehmen, aber auch sonstige Betriebe. Damit könnte man auch den Ort der Ansiedlung neuer Dienstleistungsunternehmen außerhalb der Stadt vermuten, und die Steigerung der Anzahl dieser Betriebe hier verorten.

Die Studie erfaßt Daten, die in den Volkszählungen 1970 und 1987 gesammelt wurden und in denen der Berufsverkehr sowie Wohn- und Arbeitsorte erfaßt wurden. Dabei fiel auf, daß in herkömmlichen Untersuchungen meist nur diejenigen Berufstätigen erfaßt wurden, die über Gemeindegrenzen hinweg pendeln, was zu einer Verzerrung der tatsächlich zurückgelegten Wegstrecken führte: statt 13,5 Kilometern (Ender der 80'er Jahre) arbeitete "der Durchschnittsbremer 1970 noch 7,4 Kilometer von seiner Wohnung entfernt, 1987 waren es 9,1 Kilometer, also nur 1,7 Kilometer mehr". Nach Albers‘ Schätzungen über Wanderungsbewegungen der Unternehmen "machen beide Effekte [nämlich Wegzug aus der Stadt von Unternehmen und Arbeitnehmern] jeweils etwa 50 Prozent des Arbeitsplatzverlustes der Kernstadt und 50 Prozent des Arbeitsplatzgewinns im Umland aus", was besagt, daß die Zahl der im Umland wohnenden und dort auch arbeitenden Menschen stärker zugenommen hat als die Anzahl der Menschen, die "klassisch" pendelten.

Diese Zersiedelung in einem großen Zeitraum hat also nicht zu einer relativ größeren Zahl von Pendlern geführt. Und wenn im Gegenzug "städtische Verdichtung […] nicht automatisch kürzere Wege mit sich [bringt]", scheint damit die empirisch vorgefundene Erhöhung des Pkw-Anteils von etwa 40 Prozent auf 62,48 Prozent begründet.

An diesem Punkt der Argumentation drängt sich die Frage auf, ob die Strukturänderung im beschriebenen Gebiet damit für die verstärkte Nutzung von Autos ursächlich sind. Somit könnte steigendes Verkehrsaufkommen durch Wirtschaftsstrukturpolitik direkt gesteuert werden. Und es wäre ein empirischer Beweis für die Richtigkeit der Auffassung der Thesen Gershunys als Symptom der nachindustriellen Gesellschaft gefunden.

Ein genauerer Blick auf die Veränderungen der Weglängen zeigt die Struktur der Veränderung: die Verlängerung der innerstädtischen Wege um 1,2 Kilometer geht einher mit einer herauszustellenden, überproportionalen Abnahme der Wege unter drei Kilometern, die Verkürzung der Wege im Umland dagegen in knapp der Hälfte der Fälle mit einer gleichzeitig allgemeinen Zunahme der Wege um 750 Meter. Sind diese Änderungen auf die veränderte Wirtschaftstruktur in diesen Gebieten zurückzuführen? "Nein, heißt die eindeutige Antwort aus dieser Untersuchung", formuliert Heimann dazu.

Albers geht differenziert vor, indem sie Ziel- und Startrelationen in zwölf Klassen aufteilt. Sie sagt dazu: "wenn man nun die Aufteilung aller beruflichen Wege auf diese zwölf Klassen und innerhalb dieser Klassen die Anteile der Verkehrsmittel 1970 und 1987 ermittelt, kann man durch einen Vergleich indirekt die Größe des Raumstruktureffekts und des Wahleffekts abschätzen." Raumstruktureffekt heißt, daß die Wege gewachsen sind; hierauf entfallen jedoch gerade einmal 13,92 Prozent des Zuwachses an Autofahrten. Damit entfallen 86,08 Prozent darauf, "daß die Menschen lieber mit dem Auto fahren als mit allen anderen Verkehrsmitteln". - Wenn etwa nur die Hälfte des Zuwachses an Arbeitsplätzen im Umland durch Wegzug aus der Stadt resultiert, bleiben die größten Teile des steigenden Aufkommens an Individualverkehr wieder nur mit der Abkehr vom "Spiel zwischen Personen"erklärbar. Damit ist die Frage nach einer gefundenen Ursache für von Gershuny beobachtete Veränderungen einleuchtend verneint.

Man könnte trotzdem hier fragen, ob eine generalisierbare Tendenz entdeckt ist, die in ihrer Umkehrung eine Möglichkeit zur bevorzugten Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel (die ökologisch und antipessimistisch angebracht ist) aufzeigt. Eine steigende Gleichverteilung von Wohn- und Gewerbegebieten mittlerer Dichte könnte so bei entsprechend ausgebauten öffentlichen Verkehrsmitteln sich von Ballungsräumen durch geringer ausgeprägten stauanfälligen Berufsverkehr unterscheiden. Doch die Tatsache, daß die Bevorzugung von Pkw bei alltäglichen Fahrten und unabhängig von den zurückgelegten Entfernungen festzustellen ist, macht die Auflockerung der Siedlungsstruktur genau wie eine "Stadt der kurzen Wege" zur Eindämmung des Verkehrs vorerst untauglich.

III.5 Zusammenfassung und Abschluß

Der Wert der Einzelbefunde aus Teil III läßt sich sich in Bezug auf die oben aufgestellte und hinreichend überzeugenden These der "Selbstbedienungswirtschaft"von Jonathan Gershuny wie folgt bewerten: Erstens zeigen sie sozusagen die alltagspraktischen und oft vernachlässigten Aspekte der postindustriellen Gesellschaft auf (Zusammenhang von größerer Zufriedenheit - geringerer materieller Wohlstand zum einen und Wanderungsprozesse potentieller Arbeitgeber - Verschiebung der Siedlungstruktur / räumlichen Verteilung der Wohnorte der Beschäftigten zum anderen) und zweitens verweisen sie auf mögliche Grenzen der politischen Einflußnahme (entfernungsunabhängig steigende Nutzung privater Kraftfahrzeuge und "unerträgliche" Abhängigkeitsverhältnisse als mögliche Ursache der Zunahme maschinenvermittelter Bedürfnisbefriedigung).

Insgesamt sind die gewissermaßen zukunftsfrohen Prognosen von Bell und Fourastié mit Gershunys These der Selbstbedienungswirtschaft auf eindrucksvolle Weise widerlegt. Sowohl die bloße Existenz der Dienstleistungsgesellschaft als auch die Annahme einer engen Bindung von Beschäftigungs- an Konsumstruktur wurde nachhaltig und erfolgreich attackiert. Da das Alternativbild seinerseits keineswegs "leuchtende" Leitlinien oder konkrete Anweisungen zum Umgang mit der maschinendominierten Alltagswelt liefert, bleibt zu hoffen, daß innerhalb der vorgefundenen Welt ein tolerierendes und toleriertes Miteinander in Abkehr von den angedeuteten "entseelten" Sozialbeziehungen ermöglicht ist. Die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten gerade durch die fortschreitende Technisierung mag da einen gangbaren und parallelen Weg andeuten.

IV Verwendete Literatur und weitere URLs:

Jonathan Gershuny: Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft: Produktion und Verbrauch von Dienst leistungen. Frankfurt/Main, New York: Campus-Verlag 1981 | siehe auch:

Link zur offiziellen homepage von Jonathan Gershuny

Gideon Heimann, "Auch Arbeitsplätze wandern ins Umland", in: Der Tagesspiegel vom 31. Dezember 1998/ 1. Januar 1999 | siehe auch:

Link zur Beschreibung des Forschungsvorhabens

Barbara Sichtermann, "Du sollst nicht herrschen", in: Der Tagesspiegel, 21. Dezember 1998, S.21 | siehe auch:

Link zu biograpischen Informationen zu Barbara Sichtermann

Holger Wuchold, "Wo ist das meiste Glück zu finden?", in: Der Tagesspiegel, 09. Dezember 1998, S.40

"Wenn Staus den Wochenendausflug verderben", in: Der Tagesspiegel, 29. Dezember 1998, S.16 (redaktioneller Beitrag ohne namentliche Kennzeichnung) | siehe auch:

Link zu biographischen und fachlichen Information zu Wolfgang Heinze in den Pressemitteilungen Nr. 177 der TU Berlin und eine Beschreibung seines Buches "Freizeit und Mobilität. Neue Lösungen für den Freizeitverkehr." in den Pressemitteilungen Nr. 233 der TU Berlin.

"Mitteilungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft", Heft 4/98

Stand (insbesondere der URLs): 02-März-1999 | zum ToC(Inhaltsverzeichnis) | zur Hauptseite Texte | mail an Carsten Raddatz

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Tonträger statt Theaterkarten, Selbstbedienungswirtschaft statt Dienstleistungswirtschaft. Nachindustrielle Gesellschaft bei Jonathan Gershuny
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltung
Seminar: "Dienstleistungsgesellschaft und Frauenerwerbsarbeit", Dozentin: Dr. Iris Peinl. Fachbereich: Institut für Sozialwissenschaften, Philosophische Fakultät III, Humboldt-Universität Berlin
Note
1,0 ("sens
Autor
Jahr
1999
Seiten
31
Katalognummer
V96395
ISBN (eBook)
9783638090711
ISBN (Buch)
9783656818519
Dateigröße
696 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"In der Diskussion um die nachindustrielle Gesellschaft ist implizit ein Schritt bereits getan, nämlich die Feststellung, daß wir in einer solchen leben oder nahezu unausweichlich auf eine solche hinsteuern, und daß diese als Dienstleistungsgesellschaft besteht oder bestehenwird. Von Jean Fourastié und Daniel Bell werden darauf hindeutende Tendenzen ausgemacht und als gewissermaßen zukunftsfrohe Prognosen ausformuliert. Die bestehenden Strukturen von Konsum und Tätigkeiten werden hier mit den aufgestellten Erwartungen und Vorhersagen abgeglichen und mit der Aufstellung der alternativen (und verhalten pessimistischen) These der "Selbstbedienungswirtschaft" beantwortet."
Schlagworte
Tonträger, Theaterkarten, Selbstbedienungswirtschaft, Stelle, Dienstleistungswirtschaft, Theoretische, Spurensuche, Gesellschaft, Jonathan, Gershuny, Seminar, Dienstleistungsgesellschaft, Frauenerwerbsarbeit, Dozentin, Iris, Peinl, Fachbereich, Institut, Sozialwissenschaften, Philosophische, Fakultät, Humboldt-Universität, Berlin
Arbeit zitieren
Carsten Raddatz (Autor:in), 1999, Tonträger statt Theaterkarten, Selbstbedienungswirtschaft statt Dienstleistungswirtschaft. Nachindustrielle Gesellschaft bei Jonathan Gershuny, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96395

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