Luhmann und der "Mensch" - Systemtheoretischer Randbezirk oder New Deal für eine Humansemantik


Seminararbeit, 1999

39 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


LUHMANN UND DER "MENSCH" - SYSTEMTHEORETISCHER RANDBEZIRK ODER "NEW DEAL" FÜR EINE HUMANSEMANTIK

1. Einleitung:

1.1. Was Sie schon immer über den Menschen wissen wollten und Luhmann nie zu fragen wagten

"Im übrigen ist nicht einzusehen, weshalb der Platz [des Menschen] in der Umwelt des Gesellschaftssystem ein so schlechter Platz sein soll Mit Orientierungen an `Menschenbildern´ hat man so schlechte Erfahrungen gemacht, daß davor eher zu warnen wäre."1

Die Frage nach dem Menschen ist wohl ebenso alt wie unbeantwortet. Viele Wissenschaften greifen von allen Seiten auf den Untersuchungsgegenstand `Mensch´ und alltäglich ist jeder Einzelne genötigt, sich seinem Menschsein zu stellen, indem er immer wieder reflektiert, was es bedeutet `Ich´ zu sein. Die Sozialwissenschaften müssen sich dieser Problemstellung auf besondere Weise stellen. Ihr Erklärungsvermögen bemißt sich danach, inwiefern sie sich von dem Menschen als alleiniges Zentrum ihres Erkenntnisinteresses distanzieren können.

Stattdessen rückt das, was außerhalb des Menschen vorzufinden ist, stark in den Blickpunkt: die Sozialwissenschaften machen es sich zur Aufgabe, den Menschen vom Vorrang seines Gesellschaftsbezuges zu betrachten.

Als einen der energischsten Vorstösse in diese Richtung flaggt sich innerhalb der Sozial- wissenschaften das Unternehmen der Systemtheorie Niklas Luhmanns aus. In seiner Theorie sozialer Systeme findet sich der Mensch außerhalb der Sozialwelt wieder und ist in die Rolle des Zuschauers (des Beobachters) gedrängt. Luhmann will dies aber gerade nicht als Degradierung verstanden wissen, sondern als Möglichkeit, Individualität unter Bedingungen zu verhandeln, die dem Stand der Dinge in der Weltgesellschaft des 20.Jahrhunderts gerecht werden. Aus diesem Grunde muß sich die Theorie auch jenen Zeitproblemen widmen, die den Individuen selbst `auf den Nägeln brennen´. Die Welt, wie sie sich heute darstellt, ist bevölkert von Menschen, deren Begehren nach Individualität und Authentizität so funda-mental ist, daß es sich in der Selbstwahrnehmung als beinahe anthropologische Wahrheit niederschlägt. Dies muß in einer Theorie sehr ernst genommen, aber verpflichtet nicht, die Vorstellung einer essentiellen Individualität des Menschen als unhintergehbares Letztelement zu übernehmen. Vielmehr ist das, was Individualität genannt werden kann, in der System-theorie gleichzeitig dekonstruktiv aufgelöst und zu einem neuen Konzept rekonstruiert. Genau in diesem Spagat bewegt sich das Theorieunternehmen der Systemtheorie und kommt dabei zu überraschenden Einsichten über die Individualität des Menschen. Es wird sich im Laufe der hier vorgestellten Theoriestücke zeigen, ob und wie sie sich zu einer Revision des Konzepts Individualität ordnen können.

Auch wenn diese Untersuchungen ein anderes Bild vermitteln könnten, so richtet sich das Hauptaugenmerk der Systemtheorie keinesfalls auf Individuen, sondern sie gehören eher zum Randbezirk der sozialen Systeme, deren theoretische Explikation Luhmanns Projekt die größte Aufmerksamkeit widmet. Wenn also im folgenden so häufig von Luhmanns Überle-gungen bezüglich der Individualität psychischer Systeme die Rede ist, so handelt es sich dabei um eine Schieflage, im Vergleich zur Totalperspektive auf Luhmanns Theorie.

Bei aller gebotenen Focussierung auf einen klar umrissenen Themenkreis, kommt man trotzdem nicht umhin, auf wichtige Bausteine des allgemeinen theoretischen Grundrisses Luhmanns zu rekurrieren. Dies soll aber im Hinblick auf die hier verhandelte Problemstellung geschehen. Einige Hauptbegriffe werden deshalb aufgegriffen, aber nicht in jedem Fall umfassend diskutiert, um diese Untersuchung nicht über Gebühr mit Begriffsklärungen anzureichern. Der Anmerkungsapparat kann gegebenenfalls Aufschluss über weiterführende Textstellen geben. Die folgenden Untersuchungen setzten es sich zum Ziel, unterschiedliche Theoriestücke so zueinander in Bezug zu bringen, daß sie zur Aufhellung einer Luhmannschen Humansemantik beitragen können. Die Zusammenstellung der zu Rate gezogenen Einzelanalysen Luhmanns ergab sich in einigen Fällen aus der Sache selbst, in anderen Fällen handelte es sich um gewählte Anschlußthemen (deren Auswahl vielleicht auch anders möglich gewesen wäre). Wenn die getroffenen Entscheidungen sich als richtig (oder zumindest nicht falsch) erweisen, kann am Ende dieser Arbeit ggf. Auskunft darüber erteilt werden, wie die unscharfe Gemengelage von Mensch, Welt und Wirklichkeit in eine schlüssige Gesamtschau unterge-bracht werden kann, falls man die Systemtheorie darauf hin befragt.

In einem zweiten, einleitenden Abschnitt soll zunächst eine Aufschlüsselung einiger wichtiger Hauptbegriffe der Systemtheorie vorgestellt werden, die den Boden für weiterführende Untersuchungen bereitet. Der Zuschnitt dieser Kurzeinführung ist auf das Thema abgestimmt und deshalb nicht als allgemeine Besprechung von Luhmanns Theoriewerk zu verstehen. Zu Beginn des Hauptteils folgt dann eine Darstellung der Genese moderner Subjektivität, die Luhmann systemtheoretisch reinterpretiert, indem er das Konzept der Autopoiesis des Bewußtseins einführt. Ein Abschnitt über das Theorem der doppelten Kontingenz soll dann von allgemeineren systemtheoretischen Begriffen zum zweiten Hauptteil überleiten, der vorallem anhand der Differenz von Inklusion und Exklusion psychischer Systeme zeigen soll, wie Individualität im Spannungsfeld sozialer Systeme konstruiert wird. Den Abschluß bildet eine Einführung in die Luhmannschen Analysen zur Wirklichkeitskonstruktion. Das system- theoretische Konzept der Massenmedien kann Einblick in die Herstellung einer sozialen Wirklichkeit schaffen, an der psychische Systeme teilnehmen und von der sie Identitäts-modelle übernehmen.

1.2. Kurze Topologie systemtheorischer Hauptbegriffe

Die Feststellung, daß der Zugang zum Luhmannschen Theoriegebäude eher beschwerlich ist, gehört nunmehr als Gemeinplatz in die Luhmann-Rezeption. Kaum eine Einführung, die an diesem Hinweis vorbeikommt und so zur respekteinflößenden Wirkung beiträgt, die diese Spielart der Systemtheorie auf ihre Adepten hat.2

Das ungewöhnlich hohe Abstraktionsniveau dieser Theorie, und ihr Versuch, die Soziologie auf ein neues begriffliches und forschungstheoretisches Fundament zu stellen, eröffnet allerdings der soziologischen Beschreibung viele lohnenswerte Möglichkeiten - und das nicht zuletzt durch die Proklamation einer Universalzuständigkeit der Systemtheorie für den Gesamtbereich des Sozialen.3

Diese Theorie erarbeitet sich so ein umfassendes Erklärungs- potential für eine Phänomenologie des gesellschaftlichen Feldes, und Luhmann spielt dieses Potential an vielen Teilbereichen durch, sei es die Wissenschaft, die Kunst, die Liebe oder auch der Mensch.

Um so wichtiger ist es, einige Generalschlüssel für den Zugang zum Luhmannschen Theoriekomplex bereitzuhalten. Ein sich so sukzessive abzeichnender Lageplan ermöglicht eine skizzierte Lokalisierung des Themas innerhalb der Theoriearchitektonik Luhmanns. Es geht also an dieser Stelle um die Vorstellung einiger zentraler Bausteine der System-theorie, ohne daß hier der Anspruch auf eine allgemeine Einführung erhoben werden könnte. Der Hauptschlüssel schlechthin für die Systemtheorie ist im eigentlichen Sinne eher ein Zugangscode mit binärem Schema: es handelt sich um die theoriekonstitutive Unterscheidung von System und Umwelt. Diese Differenz nimmt bei Luhmann einen paradigmatischen Ort ein und unterläuft so andere, erkenntnisleitende Oppositionen in den Sozialwissenschaften (wie z.B. jene von Individuum versus Kollektiv, Gemeinschaft und Gesellschaft, Macht versus Ohnmacht, Handlung versus Institution etc.).

Was sind nun aber Systeme, und worin unterscheidet sich die Umwelt von ihnen?

Eine erste Annäherung könnte folgendermaßen lauten: ein System ist eine konstruierte Entität, die die Aufrechterhaltung ihrer Identität über eine unaufhebbare Grenze zwischen Innen und Außen dirigiert.

Umwelt ist folglich alles, was System nicht ist.

Damit ist aber noch nicht viel über die Eigenschaft von Systemen und ihrer Umwelt gesagt. Ihre weitere Charakterisierung könnte aber mit Blick auf die Funktion von Systemen schärfer gefasst werden.

Systeme nehmen je exklusive Funktionen4 wahr, die zu einem Aufbau von Strukturen motivieren, um wiederum den Ansprüchen der Funktionalität gerecht zu werden.

Die Funktionalität eines Systems reagiert auf problembezogene Weltausschnitte, die so systemintern behandelt werden können. Die Welt ist, aus der Sicht Luhmanns, ein Ensemble aus unzähligen Möglichkeiten. Dieser Überschuss möglicher Ereignisse und Elemente ist nicht organisiert und läßt nicht beliebige Verknüpfungen zu. Die Welt ist also komplex. Aufgabe der Systeme besteht nun darin, diese unerreichbare Komplexität der Umwelt auf eigene Funktionen hin zu selegieren, um den Überschuss an Weltkomplexität organisierbar und somit anschlußfähig zu machen.

Systeme bewältigen die Unordnung ihrer Umwelt durch ausschnitthafte Verarbeitung von Komplexität, also durch Reduktion. Die Reduktion dieser Umweltkomplexität ist dabei komplementär zur systeminternen Steigerung von Komplexität, denn nur komplexe Systeme können komplexe Umweltbedingungen erfassen und bearbeiten.5

Wie sehen nun aber die internen Dispositionen eines Systems aus, die es in Stand setzen, ein solches Steigerungsverhältnis zwischen System und Umwelt auszubalancieren? Luhmann konzipiert eine Theorie der Selbstorganisation von Systemen, die in seiner Diktion als selbstreferentiell-geschlossene Systeme beschrieben werden. Das heißt zunächst einmal: zwischen System und Umwelt besteht kein unmittelbarer Austausch und eine Verschmelzung zweier Systeme ist ebenso wenig denkbar, wie die Möglichkeit, die Operationen der Systeme könnten von außen einsehbar sein. Existenzbedingung eines Systems ist also vorrangig seine Schließung gegenüber der Umwelt.

Luhmann führt im Anschluß an die konstruktivistische Biologie von Maturana und Varela den Begriff der Autopoiesis in die Soziologie ein. Ursprünglich auf lebende Organismen angewandt, meint dieses Konzept, daß ein System alle Operationen im Selbstkontakt vollzieht, ohne auf die Zufuhr externer Elemente angewiesen zu sein. Alle Ereignisse und Elemente erzeugen sich intern unter ständiger Bezugnahme auf vorhergehende Ereignisse und Elemente im System. Dieser Vorgang der Autopoiesis (=selbst machen) ist extern weder steuerbar noch einsehbar.6 Am Beispiel des menschlichen Bewußtseins kann dies näher erläutert werden: im Sprach- gebrauch der Systemtheorie wird das Bewußtsein unter dem Begriff "psychisches System" subsummiert. Damit ist gesagt, daß auch das Bewußtsein ein System ist, dessen Elemente die einzelnen Gedanken sind.

Die Autopoiesis des Bewußtseins meint im Hinblick darauf, daß die ständige Reproduktion von Gedanken aus anderen Gedanken eine systeminterne Leistung ist. Ein Gedanke kann nicht von außen eingegeben werden, sondern der Input eines psy-chischen (wie auch jedes anderen) Systems wird nur nach Maßgabe der selbstreferentiellen Geschlossenheit bearbeitet und das, was als Output das System wieder verläßt, ist niemals eine Widerspiegelung der operativen Prozesse des Bewußtseins, sondern nur ein Auschnitt aus vielen Wahlmöglichkeiten.

Motor für die Autopoiesis psychischer (wie auch sozialer) Systeme ist der Modus Sinn als Koordinator für Gedanken und Kommunikationen.

Sinn zeigt an, worüber Bewußtseine denken können und was soziale Systeme in Kommunikationen behandeln. Sinn ist damit in der Systemtheorie Luhmanns ein entscheidender Zentralbegriff. Er stellt einen universellen Verweisungszusammenhang dar, der durch die Unterscheidung von Aktuellem und Möglichem strukturiert wird.

Diese Differenz ermöglicht ein ständiges Kontinuieren der Sinnprozesse, ohne auf eine bestimmte Richtung festgelegt zu sein. Schließlich kann das Auswählen einer Möglichkeit niemals auf einen Sinngehalt hin erstarren, sondern Sinn-selektionen zwingen zu einer beweglichen Verkettung von aktualisierten und möglichen Systemereignissen.

Der Modus Sinn ist die exklusive kognitive Grundlage für psychische und soziale Systeme, deren Operationen unter der Voraussetzung von Sinngebrauch niemals abbrechen können. Grund hierfür ist also die Differenz von Aktuellem und Möglichem: Ein System wählt eine Möglichkeit (des Denkens oder der Kommunikation) und blendet dabei zunächst die Unzahl von anderen Wahlmöglichkeiten aus. Diese nicht gewählten Optionen werden aber nicht in das ewige Dunkel entlassen, sondern sie stellen virtuelle Sinnmöglichkeiten im Wartestand dar. Auf sie kann immer wieder zurückgekommen werden, und dies muß auch geschehen, denn Sinn ist gekennzeichnet von einer strukturellen Instabilität seines Aktualitätskerns, so daß immer neuer Sinn produziert werden muß, um die Autopoiesis am Laufen zu halten. Sinn verweist also auf noch mehr Sinn, Gedanken verweisen auf nicht Gedachtes, und Kommunikation verweist auf nicht Kommuniziertes.7

Es gilt festzuhalten, daß jedes System seine Sinnselektionen nur für sich, als geschlossene Operationseinheit durchführt, und die externe Rekonstruktion eines systeminternen Sinn-horizonts sprengt deutlich die Kompetenz anderer Systeme.

Es ist deshalb nicht möglich, sich sicheren und vollständigen Aufschluß darüber zu ver- schaffen, was in einem anderen System vorgeht. Das verbaut auch die Erfolgsaussichten, eventuelle Versuche der Fernsteuerung eines Systems von einem anderen aus zu unter-nehmen, so daß auch Kalküle und Intentionen niemals unmittelbar auf anvisierte Systeme durchschlagen können. Systeme bleiben also füreinander intransparent und präsentieren sich folglich als Black Boxes. Trotzdem sind Systeme aber keine solipsistischen Enklaven, denn es gibt sehr wohl einen Informationsfluß zwischen System und Umwelt, aber unter Bedingung der operativen Geschlossenheit aller Systeme.

Wie ist sich das vorzustellen? Eine vorläufige Antwort lautet: Systeme beobachten!

Damit ist der systemtheoretische Umstand angesprochen, daß Systeme zwar nicht mitein- anderen verschmelzen können, aber dafür in der Lage sind, Umweltereignisse gemäß ihrer eigenen Dispositionen zu verarbeiten.

Dabei konstruieren Systeme eine umweltbezogene Realität vermittels beobachtungsleitender Differenzen.

Das, was einem System dabei als Umwelt erscheint, ist also eine Konstruktion seiner selbstreferentiellen Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens.8

Man kann sich also systemtheoretisch die Wechselbeziehungen zwischen Systemen und ihren Umwelten nicht als Kausalverhältnis vorstellen, sondern als kontingent verlaufende Erzeugung von Resonanzen, die sich bei einem Beobachter einstellen können. Diese Resonanzen entstehen durch einen laufenden Input/Output-Verkehr von Informationen, die bei einem System für ausreichend Irritation sorgen können, um gegebenenfalls Änderungen des Systemzustandes hervorzurufen. Wie kann nun angesichts der Voraussetzung einer selbstreferentiellen Schließung überhaupt ein Input/Output-Verkehr zu Stande kommen? Oder anders gefragt: inwiefern können Gedanken für die Kommunikation bedeutsam werden bzw. umgekehrt, wenn davon ausgegangen wird, daß Bewußtsein und soziales System nicht verschmelzen können?

Ein System verbleibt nicht nur beim Beobachten, sondern es kann eigene Systemleistungen an die Umwelt abgeben, in dem es sich an Kommunikationen beteiligt. Kommunikation ist aber nicht die Sache von psychischen Systemen, die nun mal denken; um sich allerdings trotzdem in ein soziales System einzulocken, müssen sie eine strukturelle Kopplung mit dem Kommunikationssystem eingehen. Luhmann spricht in diesem Falle von der Interpenetration zweier Syseme, d.h. daß "ein System die eigene Komplexität...zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt."9 Ein Bewußtseinssystem interpenetriert in ein Kommunika-tionssystem, um aktualisierte Sinnselektionen in der Umwelt auftauchen zu lassen. Andere, an dieser Kommunikation beteiligte, psychische Systeme können sich an diesen realisierten Selektionen orientieren und sie gemäß ihrer eigenen autopoietischen Struktur weiterbehandeln. Die Kommunikation in der Systemtheorie ist dabei mehr als nur ein Medium, ein neutrales Transportmittel für Gedanken: ist eine gewählte Sinnoption erst ein-mal in Form von Kommunikation realisiert, unterwirft sie sich einem selbständigen sozialen System, daß mit eigenen Betriebsbedingungen arbeitet. Der Output eines psychischen Systems, der durch eine strukturelle Kopplung in die Form einer Kommunikation gebracht wird, ist nur noch ein stark reduziertes Kondensat des intern verhandelten Sinnpotentials.

Die Kommunikation ist also keine Materialisierung von Gedanken, sondern ein System, dessen Selektionen durch Information, Mitteilung und Verstehen der Differenz von Mitteilung und Information strukturiert werden.

Die Interpenetration hebt deshalb auch nicht die Inkongruenz der Operationen und somit auch nicht die Systemgrenzen auf. Gedanken können zum Beispiel niemals völlig in Kommu-nikation aufgehen, respektive: Kommunikation hält immer mehr Sinnmöglichkeiten parat, als sich das Bewußtsein auf einmal vergegenwärtigen kann. Es bleibt also immer ein Rest von Unübertragbarkeit, die der Intransparenz der Systeme geschuldet ist.

Auf diese Weise ist Kontingenz nicht nur als Nebenprodukt, sondern als konstitutive Grundlage in das System/Umwelt-Verhältnis eingebaut und auch fruchtbar gemacht. In der Kommunikation können Bewußtseine nur den Output anderer Systeme beobachten und so versuchen, die Kommunikation darauf abzutasten, was möglich ist oder nicht - und das nur unter eingeschränkten Wahrscheinlichkeitsgarantien. Unerwartete Sinnereignisse vermögen die Kommunikation immer wieder zu durchkreuzen und Bedingungen für Anschlußkommunikationen können sich radikal ändern.

2. Von der Selbstreferenz des modernen Subjektbegriffs zum konstruktivistischen Konzept der Individualität bei Luhmann

Mit der Umstellung von stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften zur funktionalen Einteilungsweise der Gesellschaften10 werden die Bezüge zwischen Individuum und Gesell-schaft bzw. der Welt prekär. Es findet eine Ablösung von ontologischen Weltauslegungen statt, in deren Verlauf sich das Individuum von den Vorstellungen einer an sich seienden Welt emanzipiert, in der die Individualität des Individuums immer wieder den Objekten der ontischen Welt abgerungen werden mußte.11

Diese Emanzipation findet Ausdruck in der Subjektivierung der Kognition: die Welt hat keine ontische Geltung mehr, sondern sie ist eine Konstruktion des subjektiven Erkenntnisver- mögens. Die Welt und die Wirklichkeiten werden also in nun selbstreferentiell erkennende Subjekte hineingezogen.

Mit Descartes und Kant wurde diese Wende zur Selbstreferenz der Erkenntnis theoriegeschichtlich eingeleitet, allerdings konnte dabei nicht auf alles An-sich-seiende verzichtet werden. Vor dem nun ungeheuer aufgewerteten Subjekt macht diese konstruktivistische Erkenntnis Halt, um sich eines letzten Fixpunkts zu vergewissern. Während die Welt der Dinge ihre Essentialität einbüßte, wird das nicht weiter dekonstruier-bare Subjekt als Wirklichkeit konstituierende Instanz schlechthin etabliert.

Basis für diese unerschüttliche Subjektivität war ihre Verankerung in einem allgemeinen, apriorischen Vernunftbegriff. Die Individualität der Subjekte wurde somit in eine Idee der `reinen Vernunft´ transzendiert, wo sich das Einzelne im Universalgültigen aufbewahrt findet. Luhmann konzediert für die Umstellung auf Selbstreferenz der Subjekte zwar eine schwellen- markierende Bedeutung, er hält aber gleichzeitig entgegen, daß die Erkenntnis in die Hergestelltheit der Realität auch auf eine Revision des Subjektbegriffs übergreifen müsse. Der Ort von dem die konstruktivistische Relativierung aller Referenzen ausgeht, kann nicht durch Transzendentalität außerhalb dieser Bezüge gestellt werden, wenn man, wie Luhmann, davon ausgeht, daß eine Überschreitung der System/Umwelt-Differenz nicht möglich ist. Außerdem versagen in der funktional differenzierten Gesellschaft alle Zentralsymboliken. Die Unmöglichkeit, die Referenzen um eine integrierende Mitte herum zu ordnen, gilt für die idealistische Konzeption der Vernunft genauso, wie für die von ihr abgelöste Religion.

Diese Absage an alle `archimedischen Punkte´, an die Letztgültigkeit gekoppelt werden könnte, verändert allerdings dann radikal die Bedingungen der Möglichkeit von Individualität. Diese sind in einem so umgebauten theoretischen Kontext neu zu orten.

Wie sieht aber diese Neuordnung aus?

In der Systemtheorie wird den kognitiven Prozessen des Bewußtseins jeder Boden für eine Substantialität der eigenen Operationen entzogen. Das Bewußtsein, daß seiner Wahrheit (der Wahrheit seiner Vernunft) beraubt ist, hängt nunmehr in der Luft und das bringt Unruhe ins System. Aber genau diese Unruhe ist bei Luhmann ein produktiver Faktor des Bewußtseins-systems und heißt hier Kontingenz. Gerade die aufscheinende Unermesslichkeit der Welt-komplexität erteilt einem anderen Konzept der Individualität eine Chance, weil jedes Bewußtsein eigene Ausschnitte der insgesamt überwältigenden Weltkomplexität intern re-produziert. Die Selektion von komplexen Möglichkeiten ist von außen nicht kontrollierbar, da jede Handhabe zur Steuerung von Selektionen (mittels fixer Konditionierungen wie Vernunft, Moral o.ä.) fehlt.

Das Bewußtsein ist also bei seinen Operationen auf sich selbst verwiesen, es macht einfach, was es macht.

Schon vorher wurde der Begriff der Autopoiesis eingeführt, der hier nochmals im engeren Sinne auf die Autopoiesis des Bewußtseins aufgegriffen wird.

Das heißt, daß das Bewußtsein eines psychischen Systems seine Operationen, nämlich Beobachtungen seiner selbst und seiner Umwelt autoreferentiell vollzieht. Jede Beobachtung ist ein interner Selektionsprozess von sinnhaften Möglichkeiten. Gedanken, und damit interne Systemzustände, verlieren ihre Aktualität und werden durch neue Gedanken (unter Bezug auf Selbst- und Fremdreferenz) autopoietisch ersetzt. Das Bewußtsein ist eine immer weiter laufende Verkettung neuer Sinnoptionen und Anschlußmöglichkeiten. Die Umwelt wird dabei zwar nicht ausgeblendet, aber die Beobachtungen, die ein psychisches System außerhalb seiner selbst macht, liefern höchstens Informationen, die intern verrechnet werden können.

Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte man dazu geneigt sein, auch in der System- theorie das Durchhalten der Originalität und Authentizität von Subjekten festzustellen. Es ließe sich einwenden, daß es keinen Unterschied mache, welchen Namen das Kind dabei trage, sei es nun der mündige Gebrauch der Vernunft oder die Autopoiesis des Bewußtseins als unhintergehbare Bedingung für Individualität.

Zunächst ist dazu zu sagen, daß die Autopoiesis ohne allgemeingültige Grundlagen für ihre Operationen auskommt. Der Vollzug von Sinnverarbeitungen ist exklusiv auf ein System beschränkt und damit keinem universellen Zweck oder Wert verpflichtet. Dies führt zum entscheidenden zweiten Punkt: Luhmann geht es hier um einen Mechanismus, der es erlaubt Sinnhorizonte innerhalb eines Systems zu verwalten und daraus soziale Folgemöglichkeiten zu schließen. Eine wie auch immer geartete Objektivität oder Gemeinsamkeit der Wirklich- keitsentwürfe spielt dabei keine Rolle. Um es in eine griffige Formel zu bringen, könnte man sagen: in der Systemtheorie bemißt sich die Individualität eines psychischen Systems danach, wie es denkt und nicht, was es denkt.

Die Anfüllung des Bewußtseins mit bestimmten Ereignissen und Elementen ist also Resultat eines Selektionsstils, dessen Variabilität durch kontingente Sinnverweisungen und die Reflexivität von Beobachtungen zu stande kommt. Das Bewußtsein könnte demzufolge als permanenter Zustand von Dauer im Wechsel beschrieben werden. Dauer, im Sinne der Kontinuität der Autopoiesis und Wechsel, durch den Zerfall und die ständige Reproduktion von Elementen und Ereignissen des Systems. Es ist dieser Zustand von Dauer im Wechsel, wodurch ein psychisches System ständig zum Mitführen der eigenen System/Umwelt-Dif-ferenz angeregt wird, um für Nachschub der internen Ereignisse und Elemente zu sorgen. Die Beobachtung der eigenen System/Umwelt-Differenz führt dann geradewegs zum Theorem der doppelten Kontingenz, das für den Aufbau von sozialem Verkehr konstitutiv ist.

2.2. Die Doppelte Kontingenz als `anthropologische Urszene´ der Systemtheorie

Gerade in den funktional ausdifferenzierten Gesellschaften tritt das Problem der wechsel- seitigen Abstimmung von Systemen offen zu Tage. Diese Gesellschaftsstruktur liefert keine Grundsymbolik mehr, an der psychische oder soziale Systeme ihr Verhalten ausrichten können. Ohne eine Abstimmung entstünde allerdings kein Aufbau gesellschaftlicher Ordnung, so daß nun geklärt werden muß, unter welchen Bedingungen theoretisch auf das Konzept einer integrativen Grundsymbolik verzichten werden kann.

Aus systemtheoretischer Perspektive stellt sich das Problem zunächst als Paradox, denn: wie können Systeme, trotz ihrer operativen Geschlossenheit auch Offenheit für ihre Umwelt erreichen? Wie also läßt sich der selbstreferentielle Zirkel der Autopoiesis mit Fremdreferenz anreichern? Konstitutive Prämisse für jede Gemeinsamkeit psychischer und sozialer Systeme ist ihre Verwendung von Sinn, als Basis aller Möglichkeiten des Denkens und Kommunizierens.12 Obwohl die Selektionen von Sinn und die daraus resultierende Verwaltung von Komplexität, eine Eigenleistung des individuellen Systems bleiben, lassen sich diese Selektionen unter bestimmten Umständen beobachten. Der aktualisierte Sinn, der in Kommunikationen prozessiert, ist beobachtbar und wird von Systemen auf andere Systeme in ihrer Umwelt zugerechnet. So können Annahmen über die Perspektiven der anderen Systeme erstellt werden (die in gewissem Sinne unzureichend und ohne Gewähr sind, eben weil sie aus einer internen Rekonstruktion entstehen). Durch den gemeinsamen Gebrauch des Modus Sinn eröffnen sich somit Möglichkeiten für ein System, Außenbezug herzustellen.

Der Rekurs auf den gemeinsamen Sinngebrauch ist aber noch nicht ausreichend, um die Bedingungen der Möglichkeit einer Innen-Außen-Korrespondenz zu erhellen. Sinn ist nur Prämisse, also der gemeinsame Boden, auf dem sich die kontingenten Annäherungen der Beobachter bewegen. Um nun aber die Abstimmung von unterschiedlichen Beobachtern aufeinander systemtheoretisch genauer zu analysieren, muß auf das Theorem der doppelten Kontingenz Bezug genommen werden.

Die Situation der doppelten Kontingenz läßt sich in seiner Bedeutung für Luhmanns Theorie als eine Art Brutkasten für das Aufkeimen sozialer Verhältnisse beschreiben.

(Man könnte dazu tendieren, dieses Theorem als anthropologisches Postulat der System-theorie Luhmanns zu begreifen, wenn Luhmann nicht gründlich alle absoluten Bezüge für eine Wissenschaft vom `Menschen an sich´ aushebeln würde. Er räumt damit jeden Zweifel darüber aus, daß dem Menschen, gemäß der Systemtheorie, nichts von vorne herein mitgegeben wurde, außer seiner eigenen System/Umwelt-Differenz.)

Was ist nun mit doppelter Kontingenz gemeint?

Psychische und soziale Systeme begegnen in ihrer Umwelt unumgänglich anderen Systemen.

Lassen sich z.B. zwei psychische Systeme aufeinander ein, so handelt es sich dabei um ein Aufeinandertreffen von zwei wechselseitig undurchschaubaren Entitäten. Jedes System erfährt die Selektionen eines anderen Systems als kontingent, d.h. als auch anders möglich.13 In Situationen der doppelten Kontingenz verhalten sich sowohl alter, als auch ego mit Bedacht auf diese reziproke Intransparenz. Ego weiß um die eigene Undurchdringlichkeit für alter, den er selbst natürlich ebenfalls als Black Box erlebt.14 Genau das gleiche Wissen und Erleben kann aber nun alter unterstellt werden: auch er ist sich der kontingent verlaufenden Struktur solcher Begegnungen bewußt. Die Verdoppelung der Kontingenz bei einem Aufeinandertreffen zweier Systeme führt so zu einer Sensibilisierung der Beobachtungen, aus der Unterstellung heraus, alter sei genauso ein selbstreferentiell-geschlossenes System, wie ego. Erst durch das Beobachten alters kann ego Informationen gewinnen, die beide Systeme dazu ermächtigen, soziale Strukturen aufzubauen und zu halten, obwohl sie sich nicht auf eine apriorische oder anthropologische Veranlagung zur Gemeinschaftsbildung berufen können. Die gegenseitige Anerkennung ist also nur das Anerkennen der gegenseitigen Intransparenz als fundamentales Merkmal eines eigenständigen Systems. Diese Minimal- grundlage motiviert aber gerade in ihrem indefiniten Charakter zu einem reziproken Abtasten der Systeme, im Hinblick auf einen beobachtbaren Input/Output-Verkehr. So wird dann die grundsätzliche Unbestimmbarkeit eines Systems in einen selektiven Ausschnitt von Bestimm- barkeit überführt. Eine Bestimmbarkeit aber, die niemals in fixen Kalkülen oder gar Verhaltenskontrollen münden kann.15 Bei Luhmann heißt es dazu: "Die schwarzen Kästen erzeugen sozusagen Weißheit, wenn sie aufeinandertreffen, jedenfalls ausreichend Transparenz für den Verkehr miteinander." 16

Die prinzipielle Kontingenz der Selektionen eines Systems impliziert somit die Freiheit, immer auch anders zu `reagieren´ als es erwartet wurde und auch zu anderen Schlüssen in bezug auf gemeinsam erlebtes zu kommen. In Situationen der doppelten Kontingenz wird also kein Boden für Konsens erstellt und die gemeinsame Lebenswelt scheint wohl eher ein Ensemble aus je eigenständigen Realitätsentwürfen zu sein, die sich zwar gegenseitig testen, aber nicht aufheben.

Aus den Divergenzen zwischen den Beobachterperspektiven entsteht nämlich "Aktionsdruck"17 für die Systeme, um die Unwahrscheinlichkeit von Erwartungs-erfüllungen, durch Strukturbildungen zu dämpfen, ohne das dabei unerwartete Ereignisse auszuschließen wären.

Die reine doppelte Kontingenz18 als Urszene einer `systemtheoretischen Anthropologie´ ist während der soziokulturellen Evolution von Lernprozessen überformt, die das Betreiben von sozialen oder psychischen Gedächtnissen erlauben. Dennoch gilt es festzuhalten, daß die Situation der doppelten Kontingenz keineswegs durch solche Erwartbarkeiten mittlerer Reichweite entschärft worden ist. Vielmehr kann jedes beobachtende System bei einem anderen System bestimmtes Wissen unterstellen, daß jenes durch die Beobachtung der ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft und durch Beobachtung anderer Beobachter gewonnen hat- und wer in der Systemtheorie ein gewisses Lektürepensum verarbeitet hat, ahnt es schon: durch mehr gemeinsam verfügbares Wissen, parallel zur Segmentierung dieses Wissens, findet gleichzeitig Reduktion und Steigerung von Komplexität statt.)

All dies dürfte nur allzu deutlich gemacht haben, daß der Umweltkontakt eines Systems Kommunikation erfordert. Schließlich können psychische Systeme nicht gegenseitig ihre Bewußtseinsoperationen abtasten, sondern sie beobachten Input und Output.

Das Kommunikationssystem ermöglicht das Zirkulieren des Inputs und Outputs von beteiligten Systemen (vgl. weiter oben `Interpenetration´). Dieser Input/Output unterwirft sich damit dem Code eines Systems, der nach eigenen Regeln verfährt (nämlich den Unter- scheidung von Information, Mittelung und Verstehen). Diese Strukturierung der kommunika- tiven Elemente und Ereignisse ist nicht in einem Nullsummenspiel mit den beteiligten Sys-temen abzugleichen.19 Letztlich beobachten psychische Systeme nicht andere psychische Systeme, sondern sie beobachten die Kommunikation, an der diese beteiligt sind (sie sehen also nicht mehr, als das, was sich ihnen durch die Kommunikation offenbart.)

Durch das Einschalten eines Kommunikationssystems trägt das Konzept der doppelten Kontingenz die Theorie der Autopoiesis geschlossener Systeme voll mit und regelt gleich- zeitig die Möglichkeiten für Umweltöffnung, mithin die Möglichkeit zum Aufbau sozialer Realität.20 Die Systemtheorie entlastet sich mit dem funktionalen Konzept der doppelten Kontingenz gleich auch von allen subjekttheoretischen Implikationen. Soziale Verhältnisse und damit Gesellschaft, sind nicht mehr in subjektiven Willensakten oder Schöpferqualitäten begründet, sondern Sozialität erzeugt sich aus einem sich selbst dynamisierenden Magnetfeld von sich gleichzeitig abstoßenden und anziehenden Systemen.

Systeme können Zuwachs an Informationen autopoietisch verarbeiten und so ihre Lern- fähigkeit nutzen, um Realitätsgewißheit zu erzeugen, die systemintern anschlußfähig sind und in Kommunikationen getestet werden können. So entsteht ein rekursiver Steigerungszu- sammenhang, in dem man ohne eine Legitimation durch Subjekte und ihre privilegierte Kognition auskommen kann.

Die Entzauberung der Subjektivität führt weitreichende Konsequenzen mit sich. Gerade Theorien, die sich einem kritischen Gestus verpflichtet fühlen, kommen schwerlich daran vorbei, widerständige Kompetenzen in Individuen anzusiedeln, oder zumindest (nach Verabschiedung der transzendentalen Subjekttheorie) den Begriff der Handlung oder der Kommunikation so aufzuwerten, daß dann z.B. Geltungsansprüche formuliert werden können, die auf eine erfahrungsunabhängige und verständigungsorientierte Begründung abzielen (für Luhmanns Ohren müßte die Rede über eine Unabhängigkeit von Erfahrungen wohl erhebliche Mißtöne hervorbringen, denn heißt diese Erfahrungsunabhängigkeit nicht auch, sich ein System ohne seine Umwelt zu denken?) Habermas jedenfalls konzipiert das Modell eines machtfreien Diskurses, in dem Wahrheit und Richtigkeit nicht nur funktional, sondern kritisch-rational verhandelt werden. Dies eröffnet zwar die Möglichkeit, Chancen für Emanzipation, Partizipation, Kritik etc. an Individuen weiterzugeben, muß sich aber dadurch auf strittige Postulate einlassen, wie die Annahme der Kommunikabilität eines präjudizierten Konsens, der, als Ausdruck von Wahrheit, in einem Diskurs immer erreichbar ist, wenn sich nur die Sprecher auf eine vernünftige und machtfreie Kommunikation einlassen, oder die Annahme einer Unterscheidung zwischen der freiheitsstiftenden, authentischen Lebenswelt und einer instrumentell-machtorientierten Systemwelt. Eine solche Theorie will mehr als nur beschreiben, sie will auch zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände beitragen. Dieses ehrenhafte Anliegen ist aber nicht eine primäre Motivation der Systemtheorie, die vorallem einen umfassenden Entwurf plant, wie Gesell-schaft funktioniert und sich ihre theoretischen Bemühungen deshalb nicht durch ein mitge-führtes politisches Programm erschwert.

3. Inklusion und Exklusion des psychischen Systems

Es wurde bisher vorallem auf den allgemeinen Bauplan der systemtheoretischen Auseinander- setzung mit dem Menschen, den psychischen Systemen eingegangen. Aber auch wenn die Konzeption der Autopoiesis und das Theorem der doppelten Kontingenz wichtige Grund- steine für eine Darstellung psychischer Systeme bilden, müssen dennoch weitere systemtheo- retische Analysen herangezogen werden, um das hier anvisierte Bild zu vervollständigen. Wie steht es nun in systemtheoretischer Hinsicht mit der Möglichkeit für psychische Systeme, sich selbst als different zu anderen zu erleben?

Psychische Systeme entwickeln gerade in Verhältnissen funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, das Bedürfnis, dem Trend der Fragmentierung von Ich-Welt-Bezügen durch eine Stabilisierung der eigenen Identität zu begegnen.

Wie also, so lautet hier die Ausgangsfrage, betreiben psychische Systeme das Projekt der Individualisierung, angesichts der permanenten Instabilität ihrer selbst- und fremdreferent-iellen Operationen? Anders gefragt: wie konstituiert ein Ich die Differenz zu allem Nicht-Ich, obwohl seine `entkernte´ Subjektivität auf eine Selbstermächtigung durch anthropologisch-wesenhafte Qualitäten verzichten muß?

Diese Problemstellung soll hier in systemtheoretische Begriffe übersetzt werden, um zu erhellen, was Luhmann zu einer `Humansemantik´ beizutragen hat.

Psychische Systeme formieren ihre Realitätsentwürfe durch Beobachtungen. In diesen Entwürfen ist die Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz immer mitgeführt, um den Standpunkt des psychischen Systems in der selbsthergestellten Realität zu markieren.

Damit dieser perspektivische Weltentwurf als Ausdruck von Individualität bestätigt werden kann, muß er, innerhalb der eigenen Selbstdarstellung, expressiv verhandelt werden. Selbstdarstellungen müssen sich darum im Außenkontakt als aktzeptabel bewähren und das nötigt zu einer ständigen Reflexion und ggf. zur Modifizierung der Ich-Welt-Bezüge.

Dies bedeutet, daß die Selbstdarstellungen durch Beobachtungen anlaufen: psychische Sys- teme beobachten ihre System/Umwelt-Differenz, reflektieren ihre Unterscheidungscodes, lernen an der Beobachtung der Beobachtungen anderer Systeme, erzeugen Selbstdarstel- lungen usw. Durch das ständige Problematisieren der eigenen Selbst- und Fremdreferenz entsteht eine variable Konstruktion der Identität, die auf kontingente Selektionen beruht und nach außen durch die Intransparenz des Systems gewährleistet wird.

Die dringend benötigte Validierung der eigenen Selbstdarstellung muß also in der Umwelt verdient werden. Das psychische System ist deshalb angehalten, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen, nämlich das sich-einlassen auf die Welt. Für dieses Einlassen braucht das psy- chische System Vertrauen. Bei Luhmann ist das Vertrauen ein zweiter quasi-anthropolo-gischer Begriff, neben dem Theorem der doppelten Kontingenz, der hier von Bedeutung ist.

3.1. Vertrauen - Der Sprung in die Welt in systemtheoretischer Hinsicht

Für die individuellen Selbstdarstellungen ist die Fähigkeit psychischer Systeme, Vertrauen zu schenken, eine entscheidende Prämisse für den Erfolg.

Mit Vertrauen, im systemtheoretischen Sinne, ist ein sich-einlassen auf die Welt, auf die Zukunft21 gemeint, die zu einer Reduktion von Komplexität führt. Wer vertraut, gewährt einen Vorschuss auf erwartete, aber noch nicht eingetroffene Ereignisse und wem vertraut wird, muß seine Selbstdarstellung an diesem Vorschuss messen lassen. Durch die soziale Strategie des Vertrauens wird Erwartung strukturiert und Selbstdarstellung aktzeptiert.

Die systemtheoretische Konzeption von Vertrauen unterscheidet sich von Alltagsvorstel- lungen darüber, vorallem durch die Verortung des Vertrauens in den selbstreferentiell- geschlossenen Zirkel eines Systems. Wenn ein System Vertrauen schenkt, oder es ihm entgegengebracht wird, betrachtet es dieses Vertrauen als systeminterne Option, an die eigene Selektionen angeschlossen werden. Vertrauen ist deshalb immer ein riskantes Unterfangen, weil die Perspektive eines anderen Systems (durch Beobachtungen) zwar einschätzbar ist, aber nicht zuverlässig rekonstruiert werden kann. Die Folge davon ist, daß das Vertrauen hochsensibel gegenüber Erschütterungen ist, so daß Systeme sich laufenden Prüfungen hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit unterziehen. Vertrauen erfordert deshalb das Sammeln von Informationen über die beteiligten Systeme. Dies führt dazu, ein anderes, psychisches System nicht nur auf seine funktionalen Möglichkeiten hin einzuschätzen, sondern das andere System wird als Identität beobachtet, d.h. die Beurteilung seiner Selbst- darstellung (vertrauenserweckend oder nicht) ist wesentliche Motivation für Vertrauens- leistungen.22 Im sozialen Verkehr profitieren psychische Systeme also von einer erfolgreichen Selbstdarstellung und am Maß des ihnen entgegengebrachten Vertrauens, kann dieser Erfolg abgelesen werden. Um die eigenen Selbstbeschreibungen zu pflegen, fließen in den Kommu- nikationen, an denen sich psychische Systeme beteiligen, symbolische und repräsentative Formen ein. In seiner Arbeit über das Vertrauen schreibt Luhmann: "In ihrer Selbstdarstel- lung streben Personen und soziale Systeme danach, ein konsistentes Bild von sich selbst zu entwerfen und zur sozialen Geltung zu bringen. Da auch andere Menschen und soziale Systeme ein Interesse daran haben, in bezug auf ihre Umweltpartner verläßliche Erwartungen aufzubauen, sie also als feststehende Identitäten zu erleben, bildet sich im sozialen Verkehr eine Art Ausdruckssprache aus, die es erlaubt, Handlungen auf Menschen oder soziale Systeme zuzurechnen, und zwar nicht kausal, sondern symbolisch: als Ausdruck ihres Wesens, ihres Selbst."23

3.2. Die Form `Person´ als soziale Identität des psychischen Systems

Luhmanns Systemtheorie geht, um dies einleitend zu wiederholen, davon aus, daß psychische Systeme nicht durch soziale Funktionskreise vereinnahmt werden können. Dadurch wird die Frage interessant, in welcher Form sich Menschen trotzdem auf Kommunikation und soziale Welt einlassen, ohne daß sie dabei ihre Individualität einbüßen. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der `Form Person´, die zwischen den Reibungsflächen von psychischem und sozialem System eingelassen ist.

Mit diesem Terminus `Person´ sollen die spezifisch sozialen Darstellungsqualitäten psy-chischer Systeme näher gefaßt werden, denn mit Person soll das von der Umwelt aus beobachtbare und dadurch zurechenbare Verhalten bezeichnet werden.

Das persönliche Verhalten stellt sich z.B. in Rollenübernahmen, im Umgang mit gestellten Ansprüchen, aber auch in Selbstbeschreibungen eines psychischen Systems dar. Individuell erzeugte Selektionen können also, sobald sie in Kommunikationen beobachtbar sind, auf die Person gemünzt werden (während nicht beobachtete Optionen zur `dunklen´ Seite der Person, zur Unperson gehören).24 Das Person-sein dient somit einer Stabilisierung von sozialen Strukturen, da Beobachtbarkeit (gerade bei wiederholungsbedingten Lernprozessen) die Umweltkomplexität sozialer Systeme verringert.

In diesem Zusammenhang wird verständlich, daß Luhmann die Form Person als soziale Qualität begreifen will, denn die Person ist die sozial anschlussfähige Außenfläche eines psychischen Systems und ist also das, was in Situationen doppelter Kontingenz von einem alter ego aus, vermittels Kommunikation, beobachtet werden kann: "Die Form Person dient ausschließlich der Selbstorganisation des sozialen Systems..."25

Gerade weil das Personsein nur eine Form ist, die psychische Systeme im Umweltkontakt annehmen, kann das Bewußtsein niemals zum Gefangenen seiner Person werden. Der Spielraum eines psychischen Systems ist ungleich höher, als die reale Konkretisierung der Selektionen aufscheinen läßt. Individuen können sich also immer wieder den standpunkt- bezogenen Beobachtungen aus ihrer Umwelt entziehen. Die Form Person vermag das System Bewußtsein nicht zu schlucken, sondern es nur partiell zu repräsentieren.

Eine längere Passage aus "Die Form `Person´" belegt diese Ausführungen und kann darüber hinaus zeigen, daß in der Systemtheorie der Mensch nicht nur als Konkursmasse des `alteuropäischen´ Humanismus verabschiedet wird, sondern daß er in seiner sytemtheo-retischen Fassung nicht auf Freiheiten und Individualität verzichten muß:

Personen "ermöglichen den psychischen Systemen, am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird. Das Bewußtsein, eine Person zu sein, gibt dem psychischen System für den Normalfall das soziale O.K.; und für den ab-weichenden Fall die Form einer im System noch handhabbaren Irritation. Es merkt gewisser-maßen, wenn es mit sich selbst als Person in Schwierigkeiten kommt, und hat daher eine Gelegenheit, nach Auswegen zu suchen. Das Selbstkonzept der Unterscheidung Selbstrefe-renz/Fremdreferenz wird durch das Personsein eingeschränkt, wird durch eine andere Form überformt, und dies nicht im Sinne einer Verunstaltung oder Entfremdung, sondern i.S. einer hinzugesetzten weiteren Unterscheidung, einer anderen Form, einer anderen Möglichkeit, Grenzen zu kreuzen und zum Gegenteil überzugehen - oder dies zu vermeiden. (...)

Die Form `Person´ überformt das psychische System durch eine weitere Unterscheidung, eben die des eingeschränkten und des dadurch ausgegrenzten Verhaltensrepertoires. Psychisch kann man beide Seiten dieser Unterscheidung sehen, und das personentreue Verbleiben auf der einen Seite ebenso, wie das Kreuzen der Grenze genießen. Man kann Drogen nehmen, um die andere Seite zu erreichen, wenn das Bewußtsein es aus sich selbst heraus nicht schafft. Man kann die Versuchung spüren, mal nicht man selbst zu sein, Urlaub zu machen, incognito zu reisen, an der Bar stories zu erzählen, die keiner prüfen kann, oder man kann schaudernd vor solchem sich-selbst-entkommen zurückschrecken. Personsein ermöglicht beides. Denn Personsein ist eine Form."26

Die Systemtheorie nimmt also ihre eigene Forderung nach einer Positionierung des Menschen außerhalb der Gesellschaft durchaus ernst. Luhmann beschreibt aus diesem Grunde nicht nur die Einpassung des Menschen in die soziale Wirklichkeit, sondern er besteht auf die Nichauf- lösbarkeit der Individualität psychischer Systeme. Psychische Systeme finden sich innerhalb eines Wechselspiels von Inklusion und Exklusion wieder. Inklusion und Exklusion stehen sich dabei nicht nur als strenge Unterscheidung gegenüber, sondern sie stehen darüber hinaus in einem Bedingungszusammenhang. Damit ist gemeint, daß inkludierende Tendenzen in der Gesellschaft das Betreiben von Individualisierungsprojekten anregen und sogar bedingen können, auch wenn sich das psychische System im Gesamtbezug zu sozialen Systemen in der Umwelt der Gesellschaft positionieren.

Bei der Abstimmung zwischen psychischen Systemen geht es schließlich nicht nur um das Erkunden funktionaler Gesichtspunkte, um eine Kommunikation aufrecht zu erhalten. Die symbolische Darstellung eines eigenen Ich-Entwurfs gehört ebenfalls zu den Stützpfeilern für sozialen Verkehr. Dabei erscheinen Selbstdarstellungen den psychischen Systemen weniger als Konzession an ihre soziale Funktionalität, sondern eher als Ausdruck ihrer Individualität. (Man kann davon ausgehen, daß Individuen sich eher nach der Maxime "Ich bin so, wie ich bin" einschätzen. Dabei ist es nicht erforderlich, mitzubedenken, daß dieses "Ich" die Reprä- sentation einer konstruierten Identität ist. In vielen Fällen könnte sogar ein solches Wissen schwer aushaltbar sein und die eigene Selbstarstellung untergraben. Zweifel am eigenen Ich oder gar psychische Pathologien werden wohl eher als Mangel erlebt, den es durch (Selbst-) Therapie zu beheben gilt.

- Daß aber dieses Ichsein auch ein stillschweigendes Arrangement ist, das auf Reproduktion der gesellschaftlichen Funktionen oder zumindest seiner Kommu-nikationsmöglichkeiten angelegt ist, kommt noch hinzu. Die Umsetzung von Karrieren als Projekt der Selbstverwirklichung kann dafür als Beispiel dienen.)

Der Individualisierungsstil der psychischen Systeme, der auch unter der Bezeichnung Selbst- verwirklichung firmiert, wird in der Systemtheorie (wie im übrigen auch anderswo) zunächst einmal als Effekt der gesteigerten Gesellschaftsdifferenzierung beschrieben. Die gesellschaft- lichen Teilsysteme können Individuen nicht mehr voll integrieren (wie das vielleicht noch die religiös legitimierten Stände im Mittelalter vermochten). Die polykontexturale Struktur der Gesellschaft, also die Auflösung der Struktur in nebengeordnete, statt hierarchisierte Teilsysteme, führt dazu, daß die Identitätskonzepte nicht mehr im bloßen Kontaktvollzug zwischen psychischen und sozialen Systemen angepasst werden. Die Identität eines psychischen Systems muß deshalb hochgradig variabel sein und das Einlassen auf vielfältige Aspekte der Umwelt ermöglichen, ohne sich in ihr aufzulösen. Exklusion heißt in der Systemtheorie das Zauberwort für Individualisierung.

3.3. Individuelle Selbstdarstellung und die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien

Aber mit Exklusion allein ist der Prozess der Individualisierung psychischer Systeme noch nicht ausreichend beschrieben. Luhmanns Analysen zu diesem Thema oszilieren zwischen den differenten Polen von Exklusion und Inklusion. Tenor ist diesbezüglich, daß Projekte der Identitätsbildung einen komplementären Sachverhalt zur zunehmenden Ausdifferenzierung und Entindividualisierung der Gesellschaftsstrukturen darstellen. Dies impliziert, daß die Absetzungsbewegungen der psychischen Systeme von ihrer Umwelt, trotz des Beharrens auf Eigenheit, strukturell mit den sozial generierten Orientierungsmustern verschränkt bleibt. Dem systemtheoretisch ausgearbeiteten Konzept der symbolisch generalisierten Kommunika-tionsmedien kommt dabei eine große Bedeutung zu: die Wirkmächtigkeit dieser Kommunika-tionsmedien auf die Identitätskonstruktionen der Menschen kann als hoch eingeschätzt werden, da sie fundamental und quasi selbstverständlich zu dem gehören, was Menschen in der Welt vorfinden. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien haben in der sozialen Wahrnehmung keinen unmittelbar individuellen Bezug, sondern sie existieren scheinbar sui generis. (Und wenn sie schon mal da sind, muß das psychische System lernen, mit ihnen umzugehen.)27

Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind verfestigte Selektionsverstärker, d.h., die "Annahme und Übertragung von Selektionsleistungen"28 wird als allgemeines Kondensat sozialer Strukturen in die laufenden Kommunikationen implementiert und geben somit bestimmte Richtungen vor. Dadurch kann eine Verläßlichkeit erzeugt werden, daß bestimmte Selektionen ohne weitere Begründung angenommen werden. Geld, Wahrheit, Macht oder Liebe sind bei Luhmann vordringlich angeführte Kommunikationsmedien, die ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeiten für erfolgreiche Kommunikation in gesellschaftlichen Teilsystemen bereithalten (so z.B. das Geld in der Wirtschaft, Wahrheit in der Wissenschaft, Macht in der Politik, Liebe in Intimbeziehungen).

Bei der Konstruktion ihrer Identität berufen sich psychische Systeme in vielfältiger Weise auf symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Dies scheint zunächst paradox, denn diese allgemeinen Verfahrensregeln tragen auch zur Entindividualisierung der sozialen Wirklichkeit bei. Aber psychische Systeme können ihre eigene System/Umwelt-Differenz nicht transzen- dieren, d.h. sie können, systemtheoretisch gesehen, nicht auf eine Welt jenseits ihrer gesell- schaftlichen Realität durchgreifen, um dort eine authentische und unverbrüchliche Individu- alität vorzufinden. Psychische Systeme sind auf soziale Systeme verwiesen, die ihnen gleich- zeitig Individualisierung und Entindividualisierung aufnötigen und das in manchen Fällen eben mit den gleichen Mitteln. So kann z.B. der Eintritt in Funktionskreise der Wirtschaft als Abhängigkeit empfunden werden, trotzdem werden aber die Verhältnisse zu sozialen Systemen auch in der Art internalisiert, daß sie auch auf der Habenseite der Individualisie- rung verbucht werden können (beispielsweise, wenn der berufliche Erfolg in die Selbstdar-stellung einfließt, oder wenn Geld darauf verwendet wird, einen identitätsstützenden Konsum zu betreiben).

Das Fortschreiben individueller Biographien entlang von verschiedenen, sozial vermittelten Informationen, wie z.B. Lebensstile, und den daraus möglicherweise folgenden Zustandsänderungen eines psychischen Systems, macht es möglich, daß psychische Systeme sich gleichzeitig an ihrer Umwelt ausrichten und trotzdem Individualität konstruieren, die durch die selbstreferentielle Geschlossenheit des Systems gesichert ist.

Durch die Operationen der Beobachtung zieht ein Sytem die Umwelt in seinen operativen Zirkel und gibt sie nach der autopoietischen Verarbeitung der Informationen als eigenen Weltentwurf aus. Es ist also dieses Wechselspiel zwischen Inklusion und Exklusion von Personen in soziale Systeme, das zu den Bedingungen der Möglichkeit von Individualität führt.

Die Orientierung von Biographien an Karrieren29 läßt diesen Doppelbezug aufscheinen: Karrieren sind einerseits generalisierte Selbstdarstellungsmodelle, die eine funktionale Ein-passung psychischer Systeme in das Gesellschaftssystem bewirken, andererseits wird dieses biographische Modell soweit internalisiert, daß es als authentisches Begehren eines psy- chischen Systems betrachtet wird. Das Individuum kann also inkludierende Tendenzen sozialer Systeme durchaus als Ausdruck von Distinktion umwerten und damit gerade seine funktionalen Bezüge als Exklusion und Selbstverwirklichung interpretieren.

Die Rolle der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bei der `Entfaltung´ dieses Paradoxes von Inklusion und Exklusion kann aber nicht nur anhand der Selbstverwirklichung durch Karrieren, also in erster Linie anhand der Orientierung an Macht oder Geld, durchge-spielt werden. Noch stärker als in diesen Kommunikationsmedien wird nämlich beim Medium Liebe auf die Möglichkeit der Individualisierung abgehoben, während im Vergleich dazu die funktionale Bedeutung zurücktritt (aber nicht entfällt).

3.3.1. Persönliche Netzwerke und die Liebe als Medium für die Selbstverwirklichung

In der funktional differenzierten Gesellschaft intensiviert sich das Maß der unpersönlichen Beziehungen zwischen Menschen in einem vorher nicht gekanntem Umfang. Jedem psy- chischen System ist grundsätzlich der Zugang zu allen Funktionskreisen der Gesellschaft offen, so daß Beobachtungen mit einer immensen Steigerung der System-Umwelt-Referenzen auskommen müssen. Personen sind deshalb veranlasst, zwischen unterschiedlichen sozialen Systemen ihrer Umwelt zu rochieren, womit gleichzeitig ein Moment der Ungebundenheit und der Entwurzelung in die soziale (Selbst-) Wahrnehmung eingeführt wird. Jedenfalls muß, so Luhmann, "die Person...als sozial ortlos vorausgesetzt werden."30

Diese Ortlosigkeit drückt sich nicht nur in der Ausdifferenzierung der funktionalen, unper-önlichen Beziehungen aus. Die Kehrseite dieser Entwicklung verheißt nämlich gleichzeitig eine Intensivierung und Verdichtung persönlicher Beziehungen. Im Zusammenhang damit setzt eine Focussierung der Selbst- und Weltbezüge auf den Menschen als Individuum ein.

Die Freisetzung des Individuum aus den fixen Bezügen einer (z.B. stratifikatorisch differenz- ierten) Gesellschaftsordnung entblößt eine definitorische Leerstelle in der Selbstwahr-nehmung von Individuen und sie sind auf sich selbst verwiesen, sie zu füllen.31

Wenn in der Gesellschaftsordnung nicht mehr der Schlüssel zur Erklärung dafür zu finden ist, was ein Individuum ist und an welchen Platz jedes einzelne hingehört, so obliegt es dem Individuum selbst, sich und seine Welt mit Definitionen und Legitimationen etc. zu versehen. So könnte eine konventionelle und im Alltag wohl gebräuchliche Erklärungsfolie dafür lauten, wie es in der Moderne um den Menschen und seine `Ordnung der Dinge´ bestellt ist. Die Systemtheorie geht aber einen Schritt weiter und schlägt dabei eine interessante Volte:

auch sie reflektiert die Erklärungsfolie der gesellschaftskonstituierenden Individualiät des Menschen, aber nur insofern es sich dabei um ein sozial evidentes Phänomen handelt, das aber zusätzlicher, nämlich systemtheoretischer Aufklärung bedarf.

Zur Individualisierung der Welt- und Wirklichkeitsbezüge konnte es nämlich nur kommen, weil in der funktional differenzierten Gesellschaft eine Ausdehnung der nicht-individuellen Bezüge stattfand. Erst diese Ausdehnung des Sozialen evozierte das Bestreben nach einer Gegenbewegung, in der man sich von der Sozialwelt absetzt. Die Individualisierung von psychischen Systemen ist Ausdruck dieser Gegenbewegung.

Luhmann stellt auf diese Weise das Vorher/Nachher-Verhältnis auf den Kopf: während in konventionellen Wahrnehmungen wohl eher die Vorstellung gepflegt wird, daß die Projekte der Individualisierung erst eine moderne Gesellschaftsordnung, samt ihren Errungenschaften, wie Demokratie, Freiheit etc. ermöglichten, geht die Systemtheorie davon aus, daß erst die Ausdifferenzierung sozialer Systeme (die auf neu aufgetretene Komplexiät reagieren) , die psychischen Systeme in den Stand setzt, ihre Individualisierung zu betreiben.

Eine solche Umkehrung der Verhältnisse führt zu abweichenden theoretischen Konse-quenzen. Im ersten Fall wird man sich dazu veranlaßt fühlen, das Augenmerk auf indivi- duelle Bildungsprozesse zu legen, wie sie zum Beispiel durch die Pädagogik unterstützt werden. Die Möglichkeit der Kritik wird hier eher eine Richtung einschlagen, die davon ausgeht, daß das Bewußtsein von Mißständen, ihrer Abschaffung vorausgeht, oder in einer theoriegeschichtlich späteren Entwicklung, davon ausgeht, daß die Thematisierung von Mißständen in der Kommunikation zwischen mündigen Sprechern, der Veränderung voraus- geht. Im zweiten, systemtheoretischen Fall müßte zwar diese Focussierung auf die Individua-lität ernstgenommen werden, man könnte aber gleichzeitig die Bedingungen ihrer Möglich-keit in der Ausdifferenzierung der Gesellschaft ansiedeln.

Halten wir nochmal fest: die Ausdifferenzierung von unpersönlichen und individualisierten, persönlichen Beziehungen gehen in der funktional aufgelösten Gesellschaft Hand in Hand.

Psychische Systeme können in einer solchen Gesellschaft dementsprechend ihre soziale Umwelt durch eine Differenz von Nahwelt und Fernwelt erfassen. In der Nahwelt wird die Individualisierung eines psychischen Systems durch das Knüpfen von persönlichen Bezie- hungen betrieben. Durch ein solches Netz persönlicher Beziehungen wird der Komplexität und Kontingenz, die im Gesamtbezug auf die Gesellschaft anfällt, entgegengewirkt. Dies geschieht, indem Individuen höchstpersönliche Kommunikationen pflegen, in der sie sich als different zu anderen Individuen darzustellen suchen.32

Höchstpersönliche Kommunikationen sind damit auch hochproblematisch, da psychische Systeme in die Situation gedrängt werden, den individuellen Weltentwurf eines anderen psychischen Systems zu bestätigen. Diese Zumutung kann aber nicht einfach geleistet werden, aufgrund der Schließung psychischer Systeme gegenüber ihrer Umwelt. Jeder Weltentwurf ist "einzigartig, also eigenartig, also nicht konsensfähig". Im Regelfall kann also die Rolle des "Weltbestätigers" nicht oder nur sehr eingeschränkt angenommen werden, da der individuelle Weltentwurf "nach außen nicht anschlußfähig"33 ist. Dennoch werden in der höchstpersönlichen Kommunikationen Versuche unternommen, ein gemeinsames Feld von verstehbaren Selektionen zu erstellen. In der Intimbeziehung zwischen zwei Individuen wird dieser Versuch, die Welt des anderen nicht nur zu verstehen, sondern auch mitzutragen am weitesten vorangetrieben. Die Intimbeziehung ist die intensivste persönliche Beziehung, und sie beruht auf dem Code Liebe. Dieser Liebescode soll hier im systemtheoretischen Sinn angeführt werden, da die Liebe dort ansetzt, wo alle anderen sozialen Systeme noch weit früher scheitern, nämlich beim Versuch, die Grenzen zwischen zwei psychischen Systemen zu überwinden (der Versuch zählt, da die Grenzaufhebung zwischen Systemen nicht möglich ist).

Was versteht nun Luhmann unter `Liebe´? Liebe zeichnet sich zunächst durch ihre Selbst- referenz aus. Liebe kann nur aus Liebe entstehen und eine Intimbeziehung muß sich dafür sensibilisieren, Zeichen für Liebe in allen möglichen Kommunikationen zu entdecken. Deshalb erhält jede Kommunikation einen persönlichen, Liebe bestätigenden oder nicht bestätigenden Bezug. Alles, was zwischen Liebenden thematisiert wird, muß darauf abgetastet werden, ob die fundamentale Basis für Liebe eingehalten wird, nämlich das Mittragen des Weltentwurfs seines Partners. Liebe befindet sich dabei in einem Dilemma: einerseits sind Weltentwürfe individuelle Selektionen, die auf der Autopoiesis des Bewußt- seins beruhen, andererseits soll in der Liebe möglichst viel gegenseitige Transparenz erzeugt werden, um eine gemeinsame Welt zu kreieren, in der beide Partner in ihrer vollen Individu- alität zur Geltung kommen. Dieses Dilemma läßt sich nur tendentiell durch hochgradig geschärfte Beobachtungen auflösen, in der das Interesse an allem, was die Person des Partners angeht, unaufhörlich gesteigert wird.34 Die Liebenden verlangen von sich, daß sie die Selektionen des anderen mitvollziehen können, daß sie also `wissen´, was im anderen vorgeht. Es muß sich immer wieder gegenseitig versichert werden, daß alles, was am Partner beobachtbar ist, Bedeutung für die Liebe hat. In der Intimbeziehung gibt es also kein neutrales Terrain für Kommunikationen, in der die Ansprüche der Liebe keine Rolle spielen. Wer darauf eingeht, den Geschmack, den Stil, persönliche Stärken und Schwächen usw. eines anderen Menschen zu akzeptieren, darf nicht den Fehler begehen, manche Charakteristika des Partners davon auszunehmen und dies allzu deutlich zu betonen.

Dies hängt mit der tendentiellen Aufhebung der Differenz von Information und Mitteilung in der Kommunikation unter Liebenden zusammen. `Wo die Mitteilung heiß ist, kann die Information nicht kalt bleiben´: Die Mitteilung, daß der Partner beim Autofahren zu heftig bremst, oder daß das Essen nicht schmeckt, kann nicht als neutrale Information gewertet werden, sondern bedeutet, daß mit der Kritik am Fahrstil oder an den Kochkünsten, die Person des Partners in Zweifel gezogen wird.35

Grund hierfür ist, daß jede Handlung in der Intimbeziehung als das Einbringen der eigenen Identität betrachtet wird. Hinter allem, was in einer Intimbeziehung geschieht, steht die Frage ob der eigene Selbstentwurf vom anderen gebilligt wird. Erschwert wird die Kommunikation der Liebe zusätzlich durch das Problem der Inkommunikabilität: "Es geht...um das Problem, ob es nicht und zwar gerade in Intimbeziehungen Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand einer Mitteilung macht."36 Es ist deshalb notwendig, daß die vermittelten Zeichen für Liebe durch das Handeln selbst, also im Mittragen der anderen Identität, erkennbar werden und nicht etwa durch den Gegenstand der Handlung. Es genügt nicht, zu sagen "ich liebe dich", wenn diese Liebe nicht in jeder anderen Handlung sichtbar ist, wenn also die Handlung nicht als Identifikation des Handelnden mit seiner Handlung erlebbar ist.37 Das oben erwähnte Dilemma zwischen niemals genau wissen können und trotzdem wissen sollen, was im anderen vorgeht, führt zu Problemen der Aufrichtigkeit, die nur dadurch behoben werden können, indem man zeigt, daß die eigene Identität in der Liebe zum Ausdruck kommt und an ihr wächst. Liebe ist somit ein prominentes Testgelände für die individuelle Selbstverwirklichung psychischer Systeme. Sie zeigt aber auch, welche Risiken die instabilen Konstruktionen eines wahrhaftigen Selbst (i.G. zum instrumentellen Selbst, als das man in der unpersönlichen Sozialwelt figuriert) mit sich bringt und an welche Grenzen sie stößt. Um die Erfolgschancen für Liebe zu erhöhen, ist sie mit einem, wie es bei Luhmann heißt, symbiotischen Mechanismus verbunden, der den Einbezug der Körper in die Verhandlungs-masse des sozialen Systems `Intimbeziehung´ ermöglicht. Dieser symbiotische Mechanismus ist in der Liebe, die Sexualität38 (andere symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien verfügen ebenfalls über symbiotische Mechanismen, wie z.B. die Macht sich bei ihrer Durch-setzung notfalls der physischen Gewalt bedient).

Es dürfte deutlich geworden sein, welche emminent wichtige Rolle, die Liebe für die Konstitution von Individualität spielt. Gleichzeitig nimmt sie, gemäß der Systemtheorie, eine wichtige gesamtgesellschaftliche Funktion ein, nämlich die Reproduktion der Bevölkerung, denn die Semantik der bürgerlichen Liebe ist eigentlich auf das Ziel der bürgerlichen Familie ausgerichtet.39 Diese reproduzierende Funktion der Liebe befindet sich aber, mit der Suspendierung der Familiengründung als Ziel der Selbstverwirklichung sowie der Freisetzung der Partnerwahl in der Sexualität, in einer Krise. Die Einheitsformel von Liebe, Ehe und Sexualität löst sich auf, je höher sich die Freiheitsgrade, die Wahlmöglichkeiten eines psychischen Systems in der sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft steigern. Um einer Erosion der persönlichen Nahwelt vorzubeugen, werden die Funktionen der Liebesbeziehung immer mehr durch ausgestaltete Formen des Privaten wahrgenommen.

Identitätsfragen werden so immer stärker zu Stilfragen.40

4. Die Realität der Massenmedien und die Identität der Selbstdarsteller

Bisher wurde die Selbstdarstellung vorallem als Schnittmenge von selbst- und fremd-referentiellen Operationen beschrieben. Die Identität eines psychischen Systems ist in diesem Sinne ein internes Korrelat, das sich an der Behauptung der eigenen System/Umwelt-Differenz schärft. In einer solchen differenztheoretischen Konstitution von Identität findet die Annahme von fundamentalen Wesensgehalten innerhalb eines Subjektes keinen Platz.

Die Selbstdarstellungen eines psychischen Systems sind von der funktional differenzierten Gesellschaft motiviert und sind nicht Präsentationen von subjektiven Essenzen. Identität ist eine Konstruktion, die sich an der Verarbeitung sozial formierter Selektionsangebote orientiert. Selbstdarstellungen können somit z.B. durch Karrieren, Intimbeziehungen, Geschmacks- und Stilfragen validiert werden. Um ihre Selbstdarstellung zu festigen, können psychische Systeme sich bei den angebotenen Identifikationsmustern bedienen, so daß die Individualität unter solchen Bedingungen vorallem eine Frage der Kombination verschiedener Elemente zu einem Identitätsset ist, denn eine Frage von Wahrhaftigkeit oder Originalität.

Bei diesen kombinatorischen Selektionen entsteht aber dennoch keine gemeinsame Lebens-welt, die etwa auf (wie auch immer entstandenen) Konsens der Beteiligten fußt. Die Eigen- heit der geborgten Identitätsmodelle erklärt sich aus dem vergleichsweise simplen Umstand, daß eine Kombination von identitätsbezogenen Mustern niemals in der selben Form bei einem zweiten System vorkommen können. Die Selektionen von Individuen lassen sich nicht einfach kopieren, auch wenn sie Selektionen aus einem Sinnhorizont sind, zu dem auch andere Systeme Zugang haben können. Übereinstimmungen sind nur in Teilbereichen möglich und grundsätzlich kontingent. Dieser Sachverhalt kann psychische Systeme in das Recht setzen, sich trotz ihrer konstruierten Identität, als wahrhaftige und authentische Personen zu präsentieren, und dies muß auf Dauer auch geschehen, will das psychische System nicht einer Selbstauflösung (zumindest in der Selbstbeobachtung) Vorschub leisten. Die Möglichkeit für eine solche Modelierung der eigenen Identität ist der Individualität der Autopoiesis des Sinns im psychischen System geschuldet.

Die Unermeßlichkeit des je systemeigenen und intransparenten Sinnhorizonts schließt eine Konvergenz von Bewußtseinssystemen aus und macht nur Punkt-für-Punkt-Übereinstim- mungen möglich, die aber bei mitlaufender Kontingenz erst ausprobiert werden müssen. Konsens kann deshalb nur ein Effekt sozialer Kommunikationen sein und nicht deren Vor- bedingung. In diesem Sinne ist Konsens auch nicht wahrscheinlicher als Dissens. Die zweifel-los nützliche Funktion von Konsens in einer Kommunikation muß stattdessen erarbeitet werden und kann bestenfalls zur Etablierung von Erwartungsstrukturen führen, die aber unter kontingenten Bedingungen sowohl erfüllt als auch enttäuscht werden können.

Was kann nun aber ein psychisches System von einem anderen erwarten? Diese Frage stellt sich besonders, wenn Kommunikation nicht in schon hochgradig ausdifferenzierten sozialen Strukturen stattfindet, sondern innerhalb der relativen Verhaltensunsicherheit der moment- haft aktualisierten und ständig vom Zerfall bedrohten Kommunikation des Alltags.

Will man diese Problemstellung in eine Luhmannsche Argumentation überführen, so kommt man vor die Frage, wie sich die Systemtheorie Realität vorstellt. Um zu klären, welche systemtheoretische Abläufe die Konstruktion von Identität ermöglichen, muß man sich auch den Möglichkeitsbedingungen widmen, die zu einer Konstruktion der Wirklichkeit führen. Die Systemtheorie hält zwar fest, daß psychische Systeme ihre Realitätsgewissheiten intern erzeugen, dies weist sie allerdings nicht als monadische Inseln mit inkommensurablen Welt- entwürfen aus. Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz transzendiert niemals den rekursiven Zusammenhang von System und Umwelt. Realität kann deshalb nur durch Beobachtung beider Seiten dieser Differenz konstituiert werden.

Doch was findet ein psychisches System in seiner Umwelt vor, wenn es sie auf ein allgemein verfügbares Wissen hin beobachtet, wenn es sich also auf die Normalität der Wirklichkeit einlassen will? Kurzum, welche möglichen Vorgaben gibt es um Fremdreferenzen zu unter- scheiden und zu bezeichnen? Die Autopoiesis des Bewußtseins alleine kann noch nicht erklären, womit (also mit welchen Gedanken) sich ein Bewußtsein füllt. Der Bezug zu einer realitätsbezogenen Hintergrundfolie außerhalb eines psychischen Systems muß hinzutreten, um die Gleichzeitigkeit von individuellen Realitätsentwürfen zu erklären. Ein solches Konzept von sozialer Realität dürfte allerdings nicht der Schließung psychischer Systeme widersprechen und kann also auch nicht in Form einer `konsensverpflichtenden´ Lebenswelt gedacht werden.

4.1. Die Wirklichkeit als Gedächtnis

Es muß an dieser Stelle über schon Gesagtes hinausgegangen werden, da mit dem Aufzeigen des Komplementärverhältnisses von Individualität und Gesellschaft noch nicht hinreichend geklärt ist, welche Selektionen psychischen Systemen lohnenswerter erscheinen als andere. Es genügt nicht nur zu wissen, daß in Geschäften Waren liegen, die man für Geld kaufen kann, um die eigene Selbstdarstellung zu festigen. Darüber hinaus muß gewußt werden, welche Waren man kauft, gerade wenn es um eine symbolische Nutzung dieser Kaufangebote geht. Ein psychisches System kann bei solchen Selektionen nicht auf sich allein angewiesen sein, um zu entscheiden, welchen Beitrag solche Wahlen auf das Bild haben, das es von sich entwirft und das von anderen Selbstdarstellern beobachtet werden kann. Ein gewisser Grad an Verläßlichkeit der Kommunikation muß gelten, damit Selektionen auch in ihrer symboli-schen Bedeutung verstanden und so als persönliches, individuelles Verhalten gewertet werden können. Eine sozial wirksame Realität müsste also auch psychische Systeme über-greifen und Beobachtungen ermöglichen, die die Kontingenz der Selbstdarstellungen durch vorgeformte Selektionen abfangen.

Das systemtheoretische Konzept der Massenmedien ermöglicht es, dem Umstand näherzu- kommen, daß Selbstdarstellungen in einem gesellschaftsweiten Forum beobachtbar sind und sich psychische Systeme über das andere Selbst informieren können, indem sie Vergleiche anstellen, die durch die Massenmedien schematisiert werden (ohne daß dabei die Kontingenz durch `Mißverstehen´oder einfach Nichtverstehen auszuschalten wäre).

Um diese bedeutsame Funktion der Massenmedien näher beleuchten zu können, bedarf es erst einmal einiger allgemeiner Bemerkungen zum systemtheoretischen Begriff der Realität. Mit Realität will Luhmann verständlicherweise keine etwaige `Gegenständlichkeit´der Welt verstanden wissen, sondern Wirklichkeit meint bei ihm, daß Systeme über ein Gedächtnis verfügen, aus dem Realitätsbeschreibungen generiert werden können.41 Dieser Gedanke muß hier weiter auseinander gelegt werden: im Gedächtnis werden Themen der Kommunikation organisiert und auf Redundanz und Steigerung der systeminternen Varietät getestet. Beim Auftreten neuer, irritierender Informationen unterzieht sich das Gedächtnis weiterer Prüfungen dieser Art und überantwortet überflüssige Inhalte dem Vergessen, während andere in der Erinnerung bereitgehalten werden, um sie zu neuen Themen in Bezug zu setzen.42 So entsteht eine leistungsfähige, rekursiv verfahrende Modulation des Systemzustandes, dessen Gegenwart zu einem Realitätsentwurf des (psychischen) Systems wird, in dem wiederum die eigene Selbstdarstellung auch vorkommt. Es sind aber nicht nur psychische Systeme, die einen Entwurf der Wirklichkeit produzieren. Auch soziale Systeme koordinieren Selbstreferenz und Fremdreferenz in einer Weise, daß ihre Beobachtungen Weltentwürfe zeitigen, die mit ihrer systemischen Funktionalität kompa- tibel sind. Für diesen Zweck legen auch soziale Systeme ein Gedächtnis an, nicht zuletzt um ihre Lernfähigkeit Aufrecht zu halten (z.B. die Wissenschaft, deren Gedächtnis in Form von Texten angelegt ist, die sich der Differenz von wahr und falsch widmen.). Dem Gedächtnis der Massenmedien kommt dabei eine Rolle zu, die sie von anderen sozialen wie auch psychischen Systemen unterscheidet, denn seine Realitätsentwürfe sind nicht nur Entwürfe für das eigene System, sondern sie verbreiten ihre Kommunikationen massenhaft in ihrer Umwelt, so daß die Realität der Massenmedien zu einer gesellschaftlichen Realität schlechthin wird.

Das Gedächtnis der Massenmedien erzeugt einen Kommunikationshorizont, in dem alle andere Kommunikationen wiederzufinden sind, oder der zumindest in allen anderen Kommunikationen einsehbar bleibt. Die Inhalte der massenmedialen Kommunikation müssen deshalb von anderen Systemen nicht immer wieder als neu in die Kommunikation eingeführt werden, sondern sie können im Umweltkontakt als Hintergrundwissen mitkommuniziert werden, ohne explizit darauf hinzuweisen. Die Annahme, daß alter ego `Bescheid´ weiß, sich also über den Kommunikationshorizont der Massenmedien bewußt ist, genügt.

Die "gesellschaftliche Funktion der Massenmedien" liegt im von ihnen erzeugten Gedächtnis. "Für das Gesellschaftssystem besteht das Gedächtnis darin, daß man bei jeder Kommunika- tion bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzen kann, ohne sie eigens in die Kommunikation einzuführen...Die jeweils behandelten Realitätsausschnitte werden so durch eine zweite, nicht konsenspflichtige Realität überlagert." 43 Das Gedächtnis der Massenmedien wird psychischen Systemen durch ihre Beobachtungen zugänglich.

Es dient aber keineswegs der Integration in die Gesellschaft, sondern liefert einen mehr oder weniger zuverlässigen Kompass, an dem man die Beobachtung von anderen Beobachtern ausrichten kann. Massenmedien "erzeugen eine Beschreibung der Welt, eine Weltkonstruktion, und das ist die Realität, an der Gesellschaft sich orientiert."44

4.2. Eine Information ist eine Information ist eine Information... - Zur Selbstreferenz der Massenmedien und ihrer Resonanz in der Umwelt

In der funktional differenzierten Gesellschaft, die keine privilegierten Beobachterplätze mehr anbietet, ermöglicht die Realität der Massenmedien eine nicht Konsens verbürgende Fort- setzung der Kommunikationen, indem Typisierungen und Standardisierungen von Verhalten, sowie Handlungen und Kommunikationen eingefahren werden und dadurch Anschlußmög-lichkeiten für psychische Systeme eröffnen.

Wie funktionieren nun die Massenmedien in systemtheoretischer Hinsicht?

Luhmann beschreibt die Realität der Massenmedien als gedoppeltes Phänomen. Einmal handelt es sich bei ihr um den Sachverhalt der Ausdifferenzierung dieses Kommunikations- mediums innerhalb der, auf breiter Basis funktional ausgefächerten Gesellschaft, andererseits ist auch die Projektion eines massenmedial erzeugten Realitätsentwurfs auf die soziale Um-welt gemeint.

Das System der Massenmedien arbeitet, wie andere Systeme auch, mit einer Leitdifferenz, über die sie ihre Beobachtungen und Kommunikationen steuert. Diese Leitdifferenz stellt sich als zweiseitiger Code mit den beiden Werten Information und Nichtinformation dar.45 D.h., daß Luhmann schon von vorne herein die Funktion der Medien relativiert, denn für ihn liegt das Interesse der Massenmedien (im journalistischen Bereich) nicht in der etwaigen Funktion als Aufklärungsorgan und Übermittler von Wahrheit, sondern in der selbstreferentiellen Reproduktion von Informationen. Die Forderung, daß Medien objektiv und wahrheitsgetreu verfahren sollen, ist wohl eher eine Übertragung politischer Haltungen, die die Vorstellung der Medien, als vierte Gewalt hegen und pflegen. Der demgegenüber kühlen und lakonischen Betrachtungsweise der Systemtheorie müssen solche `ethischen´ Legitimationen als suspekt erscheinen. Dennoch ist Luhmanns Analyse der Massenmedien durchaus auch `kritisch´ verwertbar, allerdings von einer gänzlich ethikfreien Warte aus.46 Vielmehr leitet sie zu einem illusionslosen und daher vielleicht auch adäquateren Blick auf die Massenmedien an. Luhmann konstatiert also in einer für ihn typischen Nüchternheit, daß sich Massenmedien ausschließlich an der Differenz von Information und Nichtinformation orientieren.

Informationen sind in der Systemtheorie "Unterschiede, die einen Unterschied machen".47 Sie sind kommunikative Ereignisse, die den Zustand eines Systems verändern können: Informationen rufen Irritationen hervor, die ein System zur Neuordnung seines Sinnpotentials bewegen können. Der Zweck einer Information, nämlich einen Unterschied zwischen vorher und nachher zu erzeugen, läßt sich nicht wiederholen, denn eine Irritation kann nicht zweimal auf die gleiche Information erfolgen. Der Informationswert zerfällt demzufolge sofort beim kommunikativen Vollzug der Information. Massenmedien befinden sich deshalb in dem Dilemma, daß sie ihre Elemente im Gebrauch gleichzeitig ungebräuchlich machen: sie verwandeln ständig Information in Nichtinformation. Dies setzt das System der Massen-medien gehörig unter Druck, so das es eine ungeheure Dynamik entwickelt, die auf schnelle Reproduktion von Informationen angelegt ist. Die Beschleunigung der eigenen Operationen ist für die Massenmedien, gerade je weiter ihre interne Ausdifferenzierung in zusätzliche Subsysteme gediehen ist, eine wesentliche Betriebsbedingung. An der Gesellschaft geht dieser beschleunigte Informationsfluß nicht spurlos vorbei. Die entstehende Unruhe in den Massenmedien schlägt sich auch auf die gesellschaftliche Umwelt nieder, die sich auf diese Weise für immer weitere Informationen, Störgeräusche etc. sensibilisiert. Resultat ist, daß die Gesellschaften unserer Tage eine rastlose Wachheit pflegen, unter deren Druck der Bedarf nach neuen Informationen ständig wächst.

Die hohe Zerfallsgeschwindigkeit von Informationen ist im Verein mit dem sich immer weiter steigernden Bedarf von Geld ("fresh money and new informations"48 ) also auch beschleunigender Faktor für das Gesamtsystem Gesellschaft. Die daraus entstehende Dynamik greift über auf verschiedenste gesellschaftliche Teilsysteme, die unter diesen Bedingungen des rasanten Wechsels, unter dem "neurotischen Zwang" stehen, laufend "etwas neues bieten zu müssen."49

Um die Wirkung der Massenmedien auf die Gesellschaft, auf die Konstruktion einer sozialen Wirklichkeit und somit auf die Selbstdarstellung von psychischen Systemen genauer zu unter- suchen, muß aufgezeigt werden, in welcher Form die Massenmedien ihre Informationen an die Systeme ihrer Umwelt adressieren. Luhmann beschreibt drei Segmente, die sich innerhalb des Systems der Massenmedien nochmals ausdifferenziert haben und Informationen mit unterschiedlichem Bezug auf ihre Umwelt präsentieren. Luhmann bezeichnet diese Segmente, die sich auf Basis des Codes Information/Nichtinformation entwickeln, als Programme.

Es handelt sich bei den Programmen um 1. Nachrichten und Berichte, 2. Werbung und 3. Unterhaltung. Diese drei Programmbereiche lohnen eine Darstellung ihrer Beiträge zur Konstruktion einer massenmedialen Realität.

4.2.1. Nachrichten und Berichte

In diesem Programmbereich scheint der Bezug zur Vermittlung von Informationen am deutlichsten auf. Nachrichten und Berichte sollen, so zumindest die allgemeine Ansicht, das Wissen derjenigen mehren, die nicht unmittelbaren Zugang zu den Informationen haben, über die sie Bescheid wissen sollten. Die aus diesem Programmbereich entstandene Profession des Journalismus legitimiert sich weitgehend mit dem Hinweis auf ihre Aufklärungsfunktion. Der nüchterne Blick des Systemtheoretikers Luhmann entkräftet diese Legitimation nachhaltig.

Er bestreitet, daß der Sinn und Zweck der Nachrichten und Berichte in der Wahrheits- findung läge. Natürlich verfährt dieser Programmbereich nach der Devise, daß ihre Informa-tionen wahr sind, aber das ist nicht primäre Motivation für das Fortsetzen ihrer Kommu- nikationen. Wie alle anderen Untergruppen der Massenmedien sind sie in erster Linie an der Fortsetzung ihres Informationsflusses interessiert. Das Lancieren immer neuer Informationen ist ein Selbstzweck, so daß ihre Themen nicht primär wahr sein müssen, sondern vorallem neu. Die Wahrheit einer Nachricht oder eines Berichtes ist deshalb eher eine Zusatzfunktion, die auch aufgrund der Glaubwürdigkeit des Journalismus notwendig ist. Dieser Programmbereich mag zwar wahre Informationen bevorzugen, aber damit ist noch nicht entschieden, was in den Medien als Nachricht oder Bericht vorkommt; denn Informa-tionen sollen wahr sein, aber längst nicht alle Wahrheiten sind auch informativ. Deshalb wählen Nachrichten oder Berichte ihre Themen nicht nach der Differenz wahr oder unwahr aus, sondern auch sie beobachten ihre Umwelt auf die Differenz von Information und Nicht-

Information hin. Auf diese Weise entstehen thematische Vorlieben, die sich näher beschreiben lassen: grundsätzlich haben Kommunikationen über Konflikte, Normverstöße, Skandale oder Meinungen und Kommentare größere Chancen in diesem Programmbereich aufzutauchen, als Berichte und Nachrichten über harmonische Zustände, Konsens, Ereignislosigkeit oder Normalität und Gleichgültigkeit. Dem Ungewöhnlichen oder dem Konflikt wird auch gemeinhin von Seiten der Zuschauer mehr Aufmerksamkeit gezollt. Das liegt an der Dynamik der Differenz von Information und Nicht-Information. Dissente Themen bergen in sich weit mehr Möglichkeiten, weitere Informationen an sie anzuschließen. Sie sind ereignisreicher.50

Bei der Beobachtung des Realitätsentwurfs, den dieser Programmbereich der Massenmedien transportiert, entsteht in der sozialen Umwelt ein Eindruck der Unruhe innerhalb der Gesell-schaft. Das sich ständige Ablösen von Ereignissen durch andere Ereignisse in den Informa-tionskanälen der Massenmedien manifestiert sich zur Art und Weise, wie Wirklichkeit `empfunden´ wird und wie man sich in ihr zu bewegen hat. Die Rasanz der Informations-erzeugung überträgt sich auf die Beobachter der Massenmedien, die komplementär auch einen gesteigerten Bedarf nach immer weiteren Informationen entwickeln.

Die Massenmedien leisten dabei auch eine nötige Hilfestellung, um ihr Realitätskonstrukt für die Weltbezüge der psychischen Systeme kompatibel zu gestalten: denn die thematisierten Ereignisse werden als Ergebnis der Handlungen von Individuen vorgeführt und nicht als Bestandteile einer subjektlosen, sozialen Kommunikation, wie sie etwa in der Systemtheorie konzipiert wird. Es sind Menschen, die in den Nachrichten und Berichten Geschehenes verantworten.51 Bei ihnen werden Intentionen lokalisiert, aus denen sich der Ablauf der Ereignisse erklärt. Die Entscheidung dieses Staatsmannes oder jenes Kriminellen sind griffiger zu massenmedialen Informationen zu verarbeiten, als ihr Zusammenhang zu funktio-nalen Vorgaben durch soziale Systeme. Durch einen solchen hintergründigen Zusammenhang wären unter Umständen die Handlungen und Entscheidungen nicht mehr als individuelle Selbstermächtigung darstellbar und so würde sich die Typisierung der psychischen Systeme als handelnde Individuen, auflösen. Im Programmbereich der Nachrichten und Berichte werden den Beobachtern Handlungs-muster und standardisierte Identitäten vorgeführt. Der Beobachter in der sozialen Umwelt kann also lernen, wie psychische Systeme als Individuen interpretiert werden.

Das Insistieren auf Handlungen kann aber leicht in die Frage umschlagen, ob eine bestimmte Handlung gut oder schlecht ist. Die Massenmedien lösen dieses Problem, indem sie ihren Kommunikationen eine Moral beigeben, an der eine Bestimmung von gut oder schlecht ablesbar ist.52 Für Luhmann ist die Moral eine Kommunikation, die zur Achtung oder Mißachtung einer Person veranlaßt.53 Was bedeutet dies im Zusammenhang zur massen- mediale Verwendung der Moral?

Die Moral in den Massenmedien ist keine objektive Bewertungsgrundlage, sondern sie ist ein von den Massenmedien selbst erzeugtes Supplement zu ihren Nachrichten und Berichten. Die zu Informationen transformierten Normverstöße, Skandale oder auch die thematisierten `Heldentaten´ werden einer moralischen Bewertung unterzogen, die Motive liefert, um eine Person zu achten oder zu mißachten. Diese moralische Bewertung durch die Massenmedien hat aber nun nicht den Grund, gut oder schlecht im Sinne von metaphysischen Kategorien zu bestimmen. Güte und Schlechtigkeit sind nur zwei Variablen, aus denen wiederum weitere Informationen gewonnen werden können und dies dient einzig der Fortsetzung einer massen-medialen Kommunikation. Luhmann konstatiert, daß Massenmedien "eine wichtige Funktion bei der Erhaltung und Reproduktion von Moral" einnehmen. Das heißt aber nach all dem gesagten nicht, daß die Massenmedien Moral verbindlich repräsentieren könnten, sondern sie bedienen sich eines moralischen Codes, der "durch keine kontrollierbaren Verpflichtungen gedeckt ist."54

Es geht den Massenmedien vorallem um das Anheizen von Erregbarkeit, um den Hunger nach mehr Informationen zu wecken. Welche anderen Konsequenzen diese Moralisierung bestimmter Kommunikationen in der sozialen Umwelt nach sich zieht, fällt aus dem Blick- winkel der Massenmedien (außer wenn diese Konsequenzen selbst wieder zu Informationen gerieren, z.B. wenn die `moralische Entrüstung´ eines Zuschauers ihn zu einer spektakulären Tat bewegt.) Die Moral in den Massenmedien ist letztlich keine Moral der feststehenden Begriffe, sondern sie ist flexibel auf ihre Funktionen hin anwendbar. (wie in der klassisch antiken Tragödie begleiten Jammern und Schaudern den Zuschauer, bis er Entspannung und Katharsis erfährt.

Doch diese Reinigung vollzieht sich nicht durch moralische Heilung, sondern meist durch das Vergessen, wenn neue Informationen den eben noch skandalösen Vorfall aus dem Sichtfeld der Beobachter wegzappen. Dabei ist nicht auszuschließen, daß eine solche funktionale Moral in sich widersprüchlich ist. Was nämlich in metaphysisch angelegten Moralbegriffen nicht möglich sein kann, nämlich das Aushalten von Paradoxien durch das beliebige Kreuzen der Kategorien von gut und schlecht, kann die Moral in den Massenmedien mühelos; denn sie erzeugt die Moral genauso selbst, wie das Ereignis, auf das es die Moral anwendet.55 Massenmediale Moral wird so gegen massenmediale Darstellung von Konflikten ausgespielt, obwohl beide Produkte aus dem selben Haus sind. "Immer handelt es sich um Ereignisse, die gar nicht stattfänden, wenn es die Massenmedien nicht gäbe."56

Durch die Produktion von Ereignissen und ihrer Weiterbehandlung in Kommentaren, Meinungen und Moral wird eine öffentliche Meinung in Szene gesetzt, an die mit weiteren Informationssequenzen angeschlossen werden kann. Die Massenmedien passen sich so in einem rekursiven Zirkel immer wieder an die öffentliche Meinung an, die sie erst erzeugt haben. An diese öffentliche Meinungen können sich auch die Selbstdarstellungen der psychischen Systeme orientieren, indem sie zu bestimmten Sachthemen eine Position ent-wickeln, die sie als Individuen auszeichnet. Das Vorexerzieren von Handlungsmustern in dem Programmbereich Nachrichten und Berichte spielt verschiedene Identifikationsmodelle ein, die eine Eigenverantwortlichkeit des Individuums über seine gesellschaftlichen Bezüge suggerieren. Aber dieser Programmbereich ist nur ein Segment der Massenmedien, das im Verein mit zwei weiteren Programmbereichen zur Konstruktion massenmedialer Realität beiträgt und somit wichtige Orientierungshilfen für die individualisierenden Selektionen von psychischen Systemen gibt. Ein zweites ausdifferenziertes Segment ist der Programmbereich der Werbung.

4.2.2. Werbung

Die Werbung ist natürlich eng verknüpft mit einem sozialen System in der Umwelt der Massenmedien: dem Wirtschaftssystem. Dennoch hat die Werbung, als Phänomen der medialen Verbreitung, eine Kommunikation in Gang gesetzt, die über eigene Spielregeln verfügt und Funktionen erfüllt, die das Wirtschaftssystem alleine nicht bewältigen kann, nämlich das Lancieren von symbolischen Darstellungen der Waren. Diese symbolischen Darstellungen `erwirtschaften´ einen Mehrwert, zusätzlich zur Kommunikation über Angebote aus der Ökonomie. Werbung bezieht sich auch explizit auf Identitätsmodelle von psychischen Systemen. Dabei versucht die Werbung nicht nur ihre Zielgruppen in der gesellschaftlichen Umwelt zu entdecken, sondern sie konstruiert diese gleichzeitig auch schon. Luhmann bemerkt in diesem Zusammenhang süffisant: "zu den wichtigsten, latenten Funktionen der Werbung [gehört], Leute ohne Geschmack mit Geschmack zu versorgen.".57 Diese Funktion der Werbung schließt an Überlegungen zu symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien an, die weiter oben angestellt wurden, denn es geht bei Fragen des Geschmacks oder des Stils sehr wesentlich darum, wof ü r man sein Geld ausgibt. Werbung steht damit in einem Zusammenhang zu den Selbstdarstellungen psychischer Systeme. Sie stattet Waren mit einem symbolischen Wert aus und formiert gleichzeitig das Begehren nach einem selektiven Konsum. Daraus entsteht eine weitreichende Konsequenz für die Selbst-verwirklichungsprojekte von Individuen. Differenz zwischen einzelnen Personen wird dann wesentlich durch das unterschiedliche Verhalten innerhalb der Warenwelt bestimmt und Distinktion ist auch die Distinktion eines Konsumenten vom anderen. Die Beteiligung am Konsum selbst, steht dabei außer Frage. Es gibt kein Jenseits zu einer Gesellschaft unter ökonomischem Primat (so ließe sich Luhmanns Beschreibung der Werbung polemisch auf die Spitze treiben).

Das nicht-am-Konsum-mitmachen bleibt in der funktional differenzierten Gesellschaft das Selbstverwirklichungsprojekt von Außenseitern. Die anderen kaufen, um sich zu unter-scheiden. "Die Bedenken gegen Mitwirkung an Werbung=Mitwirkung am Kapitalismus entfallen."58

Die Propagierung von `Kultobjekten´ macht den Bezug zwischen Werbung und individuellen Selbstdarstellungen besonders deutlich. Solche Waren sind vorrangig darauf angelegt, dem Konsumenten eine Steigerung seines repräsentativen Kapitals zu suggerieren. In der Werbung ist deshalb alles erlaubt, solange es eine gewünschte Aufmerksamkeit erzielt.

Dies führt, wenn man es in einem linguistischen Jargon ausdrückt, zu einer Anarchie der Zeichen, in der sich der Bezug zwischen dem Referenten (dem eigentlichen Produkt) und dem Signifikanten (der Werbung) zu den wenigen, notwendigen Hinweisen reduziert.

Die Werbung entlastet sich weitgehend von Gebrauchsqualitäten und konkreten Produkt- eigenschaften und sieht auch von unmittelbaren Kaufbefehlen ab. Zweck der Werbung ist es, in den beobachtenden, psychischen Systemen für genügend Irritation zu sorgen, um ihn zum Konsum zu bewegen. Dafür sind subtilere Strategien notwendig, als das bloße Anpreisen von Waren mit einem damit verbundenen Versuch, Werbung als `rationale´ Entscheidungshilfe für Konsumenten zu begreifen. Die verstärkte Ausdifferenzierung der Gesellschaft wird in der Werbung reflektiert: sie muß sich einen Empfänger imaginieren, auf den sie ihre Botschaft abstimmt. Dabei sollte es dem Konsumenten ermöglicht werden, seinen Konsum als individu-elle Wahl und als Ausdruck seines differenten Selbst zu begreifen und nicht als Reinfall auf Werbestrategien. (Gerade die Zigarettenwerbung der letzten Jahre versucht Resonanz zu erzeugen, indem die Selbstdarstellung der Ware auf die Selbstdarstellung der Konsumenten gemünzt wird. Die `Schockwerbung´ des italienischen Textilkonzerns Benetton ist hingegen ein Beispiel für die erfolgreiche Erregung von Aufmerksamkeit als Selbstzweck, bei gleich-zeitigem Fehlen eines eindeutigen Bezugs zwischen Werbung und Beworbenem.)

Man kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, daß die Werbebranche Luhmann gut begriffen hat, oder zumindest auf gleicher Ballhöhe mit der Systemtheorie ist. Es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, daß die Werbung den Selbstdarstellungen von psychischen Systemen wichtige Dienste erweist. Dies ist möglich, weil die Werbung sich auf ein Spiel mit der Intransparenz der Bewußtseine von Konsumenten einläßt und versucht, ihre Kommunika-tionen auf eine subtile Erzeugung von Resonanzen bei beteiligten psychischen Systemen zu trimmen. Der Input/Output- Verkehr eines Individuums wird mit Informationen gefüttert, deren Erscheinungsoberfläche an Identitätsmuster orientiert ist und deren Hintergrund der ökonomische Gewinn ist. Die Kontingenz der Selektionen eines psychischen Systems, in bezug auf seine Selbstdarstellung, ist damit zwar keineswegs eliminiert, aber doch immerhin durch Erwartbarkeiten abgeschwächt. Es scheint so, als wisse die Werbebranche um die Autopoiesis des Bewußtseins und trage dem Rechnung.

Einmal mehr weist Luhmann, in seinen Ausführungen zur Werbung darauf hin, daß die Möglichkeit der Individualität psychischer Systeme eng mit den Bedingungen der funktional differenzierten Gesellschaft und ihren Kommunikationen verschränkt ist.

Werbung kann deswegen nicht als ökonomische Geisselung authentischer Individuen beschrieben werden. Trotzdem bleibt auch unter Wahrung systemtheoretischer Perspektiven die Möglichkeit offen, die Folgen solcher Identitätsbildungen als Risiken, Mutationen oder auch schlichtweg als Chancenungleichheit zu beobachten. Das könnte vielleicht geschehen, indem das konsumorientierte Begehren psychischer Systeme in bezug gesetzt wird, zu der

Frage von Haben und Nichthaben von Geld: kann es sich eine Gesellschaft leisten, Wunsch- maschinen zu produzieren, die sich ihre Wünsche nicht leisten können? Und wenn ja, wie sehen eventuelle funktionale Äquivalente aus, in die das unerfüllte Begehren nach Konsum abgeleitet werden kann? Oder können sich aus den sich versagenden Wünschen gewisse Pathologien im individuellen Verhalten ergeben? Damit sind die Risiken der Selbstver-wirklichungsprojekte angesprochen, die durchaus auch einer systemtheoretischen Betrachtung lohnen würden. Luhmann selbst zeigt sowohl die Risiken, als auch die Chancen für individuelle Freiheit an, die sich aus der funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur ergeben, deren Realitätsgewißheit eng mit dem Ausstoß der Massenmedien verbunden ist:

"Die Einteilung der Massenmedien in Programmbereiche, (...) machen den Zerfall der Ordnung sichtbar, die man früher als Klassengesellschaft bezeichnet hatte, und tragen dadurch ihrerseits zur Auflösung von Klassenstrukturen bei. Das heißt nicht, daß keine Unterschiede sozialer Prominenz mehr vermittelt würden und ein Nivellierungsprozess ein-gesetzt hätte. Aber die Fraktionierung der Suggestion von Bedeutung zerstört die Illusion einer durchgehenden Überlegenheit bzw. Unterlegenheit von Teilen der Bevölkerung. Die Produktion der Massenmedien beruht nicht auf einer quasi-feudalen Klassenstruktur, sondern auf einer Rollenkomplementarität von Arrangeuren und sektoral interessierten Mitgliedern des Publikums."59

4.2.3. Unterhaltung

Der dritte Programmbereich der Massenmedien, der hier untersucht werden soll, ist jener der Unterhaltung. Auch sie trägt maßgeblich zur individuellen Selbstdarstellung von psychischen Systemen bei. Zur Unterhaltung gehören vorallem Spielfilme, Serien und Entertainment-sendungen. In ihnen werden Personen gezeigt, die als Handelnde den Gang des Geschehens bestimmen. Darin ähnelt die Unterhaltung dem Programmbereich der Nachrichten und Berichte, nur daß die Unterhaltung diese Konzentration auf Handlungen noch stärker betont.

Handlungen verweisen aufeinander und reihen sich zu Sequenzen, in denen die Quelle für die kommunizierten Informationen bei den Handelnden verortet wird (und nicht in der Kommu- nikation selbst).

Dieses Abstellen auf Handlungen in der fiktionalen Realität der Unterhaltung, ist eine Paralelle zur realen Fiktion des Alltags, in der Individuen ebenfalls für den Ausgangspunkt aller sozialen Ereignisse gehalten werden. Luhmann, daran anschließend: "Diese Fassung des Informationsproblems setzt `Subjekte´ voraus, als fiktionale Identitäten, die die Einheit der erzählten Geschichte erzeugen und zugleich einen Übersprung zur (ebenfalls konstruierten) Identität des Zuschauers ermöglichen. Dieser kann die Charaktere der Erzählung mit sich selbst vergleichen."60

Die Unterhaltung motiviert psychische Systeme zur Konstruktion einer eigenen Geschichte, die

Identität und Authentizität verbürgen kann. Dafür kann der systeminterne Gehalt an Erlebnissen und Ereignissen aktiviert werden und, nach Vorbild der fiktionalen Identitäten in der Unterhaltung, zusammengesetzt werden. "Unterhaltung zielt...auf die Aktivierung von selbst Erlebten, Erhofftem, Befürchtetem, Vergessenem, wie einst die erzählten Mythen."61

Zuschauer setzen immer die Arbeit an ihren Selbstdarstellungen fort und beobachten die narrativ erstellten Identitäten der Unterhaltung, um ihr Gedächtnis mit weiteren Realitäts-bezügen anzureichern. Die Unterhaltunsereignisse fungieren deshalb als eine Art Bastelkurs für Biographien, die die Beobachter aus der Umwelt belegen können: "Unterhaltungsvor-führungen haben somit immer einen Subtext, der die Teilnehmer einlädt, das Geschehene oder Gehörte auf sich selber zu beziehen. Die Zuschauer sind als ausgeschlossene Dritte eingeschlossen."62

Der Einfluß der Unterhaltung auf die Zuschauer ist aber nicht als einfache Analogiebildung zu verstehen. Eine reale Person ist nie wie jemand auf der Leinwand, auch wenn einige Zuschauer versuchen, den Figuren oder Darstellern nachzueifern. Vielmehr bedeutet dieses Zuschauen, daß andere Beobachter (nämlich die fiktionalen Identitäten der Unterhaltung) beobachtet werden. Systemtheoretisch gesprochen, handelt es sich hierbei um eine Be-obachtung zweiter Ordnung. Der Zuschauer als Beobachter zweiter Ordnung kann sehen, wie der Beobachter erster Ordnung die Geschichte innerhalb einer Unterhaltungssendung fortschreibt, indem er Selbst- und Weltbezug ordnet. Der Beobachter erster Ordnung erscheint als Handelnder, der so seine Identität konstruiert.

Der Beobachter erster Ordnung überzieht seine Umwelt mit entsprechenden Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens und ordnet so seine fremdreferentiellen Wahrnehmungen.

Dabei ist aber keine Reflexion der eigenen Verfahrensweisen, wie die Umwelt geordnet wird, und welchen Bezug das Individuum zu ihr hat, möglich. In Bezug auf die eigenen beobach- tungsleitenden Unterscheidungen hat ein Beobachter einen `blinden Fleck´. Dessen Reflexion kann nur durch Selbstbeobachtungen oder eben durch Beobachtung durch andere Beobachter eingeholt werden. Der Beobachter zweiter Ordnung lernt auf diese Weise, mit welchen Unterscheidungen und Selektionen der Beobachter erster Ordnung arbeitet.63

Ein auf diese Weise gewonnenes Wissen kann von Zuschauern bei Unterhaltungssendungen in die Selbstbeobachtung überführt werden und ggf. systemintern mit schon vorhandenen Elementen der Selbstdarstellung kombiniert werden.

Dieser Import von Umwelt in ein psychisches System kann also identitätsbildend sein, wenn Selbstbeschreibungen mit der Beobachtung anderer Beobachter verglichen werden. Die Selbstbeobachtung umschließt die Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz, in dem es die Darstellungsformen psychischer Systeme an der Differenz von Authentizität und Imitation ausrichtet. Jede Übernahme von neuen Elementen der Selbstdarstellung, also auch die Imita-tion, ist somit letztendlich eine systeminterne Operation, die die Integration von symbolisch verwertbaren Informationen in den schon vorhandenen Set der Identitätsversatzstücke ermöglicht.64

Die Unterhaltung -so wie eigentlich die Massenmedien im Ganzen- unterläuft die Grenze zwischen realer Realität und fiktionaler Realität und hält beim Stand der Künstlichkeit beider inne. Dadurch entsteht eine Realität, die durch den losen Zusammenhang unzähliger Beo-bachtungen strukturiert ist und die zur allgemeinen Realitätsgewißheit für psychische und soziale Systeme wird. Die Realität der Massenmedien bietet den Beobachtern genügend Schematisierungen, Wissensreservoirs und Orientierungshilfen, um ihre eigene Identität darauf zu stützen.65 Ausgang aus dieser Entwicklung ist, laut Luhmann, die Manifestation einer Realität der Beobachtung zweiter Ordnung: "Die Realität der Massenmedien, das ist die Realität der Beobachtung zweiter Ordnung. Sie ersetzt die Wissensvorgaben, die in anderen Gesellschaftsformationen durch ausgezeichnete Beobachtungsplätze bereitgestellt wurden".66

Aus dieser Konstruktion von Welt und Wirklichkeit kann der Einzelne, gemäß Luhmann, nicht ausbrechen. Aber warum sollte er auch? Er muß sehen, was in einer solchen Welt möglich ist und was in ihm selbst möglich ist, um `zu sich´ zu kommen. Der Mensch, sofern er in der Systemtheorie vorkommt, ist ein Beobachter.

5. Schlußbemerkung

Im Laufe dieser Arbeit wurde versucht, die Zusammenhänge zwischen Individuum, Welt und Wirklichkeit in die Theoriesprache Luhmanns zu übersetzen und daraus einen kohärenten Entwurf zur Luhmannschen Humansemantik zu entwickeln. Einiges blieb dabei ungesagt, aber schon Oscar Wilde wußte: wer versucht ein Thema erschöpfend zu behandeln, erschöpft doch meist nur seine Zuhörer. Aus diesem Grunde soll am Ende dieser Arbeit nicht eine Zusammenfassung der Ergebnisse präsentiert werden, sondern die Gelegenheit wird genutzt, um mit einigen allgemeineren Überlegungen abzuschließen.

Luhmann und der "Mensch" - Systemtheoretischer Randbezirk oder "New Deal" für eine Humansemantik? So lautete der Titel dieser Arbeit, der unterstellen könnte, daß es sich dabei um eine scharfe Entweder-oder-Alternative handelt. Luhmann belehrt aber seine Leser eines Besseren. Er zeigt, ohne trügerische Hoffnungen in ein humanistisches Konzept des Mensch-seins zu setzen, daß gerade eine dezentrierte Verortung des Menschen in einer Theorie von großem Vorteil sein kann, wenn es um eine nüchterne Abschätzung ihrer Freiheiten und ihrer Zwänge geht. Der Vorrang der sozialen Systeme in seiner Theorie bedeutet keineswegs, daß Luhmann sich eine Gesellschaft ohne Menschen vorstellt, jedoch werden die Karten für Fragen der Individualität oder der Selbstdarstellung bei ihm neu gemischt. Das Menschsein ist nicht mehr von Haus aus ein Trumpf in diesem Spiel, sondern ein Blatt bestehend aus ver-schiedenen Farben, individuell zusammengesetzt, aber abhängig von den Zufällen der kombi- natorischen Möglichkeiten innerhalb des Kartensatzes.

Worin könnte nun aber die spezifische Leistung liegen, die Luhmanns Theorie für eine Humansemantik erbringt? Die Verabschiedung von subjekttheoretischen Postulaten wird schließlich auch in anderen theoretischen Kontexten mehr oder weniger gründlich vollzogen. Der hier formulierte Vorschlag lautet deshalb, daß der Erfolg der Luhmannschen Theorie (auch weit über die Soziologie hinaus) nicht unbedingt in der Originalität (aller) ihrer Begriffe begründet ist, sondern vielmehr in der virtuosen Art und Weise, wie er schon Bekanntes in seine Theorie einarbeitet und es sich dort zu eigen macht. Damit sollen keinesfalls die theoretischen Verdienste Luhmanns geschmälert werden. Tatsächlich spricht dies für die Leistungsfähigkeit einer Theorie, die bruchlos unterschied-lichste Untersuchungsgegenstände aufgreifen kann und sich dabei Gedanken anderer Autoren fruchtbar macht. Ohne zu sehr die Nähe der Dialektik zu suchen, ließe sich sagen, daß Luhmanns Theorie in manchen Stücken die Synthese (also die Aufhebung bei gleichzeitiger `veredelter´ Aufbewahrung) aus anderen Theorieproduktionen darstellt.67

Schon ein zentraler Begriff der Luhmannschen Theorie, nämlich jener der Autopoiesis stammt ursprünglich aus der biologischen Theorie von Maturana und Varela. Bei Luhmann wird dieser Begriff auf sinnverwendende Systeme ausgeweitet und dort immer mehr an Stelle des Ausdrucks von der selbstreferentiellen Geschlossenheit der Systeme eingesetzt (auch wenn der theoretische Zugewinn durch diesen neuen Begriff nicht immer ganz einsichtig ist). Aber auch andere `Importe´ lassen sich aufspüren, wie zum Beispiel das Konzept der dop-pelten Kontingenz, welches auf den französischen Wissenschaftler René Girard zurückgeht.68

Was die Beschreibung der Selbstdarstellung von psychischen Systemen angeht, so darf man vermuten, daß die Arbeiten des amerikanischen Soziologen Erving Goffman Luhmanns Über- legungen begleitet haben. Die Übernahme von verschiedenen sozialen Rollen durch Individu-en, wie sie von Goffman im Rahmen einer Untersuchung über die Selbstdarstellung im Alltag konzipiert wurde69, läßt sich durchaus mit Luhmanns Personenbegriff und seiner Darstel-lung individueller Selbstdarstellung vergleichen, auch wenn letzterer ein weit komplexeres theoretisches Programm daran anschließt.70

Insgesamt dienen diese eher explorativ vorgebrachten Anstösse, der Systemtheorie Niklas Luhmanns einige Referenzen zuzuordnen, vorallem dem Versuch, eine Möglichkeit der Distanz aufzuzeigen. Eine Distanz nämlich, die schwierig aufrecht zu halten ist, wenn man sich auf das Unternehmen der Systemtheorie einläßt. Der Königsweg für eine kritische Distanz zu Luhmann, nämlich eine Beschreibung von möglichen theorieimmanenten `blinden Flecken´, kann hier nicht beschritten werden. Umso bedeutsamer kann es sein, sich das Konstrukt des Luhmannschen Denkens in Relation zu weiteren soziologischen Theorien vor Augen zu führen, denn auch nach Luhmann ist noch längst nicht alles gesagt. Aber vieles, das kann man zugeben.

6. Literaturverzeichnis:

Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3., durchgesehene Auflage, Stuttgart 1989 (zuerst:1968)

ders., Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt/M. 1991, Suhrkamp Taschenbusch Wissenschaft, (zuerst:1968)

ders./Habermas, Jürgen, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/M. 1971

ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt/M. 1993, stw, (zuerst: 1980)

ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2, Frankfurt/M. 1993, stw, (zuerst: 1981)

ders., Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1982, stw, (zuerst: 1982)

ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, stw, (zuerst: 1984)

ders./ Spaemann, Robert, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt/M. 1990

ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992, stw, (zuerst: 1990)

ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995

ders., Die Realität der Massenmedien, 2., erweiterte Auflage, Opladen 1996

ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt/M. 1998, stw, (zuerst: 1997)

Literatur anderer Autoren:

Baecker, Dirk (Hg.), Probleme der Form, Frankfurt/M. 1993

Bourdieu Pierre/Wacquant, Loic, Reflexive Anthropologie, Frankfurt/M. 1996 (Paris 1992)

Goffman, Erving, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1991 (zuerst: New York 1959)

Kneer, Georg/Nassehi, Armin, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: eine Einführung, München 1994, (zuerst: 1993)

Poschardt, Ulf, Anpassen, Hamburg 1998 (Verlag: Rogner&Bernhard)

Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M; New York 1993

[...]


1 Niklas Luhmann, Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen; in: ders., Soziologische Aufklärung 6, Opladen 1995, S.167f.

2 stellvertretend sei hier die Arbeit von Kneer, Georg/Nassehi, Armin, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: eine Einführung, München 1994, genannt. ebd., S.7

3 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Ffm 1984, vgl. S.9

4 Der Begriff der Funktion bezeichnet bei Luhmann eine leistungstragende Qualität der Systeme, die aufrecht erhalten wird, solange sie tauglich ist, um bestimmte Komplexitätsreduktionen zu ermöglichen. Die Funktionaliät orientiert sich an ihrer Funktion und nicht an einen darüber hinausgehenden Zweck. ("Die Konstanz der Zwecke ist demnach nur systemrelative Konstanz, die eine Änderung von Zwecken im Rahmen ihrer Funktion nicht ausschließt.") Wird Funktionalität nicht gewährleistet, gerät ein System in eine Krise, die entweder zur Neufassung der Funktionalität oder zur Auflösung eines Systems führt. Dieser variable Begriff der Funktion entkräftet weitgehend die häufig vorgebrachte Kritik, funktionali- stische Analysen trügen der Systemerhaltung bei und legitimierten so einen gesellschaftlichen Status Quo, der begrüßenswerten Veränderungen im Wege steht. (Die hier zitierte Textstelle findet sich in: Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Ffm 1991, S.11

5 vgl. Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Ffm 1971, S.298-309 und N. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S.45-51

6 vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. a.a. O., vgl. S.60ff.

7 vgl.: ebd., S.100

8 Psychische Systeme operieren ständig mit Beobachtungen. Beobachten heißt, unterscheiden und bezeichnen: eine Differenz, z.B. die Differenz von Mann und Frau wird angewandt, um sich, bei einer umweltbezogenen Beobachtung, für eine Seite zu entscheiden (spätere Wechsel der Seiten nicht ausge- schlossen, falls z.B. ein Irrtum erkannt wird). An diese erste Beobachtung können Folgeunterscheidung- en angeschlossen werden, wie z.B. freundlich/unfreundlich, gut gekleidet/schlecht gekleidet etc. Was unterschieden und bezeichnet wird, sind natürlich Sinnmöglichkeiten, deren dynamische und allgegenwärtige Präsenz einen Beobachter zur ständigen Wachheit animiert, im Hinblick auf seine Umwelt und auf sich selbst. Eine Beobachtung produziert im Hinblick auf ihre eigenen Unterscheidungen einen `blinden Fleck´, d.h. daß beim beobachten die angewandte Differenz nicht selbst auch beobachtet werden kann. Man bezeichnet eine Seite der Unterscheidung (z.B. Mann) und im gleichen Zug wird die andere Seite (hier: Frau) ausgeblendet. Erst eine weitere Beobachtung, nämlich dann die Beobachtung 2.Ordnung, kann den blinden Fleck der ersten Beobachtung in den Blick nehmen und sie ggf. revidieren oder eine andere Unterscheidung, wie z.B. Lehrer oder Schüler anlegen. Diese weitere Beobachtung hat dann natürlich ebenfalls ihren blinden Fleck, der aber nicht mehr in der Unterscheidung Mann/Frau liegt, sondern, um im Beispiel zu bleiben, in jener von Lehrendem und Lernendem. Auch sie ist dann im Hinblick auf eine weitere Beobachtung nur Beobachtung 1.Ordnung. Die Beobachtung 2.Ordnung (also auch die Selbstbeobachtung) ist deshalb auch nicht richtiger oder privilegierter. Sie ist vielmehr Konse- quenz der beweglichen Koordination von Selbstreferenz und Fremdreferenz innerhalb eines Systems, die niemals auf eine beobachtete Wahrheit `an sich´ hinausläuft. - Nähere Ausführungen zum systemtheo- retischen Beobachtungsbegriff: Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Ffm 1994, S.76-87

9 ebd., S.290

10 Mit funktional differenzierten Gesellschaftsstrukturen bezeichnet die Systemtheorie die gegenwärtige Gesellschaftsform, deren einzelne Teile nicht mehr hierarchisiert, sondern nebengeordnet sind. Kein Teilsystem kann in diesem Falle mehr für die Gesamtgesellschaft stehen und so andere Teil- systeme zur Unterordnung veranlassen, wie das in der stratifikatorisch differenzierten Gesellschafts- struktur der Fall war, als das Teilsystem Religion eine semantische Grundsymbolik für die gesamte Gesellschaft entwarf. Zu Luhmanns Theorie der sozialstrukturellen Evolution, vgl: ders., Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 1, Ffm 1993, S.9-71

11 "Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird der Mensch im strengen und endgültigen Sinne als Subjekt gedacht und damit aus der Natur ausgegliedert." N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Ffm 1998, S.1023

12 Dazu mehr in: N. Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich? in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 2, Ffm 1993, S.279-284

13 "Das Problem der doppelten Kontingenz ist virtuell immer präsent, sobald ein Sinn erlebendes psychisches System gegeben ist. Es begleitet unfocussiert alles Erleben, bis es auf eine andere Person oder ein soziales System trifft, dem freie Wahl zugeschrieben wird. Dann wird es als Problem der Verhaltensabstimmung aktuell." Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S.151

14 "Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei allen Bemühungen und bei allem Zeitaufwand...füreinander undurchsichtig." ebd., S.156

15 vgl.: ebd., S.156f.

16 ebd., S.156

17 ebd., S.162

18 Die Situation der doppelten Kontingenz ist im Zustand völliger `Unschuld´ kaum vorzustellen. Kein System trifft innerhalb der heutigen Gesellschaftsstruktur auf ein anderes, ohne daß seine Beobachtungen einen geringsten Ansatzpunkt hätten (wenn eventuell auch nur die Unterscheidung zwischen Bekannt/ Unbekannt, denn irgendetwas kennt ein System immer, wovon sich dann auch etwas anderes unterscheiden könnte. Die reine doppelte Kontingenz ist insofern eine theoretisch weiterführende Überlegung, was aber nicht gleichbedeutend damit ist, daß die doppelte Kontingenz nicht `wirklich´ vorkommt. I.G., die doppelte Kontingenz ist alltäglich für Systeme erlebbar. Vgl. auch, Soziale Systeme, a.a.O., S.186

19 "Jede Kommunikation differenziert und synthetisiert eigene Komponenten, nämlich Information, Mittelung und Verstehen. Das geschieht jenseits dessen, was in den psychischen Systemen jeweils bewußt wird (woran sie gerade denken), durch den Kommunikationsprozess selbst." Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Ffm 1992, vgl., S.24. Weitere Ausführungen: ebd., S.25ff.

20 ders., Soziale Systeme, a.a.O., vgl., S.167; S.184

21 Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1989, S.16

22 "Vertrauen wird, weil die Wirklichkeit für eine reale Kontrolle zu komplex ist, mit Hilfe symbolischer Implikationen kontrolliert, und dazu dient ein grob vereinfachtes Gerüst von Indizien, die nach Art einer Rückkopplungsschleife laufend Informationen darüber zurückmelden, ob die Fortsetzung des Vertrauens gerechtfertigt ist oder nicht." ebd., S.31

23 ebd., S.90f.

24 Niklas Luhmann, Die Form `Person´, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, vgl., S.149f.

25 ebd., S.152

26 ebd., S.154

27 Damit ist nicht gesagt, daß man die Entstehungsbedingungen und die Funktionen der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nicht systemtheoretisch nachvollziehen könnte. An dieser Stelle geht es aber um die Erfahrungen des Alltags.

28 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Ffm.1996, S.22

29 Zur Form `Karriere´: Giancarlo Corsi, Die dunkle Seite der Karriere; in: Dirk Baecker (Hg.), Probleme der Form, Ffm 1993, S.252-265

30 Niklas Luhmann, Liebe als Passion, a.a.O., S.16

31 vgl.: ebd., S.17

32 "Unter höchstpersönlicher Kommunikation wollen wir eine Kommunikation verstehen, mit der der Sprecher sich von anderen Individuen zu unterscheiden sucht. Das kann dadurch geschehen, daß er sich selbst zum Thema macht, also über sich selbst spricht; aber auch dadurch, daß er bei Sach- themen seine Beziehung zur Sache zum Angelpunkt der Kommunikation macht. Je individueller, idiosynkratischer, absonderlicher der eigene Standpunkt und die eigene Weltsicht, desto unwahr- scheinlicher wird der Konsens und das Interesse bei anderen." ebd., S.24

33 ebd., S.25

34 vgl.: ebd. S.26ff. und S.42ff.

35 "Unter der Bedingung von Intimität hat jede Kommunikation einen Personenbezug und trägt die Erwartung in sich, daß auch dies jeweils mitgesehen, mitberücksichtigt, mitverantwortet wird. Ein Versuch, dem auszuweichen, würde eben so wie alles andere diesem eisernen Gesetz der Zurechnung folgen."ebd., S.155

36 ebd., S.155

37 "Die Einstellungen, die Liebe bekunden, müssen im Handeln zum Ausdruck kommen (...); sie müssen am Handeln ablesbar sein, dürfen aber nicht im Handlungsereignis selbst bestehen. (...) Dies geschieht dadurch, daß der Handelnde seine identität einsetzt, nämlich den Sinn seines Handelns so einsetzt, daß der Beobachter wahrnehmen zu können meint, daß der Handelnde sich mit seiner Handlung `identifiziert´." ebd., S.44

38 vgl.: ebd., S.31f.

39 "Unter der Vorstellung, ihr Glück zu suchen, dienen Individuen der Reproduktion der Menschheit." ebd., S.188

40 Die Selbstverwirklichung findet immer stärker Ausdruck in der Gestaltung des eigenen, privaten Kosmos. Der gerade in jüngster Zeit häufig genannte Rückzug ins Private, geht einher mit unter- schiedlichen Geschmacks- und Stilentscheidungen. Gerade bei der Ausgestaltung heimischer Wohnwelten zeigt sich, inwiefern z.B. der Möbelkauf wesentlich auch eine Frage von symbolischen Entscheidungen ist: "Date with IKEA" singt eine amerikanische Popgruppe und parodiert dabei den Geschmack von jüngeren, gemäßigt linken Studienräten.- Der Bezug von Geschmacks- und Stilfragen zur individuellen Selbstverwirklichung wird in Gerhard Schulzes Arbeit, `Die Erlebnisgesellschaft´, eindringlich beschrieben und anhand von fünf Milieubeschreibungen anschaulich illustriert. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Ffm./New York 1993 Ulf Poschardt unternimmt in einer breit angelegten Arbeit den Versuch, Mode als Kommunikations- medium zu beschreiben. Unter Bezug auf Luhmann rekonstruiert er die Genese der bürgerlichen Mode als soziales System bis in die Gegenwart hinein und stellt dabei das symbolische Potential dieses Identifikationsmusters für die Individuen heraus: "Versucht werden soll, in das Innere des Systems vorzustoßen, um möglichst breit die kommunikativen Fähigkeiten der Mode zu skizzieren. Es geht um Strategien des Ausschließens ebenso wie um solche des Einschließens, es geht um den Fluß von Information, den die Mode beschleunigen und verweigern kann, um Strategien, wie sie in fast allen anderen Kommunikationsformen auftauchen und im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung perfektioniert werden - ganz im Dienst der Erhaltung eines Systems und der Stärkung seiner Widerstandsähigkeit gegen Angriffe von Außen." Ulf Poschardt, Anpassen, Hamburg, 1998 S.22

41 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, vgl. S.138

42 vgl.: ebd., S.179ff.

43 vgl.: ebd., S.120f.

44 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Ffm 1998, S.1102

45 ders., Die Realität der Massenmedien, a.a.O., S.36

46 Es läßt sich durchaus fragen was nach der Systemtheorie `Kritik´ noch bedeuten kann, vorallem wenn es um die häufig in kritischen Theorien auftauchende Formel von Theorie und Praxis geht. Klar ist, daß Luhmann nicht an Anleitungen für emanzipatorisches Handeln interessiert ist.

47 ders., Realität der Massenmedien, a.a.O., 39f. und weiterführend: Soziale Systeme, a.a.O., 102ff.

48 ders., Realität der Massenmedien, a.a.O., S.44

49 ebd., S.44

50 vgl.: ebd., S.58-61

51 vgl.: ebd., S.65ff.

52 vgl.: ebd., S.64f.

53 Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Ffm 1990, S.17f. Die Moral ist also ein Beobachtungsstil, der sich wie andere soziale Kommunikationen selbstreferentiell die eigenen Grundlagen schafft, um ihre bewertenden Operationen durchzuführen. Aber gleichzeitig will sich die Moral als eine universale Kommunikation profilieren, die andere soziale Systeme durch gut/schlecht-Unterscheidungen integriert. Moral ist aber für Luhmann keineswegs eine `objektive´ Werteordnung, die anderen Kommunikationen übergeordnet ist und Menschen zu einem bestimmten Verhalten verpflichten sollte. Vielmehr ist sie nur eine Kommunikationsform neben z.B. der Kommuni- kationsform des Rechts, welche ihre Umwelt mit der Differenz von recht und unrecht beobachtet. Luhmann bezweifelt überhaupt die Legitimation der Moral, die er für anmassend und auch konfliktuös hält. Aufgabe der Ethik könnte es dann sein, vor Moral zu warnen. ebd., vorallem: S.17-44

54 ders., Die Realität der Massenmedien, a.a.O., S.64f.

55 Ein relativ harmloses Beispiel, das jedem bekannt sein wird, der sein Interesse an Fußball, bei der Sportsendung ran in SAT 1 befriedigen muß, soll den reflexiven Zirkel der massenmedialen Ereignisse und ihrer Moralisierung veranschaulichen: So kann ein Trainerrauswurf (gerade wenn es schon einer von mehreren in einer Saison ist) als sittlicher Verfall im Profisport, angesichts des rauhen Business, beklagt werden (und dies gleichzeitig mittels Statistiken als `traurigen Rekord´ der Bundesligageschichte ausgewiesen werden). Auf der anderen Seite wurde im Vorfeld jede sich andeutende Krise oder Unstimmigkeit minutiös beobachtet, oder sogar durch Eingriff der Berichterstattung erst inszeniert. Die Frage des Moderators lautet dann: "Braut sich da etwas zusammen?" Beteiligte werden befragt und Interviews bringen dann den Stein ins Rollen, den sie angeblich nur dokumentieren wollten. Am Ende dieses Zirkels wird dann das moralisch angeprangert, was letztlich auch Resultat des unruhestiftenden Informationsverbrauchs der Massenmedien ist.

56 ebd., S.69f.

57 ebd., S.89

58 ebd., S.93

59 ebd., S.128

60 ebd., S.101

61 ebd., S.109

62 ebd., S.112

63 ebd., S.208ff.; dazu auch: Anmerkung 8 in dieser Arbeit, weiter oben, S.5

64 ders., Die Realität der Massenmedien, a.a.O., S.115

65 vgl.: ebd., S.149

66 ebd., S.153

67 Natürlich schöpfen auch andere Autoren aus bekannten Quellen, aber häufig genug geht es in solchen Anleihen vorallem um die Kontinuität einer Theorietradition durch Aktualisierungen und partielle Revisionen. Luhmann hingegen ist, wie er selbst oft genug betont, nicht an der Exegese von Klassikern interessiert. Wenn er also Anleihen bei anderen Autoren macht, so handelt es sich um eine Absorption, die dem Import unweigerlich den eigenen, systemtheoretischen Stempel aufdrückt. Dies geht tendentiell in Richtung einer Abnabelung von den theoretischen Referenzen. Ein Gutteil der Unangreifbarkeit seiner Theorie könnte darin begründet liegen. Und wie sollte es auch anders sein: Luhmanns Theorie regelt ihren Input/ Output-Verkehr gemäß der Mechanismen eines selbstreferentiell-geschlossenen Systems.

68 Diesen Hinweis verdanke ich Axel Paul ebenso, wie den Hinweis auf Arnold Gehlens Begriff der Institution, der auch in systemtheoretisch vermittelter Weise Eingang in Luhmanns Denken findet. Insgesamt wären es diese Hinweise wert, eine gründliche Spurensuche in Luhmanns Werk zu betreiben, aber das wäre wohl eine eigene Untersuchung. Im Rahmen dieser Arbeit bescheide ich mich mit eher spekulativen Hypothesen, die dem Zweck einer distanzierteren Schlußbetrachtung dienen sollen.

69 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1991 Eine interessante Parallele Goffmans zu Luhmanns Überlegungen über persönliche und intime Be- ziehungen, die die weitgehende Unpersönlichkeit der Sozialwelt kompensieren (vgl. N.Luhmann., Liebe als Passion und Kapitel 3.3.1. dieser Arbeit), findet sich versteckt in einer Anmerkung bei Goffmann: "Dieses Kapiel [gemeint ist jenes über `Kommunikation außerhalb der Rolle´] lehnt sich stark an Kenneth Burke an, der sich offenbar auf den soziologischen Standpunkt stellt, wenn er die Werbung zwischen den Geschlechtern als Prinzip der Rhetorik definiert, in dem soziale Entfremdungen überwunden werden." E. Goffman, a.a.O., S.248

70 Weitere Vergleichsmöglichkeiten zu Luhmann bieten sich aber auch im Hinblick auf soziologische Arbeiten, die nicht erkennbar in Luhmanns Überlegungen eingehen: Im Rahmen der hiesigen Ausführungen, die die Individualisierung und Selbstverwirklichung der psy- chischen Systeme betreffen, wurde schon der Hinweis auf Gerhard Schulze gegeben. Schulzes Arbeit, reflektiert bei den Individualisierungsmuster eine Verschiebung von der ökonomischen Semantik zu Semantiken, die sich an Vorlieben des Genießens, an Strategien der Distinktion und an milieuspezifi- schen Weltanschauungen und Sinngebungsmuster orientieren. (vgl. u.a. G. Schulze, Die Erlebnisge- sellschaft, a.a.O., 94-113); Insgesamt geht bei der Beschreibung von Identitätsmustern der Trend dahin, diese Muster in einem symbolischen Raum anzusiedeln. Luhmanns Überlegungen sind nicht fern davon. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht auch ein Vergleich Luhmanns zu Pierre Bourdieu ge- winnbringend. Bourdieus Begriff des Habitus, seine Logik der Felder und dessen Unterscheidung von ökonomischen, sozialem und kulturellem Kapital sind gleichzeitig nah genug und weit genug entfernt von der Systemtheorie, so daß ein Dialog zwischen diesen Positionen ausbaufähig wäre. (Bourdieu zu Luhmann und dem Vergleich zwischen Feld und System: Pierre Bourdieu/Loic Wacquant, Reflexive Anthropologie, Ffm 1996, S.134f.)

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Luhmann und der "Mensch" - Systemtheoretischer Randbezirk oder New Deal für eine Humansemantik
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1.3
Autor
Jahr
1999
Seiten
39
Katalognummer
V96382
ISBN (eBook)
9783638090582
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Luhmann, Mensch, Systemtheoretischer, Randbezirk, Deal, Humansemantik, Universität, Freiburg
Arbeit zitieren
Kristian Donko (Autor:in), 1999, Luhmann und der "Mensch" - Systemtheoretischer Randbezirk oder New Deal für eine Humansemantik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96382

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