Pierre Bourdieus Theoriewerk. Eine Einladung zu reflexiver (Erwachsenen-)Pädagogik


Masterarbeit, 2018

111 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Ausgangspunkt: Soziale Selektivität im (Erwachsenen-)Bildungssystem

2. Zum Verhältnis von Soziologie und Erwachsenenbildung
2.1 Die Soziologie als Partialtheorie der Erwachsenenbildung
2.2 Konkretisierung in Sozialisationstheorie, Jugendforschung und Musikpädagogik
2.3 Pädagogische Soziologie vs. Bildungssoziologie
2.4 Konsequenzen für die Erwachsenenbildung

3. Zur Person Pierre Bourdieu

4. Das Theoriewerk Pierre Bourdieus
4.1 Praxeologischer Ansatz
4.2 Die Rahmenbedingungen der Habitusgenese
4.2.1 Kapital
4.2.2 Sozialer Raum
4.3 Habitus
4.3.1 Primäre Sozialisation durch Familie und Milieu
4.3.2 Klassenspezifischer Habitus
4.3.3 Sekundäre Sozialisation durch Bildungsinstitutionen
4.4 Veränderung der Reproduktionsstrategien der Eliten
4.5 Kulturelle Reproduktion der Eliten in Deutschland
4.6 Zwischenfazit
4.7 Die Rolle der Erwachsenenbildung zur Reproduktion sozialer Ungleichheit
4.7.1 Weiterbildungsquoten in Deutschland - AES-Trendbericht 2016
4.7.2 Fahrstuhleffekt in der Erwachsenen-/Weiterbildung

5. Überleitung - Das Habituskonzept im pädagogischen Diskurs

6. Habitustransformation
6.1 Zur Veränderbarkeit des Habitus
6.2 Lerngründe - Auslöser für Habitustransformationen
6.3 Ambivalenzen von Habitustransformationen

7. Zielgruppenplanung als Instrument zur Abwendung sozialer Ungleichheit
7.1 Zur Problematik des Zielgruppenbegriffs
7.2 Soziale Milieuforschung
7.2.1 Klassen, Schichten und Milieus in der Erwachsenenbildungs forschung
7.2.2 Soziale Milieus als Zielgruppen der Erwachsenenbildung
7.2.3 Zur Studie ,Soziale Milieus und Weiterbildung in Deutschland ’
7.2.4 Kritische Diskussion der milieubasierten Zielgruppenorientierung

8. Zur Notwendigkeit einer reflexiven Pädagogik
8.1 Habituelles Anerkennen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem
8.2 Reflexive Pädagogik - pädagogische Reflexivität
8.2.1 Starke Bildungsstandards zur Abwendung sozialer Bildungsungleichheit
8.2.2 Habitussensibilität als professionelle Kompetenz
8.2.3 Exkurs: Bourdieus Kritik am legitimen Bildungsbegriff
8.2.4 Zur Umsetzbarkeit einer reflexiven Pädagogik

9. Zusammenfassung und Fazit

10. Forschungsdesiderate

11. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Ausgangspunkt: Soziale Selektivität im (Erwachsenen-)Bildungssystem

Die vorliegende Arbeit greift ein altes, seit kurzem wieder hoch aktuelles Thema1 der Pädagogik auf: Die soziale Selektivität von Bildung und Erziehung und die Möglich­keit der Herstellung von mehr Gleichheit der Lebenschancen durch Bildung. Insbeson­dere für die Erwachsenenbildung, die seit langem mit Begriffen der „doppelten Selek­tivität“ (FAULSTICH 1981, S.61ff.) bzw. der „Weiterbildungssche­ re“ (BARZ/TIPPELT 2003, S.36) zu kämpfen hat, stellt das Erreichen und die soziale Integration bildungsfernerer Zielgruppen weiterhin eine Herausforderung dar. Im Fol­genden wird in den Vordergrund gestellt, dass die Ungleichheit der Lernenden eine ungleiche Pädagogik erfordert, wenn mehr Gleichheit das Ziel sein soll. Der Titel „Pierre Bourdieu’s Theoriewerk - eine Einladung zu reflexiver (Erwachse- nen)Pädagogik“ spiegelt dabei die zentralen Elemente wieder, die zur Auseinanderset­zung mit dieser Problematik dienen.

Mit Pierre Bourdieu widme ich mich einem selbsternannten Soziologen, der mit seinem gesamten Theoriewerk eine Methode der pädagogischen Aufklärung zur Ver­fügung gestellt hat (vgl. LIEBAU 2006, S.353). Eine Annäherung der Erwachsenenbil­dung an Bourdieus Werk findet durch die Betrachtung des Verhältnisses von Soziolo­gie und Erwachsenenbildung als pädagogische Disziplin statt. Kapitel 2 widmet sich dieser neu aufgeflammten Debatte, die zu den einschlägigen wissenschaftsdisziplinären Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts gehört. Gerade die Wissenschaft der Er­wachsenenbildung (als Teilbereich der Erziehungswissenschaften) ist vergleichsweise jung und in vielfältiger Weise auf Bezugswissenschaften wie die der Soziologie ange­wiesen (DEWE et al. 1988; NUISSL 1997; TIPPELT/HIPPEL 2011; GRIESE 2011). Durch die fortwährende inhaltliche Überschneidung von Pädagogik und Soziologie konnten sich explizite Wissenschaften etablieren, die als pädagogische Soziologie oder Bildungssoziologie Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs gehalten haben (BÖHNISCH 2003; BÖHNISCH/LENZ 2014; SOMMERKORN 1997).

So genießt auch Bourdieus Theoriewerk in der heutigen pädagogischen Diskussion nicht nur aufgrund einer besonderen inhaltlichen Nähe zu Fragen nach Bildungsgerech­tigkeit (BOURDIEU/PASSERON 1971) erhöhte Aufmerksamkeit, sondern auch auf­grund der Anschlussmöglichkeiten, die es bereithält. Um den Mehrwert einer Begeg­nung der Erwachsenenbildung mit Pierre Bourdieu herauszustellen, ist ein Verstehen seiner Theorieinhalte notwendige Voraussetzung. Kapitel 4 gibt in Auseinandersetzung mit Primär- und deutscher Sekundärliteratur einen nachvollziehbaren Einblick in das Theoriegerüst Bourdieus, das Entstehungs- und Reproduktionsprozesse von sozialer Ungleichheit stringent und empirisch nachgewiesen erklärt. Die Verfügung über Kapi­tal sowie der klassenspezifische Habitus bilden darin die Grundlage dafür, dass sich soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft über Generationen hinweg reproduzieren. Zugleich wird deutlich, dass das Bildungssystem kulturell durch die Habitusformen der kulturellen Oberschicht geprägt ist, sodass durch deren Leistungskriterien genau jene soziale Akteure privilegiert werden, die aus den entsprechenden elitären Milieus stam­men. Zwar konzentrieren sich Bourdieus Analysen vorrangig auf das schulische und universitäre Bildungssystem; dass soziale Deutungsmuster schichtspezifisch, milieu­spezifisch, lebenslagenspezifisch und lebensstilspezifisch tradiert und weiterentwickelt werden, muss jedoch auch in Erwachsenenbildungsmaßnahmen Berücksichtigung fin­den (vgl. BARZ/TIPPELT 2011, S.120). Es wird aufgezeigt, dass es der Erwachsenen­bildung trotz des sozialen Bildungsauftrags nicht gelingt, soziale Ungleichheiten zu kompensieren. Im Gegenteil lässt sich beobachten, dass Einrichtungen der Erwachse­nenbildung einen starken Selektionscharakter aufweisen, sodass Ungleichheiten noch verstärkt werden.

Die Auseinandersetzung mit Bourdieus Werk ist längst nicht mehr auf Fragen der Re­produktion sozialer Ungleichheit begrenzt, sondern fester Bestandteil vielfältiger erzie­hungswissenschaftlicher Diskurse, so dass das Habituskonzept bereits in den erzie­hungswissenschaftlichen Theoriebestand fest eingegangen zu sein scheint (vgl. u.a. FRIEBERTSHÄUSER et al. 2009; RIEGER-LADICH/GRABAU 2017; NIESTRADT/RICKEN 2014). Um den Mehrwert einer Begegnung mit Bourdieu für die Erwachsenenbildung herauszuarbeiten, folgt der weitere Aufbau der Arbeit einer inhaltlichen Logik, wobei sich auf bildungstheoretischer, makrodidaktischer und mik­rodidaktischer Ebene mit dem Habituskonzept auseinandergesetzt wird.

Unter Rückbezug auf Beiträge der deutschen Bildungstheorie und -forschung, die sich vom Habituskonzept Bourdieus inspirieren lassen (RIEGER-LADICH 2005; ALKEMEYER 2009; KOLLER 2002, 2012; NIESTRADT/RICKEN 2014; ROSENBERG 2017; EL-MAFAALANI 2017), wird der Frage nachgegangen, ob - und wenn ja: wie - sich Lern- und Bildungsprozesse mit theoretischem Gewinn als ,Habitustransformation’ reformulieren lassen.

Auf makro- und mikrodidaktischer Ebene wird unter Bezug auf die soziale Milieufor­schung beleuchtet, wie auf Seiten von Bildungsanbietern im didaktischen Planungspro­zess Zielgruppen auf Basis des Habituskonzepts erstellt und entsprechend zielgerichte­te Angebote bereitgestellt werden können, die sozialer Ungleichheit entgegenwirken (BARZ/TIPPELT 2004a/b; BARZ/TIPPELT 2011; TIPPELT/HIPPEL 2005; SCHÄFFTER 2014; TIPPELT 2006; VESTER et al. 2001; BREMER 2007a/b). Es wird zum einen deutlich, dass mit dem Ansatz sozialer Milieus der sozialen Bildungs­ungleichheit anders begegnet werden kann, als dies mit bisherigen klassen- oder schichtspezifischen Ansätzen der Fall ist. Zum anderen offenbart sich ein Ökonomisie­rungsdruck in Weiterbildungsinstitutionen, der eine Umsetzung von Zielgruppenorien­tierung als Instrument zur Abwendung sozialer Ungleichheit erschwert (vgl. BREMER 2007a, S.15).

Auf gezielt mikrodidaktischer Ebene letztlich widme ich mich der Frage, welchen Mehrwert pädagogische Reflexivität als Prinzip einer reflexiven Pädagogik für eine gelungene, zur Abwendung sozialer Ungleichheit beitragende pädagogische Kommu­nikation zwischen Lehrenden und Lernenden beinhaltet (BÖTTCHER 2002, 2005; LANGE-VESTER/TEIWES-KÜGLER 2004, 2014; BREMER 2007a; COLLÉGE DE FRANCE 1987; LIEBAU 2009; EL-MAFAALANI 2014). Auch hier zeigen sich Um­setzungsschwierigkeiten, die auf ungleichheitsfördernde Bedingungen im Bildungswe­sen zurückzuführen sind.

Eine Reflexion an Bourdieus Theorieinhalten kann auf allen pädagogischen Ebenen professionellen Handelns einen Anstoß geben, sozialer Ungleichheit im Bildungssys­tem entgegenzuwirken. Mit einer Einladung dazu ist wiederum gemeint, dass dies für professionelles pädagogisches Handeln bei Weitem nicht zwingend ist, doch allemal gewinnbringend sein kann. Wer vor dem Hintergrund des sozialen Bildungsauftrags nicht blind zur Reproduktion der vorgefundenen gesellschaftlichen Ungleichheit bei­tragen möchte, sondern im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten tatsächlich zur Förderung systematisch benachteiligter Gruppen beizutragen vermag, der ist gut darin beraten dieser Einladung zu folgen.

2. Zum Verhältnis von Soziologie und Erwachsenenbildung

2.1 Die Soziologie als Partialtheorie der Erwachsenenbildung

Die Debatte um das Verhältnis von Pädagogik und Soziologie, die zu den einschlägi­gen wissenschaftsdisziplinären Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts gehört, ist in neuerer Zeit wieder aufgeflammt. Auch die Erwachsenenbildung als Teildisziplin der Pädagogik (vgl. KRON 2009, S.25) kann sich dieser Debatte nicht entziehen. Das Praxisfeld der Erwachsenenbildung ist verhältnismäßig undeutlich und geht an den Rändern in vielfältige andere gesellschaftliche Bereiche über. Die Wissenschaft von der Erwachsenenbildung (als Teilbereich der Erziehungswissenschaften) ist ver­gleichsweise jung und in vielfältiger Weise auf Bezugswissenschaften wie die der So­ziologie angewiesen. Die Bezugswissenschaften variieren je nachdem, welcher Aspekt von Weiterbildung zur Diskussion steht (vgl. NUISSL 1997, S.10). Tippelt und Hippel greifen diese Ansicht im Handbuch Erwachsenenbildung auf, indem sie die internen Probleme ansprechen, mit denen die Wissensproduktion in der Erwachsenenbildungs- forschung zu kämpfen hat: Erstens beschäftigen sich mit dem Gegenstand der Erwach­senenbildung weitere verschiedene Fachdisziplinen (u.a. Soziologie, Erziehungswis­senschaft, Psychologie, Geschichte, Betriebswirtschaft), die sich aber noch nicht hin­reichend aufeinander beziehen, sodass kooperative Strukturen weiter ausbaubedürftig sind. Es lässt sich festhalten, dass „eine grundlegende Theorie der Erwachsenenbildung nicht in Sicht (ist), vielmehr werden aus den jeweiligen Bezugswissenschaften intensiv verschiedene Partialtheorien in das Gebiet der Erwachsenenbildung/Weiterbildung transferiert.“ (TIPPELT/HIPPEL 2011, S.14) Entsprechend plural ist der Stand der Theoriebildung. Zweitens ist noch immer eine deutliche Theorie-Empirie-Diskrepanz zu beobachten, die u.a. darauf zurückgeführt werden kann, dass die Erwachsenenbil­dung unter dem Erwartungsdruck einer ungeduldigen Öffentlichkeit steht. Dieser Um­stand führt dazu, dass die Weiterentwicklung der Forschungsmethodologie und die kontinuierliche empirische Prüfung von Deutungen und Theorien vernachlässigt wer­den. Die zu geringe kontinuierliche Forschungsförderung und auch kurzfristige Interes­sen von Auftraggebern verstärken das Problem noch. Drittens gibt es hinsichtlich der methodischen und methodologischen Grundlagen keinen allgemeinen Konsens (vgl. ebd., S.15).

Auch Hartmut Griese hält fest, dass die Erwachsenenbildung als Wissenschaft noch relativ jung ist. Als wissenschaftliche Disziplin stehe sie noch vor kaum lösbaren Ge­gensätzen. Diese sind ihre belegte oder bestrittene „Wissenschaftlichkeit“, ihr mehr pädagogisch-normatives oder mehr sozialwissenschaftlich-analytisches Selbstver­ständnis, die Praxisferne ihrer Theorie(n) und die Theorielosigkeit ihrer Pra- xis/Praktiker. Griese stellt die These auf, dass diese Widersprüche letztlich das Ergeb­nis eines Grundkonfliktes sind, der scheinbar unvereinbare Perspektiven von Pädago­gik und Soziologie beinhaltet:

„Die - im idealtypischen Sinne - sozialwissenschaftliche Sichtweise bedeutet die möglichst objektive, vom jeweiligen Forscher unabhängige empirische Untersu­chung von real ablaufenden Sozialisationsprozessen ohne die Absicht ihrer Beein­flussung oder Bewertung, sowie die daraus ableitbaren Prognosen oder neuen Hy- pothesen, die allein dem weiteren wissenschaftlichen Erkenntnis- und Forschungs­prozess zu dienen haben. Die - im idealtypischen Sinne - pädagogische Sichtweise bedeutet eine interessengeleitete und von daher ideologieabhängige Erforschung konkreter Sozialisationsprozesse mit dem Ziel ihrer Beeinflussung und Verände­rung im Sinne normativer Zielsetzungen sowie die Postulierung pädagogischer Handlungsweisen, die geeignet sind, in die Sozialisationsprozesse zu intervenieren, damit die Probanden sich zukünftig anders verhalten, anders denken und anderen Wert- und Orientierungsmustern folgen.“ (GRIESE 2011, S.95)

2.2 Konkretisierung in Sozialisationstheorie, Jugendforschung und Musikpädagogik

Griese konkretisiert die zentralen Probleme bzw. Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Sozialwissenschaften und Pädagogik am Beispiel der Sozialisationstheorie und - forschung einerseits sowie der Bildungstheorie und -forschung (speziell in der Erwach­senenbildung mit pädagogisch-normativer Zielsetzung) andererseits. Die Sozialisati­onstheorie konnte sich im Schnittfeld von Soziologie, Psychologie und Pädago- gik/Erziehungswissenschaft in den 1970er Jahren etablieren, wobei die Schwerpunkte der damaligen Diskussion im Theorienvergleich und in der schichtenspezifischen Sozi­alisationsforschung lagen.

Eine typisch sozialisationstheoretische Perspektive in der Theoriediskussion um Er­wachsenenbildung entwickelte sich über eine Perspektivenveränderung in der allge­meinen Sozialisationsdiskussion. Vor allem die in der Soziologie aufkommende Dis­kussion zu Fragen und Problemen der Erwachsenensozialisation, des Lebenslaufs und des Erwachsenenalters trieb diese Entwicklung an (vgl. ebd., S.90). In der Soziologie hatte sich Ende der 1970er Jahre die Auffassung allgemein durchgesetzt, dass Soziali­sation einen lebenslangen Prozess der Anpassung und Auseinandersetzung eines Indi­viduums mit seiner sozio-kulturellen Umwelt darstellt. Die allgemeine Sozialisations­theorie, die sich bereits in den 1960er Jahren in der deutschsprachigen sozialwissen­schaftlichen Diskussion etabliert hatte, erlebte also in den 1970er Jahren eine Hinwen- dung zur Pädagogik, zu interdisziplinär-integrativen Überlegungen und zu einem Kon­zept der lebenslangen Sozialisation, wobei das Konstrukt „Erwachsenensozialisati­on“ die Brücke dazu bildete. Die Grundfrage für die Erwachsenenbildung - aus der Sicht der Erwachsenensozialisationsforschung lautet: Welche Chancen haben Bil­dungsprozesse gegenüber der sozialisierenden Wirkung der gesellschaftlichen Bedin­gungen?

An diesem Punkt spricht Griese das bestehende wissenschaftstheoretische Grundprob­lem im Kontext von Sozialisationstheorie und Erwachsenenbildung an:

„Das Grundproblem der Sozialisationstheorie und -forschung ist das Spannungsver­hältnis zwischen Sozialwissenschaft und Pädagogik bzw. zwischen theoretischer Analyse und Deskription empirisch gefundener Ergebnisse einerseits und normati­ven Aspekten und Zielen der Persönlichkeitsentwicklung andererseits; zwischen theoretischen Erkenntnissen und Praxisforderungen/-folgerungen - oder eben zwi­schen Sozialisation und Erziehung/Bildung.“ (ebd., S.90)

Der Jugendsoziologe Ronald Hitzler schaltet sich in diese Diskussion im Jahr 2008 ein, als er die Grenzen einer disziplinären ,Ökumene‘ aufzeigen will, die in der „fundamen­talen Differenz zwischen Jugendsoziologie und Pädagogik“ liegen. Diese besteht darin, dass der soziologische Blick, „der es wert ist, gesellschaftlich subventioniert zu wer­den“ (HITZLER 2008, S. 146), wertfrei bzw. ungetrübt analytisch und bezüglich mora­lischer Überzeugungen der Forscher/innen kritisch-selbstreflexiv sein müsse, während der pädagogische Blick „zwangsläufig wie selbstbewusst wertebehaftet“ sei. Der päda­gogische Blick richte sich vor allem dorthin, wo Jugendliche „als ratlos, überfordert oder sonst wie hilfebedürftig’ erscheinen.“ (ebd., S. 148)

Historisch betrachtet ist diese Grenzlinie durchaus nachzuvollziehen. Peter Vogel sieht den wissenschaftsgeschichtlichen Ort der Differenz beider Disziplinen im Aufstieg der Pädagogik zur Universitätsdisziplin:

„Pädagogik und Soziologie wurden zum gleichen Zeitpunkt ,universitär’, näm­lich ab den 1920er Jahren. Während aber die Deutsche Gesellschaft für Soziolo­gie sich bei ihrer Gründung 1909 auf ,Werturteilsfreiheit’ verpflichtete und die Soziologie als empirische Wissenschaft in die Philosophischen Fakultäten einzog, ging die wissenschaftliche Pädagogik einen anderen Weg. Ihr Angebot für die Philosophischen Fakultäten war Sinnstiftung in einer unübersichtlich geworde­nen Welt und Sinnorientierung und professionsethische Ausrichtung der zukünf­tigen Gymnasiallehrer.“ (VOGEL 2010, S.485)

An den Argumenten von Ronald Hitzler entlang versucht Vogel aus Sicht der Erzie­hungswissenschaft im Anschluss, neue Akzente für die Grenzbestimmung zu setzen. Hitzlers Ausführungen stimmt Vogel unter dem Vorbehalt zu, nicht zwischen erzie­hungswissenschaftlichem Wissen und pädagogischem Professionswissen zu unter­scheiden. Nachdem Vogel diese Unterscheidung vornimmt (vgl. VOGEL 2010, S.489f.), kommt er zu dem Schluss, dass „die Einwände Hitzlers für die Teile der uni­versitären Erziehungswissenschaft (gelten), in denen unverdrossen und mit hoher Er­fahrungsresistenz an dem Projekt gebastelt wird, eine Wissenschaftsdisziplin mit den Charakteristika einer Professionsethik zu modellieren.“ (ebd., S.492) Eine streng erzie­hungswissenschaftliche Disziplin sei von dieser Kritik dagegen unberührt.

Der Beitrag Hitzlers wird auch in der Musikpädagogik diskutiert. Rhein und Müller machen in ihren Ausführungen zum Verhältnis von Jugendkultursoziologie und Mu­sikpädagogik in Anlehnung an Hitzler ebenfalls auf Divergenzen beider Disziplinen aufmerksam: „Es kollidieren die jeweiligen Perspektiven der beiden Disziplinen auf Musikaneignung und -vermittlung, ihre unterschiedlichen Sichtweisen von Jugendkul­tur und Bildungskultur (...) Die jugendkultursoziologisch verwurzelte Theorie musika­lischer und medialer Selbstsozialisation kollidiert mit einer Bildungskanon-Konzeption ebenso wie mit einer Pädagogik, die mit der Selbstsozialisationsthese die eigene Über­flüssigkeit assoziiert.“ (RHEIN/MÜLLER 2009, S.382) Es seien zusätzlich weitere grundsätzliche Unvereinbarkeiten in der soziologischen Perspektive auf Musik und Musikpädagogik impliziert: Während die musikpädagogische Perspektive die Autono­mie der Musik gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen betont, sei musikalische Produktion und Rezeption aus soziologischer Perspektive eingebettet in soziale Kon- texte. Die soziologische Perspektive sei außerdem mit der generellen Perspektive der pädagogischen Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen nicht vereinbar (vgl. RHEIN/MÜLLER 2009, S.382f).

So unvereinbar die beiden Disziplinen im Bereich der Musikpädagogik auf den ersten Blick auch erscheinen, lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten erkennen. Diese lägen zum einen im Fokus auf die sozialen Bedeutungen von Musik bzw. musikali­schen Jugendkulturen und -szenen für Jugendliche, zum anderen in den impliziten und expliziten pädagogischen Zielen, die in unterschiedlichem Ausmaß verfolgt werden: das Ernstnehmen der Jugendlichen und ihrer kulturellen Praxen, die Erweiterung ihrer Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten und -kompetenzen, das Abfedern von Aus­grenzungen und Benachteiligungen sowie die Förderung von Empowerment, Reflexi­onsfähigkeit und Integration. Darauf aufbauend nutzen Rhein und Müller den Terminus der musikpädagogischen Jugendsoziologie.

2.3 Pädagogische Soziologie vs. Bildungssoziologie

Der Sozialpädagoge Lothar Böhnisch widerspricht als Vertreter der Pädagogischen Soziologie der von Hitzler dargelegten Aufspaltung. Er weist darauf hin, dass auch als ,objektiv’ aufgefasste soziale Tatsachen historisch-soziale Konstruktionen im Wech­selspiel von Struktur und Handeln darstellen und „die historisch-sozialen Konstruktio­nen von Jugend immer auch pädagogische Modelle (enthalten).“ (BÖHNISCH/LENZ 2014, S.9) Zudem diskutiere man heute in der Jugendpädagogik weniger über wertfi­xierte Erziehungsziele und -ideale, sondern eher über ,Ermöglichungen’ und beziehe sich dabei explizit auf psycho-soziale Besonderheiten der Jugendentwicklung unserer Kultur. In diesem Sinne soll Pädagogik Jugendliche nicht zu etwas hinerziehen, son­dern in Kenntnis psychologischer und soziologischer Grundlagen, Jugendlichen Jugend ermöglichen (vgl. ebd., S.10).

Mit seiner Einführung in die pädagogische Soziologie2 versucht Böhnisch eine Brücke zwischen beiden Disziplinen zu schlagen. Von der pädagogischen Soziologie abzu­grenzen ist die Erziehungs- bzw. Bildungssoziologie, die als eine ,analytisch- erfahrungswissenschaftliche orientierte Soziologie des Bildungswesens’ betrachtet werden kann. Während die pädagogische Soziologie soziologisches Wissen auf die pädagogische Praxis anwenden möchte, werden innerhalb der Bildungssoziologie so­wohl pädagogische Beziehungen und Prozesse zwischen Lehrenden und Lernenden untersucht als auch das Bildungswesen als Ganzes sowie einzelne Bildungsinstitutio­nen analysiert (vgl. SOMMERKORN 1997, S.33).

Böhnisch kritisiert die neuere Erziehungs- und Bildungssoziologie genau dahingehend, dass sie ihr Wissen eher selbstreferenziell und ohne qualitativen Bezug zur Pädagogik anbietet. Gerade diesen aber brauche die pädagogische Theorie und Praxis, wenn sie soziologische Erkenntnis integrieren und umsetzen soll (vgl. BÖHNISCH 2003, S.9). Somit möchte er Pädagogische Soziologie als eine Soziologie verstanden wissen, deren pädagogischer Anwendungscharakter qualitativ ist: „Sie muss sowohl Pädagogisches in ihre Soziologie theoretisch integrieren als auch ihre Themen so suchen und struktu­rieren können, dass sich die praktische Pädagogik darin sozial spiegeln kann.“ (ebd. S.9) Die verbindende Grundannahme ist, Erziehen als einen sozialen Tatbestand anzu­sehen. Bereits Theodor Geiger formulierte dazu, dass der eminent gesellschaftliche Charakter der Erziehung über allem Zweifel steht: „Gesellschaft ist ohne Erziehung nicht denkbar, wie andererseits Erziehung nur in der sozialen Sphäre möglich ist. Wes­halb denn auch das Erziehungsdenken immer dem Gesellschaftsdenken streng ent­spricht.“ (GEIGER 1930, S.405; zitiert nach BÖHNISCH/LENZ 2014, S.11)

Der Austausch zwischen Soziologie und Pädagogik kann laut Böhnisch auf zwei Ebe­nen geführt werden, die spezifische Interdependenzen aufweisen (vgl. BÖHNISCH/LENZ 2014, S.13f.):

(1) auf der pädagogisch-soziologischen Ebene: Das pädagogische Handeln wird hier als interaktiver Prozess verstanden. Pädagogik ist in dieser Sichtweise struktureller Be­standteil der psychosozialen Entwicklung wie der gesellschaftlichen Konstruktion und Konstellation von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Böhnisch spricht in diesem Zusammenhang von einem pädagogischen Aufforderungscharakter3, der vom Entwick­lungs- und Gesellschaftsbezug des Kindes- und Jugendalters ausgeht. Dieser findet seine Resonanz nicht nur in der sozialisatorischen bzw. erzieherischen Interaktion, sondern auch in einer besonderen gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Erziehung könn­te man demnach mit Siegfried Bernfeld, einem Mitbegründer der psychoanalytischen Pädagogik, als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstat­sache“ kennzeichnen (BERNFELD 1925, S.51; zitiert nach: BÖHNISCH 2003, S.15). Da der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft neue pädagogische Aufforderungen (Stichwort Lebenslanges Lernen) freisetzt, kann diese Aussage auch auf das Erwachse­nenalter bezogen werden.
(2) Auf der bildungssoziologischen Ebene: Bildung ist hier ein zentraler Faktor der so­zialen Integration der Gesellschaft. Diese sozialintegrative Funktion lässt sich auch in der Sphäre von Abweichung und Normalität erkennen und spiegelt sich in den Hand­lungsmustern des Erziehens wider. Der gesellschaftliche Wandel setzt auch veränderte —

Bildungsaufforderungen frei. Bildung und soziale Ungleichheit stehen dabei in einem signifikanten Verhältnis zueinander, Bildung ist ein Korsett des (institutionalisierten) Lebenslaufs und damit eine biografisch durchgängige Sozialisationsachse, um die sich je unterschiedliche Bildungsinstitutionen und pädagogische Modelle gruppieren. Dabei rückt das Spannungsverhältnis von formalen Bildungsorganisationen und informellen Lernorten in den Blickpunkt. Angesichts solcher Wechselwirkungen ist eine soziologi­sche Reflexivität der Pädagogik nicht nur geboten, sondern zwingend. Ob man nun Pädagogik - eher sozialwissenschaftlich - als Organisation von Lernprozessen oder - eher erzieherisch - als intentionale Einwirkung auf die Bildung der Persönlichkeit ver­steht: Es geht immer beides reflexiv ineinander über.

2.4 Konsequenzen für die Erwachsenenbildung

Bereits 1988 stellten Dewe u.a. fest, dass „keineswegs eindeutig geklärt (ist), was un­ter ,Theorie‘ der Erwachsenenbildung zu verstehen ist und was nicht.“ (DEWE et al. 1988, S.11) Dieser Umstand hat sich bis heute nicht geändert. Stattdessen wird auf eine Vielzahl von Nachbarschaftsdisziplinen zurückgegriffen, um den theoretischen Fundus der Erwachsenenbildung zu erweitern. Als Konsequenz wird eine wissenschaftstheore­tische Diskussion in der Erwachsenenbildung als unumgänglich betrachtet und ist als Dauerreflexion zu institutionalisieren: „Theorie dient vor allem der Reflexion der Pra­xis (hier: der Erwachsenenbildung), ist also Bestandteil des notwendigen Diskurses über Selbstverständnis, Identität, Situation, Möglichkeiten und Grenzen der Erwachse­nenbildung angesichts der biografischen Erfahrungen und der lebensweltlichen Einbet­tung ihrer Zielgruppen, aber auch angesichts veränderter gesellschaftlicher (politisch­ökonomisch-ökologisch-kultureller) Verhältnisse.“ (GRIESE 2011, S.96)3

Eine reibungslose Transferierbarkeit wissenschaftlichen Wissens in praktische Hand­lungszusammenhänge kann jedoch nicht vorausgesetzt werden, da eine derartige Vor­stellung den Eigensinn beider unterschätzt: „Aufgabenorientierte Reflexionen im Be­reich pädagogischer Programmatik münden oft in Postulate, die Praktiker als weit jen- seits ihrer Handlungsmöglichkeiten angesiedelt sehen, und aus ,Rezeptbüchern‘ ge­wonnene (Unterrichts-)Strategien laufen ins Leere, weil es letztlich doch immer ganz anders kommt.“ (WITTPOTH 1997, S.61) Stattdessen sollte man die Theorie als ge­winnbringende Möglichkeit der Reflexion eigenen Handelns wahrnehmen. So führt Wittpoth Betriebe der freien Marktwirtschaft an, von deren Vorgehen die Erwachse­nenbildung lernen kann. „Sie nutzen die Produktivität des fremden Blicks, wenn sie auf Unternehmensberatung zurückgreifen, um dann anschließend wieder nach eige­nem ,Gutdünken‘ zu handeln.“ (ebd., S.64) Eine pädagogische Soziologie im Sinne Böhnischs wird also in ihrem pädagogischen Anwendungscharakter von Wittpoth aus­gebremst, eine Reflexion des eigenen pädagogischen Handelns an soziologischen The­orieinhalten jedoch weiterhin als gewinnbringend angesehen. „Angesichts zunehmen­der Ökonomisierung aller Bereiche der Gesellschaft und insbesondere der Erwachse­nenbildung wären (selbst-)kritisch-reflexive Prozesse dieser Art nur zu begrü­ßen.“ (GRIESE 2011, S.100)

Die vorliegende Arbeit widmet sich nun mit Pierre Bourdieu einem Kultur- und Bil­dungssoziologen, der sich als Aufklärer verstand und mit seinem gesamten Werk eine Methode der pädagogischen Aufklärung zur Verfügung gestellt hat. Im deutschspra­chigen Raum hat die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Pierre Bourdieus in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Veränderung erfahren. Bourdieu zählt seit einigen Jahren zu jenen Sozialtheoretikern, die in der ganzen Breite der Erziehungs­wissenschaft intensiv rezipiert werden. Welchen Mehrwert sein Theoriewerk für die Erwachsenenbildung beinhaltet, soll im Zuge dieser Arbeit herausgestellt werden.

3. Zur Person Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu wurde am 01.08.1930 geboren und stammt aus kleinbürgerlichen Ver­hältnissen ab. Dass seine Laufbahn hin zu einen renommierten Wissenschaftler seiner Größenordnung in Frankreich ungewöhnlich erscheint, erklärt sich durch sein4 eigenes Theoriewerk, das sich zu großen Teilen mit den Reproduktionsmechanismen der Ge­sellschaft auseinandersetzt. Bourdieus wissenschaftliche Laufbahn ist durch zahlreiche Auszeichnungen gekrönt worden; u.a. erhält er 1993 die Goldmedaille des CNRS, den höchsten französischen Wissenschaftspreis. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit engagierte Bourdieu sich auch politisch. 1995 gehört er, als scharfer Kritiker des Neo­liberalismus, zu den Mitbegründern der globalisierungskritischen Bewegung Attac. In den späten 90er Jahren unterstützte er auch die Arbeitslosenbewegung in Frankreich. Am 23.01.2002 starb Pierre Bourdieu in Paris an einer Krebserkrankung.

Pierre Bourdieu war ein äußerst produktiver Autor. Er entwarf konstruktive Erkennt­nistheorien, die bis heute nachhaltig rezipiert werden. Das publizierte Gesamtwerk um­fasst nach der bisher umfassendsten zusammengestellten Bibliographie ca. 1800 Titel.5 Es handelt sich dabei generell um „work in progress“, da Bourdieu seine Texte immer wieder überarbeitet, neu zusammengestellt und weitergeschrieben hat. Die in Deutsch­land nach wie vor bekanntesten Publikationen stammen aus dem Bereich der Bildungs­und Kultursoziologie: Die „Illusion der Chancengleichheit“ (1971), „Die feinen Unter­schiede“ (1982), „Sozialer Sinn“ (1987) und „Wie die Kultur zum Bauern kommt“ (2001) (vgl. LIEBAU 2006, S.355f.).

Im deutschsprachigen Raum hat die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Pierre Bourdieus in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Veränderung erfahren. Bourdieu zählt seit einigen Jahren zu jenen Sozialtheoretikern, die in der ganzen Breite der Erziehungswissenschaft intensiv rezipiert werden. Insbesondere das Konzept des Habitus sowie die Ausdifferenzierung des Kapitalbegriffs erweisen sich als erkenntnis­fördernd. Bourdieus reflexive Soziologie „inspiriert Vertreter/innen der Erwachsenen­bildung und der Sozialpädagogik; er wird in der Schulpädagogik ebenso rezipiert wie in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft; seine Studien werden in der erziehungs­wissenschaftlichen Geschlechterforschung nicht weniger zur Kenntnis genommen als in der Historischen Bildungsforschung.“ (RIEGER-LADICH/GRABAU 2017, S.3)

4. Das Theoriewerk Pierre Bourdieus

4.1 Praxeologischer Ansatz

Als Bourdieus Theoriegrundlage kann man das relationale Denken betrachten. Die Be­griffe, die er zur Erklärung sozialer Phänomene einführt, sind auf diese Art des Den­kens zurückzuführen. So lassen sich Bourdieus Ansichten zum Verhältnis von Soziolo­gie und Pädagogik durchaus in die zuvor dargestellte Diskussion integrieren. Er gibt zu bedenken, dass eine pädagogische Theorie, die ihre Vermitteltheit in den gesellschaft­lichen Reproduktionszusammenhang nicht reflektiert, illusionär bleibt und in die Irre führt. Pädagogik braucht soziologische Aufklärung, wenn sie erfolgreich werden soll (vgl. LIEBAU 2006, S.357). In diesem Sinne kann Bourdieu als Brückenbauer zwi­schen den beiden Disziplinen angesehen werden. Diese Rolle nimmt er mit seinem Werk auch zwischen objektivistisch-strukturalistischen und subjektivistisch­phänomenologischen Ansätzen ein. Das ist entscheidend, da soziologische Theorien sich traditionell in zwei Kategorien unterteilen lassen: in objektivistische Makrotheo­rien und subjektivistische Mikrotheorien (vgl. TREIBEL 2006, S.15f.). „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus.“ (BOURDIEU 1987, S.49) Das Werk Bourdieus ist geprägt durch die Bemühungen, einen Weg ,da- zwischen’ zu finden (vgl. DEWE et. al. 1988, S.201f.; ROSENBERG 2017, S.299). Er lehnt rein objektivistische und rein subjektivistische Erklärungsansätze ab (vgl. bspw.

BOURDIEU 2001a, S.168f.), weil er beide für sich genommen als unzureichend be­trachtet: „Die einen verstehen Praxis als mechanischen Reflex auf eine Realität, die außerhalb von Individuum und Gruppe besteht, bleiben damit blind gegenüber der Tat­sache, dass Realität konstruiert wird. Die anderen stellen diese Konstruktionsarbeit vollständig in das Belieben und die Regie des einzelnen, verfehlen damit das Wirken notwendiger, vom individuellen Willen unabhängiger Beziehungen.“ (WITTPOTH 2012, S.130)

Bourdieu betrachtet die jeweiligen Positionen nicht isoliert, sondern relational - auf diese Weise möchte er ihren Gegensatz konstruktiv überwinden. Mit seinem praxe- ologischen Ansatz geht es ihm darum, die Errungenschaften beider Erkenntnisweisen zu bewahren und ihre Sichtweisen zusammenzuführen (vgl. BOURDIEU 1987, S.49ff.). „Individuum und Gesellschaft stehen in einem dialektischen Verhältnis zuei­nander, beide sind nicht gegeneinander reduzierbar, da es weder subjektlose soziale Verhältnisse noch nicht-vergesellschaftete Akteure gibt.“ (DEWE et. al. 1988, S.202) Eine wissenschaftlich tragfähige (pädagogische) Erkenntnis könne daher nur gewonnen werden, wenn es gelingt, den Zusammenhang zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Praxis und Struktur, zwischen Individuum und Gesellschaft zu untersuchen. Nur wenn es möglich ist, die Gesellschaft im Subjekt zu rekonstruieren, könne es auch gelingen, das Subjekt in der Gesellschaft zu rekonstruieren: „Subjektive Praxis ist im­mer auch gesellschaftliche Praxis; und gesellschaftliche Praxis kann nur von Subjekten hervorgebracht werden. Nur wenn man beides in seiner wechselseitigen Vermittelt- und Verschränktheit wahrzunehmen lernt, ist tragfähige Erkenntnis zu erwar­ten.“ (LIEBAU 2006, S.357)

Bourdieu entwickelt für die konstruktive Überwindung des Gegensatzes den Habitus­begriff und greift auf das untrennbar mit diesem verbundene Konzept der sozialen Fel­der zurück (vgl. BOURDIEU 1987, S.97ff.; BOURDIEU/WACQUANT 1996, S.124ff.; DEWE et. al. 1988, S.202; KRAIS/GEBAUER 2017: S.31ff.; WITTPOTH 1994: S.92ff.; KOLLER 2012, S.23f.).

„Mit dem Begriff des Habitus schlägt Bourdieu eine dialektische Überwindung vor von Subjektivismus (...) und Objektivismus. Gegen den Objektivismus verteidigt er die subjektive Sichtweise der sozialen Akteure, die sich nicht auf die theoretische Modelle der Sozialwissenschaften reduzieren ließen, sondern nach der theoreti- sehen ,Logik der Praxis’ funktionierten. Gegen den Subjektivismus betont er die Notwendigkeit, die subjektiven Sichtweisen und Orientierungen nicht lediglich nachzuzeichnen, sondern sie auf den sozialen Ort ihrer Entstehung zurückzubezie­hen. Der Habitus kann daher als ,Schamier‘ zwischen den beiden Ebenen betrachtet werden (...).“ (FELDMANN 2012, S.41)

Eine Dichotomisierung von Individuum und Gesellschaft findet sich in Bourdieus Werk nicht. Im Gegenteil interessieren ihn gerade die Gesellschaft im Individuum und die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Er will den Zusammenhang zwischen gesell­schaftlicher Reproduktion und individueller Lebenssituation untersuchen, wobei er den Blick im Wesentlichen auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit richtet. Bourdieus Schlüsselbegriffe zur Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheit bzw. sozialer Klassen sind ,Kapitalien’, ,sozialer Raum’ und ,Habitus’. Der Habitus als vermittelnde Strategie der Lebensführung steht dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Kon­zepte, die sich mit diesen Begriffen verbinden, hängen zusammen. Als Ausgangspunkt dafür, diese Zusammenhänge aufzuzeigen, bietet sich der erweiterte Kapitalbegriff an.

4.2 Die Rahmenbedingungen der Habitusgenese

4.2.1 Kapital

Bourdieu legte in seinem Werk einen Fokus auf die Untersuchung der Reproduktions­mechanismen der Gesellschaft. Das Forschungsinteresse richtet sich insbesondere auf die Bedeutung des Bildungssystems für die Reproduktion von sozialer und ökonomi­scher Ungleichheit (vgl. TIPPELT/HIPPEL 2005, S.39). Ökonomie wird dabei von Bourdieu nicht im engen Verständnis der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften ver­standen. Er erweitert den Ökonomiebegriff um den erweiterten Kapitalbegriff, der die verschiedenen Formen von Reichtum differenziert erfasst. Bourdieu unterscheidet Formen des Kapitals, die sich im Einzelnen aus folgenden Arten zusammensetzen (vgl. BURZAN 2011, S.125f.; HEIMANN 2009, S.62ff.; KOLLER 2012, S.30):

Das ökonomische Kapital fasst Geldvermögen und Eigentumsgegenstände zusammen, die relativ direkt in Geld konvertierbar sind.

Kulturelles Kapital differenziert Bourdieu in drei Ausprägungsformen: Es könne in inkorporierter, objektivierter und institutionalisierter Form auftreten (vgl. BOURDIEU 2001a, S.112ff.). Das inkorporierte Kulturkapital meint Bildung und Wissen, das so­wohl in Bildungsinstitutionen als auch durch Erziehung in der Familie erworben wird. Der Erwerb dieses Kapitals erfordert (Lern-)Zeit, man kann es nicht kurzfristig kaufen oder verschenken. Die Umstände der ersten Aneignung prägen die Person in hohem Maße, z.B. ihre Sprechweise. Objektiviertes Kulturkapital hat die Form von kulturellen Gütern, die man besitzt, z.B. Bücher, Gemälde, Instrumente. Sie können auf andere übertragen werden, gewinnen aber nur dann an Bedeutung, wenn der Handelnde es sich aneignet und strategisch einsetzt. Er muss z.B. über ausreichend inkorporiertes Kapital verfügen, um ein Gemälde auch als wertvoll erkennen zu können. Institutiona­lisiertes Kulturkapital bezeichnet Bildungstitel. Der Inhaber hat ein Zeugnis kultureller Kompetenz mit einem relativ dauerhaften und rechtlich garantierten Wert, der Titel ist also institutionell anerkannt und sichert eine gewisse Übertragbarkeit in ökonomisches

Kapital, die sich im Zeitverlauf allerdings ändern kann. Ein Abiturient kann heutzutage beispielsweise weniger sicher aufgrund seines Abschlusses davon ausgehen, eine gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war.

Mit sozialem Kapital meint Bourdieu Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen (z.B. Absolventen einer exklusiven Schule), wodurch ein Netzwerk von Beziehungen aufgebaut werden kann. Indem man die entscheidenden Leute kennt, um seine Ziele zu erreichen, ist man in einem weiten Wortsinn „kreditwürdig“. Dieses Kapital ist erheblich von der familiären Herkunft abhängig. Es bedarf aber auch einer dauerhaften Beziehungsarbeit, um dieses Kapital aufrechtzuerhalten.6

Bourdieu nennt zudem noch eine weitere Kapitalart, die eine andere Ebene betont als die bisherigen Arten: das symbolische Kapital bezeichnet das Prestige oder „den guten Ruf“ (BOURDIEU 1987, S.217) einer Person, es ist „jenes verneinte, als legitim aner­kannte, also als solches verkannte Kapital (wobei Anerkennung im Sinne von Dank­barkeit für Wohltaten eine der Grundlagen dieser Anerkennung sein kann), das (...) die einzig mögliche Form der Akkumulation darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird.“ (BOURDIEU 1987, S.215)

4.2.2 Sozialer Raum

Mit den vorgestellten Kapitalarten kann in die Konzeption des sozialen Raumes einge­führt werden. Das Modell des sozialen Raumes veranschaulicht, in welchem Zusam­menhang die Mitglieder einer Gesellschaft zueinander stehen. Die Positionen und de­ren Inhaber in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern lassen sich formal vonei­nander durch unterschiedliche Verfügung über diese Kapitalsorten unterscheiden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Vereinfachte Darstellung des sozialen Raums nach Pierre Bourdieu 7 (vgl. BREMER 2007a, S.147)

Bourdieu strukturiert den sozialen Raum zweidimensional, indem er die soziale Positi­on von Personen in der Sozialstruktur aus ihrem verfügbaren ökonomischen und kultu­rellen Kapital ableitet. In horizontaler Differenzierung ergeben sich dabei drei herr­schende Gruppen, die sich entweder durch den Besitz von kulturellem oder ökonomi­schem Kapital oder durch eine mittlere Verteilung der beiden Ressourcen definieren. Diese horizontale Differenzierung lässt sich auch in der vertikalen Achse bis zu den unteren sozialen Klassen verfolgen. Aufgrund seiner Analyse ergibt sich eine Drei- Klassen-Gesellschaft: Die herrschenden Gruppen sind in ihrem Lebensstil um eine be­wusste Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen bemüht, die mittle­ren Gruppen wollen den überlegenen Gruppen nacheifern, und der Lebensstil der Ar­beiterschaft ist dem Diktat der Notwendigkeit unterworfen (vgl. BARZ/TIPPELT 2011, 7 Zur detaillierten Darstellung siehe BOURDIEU 1982, S.212f. S.123). Bourdieu betont zwar die Bedeutung des ökonomischen Kapitals, erfasst je­doch über seinen kulturtheoretischen Zugang auch die Ausdifferenzierung von Lebens­stilen. „Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät.“ (BOURDIEU 1982, S.25) Sind Positionen zunächst nur formal bestimmt, so müssen sie doch durch Menschen mit entsprechenden Kompetenzen und Legitimationen ausgefüllt werden. Die Wahr­nehmung formaler Zuständigkeiten setzt also beim Positionsinhaber legitime inhaltli­che Handlungskompetenzen voraus. Es muss zu einer Passung zwischen Positionsge­füge und Handlungskompetenzen kommen. Der Struktur des Raumes sozialer Positio­nen muss eine analoge Struktur des Raumes sozialer Kompetenzen der sozialen Akteu­re entsprechen (vgl. LIEBAU 2006, S.362).

Bourdieu führt zur detaillierteren Beschreibung des sozialen Raumes den Feld-Begriff ein. Als Feld bezeichnet er „ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relatio­nen zwischen Positionen“ (BOURDIEU/WACQUANT 1996, S.127), das als „Sonder­sinnwelt“ (BOHN/HAHN 2002, S.263) im viele Felder umfassenden sozialen Raum existiert. Das Bildungsfeld setzt sich zusammen aus allen Institutionen und Personen, die Bildung nachfragen, anbieten, organisieren oder verwalten und daher in direkten oder indirekten Beziehungen zueinander stehen. Dabei sind die Institutionen und Per­sonen im Feld nicht gleichberechtigt, sondern stehen in hierarchischen Beziehungen zueinander, sodass es auch im Feld herrschende und beherrschte Institutionen und Per­sonen gibt. Um seine Interessen in einem Feld verfolgen zu können, muss man be­stimmten Spielregeln folgen. Bourdieu selbst greift zur Darstellung seiner Ansichten gerne Analogien zum Sport bzw. zu Wettbewerben auf: „In der Tat läßt sich das Feld mit einem Spiel vergleichen (obwohl es im Unterschied zum Spiel kein Produkt einer bewußten Schöpfung ist und Regeln unterliegt, oder besser gesagt Regularitäten, die nicht expliziert und kodifiziert sind). So gibt es Einsätze bei diesem Spiel, Interessen- objekte, die im wesentlichen das Produkt der Konkurrenz der Spieler untereinander sind.“ (BOURDIEU/ WACQUANT 1996, S.127 f.)7 So muss man, um ein Bildungs­zertifikat zu erhalten, einen bestimmten Bildungsgang absolvieren oder sich bestimm­ten Prüfungen unterziehen. Dies dient nach Bourdieu weniger dazu unter Beweis zu stellen, dass man ein bestimmtes inhaltliches Wissen erworben hat, sondern vielmehr als Prüfungs- oder Einsetzungsritual, das „die Existenzberechtigung und die Wertigkeit von Menschen im Unterschied zu anderen sozial festlegt.“ (FUCHS- HEINRITZ/KÖNIG 2005, S.214)

Untrennbar mit den sozialen Feldern ist Bourdieus Habituskonzept verbunden. Habi­tus- und Feldbegriff „funktionieren“ nur „in Verbindung miteinander“ richtig (BOURDIEU/WACQUANT 1996, S.40). Es geht in Bourdieus Feldtheorie letztlich darum, die - ebenso wie beim Habitus - historisch gewachsenen objektiven sozialen Strukturen einzufangen und in ihren spezifischen Merkmalen differenziert zu beschrei­ben. Die Struktur eines Feldes ist immer das Ergebnis einer Geschichte, die sich in der sozialen Realität niederschlägt: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und au­ßerhalb der Akteure. (...) Im Verhältnis zwischen Habitus und Feld geht die Geschichte ein Verhältnis mit sich selbst ein (...).“ (BOURDIEU/WACQUANT 1996, S.161).

4.3 Habitus

4.3.1 Primäre Sozialisation durch Familie und Milieu9

Für Bourdieu ist die Tatsache zentral, dass soziale Akteure permanent und unmittelbar an sozialer Praxis teilnehmen. Hierbei machen sie Erfahrungen, welche sich wiederum in ihren Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata niederschlagen. Diese Sche­mata sind immer Ausdruck der Erfahrungen, die ein Mensch vor allem in seinen ersten Lebensjahren gemacht hat. Aber auch spätere Erfahrungen bleiben in dieser Hinsicht nicht wirkungslos. Zusammenfassend werden diese Schemata von Bourdieu als der jeweilige Habitus eines Akteurs bezeichnet: Habitusformen sind „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Pra­xisformen und Repräsentationen.“ (BOURDIEU 1976, S.165) An anderer Stelle be­schreibt Bourdieu den Habitus als „eine inkorporierte Geschichte, eine Körper gewor­dene Geschichte, eingeschrieben in das Gehirn, aber auch in die Falten des Körpers, die Gesten, die Sprechweisen, den Akzent, in die Aussprache, die Ticks, in alles, was wir sind. Diese inkorporierte Geschichte ist der Ursprung, von dem aus wir antwor­ten.“ (BOURDIEU 2001a, S.165).

Mit seiner Scharnierfunktion vermittelt der Habitus einer Person zwischen ihrer Stel­lung im sozialen Raum und ihrem Lebensstil. Er ist eine verinnerlichte Grundhaltung, die Denken, Fühlen, Wahrnehmung und damit Verhalten, Konsumvorlieben oder Le­bensgewohnheiten der Menschen determiniert. Die gewöhnliche Praxis einer Person vollzieht sich meist ohne explizite Reflexion. Akteure könnten ihren Alltag nur bewäl­tigen, indem sie Strategien verfolgen, die routinisiert sind und die nicht reflektieren 9 Soziale Milieus werden in vorliegender Arbeit als gesellschaftliche Großgruppen verstanden, „die über gemeinsame und von anderen Milieus abgegrenzte Lebensweisen und Haltungen ihrer Angehörigen verbunden sind, die häufig auch in ähnlichen Berufsfeldern tätig sind und über ein gemeinsames Berufsethos verfügen. Das Milieu ist gewissermaßen der Ort, an dem der Habitus angeeignet wird.“ (LANGE-VESTER/TEIWES-KÜGLER 2014, S.179) werden müssen. Der Habitus, entstanden im Kontext der sozialen Strukturen, in denen man sich befindet, zeigt sich wiederum in der sozialen Praxis der Akteure. Menschen handeln unterschiedlich je nach ihrem Habitus, der ihren Handlungen zugrunde liegt (vgl. DEWE et. al. 1988, S.204). Es sind also die objektiven sozialen Gegebenheiten, die sich für die Mitglieder einer Gesellschaft unterschiedlich darstellen und die letztlich für die Herausbildung unterschiedlicher Habitusformen verantwortlich sind. Habitus­formen unterscheiden sich dahingehend, auf welche Weise und mit welchen sozialen Objekten und Prozessen ein Akteur in Berührung kommt bzw. welche für seine soziale Praxis keine Bedeutung haben. In differenzierten Gesellschaften gibt es erhebliche Un­terschiede darin, wie sich das Soziale den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern präsen­tiert. „Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingun­gen verknüpft sind, erzeugen Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren (...).“ (BOURDIEU 1987, S.98)

Dem Habitus einer Person schreibt Bourdieu eine fortlaufende Eigenschaft zu. Die Wahrnehmung von aktuellen Situationen und das entsprechende Handeln werden zwar von vergangenen Denk- und Verhaltensmustern beeinflusst, sind dadurch aber nicht vollständig determiniert. Laut Bourdieu kann sich der Habitus an konkrete Situationen und größere Veränderungen anpassen, abhängig davon, wie tief verankert und starr der Habitus jeweils ist.8 Entscheidend ist, dass Haltungen und Lebensstile grundsätzlich mit der Stellung im sozialen Raum verbunden sind. Soziale Akteure in objektiv ver­gleichbaren sozialen Klassenlagen oder Milieus verfügen über gemeinsame Habitus­formen, die zugleich die Normalitätsprinzipien eben dieser Klassenlagen oder Milieus repräsentieren.

4.3.2 Klassenspezifischer Habitus

Der individuelle Habitus kann nicht biologisch vererbt werden, sondern wird in Lern- und Sozialisationsprozessen erworben. Bei allen den individuellen Lebensgeschichten geschuldeten Unterschieden wird es doch bei Menschen in ähnlichen sozialen Situatio­nen auch ähnliche Habitusformen, in diesem Sinne als Klassenhabitus, geben. „Glaubte man bisher, der persönliche Geschmack sei ein Mittel gegen die bedrohte Einzigartig­keit des Individuums, dem allgemeinen Zwang zur Konformität erfolgreich abgerungen, so widerspricht Bourdieu hier ganz ausdrücklich: Der Lebensstil ist gesellschaftlich geprägt durch die Klassenzugehörigkeit, man wählt ihn keinesfalls so frei, wie man es vielleicht angenommen hatte.“ (BURZAN 2011, S.129f.) Mit Geschmacksurteilen ge­ben Menschen genau das preis, was Bourdieu den Habitus nennt (vgl. BOURDIEU 2001a, S.164). Kulturen und Klassenverhältnisse werden gerade dadurch reproduziert, dass sich Individuen einen klassenspezifischen Habitus im Laufe der Sozialisation an­eignen. Ein Kind wird von Geburt an in die Bedingungen hineinsozialisiert, in die es hineingeboren ist. Daher wird es im Lauf der Zeit „genau jene Kompetenzen erwerben, die ihm eine aktive Bewältigung seiner Lebenslage ermöglichen. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, da es keine Alternativen kennen lernt.“ (LIEBAU 2006, S.363)

[...]


1 vgl. bspw. BMBF 2016a; GEISSLER/WEBER-MENGES 2010; ENGLER/KRAIS 2004;

2 Die pädagogische Soziologie existierte als eigene Disziplin bereits in den 1920/1930ern, wurde aber in der Nachkriegszeit von der Bildungssoziologie verdrängt. Zur Geschichte der pädagogischen Soziologie und Bildungssoziologie vgl. BÖHNISCH 2003 / SOMMERKORN 1997.

3 Was Böhnisch unter dem Begriff pädagogischer Aufforderungscharakter versteht, stellt er 2003 unter Einbezug von H. Nohl heraus: „Die Grundlage der Erziehung ist das leidenschaft­liche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme. Und dem entspricht im Zög­ling nun ein Wachstumswille und eine Hingabe, die nach Hilfe und Schutz verlangt. Aber auch hier bekommen Wachstumswille und Hingabe erst den erzieherisch-geistigen Charakter, wo der Verkehr mit einem Reiferen gesucht wird, um von ihm Lebenskraft und Form zu ge­winnen. Was jedoch insbesondere den geistigen Charakter in diesem Wechselspiel ausmacht, ist eine Spannung, die wieder von beiden Seiten her empfunden wird.“ (NOHL 1933, S22/24. Zitiert nach: BÖHNISCH 2003, S.12)

4 Zur ausführlichen Biographie vgl. BOHN/HAHN 2007, S.289ff.; LIEBAU 2006, S.353ff.

5 vgl. http://hyperbourdieu.jku.at

6 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem sozialen Kapitalbegriff als Voraussetzung und Ertrag des Lernens Erwachsener gibt FELDMANN 2012.

7 ALKEMEYER/BUSCHMANN entwickeln in Ihrem Beitrag praxistheoretische Überlegun­gen zur Subjektivierung von Mitspielfähigkeit (vgl. ALKEMEYER/BUSCHMANN 2017, S.271-298). Sie reagieren damit auf die Beobachtung, dass es Bourdieu letztlich nicht voll­ständig gelungen sei, den Antagonismus von Strukturalismus und Individualismus zu über­winden.

8 Inwiefern der Habitus (durch Lernprozesse) beeinflusst bzw. transformiert werden kann, wird in Kapitel 6 erörtert.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Pierre Bourdieus Theoriewerk. Eine Einladung zu reflexiver (Erwachsenen-)Pädagogik
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
111
Katalognummer
V963103
ISBN (eBook)
9783346313461
ISBN (Buch)
9783346313478
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erwachsenenbildung, Bourdieu, Pädagogik, soziologie, reflexive, vergleich, pierre
Arbeit zitieren
Nikolas Welte (Autor:in), 2018, Pierre Bourdieus Theoriewerk. Eine Einladung zu reflexiver (Erwachsenen-)Pädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/963103

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