Jürgen Habermas - Faktizität und Geltung - Wandel der Rechtsparadigmen


Hausarbeit, 2002

13 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Deliberative Demokratie

2. Wandel der Rechtsparadigmen seit 1945

3. Freiheitsstatus im Sozialstaat

4. Partikularisierung der Rechts

5. Das Dilemma des sozialstaatlichen Paternalismus

6. Kommunikative Reproduktion von Legitimität

7. Privatrechtliches Dilemma im Sozialstaat

8. Rechtliche und faktische Gleichheit

9. Resümee

Literatur

Einleitung

Will man über ein Thema wie das vorliegende verständlich schreiben, so bedarf es einiger Vorworte und Erläuterungen, die in die Sachlage einführen und dem weniger geübten Rezipienten die gegebene Komplexität etwas abmildern

Der Kern des theoretischen Ausführungen Habermas’ - um gleich mit der Umsetzung des Angekündigten zu beginnen - findet sich in der Überlegung, dass das jeweils implizite Bild, welches eine Gesellschaft, von sich selbst hat, das jeweilige Rechtsparadigma prägt und formt. Anders gesagt ist es also das implizite Verständnis, das die Mitglieder einer Gesellschaft von dieser Gesellschaft haben; das unreflektierte Selbstverständnis. Welche Mitglieder ihr implizites Verständnis jeweils zur Geltung bringen können, hängt ebenfalls von dem jeweils bestimmenden Paradigma ab. Es besteht demnach eine reziprokes Verhältnis zwischen den Paradigmen und der gesellschaftlichen Eigenwahrnehmung. Im Folgenden wird der Paradigmenwandel in Zusammenhang mit der Krise des Sozialstaats, den Habermas konstatiert, nachgezeichnet und kommentiert.

Das Hauptanliegen dieser Arbeit ist die Vertiefung der Frage, inwieweit das von Habermas beschriebene prozeduralistische Rechtsparadigma den Ausweg aus der vermeintlich dilemmatösen Situation des derzeitigen Sozialstaatsmodells weisen kann. Dieser Frage kann freilich nur theoretisch nachgegangen werden. Auch können vertiefende Bezüge auf allgemeine Systemtheorie, insbesondere die Theorie Niklas Luhmanns, nicht gänzlich ausgelassen werden. Besonders bei der Klärung des Verhältnisses verschiedener Rechtsparadigmen sowohl zu privater als auch zu öffentlicher Autonomie ist eine systemtheoretische Erhellung der Sachlage hilfreich.

Ein weiteres Anliegen dieser Arbeit ist die Diskussion der Habermasschen Überlegungen unter Zuhilfenahme wenigst möglicher Sekundärliteratur, was ein elaboriertes Eigenverständnis erfordert. Dieser Anspruch gründet sich in der Absicht, hinreichenden Spielraum für die Entfaltung eigener Theorieansätze und analytischer Lesarten zu gewähren. Selbstverständlich schließt dieser Anspruch das Einholen von sekundärliterarischen Ratschlägen nicht völlig aus.

1. Deliberative Demokratie

Um die Zusammenhänge im Folgenden einfacher begreifen zu können, lohnt ein Blick auf die nach Habermas beschriebene Diskursethik.

Deliberative Demokratie, das ist der Versuch Habermas´ komplexes Modell der „Diskursethik“ für die praktische Politik anwendbar zu machen. Diskursethik - das bedeutet für Habermas zu beschreiben, wie ein politischer Diskurs geführt werden müsste, um zu einem fairen oder gerechten Ergebnis für alle Diskursteilnehmer zu erlangen. Um einen gerechtes Ergebnis zu erhalten, müsse man sich darauf konzentrieren, das Diskursverfahren so fair wie möglich zu gestalten - dafür solle man sich an Prozeduren orientieren, wie man sie aus der Juristerei kennt: Wenn die Prozedur des fairen Streits eingehalten würden, dann müsse man auch das Ergebnis als gerecht anerkennen.

Diese Regeln des faire Resultate erzielenden Diskurses hat man unter dem Begriff der deliberativen Demokratie zusammengefasst.

Alle Teilnehmer der Verhandlung sind frei, gehen also ungebunden und ohne spezielle Privilegien in die Verhandlung. Es besteht Konsens, dass das Ergebnis der Verhandlung für Gewinner und Verlierer bindend sein wird. Das zentrale Element der Verhandlungsprozedur ist das Argument - alle Vorschläge und Kritiken müssen begründet sein und nicht etwa auf Normen oder Privilegien begründet sein. Das bessere Argument zählt. Dafür ist jeder Teilnehmer formal gleichberechtigt. Am Ende entscheidet die Mehrheitsregel.

Das so erzielte Ergebnis entspricht dem Idealbild der Habermas´schen Diskursethik. Das Modell muss sich allerdings auch Kritik gefallen lassen: Es setzt eine ständige interessierte und informierte Beteiligung der Bürger voraus - dies nennt Habermas die Kommunikative Macht der Zivilgesellschaft. Ist diese jedoch nicht gegeben, kommt auch sein Modell ins Stocken. Des weiteren ist nicht geklärt, wie die Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer auch faktisch zu garantieren ist - allein die bessere Rhetorik einer privilegierten Gruppe kann ein wesentlicher Vorteil im Argumentieren sein. Außerdem muss man sich damit konfrontiert sehen, dass dieses Modell alle erworbenen Rechte und Routinen in unserer Gesellschaft in Frage stellen kann, weil eben keine Partei auf bereits erworbene Privilegien oder Normen setzen kann - das erzeugt ein ständiges Klima der Unsicherheit, das den Ideen von Nachhaltigkeit und Kontinuität zuwiderläuft, die in vielen Bereichen des Rechts positive Sicherheit garantieren. Ein Beispiel dafür ist die Pressefreiheit.

2. Wandel der Rechtsparadigmen seit 1945

Um die Bedingtheit des Rechts verstehen zu können und um die Entstehung und Begründung von Normen nachvollziehen zu können, ist - wie bereits erwähnt - zuvor ein Verständnis des gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung erforderlich. Habermas nennt dies das „leitende Vorverständnis der […]Gesellschaft“ (Habermas, 1992, 468). Die Theorie des Rechts sieht vor durch verallgemeinernde Abstraktion einen Abstand zum konkreten Fall zu gewinnen. Der Richter ist hierbei in der Perspektive des Beobachters. Das Rechtssystem steht in Verbindung mit seiner Umwelt durch Sinnzusammenhänge; diese liegen latent vor und kristallisieren sich „in erster Linie an exemplarischen Entscheidungen der Justiz“ (ebd. 473). Normsätze, welche das Rechtssystem formuliert, rekurrieren jeweils auf diese latenten Sinnzusammenhänge.

Der Wandel des Rechts, der bereits von Max Weber als „Materialisierung“ der Rechts beklagt worden ist, vollzog sich in Deutschland prozesshaft mit der Entwicklung des Sozialstaats. Das bis dahin vorherrschende liberale Paradigma wurde mehr und mehr überdeckt von einem instrumentellen, was vom Rechtsexpertentum als Rechtskrise aufgefasst wurde. Habermas bezeichnet diesen Wandel als ‚sozial’ (vgl. ebd., 470). Seit den 70er Jahren ist die Diskussion der Paradigmen selbstreflexiv geworden und hat somit ihren bis dahin intuitiven Bezugspunkt thematisch zentralisiert. Diese nun mehr oder minder selbstreferenzielle Suche nach neuen Grundkonzeptionen des Rechts mündete schließlich in der Suche nach strukturbedingten Gründen für die nachlassende Steuerungsfähigkeit und Bindungskraft der Verfassung. Es bedurfte eines Rechtsverständnisses, dass abgestimmt ist auf die wachsende gesellschaftliche Komplexität auf der einen oder aber sogar auf die generelle Ablösung eines normativen Verständnisses von Recht auf der anderen Seite. Das neue Paradigma sollte offenkundig der Tatsache Rechnung tragen, dass moderne Gesellschaften von hohem Aggregationsgrad sich als Gemeinschaften freier und gleicher Rechtsteilnehmer selbst konstituieren. Die Partikularisierung des Rechtssystems in ausgelagerte Einzelsysteme müsste zu diesem Zweck aufgehoben werden.

Der Anspruch an das neuen Verständnis von Recht galt vor allem dem gesteigerten Bedarf an privater Autonomie. Daher stellt sich die Frage, ob die prozeduralistische Auffassung von Recht, die im Folgenden erklärt und erläutert wird, zur Lösung dieser Problematik beizutragen in der Lage ist. Habermas betrachtet die Folgeprobleme der privatautonomen Lebensgestaltung, die im Zuge der Sozialstaatsentwicklung entstanden sind, anhand der Dialektik von rechtlicher und faktischer Gleichheit.

3. Freiheitsstatus im Sozialstaat

In Deutschland stand das Privatrecht offenbar seither unter der Prämisse getrennter Sphären von Staat und Gesellschaft und richtete sich daher auf die Organisation einer entpolitisierten, staatlichen Eingriffen weitgehend entzogenen und liberaleralistisch orientierten Gesellschaft ein, welcher eine rechtliche Freiheit von eben diesen staatlichen Eingriffen gewährt wird. Der Freiheitsstatus, der auf diese Weise etabliert ist, ist zunächst ein negativer: Es ist die Freiheit v o n etwas[1]. Das öffentliche Recht hingegen liefert die Organisationsbasis der staatlich-administrativen Sphäre, welche unter Auflagen in Form von Pflichten und Handlungsnormen den positiven Freiheitsstatus der BürgerInnen sichern. Der Sozialstaat stellt so eine spezielle Herausforderung für der Privatrecht dar.

4. Partikularisierung der Rechts

Habermas unternimmt den Versuch der theoretischen Auflösung des Gegensatzes zwischen privater und staatsbürgerlicher Autonomie, indem er auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verweist. Die neuen Rahmenbedingungen ermöglichen seiner Analyse nach eine Reziprozität im Verhältnis beider.

Durch die Partikularisierung beziehungsweise interne Differenzierung des Rechtssystems wurde das klassische Privatrecht, dessen vornehmliche Aufgabe die Sicherung der negativ definierten individuelle Selbstbestimmung war, mit anderen Rechtsprinzipien, wie zum Beispiel denen des Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrechts vermengt. Die so entstandenen Disparitäten innerhalb der verschiedenen Rechtsgebiete wurden versuchsweise geordnet durch die rollentheoretische Zuweisung von Handlungsbereichen. Dieser Versuch, den L. Raiser (vgl. ders. 1977, 224) unternommen hat, bleibt, so Habermas Kritik, mit Ausnahme seiner phänomenologischen Wirkung, nicht befriedigend (vgl. Habermas, 1992, 482).

Habermas unterstellt dem liberalen Rechtsmodell den Irrtum die Funktionsweise des freien Marktes sowie der gesamten Wirtschaftsgesellschaft zu verkennen. Das Grundkonzept der privaten Autonomie manifestiert sich noch immer im Recht auf das größtmögliche Maß an gleichen subjektiven Handlungsfreiheiten. Trotzdem sieht Habermas einen Wandel des rechtsparadigmatischen Verständnisses der Privatautonomie. Die Einschränkung der klassischen Grundfreiheiten in der Sozialsphäre will er aber keineswegs zurückführen auf die von Raiser analysierten rechtssystemischen Interferenzen der Rechtsprinzipien.

5. Das Dilemma des sozialstaatlichen Paternalismus

Privatautonomie, die als allgemeines Freiheitsrecht verstanden wird, bedingt immer auch ein allgemeines Gleichheitsrecht, nämlich das Recht auf Gleichbehandlung gemäß Normen. Das Sozialstaatsmodell sieht die Trennung von Wirtschaft und Staat in unterschiedliche Handlungssphären vor; die Wirtschaft ist demnach liberal institutionalisiert, der Staat dient der Verwirklichung des Gemeinwohls. Das Sozialstaatsmodell ist an die Erwartung geknüpft soziale Gerechtigkeit durch den Ausschluss individueller Freiheitssphären zu realisieren, sie also in Form eines negativen Rechtsstatus zu gewähren und gleich zu verteilen. Um die Änderung der Prämissen nachvollziehen zu können, unter denen gesellschaftliche Selbstwahrnehmung stattgefunden hat, muss zunächst das gewandelte Hintergrundverständnis erläutert werden, das dies bewirkt hat. Das neue implizite gesellschaftliche Selbstbild setzt sich zusammen aus einem schwer durchdringlichen Geflecht von Faktoren.

[...]


[1] Die Attribuierung „von“ in Bezug auf den negativ definierten Freiheitsstatus ist den Überlegungen E. Fromms zum Freiheitsbegriff entnommen. Analog wird der positive Freiheitsstatus als Freiheit „zu“ bestimmt (vgl. E. Fromm, 1941, 30f, 33f).

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Jürgen Habermas - Faktizität und Geltung - Wandel der Rechtsparadigmen
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Politikwissenschaftliche Fakultät)
Note
gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
13
Katalognummer
V9608
ISBN (eBook)
9783638162654
ISBN (Buch)
9783638757164
Dateigröße
475 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wandel der Rechtsparadigmen, PAradigmen des Rechts, Paradigma, Habermas, Faktizität, Geltung
Arbeit zitieren
Thomas Schröder (Autor:in), 2002, Jürgen Habermas - Faktizität und Geltung - Wandel der Rechtsparadigmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9608

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