Ästhetisierung der Lebenswelten


Seminararbeit, 1997

30 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Was an der Zeit ist ...

3 Zeitdiagnose
3.1 Das Projekt des schönen Lebens
3.2 Die religiöse Signatur der Zeit
3.2.1 Zeithorizont und Zeitkultur der Moderne
3.2.2 Zeitgemäßes Christentum
3.3 Wir amüsieren uns zu Tode

4 Die Heils-Sehnsucht des Menschen - Plädoyer für religion

5 Ist der Glaube noch glaubwürdig?

6 Gotteswahrheit - Gott in rechter Weise nennen

7 Auf die Gesprochenheit des Wortes hören
7.1 Eine lebendige Sprache sprechen
7.2 Für eine Bilder-Sprache

8 Weggefährtenschaft auf den spuren Gottes
8.1 Herausforderung an die Religionspädagogik
8.2 Die Stimme des Ewigen Du
8.3 Und Gott?

9 Auf den Weg Bringen - die rolle des Religionsunterichts

1 Einleitung

Von Gott zu sprechen angesichts der Herausforderungen der Postmoderne bedeutet, in einer Zeit der Beschleunigung ein Moment des Stillstands zu betonen. Obwohl dies zunächst paradox scheint, wird damit doch Realität der Gegenwart deutlich. Es geht um die Gottesrede in unserer Zeit und Gesellschaft. Der interessante und hilfreiche Blick über unseren sozio-kulturellen Tellerand kann Antworten zu geben und wäre für eine ausführliche Diskussion - das sei hier besonders betont - unerlässlich. Dies wäre aber ein eigenes Thema.

In dieser Seminararbeit soll versucht werden, zunächst in einer Zeitdiagnose die Symptome unserer Gesellschaft und Zeit zu skizzieren und ihre Problematik hervorzuheben. Drei verschiedene Ansätze und Autoren werden dabei berücksichtigt. Der Pädagoge Schulze und seine Analysen zur Erlebnisgesellschaft, der Kölner Theologe Hans-Joachim Höhn und seine Beschreibung der gegenwärtigen religionsproduktiven Tendenzen, sowie der amerikanische Kulturkritiker Neil Postman mit seiner Kritik an der Informationsgesellschaft.

Optimistisch ist angesichts der Krise des kirchlichen Christentums immer Jürgen Werbick, Fundamentaltheologe aus Münster. Vom Wagnis des Christseins redet er, wenn er sich bemüht, einen glaubwürdigen Weg zur Verkündigung und zur Gottesrede zu gehen. Von besonderem Interesse ist dabei sein Buch Bilder sind Wege - eine Gotteslehre, daß Hilfe bieten soll, Gott in der eigenen Geschichte verstehen zu lernen. Bei allem wird bei Werbick positiv spürbar, daß er lange an der Universität/Gesamthochschule Siegen in der Lehrerausbildung tätig war, was ihn insbeonders für die Religionspädagogik wertvoll macht.

Am Ende wird kein Patentrezept für das Sprechen von Gott in unserer Zeit vorliegen. Hier wird dem Anspruch der Postmoderne standgehalten und der Multiplizität der Lebensentwürfe Rechnung getragen. Kritiker mögen hier ein Aufweichen der Wahrheit sehen. Doch ist es oft gerade der Versuch, die Wahrheit zu vermitteln, der sie ihrer Klarheit und Eindeutigkeit entstellt. Martin Buber mit seinen Gedanken zur Beziehung ist von großer Bedeutung, wenn es um die Suche nach ursprünglicher Begegnung mit Gott geht, um das Hören der Gesprochenheit des Wortes.

Eingerahmt ist diese Arbeit - bis auf eine Ausnahme - in Zitate aus dem Roman Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth. Diesen Roman schrieb er 1937, ein Jahr vor seinem Tod im Pariser Exil. Wie manch andere große Werke der Zeit, die deutlich vor der Situation in Deutschland warnten - Anna Seegers: Das siebte Kreuz - erlangte es hohen literarischen Ruhm. Die Mahnungen an die Zeit verhalten aber.

2 Was an der Zeit ist ...

Wir alle, die wir zu höheren Ufern der Menschheit streben, haben eines vergessen: die Zeit! Die Zeit in der wir leben.[1]

Jugend ohne Gott ist nicht der Titel eines religionspädagogischen Sammelbandes[2], sondern Titel eines Romans Ödön von Horváths. Große Aufmerksamkeit erlangte das Buch bereits im Jahr seiner Veröffentlichung 1937. Knapp und anschaulich geschrieben erzählt es über eine Schule, eine mehr oder weniger verrohte Jugend, an ihr ein Lehrer, der ein Gewissen hat, sich verleugnen muß und es schließlich nicht mehr kann. Die Ahnung, daß er einen Wandel an sich vollziehen muß, führt zu einem Gespräch mit dem Schulleiter. Dieser deutet an, daß es keinen Zwang gäbe, jeder sei frei zu tun, was er wolle und könne so auch frei entscheiden, ob er eingesperrt werden wolle oder nicht. Doch der Direktor verwehrt sich gegenüber seinem jungen Lehrer, ein Zyniker zu sein. Er stellt dem couragierten Auftreten seines Kollegen entgegen, daß, wer so viel gesehen habe wie er, das Wesen der Dinge allmählich erfassen könne. Von Horváth läßt im Ungewissen, ob die Bemerkung des Direktors Resignation ausdrückt, Kapitulation vor einem Zeitgeist, dessen Entwicklung kontingent zu seinem Leben ist; oder ob sich in der Lebens-Erfahrung des Älteren schlicht die Hoffnung auf bessere Zeiten verbirgt. Einmal noch läßt er den Alten in Erscheinung treten. Die Klasse ist mißtrauisch gegenüber dem Lehrer, weil er nicht dem Geist der Zeit entspricht - er hält Neger für Menschen. Er wird bespitzelt und die Klasse stellt einen Mißtrauensantrag. Der Lehrer bittet seinen Direktor um eine andere Klasse. Dieser lächelt, als er das Vorgefallene hört und fragt: „Meinen Sie, die anderen sind besser?“ Sich dem Werdegang der Zeit widersetzen, ohne sein eigenes Sein aufs Spiel zu setzen, wird deutlich als Illusion. Der Zeit zu entfliehen, ist unmöglich. Es gibt keine bessere Gegenwart als die Jetzt-Zeit.

„Zeit, philosophisch: im Unterschied zu Gottes Ewigkeit ... das Nacheinander der Zustände der endl., geschöpfl. u. veränderlichen Dinge, die im Verlauf ihrer Wesensverwirklichung (Entstehen) und ihres Wesensverlustes (Vergehen) immer neue mögl. Gestaltungen ihrer Zukunft erlangen u. nach dem Augenblick ihres Besitzes schon wieder überholen u. in der Vergangenheit zurücklassen.“[3] Zeit ist demnach etwas relatives, zugehörig zu Dingen, denen ein Anfang und ein Ende Grenze ihrer Wesenheit ist. Die somit eingegrenzte Gegenwart des Menschen liegt im Hier und Jetzt, wo der Mensch bei sich ist und sich aufhält. Dieses „Dasein in den Modi der Zeit und der Ewigkeit bedeutet somit: ´sein können` (Zukunft - Möglichkeit), ´sein sollen` (Gegenwart - Wirklichkeit), ´sein müssen` (Vergangenheit - Notwendigkeit)“[4].

Eine Theologie, die an der Zeit ist [5] , wird eingefordert. Was dies aber bedeutet, ist unklar und Streitfall zwischen den verschiedenen theologischen Standpunkten. Das Christentum sei seinem Wesen nach zeitlos gültig, es verspreche ein Überwinden der Zeit in seinem eschatologischen Verständnis. Der christliche Gott habe die Geschichte exklusiv an sich gerissen und somit das Monopol für das Heil unter sich, so Marquard über die Durchsetzung des christlichen Alleingottglaubens. Hier kommt es zur Konfrontation mit einer Selbstbeschränkung - vielleicht der einzigen in der postmodernen Gesellschaft. „Alles ist möglich; nur Wahrheitsmonopole sind unmöglich.“[6] Dennoch ist Entscheidung notwendig, wie man sich als Christ den Herausforderungen der Zeit stellt. Die Möglichkeit fundamentalistischer Strömungen ist als Antwort eine besondere Art der Identitätswahrung angesichts des (post-)modernen Pluralismus und seinem Schwund an Eindeutigkeit und Endscheidbarkeit.[7] Doch wer sich in der absoluten Sicherheit geborgen weiß, daß die Anderen schon gar nicht recht haben können, treibt in die Passivität eines Winterschlafes und die Hoffnung auf bessere Zeiten, die im Zeichen der eigenen Wahrheit stehen. Auf diese Weise isoliert sich Kirche und Theologie in der Zeit, sie ist Teil in ihr, ohne Anteil an ihr zu nehmen.

Anders Theologie, die eine „Zeitgenossenschaft“ übt, an der Zeit wirksam werden will. An der Zeit wirksam werden bedeutet hier, nicht Antworten aus dem Schatz ewiger Weisheiten zu geben, sondern Fragen zu stellen an die Zeitgenossen. Ob diese Fragen gehört werden, hängt entscheidend davon ab, wie christliche Zeugenschaft ein geeignetes Medium für die Selbstreflektion des modernen Bewußtseins sein kann. Christentum und Glaube müssen sich der Vernunft stellen und vor ihr bestehen. „Wenn der christliche Glaube ernsthaft und aussichtsreich als Schrittmacher für die notwendige Neuorientierung des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses kandidieren will, muß dargelegt werden können, inwiefern er politisch denkende und sozial handelnde Subjekte auch intelektuell überzeugen kann.“[8]

Höhn sieht hier einen enormen Nachholbedarf. Die technisch-industrielle Zivilisation wird immer noch mit dem Kontrastmittel der religiösen Formen der Bewältigung von Naturrisiken und Naturgefahren konfrontiert. Dies bleibt nicht nur ohne Resonanz, sondern es bewirkt auch einen Verlust an Plausibilität jener Inhalte, die das christliche Credo ausmachen: Gottesbild, Schöpfung, Erlösung, ewiges Leben ...[9] Positiv gesagt sollte eine Theologie, die an der Zeit ist, aufzeigen, „daß Christentum und Glaube ein geeignetes Medium für die Selbstreflektion des modernen Bewußtseins sein können.“[10] Voraussetzung hierfür ist von Anfang an der Bezug auf das, was an der Zeit ist. Die Inkulturation des Evangliums durch eine produktive Zeitgenossenschaft in eine jede, in unserem Falle in eine technisch-industrielle, post-moderne Zivilisation.

3 Zeitdiagnose

Von Gott spricht keiner.[11]

Zeit ist ein dehnbarer Begriff, zumal in der Jetzt-Zeit, die so gerne als schnelllebig bezeichnet wird. Zeit ist der Maßstab unseres Lebens, je nachdem, wieviel Zeit wir einer Sache, einer Begebenheit oder einer Person zumessen, setzen wir diese in unserer persönlichen Werteskala ein. Wem wir keine Zeit widmen, der hat von uns nichts zu erwarten. Was uns in unserer Zeit widerfährt, ist der Raum, in dem wir leben, den wir erleben, der unser Sein bestimmt. Dieser Raum ist uns gegenwärtig als unsere Wirklichkeit. Aktuell wird der uns widerfahrende Zeitabschnitt gerne die Postmoderne genannt. Es gibt eine Vielzahl an Kriterien für diese Zeit, daß hier sicher nicht alle erfaßt werden können. Prägnant ist aber gewiß die Beobachtung, daß die Postmoderne eine Vielschichtigkeit der Lebensentwürfe ermöglicht hat, die vom einzelnen in der Gesellschaft nicht zu erfassen sind. Habermas nennt dies die „neue Unübersichtlichkeit“. Damit gibt er zu erkennen, daß die Philosophie sprachlos geworden zu sein scheint vor der Herausforderung, den Geist der Zeit zu fassen. Dieser zeigt sich nämlich nicht in einer Gestalt, sondern in der Abfolge von Moden, In/Out Erscheinungen, Trends etc. Vor der Analyse steht die Erkenntnis, daß das Gemeinsame der Gegenwart nicht zu benennen ist Doch der Versuch, Weisheit in und an dieser Zeit zu erlangen, ist notwendig, wenn die Philosophie weiterhin an der Zeit bleiben will. Auch in der zunehmenden Vielfalt lassen sich Strukturen und Grundmuster erkennen, zumindest latente. Diese zu suchen und aufzuzeigen ist Grundlage für einen kritischen Umgang mit der Jetzt-Zeit. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Kirchen; d.h. für die Gemeinden und Gläubigen, aber auch für die theologische Wissenschaft.

Eine Zeitdiagnose als Voraussetzung fordert Höhn, wenn Christen sich und ihre Sache, das Evangelium, in ihrer Zeit verständlich machen wollen. Denn diese scheint über das Christentum hinwegzugehen. Es ist nicht eine mindere Religiösität in der Gesellschaft zu beobachten, sondern mehr eine Entchristlichung der Religiösität, die es immer schwieriger mache, Christ zu sein, es zu bleiben oder zu werden.

3.1 Das Projekt des schönen Lebens

Was ähnlich klingt wie die Werbung für einen Bausparvertrag meint hier die Folge eines Wandels der Lebensauffassungen. Für den Soziologen G. Schulze ist dies der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft. Trotz der verkündeten Unübersichtlichkeit der Gegenwart sucht Schulze, den Blick aufs Ganze immer wieder neu zu erarbeiten.[12] An vier Punkten könnte dieses Ganze deutlich werden.

Subjekt

Das Subjekt besteht unter dem Einfluß von Bewußtsein, Körper und der spezifischen, das Subjekt umgebenden Situation. Vor allem die Situation war lange Zeit Begrenzung der Möglichkeiten des Subjekts, hatte selektiven Charakter in der auf den einzelnen Menschen einwirkenden Wirklichkeit.[13] Die Bindung an die eine Situation ist heute aufgebrochen, das Subjekt kann zwischen einer Vielzahl von Möglichkeiten wählen und tut dies in der Regel auch. Diese haben bedeutende gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Lag einst der Schwerpunkt der Subjektwerdung auf der Verarbeitung einer Situation, d.h. einer Sinnkonstruktion für die Zeit, wird heute die Situation konstruiert, eine Zeit entsprechend einem gegebenen Sinn geschaffen. Die Situation ist nun subjektorientiert, oder wie Schulze sagt: „Heute legt die Situation etwas nahe oder löst etwas aus, statt zu begrenzen, und das Subjekt handelt eher durch Wählen als durch Einwirken.“[14]

Innenorientierung

Kam die Situation einst von außen auf das Subjekt zu, erwählt das Subjekt heute die Situation nach seinen Bedingungen. Dies löst einen Wandel von einer sogenannten Außenorientierung zu einer Innenorientierung aus. Eine Sache ist nicht mehr an sich etwas wert oder hat einen Sinn, sie muß beim Subjekt ein besonderes Erleben der Situation auslösen.[15] Auch hier ist eine Dynamik des Subjekts notwendig, um das gewünschte Erlebnis zu erreichen. „Gemeint ist, daß ein Mensch sich vornimmt, Prozesse auszulösen, die sich in ihm selbst vollziehen.“[16] Das Projekt des schönen Lebens verfolgt keine eindeutige Richtung, sondern basiert auf einem bestimmten Selbstvollzug des Menschen. Das Subjekt achtet darauf, wie es erlebt, und versucht dies so zu arrangieren, daß als schön empfunden wird, was es erlebt. Es kommt zu einem Prozeß der Verarbeitung des Erlebten.

Erlebnistheorie der Verarbeitung

Hier sind drei Elemente von Bedeutung, Subjektbestimmtheit, Reflexion und Unwillkürlickeit. Es wird davon ausgegangen, daß das Material des Erlebens erst zum Erlebnis wird durch einen subjektbezogenen Kontext, d.h. durch Interaktion mit dem Subjekt. Jeder hat z.B. den ersten Sieg eines Deutschen bei der Tour-de-France in einer anderen Weise erlebt. Dies wird nicht zuletzt durch die Reflexionsfähigkeit des Subjekts möglich. Es versucht, das Erlebnis zu erleben und auf diese Weise einem Prozeß der Selbstverarbeitung zuzuführen. Das Subjekt möchte auf diese Weise seiner selber habhaft werden. Schulze sieht diesen Vorgang vor allen bei Kindern dialogisch ausgeprägt, da sie in der Reflexion auf Gesprächpartner angewiesen sind. Erwachsene hingegen sind zur stummen Reflexion fähig. Dennoch bleibt der Wunsch nach Gemeinsamkeit bei Erlebnissen. Dies bewirkt jedoch selten eine wirkliche Intrasubjektivität, sondern allenfalls eine Erleichterung der Aneignung des Erlebten durch die Anwesenheit anderer. Hier wird der Anschein eines Austausches geweckt; in der Tat ist es oft nur Gleichzeitigkeit verschiedener Reflexionsvorgänge.

Die subjektbezogene Reflexion führt in der Regel zur Planung der äußeren Umstände, zur emanzipierten Gestaltung des eigenen Lebensentwurfes. Ursprungserlebnisse werden der reflektierenden Nachbehandlung unterworfen. Dennoch erfährt das Subjekt sich immer wieder Ursprungserlebnissen gegenüber, wenn die Planung durch etwas Unerwartetes über den berühmten Haufen geworfen wird. Die Situation erweist sich hier als nur begrenzt kontrollierbar, das Subjekt in seiner situativen Verfassung unvorhersehbar. Wieder ist Reflektion notwendig, um das Ursprungserlebnis so umzuinterpretieren, da? es zu den Erwartungen paßt, oder um Korrekturen am Lebensentwurf vorzunehmen.

Die auf Erlebnis zielende Innenorientierung des etwas haben zu wollen wird hier deutlich in der Absicht, jemand zu sein. Sich selbst beobachtend soll herauskommen, daß der subjektive Prozeß ein gefälliger, ein schöner ist. „Das Projekt des schönen Lebens entpuppt sich als Projekt einer bestimmten Form der Selbstbeobachtung.“[17]

Unsicherheit und Enttäuschung

Durch die Planung eines Lebensentwurfs soll ein Gefühl von Sicherheit entstehen; die Zukunft ist machbar und steht dem subjektiven Wollen offen. Doch gerade in der Planung des eigenen Lebensentwurfes liegt die Ursache der Unsicherheit. Ein Grund ist das Ursprungserlebnis als unkalkulierbarer Faktor; der andere die Offenheit der Reflektionsformen. Das Programm des eigenen Lebensentwurfes, des so zu Leben, wie man will, ist eine philosophische Herausforderung, durch welche die meisten ohne Übernahme kollektiver Muster überfordert wären. „Unsicherheit erzeugt ein ästhetisches Anlehnungsbedürfnis ...“[18]

Aus Unsicherheit kann dann Enttäuschung entstehen; eine bestimmte Form der Selbstbeobachtung. Im Vordergrund steht hier ein Verfall der Fähigkeit, sich am Gebrauchswert einer Sache zu erfreuen und die Angst, etwas zu versäumen. Nirgendwo läßt sich dies besser verdeutlichen als in der Welt der Computer. Die Entwicklung von Prozessoren, Speicherplätzen, Graphikfähigkeiten etc. hat ein solches Tempo, daß das Neueste vom Neusten, die Créme de la Créme, in kürzester Zeit wieder getopt wird. Die letzten Errungenschaften, Trends, Neuigkeiten werden nicht die letzten bleiben. Wer In sein will, muß innerlich und äußerlich bereit sein, dem jeweils Neuen Platz zu machen.[19] Anstatt die Enttäuschung sachgerecht, nach der Vernunft zu reflektieren, werden sie in „der naiven Eindruckstheorie des Erlebnisses ... den Umständen angelastet“[20]. Man ist von etwas enttäuscht und wird nicht wieder so dumm sein, und sich auf gleiche Weise der Situation ausliefern. Durch Veränderung der Umstände, Manipulation der Situation sollen die gewünschten subjektiven Wirkungen erzielt werden. Erneute Enttäuschungen scheinen sicher, die Frage ist, ob sie überhaupt als solche erkannt werden.

3.2 Die religiöse Signatur der Zeit

Wer je geglaubt hat, daß in unserer Zeit alles Mythische und Religiöse überflüssig wird, darf nun zugeben, daß eine solche Prognose nicht bestätigt werden kann. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Eine Vielzahl an reli-gionsproduktiven Tendenzen ist gegenwärtig zu beobachten, vor allem in den Städten, die sich wieder einmal als Trendsetter erweisen. Hier wäre nun der Platz für die geforderte zeitgemäße Theologie, für ein Christentum an der Zeit. Der Theologe Hans-Joachim Höhn sitzt da in Köln geradezu an einer Quelle. Hier kommen nahezu alle Einflußfaktoren zusammen, die für ihn die gegenwärtigen religionsproduktiven Tendenzen ausmachen. In Köln war es auch, daß eine solche Tendenz, eine Theologie der Straße, vor einer Koalition von Politik und Dom-Klerus weichen mußte. Die sogenannte und so auch weltweit bekannte Kölner Klagemauer für den Frieden.[21] Gleichzeitig wird aber auch mit dem Domforum eine besondere Art der Passanten -„Seelsorge“ versucht. Auf diese Beispiele soll jedoch nicht eingegangen werden. Interessant ist für uns, welche Zeitdiagnose zu Gesellschaft und Kirche Höhn stellt.

3.2.1 Zeithorizont und Zeitkultur der Moderne

„Zeit ist Geld“, sagt ein Sprichwort, daß sicherlich noch keine allzulange Tradition haben dürfte, verglichen mit anderen Weisheiten. Wenn man bedenkt, daß in Sprichwörtern[22] in komprimierter Fassung ganze Bücher stecken können, wäre hier eigentlich schon alles gesagt. Zeit und Geld ist gemeinsam, daß der Mensch in der modernen Gesellschaft im allgemeinen dazu neigt, von beidem nach seiner eigenen Einschätzung zu wenig zu haben. Deshalb macht es Sinn, die ihm zur Verfügung stehende Zeit weitestmöglich auszunutzen, denn Zeit steht für einen Wert, der in ihr produziert und realisiert werden kann.[23] Der Faktor Zeit in der Wirtschaft ist angesichts von Maschinenlaufzeiten bzw. Lohnnebenkosten der am meisten diskutierte. Aus Rentabilitätsgründen wird überlegt, Samstage und auch Sonn- und Feiertage in die Arbeitszeit einfließen zu lassen. Andersherum werden Feiertage gestrichen, um die Lohnnebenkosten - Stichwort Pflegeversicherung - zu senken. Die meisten Innovationen, die unsere Industriegesellschaften nachhaltig geprägt haben, haben zunächst Zeitersparnis für einen Vorgang gebracht, oder, wirtschaftlich gesehen, die Produktivität eines Vorgangs erhöht. Die Beschleunigung ehemals naturnaher Prozesse und die parallel dazu fortschreitende Verkürzung räumlicher Distanzen bringt Zeit, über die der Mensch nun souverän verfügen kann.[24] Zeitgewinn scheint gleich Sinnsuche; doch wird meist übersehen, daß der Sinn, den der Mensch aus eigenen Kräften seinem Leben geben kann, ebenso vergänglich ist wie sein Stifter und die von ihm gewonnene Zeit.[25]

Da zeigt sich auch schon die große Widersprüchlichkeit der Moderne. Modernisierung als Ausdruck des Fortschritts hat stets den Charakter von Mobilisierung. Soziale und politische Bewegungen werden nur dann als fortschrittlich anerkannt, wenn sie zu höherer Mobilität einer Gesellschaft führen.[26] Höhn verdeutlicht das Problem: „Das Zeitalter der Beschleunigung insinuiert eine Vorwärtsbewegung (Fortschritt). Aber je höher das Tempo der sozialen Evolution ist, um so weniger verläuft sie gradlinig und gleichmäßig. Es kommt zur Bildung von Wirbeln und Kreiseln, in denen zwar eine hohe Umlaufgeschwindigkeit herrscht, die aber zu keiner Ortsveränderung führt. Die Moderne verharrt in einem ´rasenden Stillstand`.“[27] Der Mensch gewinnt keine Zeit hinzu und seine souveräne Herrschaft ist wohl eher Wunsch als Wirklichkeit. Ist nicht die Zeit, die den Menschen beherrscht, eine Chronokratie, in der Mensch glaubt, seine „angestrebte Selbstmächtigkeit“ ihrer Erfüllung zuzuführen?[28]

Diese Schnappschüsse einer „auf Beschleunigung setzenden Gesellschaft“[29] skizzieren die Problematik vom Zeithorizont und von der Zeitkultur der Moderne. Höhn stellt hier die seiner Meinung nach unweigerliche Frage: „Ist das Neue stets das Bessere? Wohin kommen wir mit dieser Gesellschaft, wenn wir in diesem Tempo weitermachen? Nach wessen Ebenbild will sich der Mensch vervollkommenen?“

Es ist die Zeit, die uns zu diesen Fragen drängt, durch die zunächst technische Probleme zu ethischen Problemen werden, da in einer situationsbedingten Zeitspanne die Möglichkeiten und Grenzen der gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeit vorgegeben sind. Die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik leiden ebenso unter Zeitdruck durch Zeitmangel wie der gestreßte Ehepartner, der Schüler zwischen Sport und Musikstunde. Die Faktoren der Zeit bestimmen jedoch die Rahmenbedingungen unseres Handelns in der Gegenwart. „Hätten wir endlos Zeit oder stünden wir definitiv am Ende der Geschichte, lastete kein Entscheidungs- und Handlungsdruck auf uns.“[30]

3.2.2 Zeitgemäßes Christentum

Daß auch das Christentum in der Zeit ist und somit den Veränderungen der ökologischen als auch der sozialen Umwelt ausgesetzt ist, kann wohl nicht bestritten werden. Unterschiedlich sind aber die Reaktionen auf diesen Tatbestand. Notwendig ist eine Kursbestimmung dessen, was Kirche und Christen der Welt sein können. Es ist an der Zeit, Rechenschaft darüber zu geben, „wie der Weg in den Fußspuren Jesu Christi (1 Petr 2, 21) heute und morgen zu finden ist, wie die Spuren zu identifizieren sind, denen wir folgen und von denen wir uns versprechen dürfen, daß sie uns nicht in die Irre führen.“[31] Es gilt, Identität zu finden zwischen den Moden, die sich im In-sein zeigen, und den Zeichen der Zeit, die Herausforderung an die zeitgenössischen Christen sind. Höhn formuliert seine Forderungen an das Christentum mit scharfen Worten: „Wenn das Christentum nicht zu den abgelegenen Utopien zählen will, wenn es mehr sein will als ein Existentialismus aus zweiter Hand, dann muß es zu mehr fähig sein, als zu einem konservierenden Umgang mit seinen Leitideen. Es ist nur dann bei seiner Sache und auf der Höhe der Zeit, wenn es die unabgegoltenen großen Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume der Menschen gegen ihre kleinformatigen Erfüllungen einklagt.“[32]

In der modernen Zeitauffassung der Sofortkultur hat ein rückwärtsgewandtes Christentum in der Hoffnung auf eine Wiederverzauberung der Welt keine Chance. Es gilt, Antwort zu geben auf die Fragen, die Mensch in diese schnellebige Welt hineinruft. Die religionsproduktiven Tendenzen der Gegenwart werden von Menschen geprägt, die Räume suchen, die frei sind von ökonomischer Ausbeutung und Verzweckung. Hier wäre ein Christentum gefragt, daß seiner Überzeugung nach ein anderes Verhältnis zur Zukunft geben könnte, in dem die Handlungs- und Freiheitsräume nicht befristet sind.[33]

Doch das kirchliche Christentum läßt die aktuellen religionsproduktiven Tendenzen weitgehend außer acht und kann so mit der wachsenden Notwendigkeit vernunftgemäßer Kontingenzbewältigung nicht Schritt halten.[34] Dabei wäre es ganz im Sinne des Evangeliums, das ein vitales Interesse an der Befreiung des Menschen von jeglicher Unmündigkeit hat, auf die Lebensfragen der Menschen Antwort zu geben. Dazu ausführlich Höhn: „Die Lebensfragen des Menschen - und ebenso die Überlebensfragen des Christentums - lassen sich nicht mit dem Versuch lösen, schwer verständliche Symbole und Dogmen mittels historischer und hermeneutischer Vernunft wieder für das moderne Bewußtsein assimilierbar zu machen oder alte Rituale durch organisatorische Maßnahmen vor dem Vergessen zu retten. Gefragt ist vielmehr die Bereitschaft, sich auf die Säkularisierungsprozesse so einzustellen, daß der Plausibilitätsverlust der bisherigen religiösen Sinndeutung modernen Lebens nicht unmittelbar mit nihilistischem Sinnverlust gleichgesetzt werden muß. Epochale Umwälzungen in der Daseinskonstitution des Menschen erfordern auch entsprechende Innovationen sowohl in der Semantik und Pragmatik religiöser Rede als auch in den religiösen Symbolwelten.“[35] Er kann es auch kürzer sagen: „Weichen Theologie und Kirche dieser Aufgabe aus, verstehen sie noch nicht einmal, warum sie von ihren Zeitgenossen nicht verstanden werden. Am Ende verstehen sie sich selbst nicht mehr.“[36]

3.3 Wir amüsieren uns zu Tode

Vernachlässigt und elegant, waren sie geil auf Katastrophen, von denen sie kein Kind bekommen konnten.

Sie lagen mit dem Unglück anderer Leute im Bett und befriedigten sich mit einem künstlichen Mitleid.[37]

„Für Kulturbeobachter und andere Pessimisten“[38] ist der New Yorker Medienpädagoge Postman einer der herausragenden Analytiker der gegenwärtigen Zeit. Grundthese und damit auch Grundlage seiner Studien und Publikationen sind die durch den Niedergang des Buchdruck-Zeitalters und den Anbruch des Fernseh-Zeitalters in Gang gekommenen Veränderungen innerhalb der Gesellschaft der USA. „In dem Maße, wie der Einfluß des Buckdrucks schwindet, müssen sich die Inhalte der Politik, der Religion, der Bildung und anderer öffentlichen Bereiche verändern und in eine Form gebracht werden, die dem Fernsehen angemessen ist.“[39] Angesichts der Entwicklung einer globalen Monokultur in der Medienlandschaft können die Ausführungen Postmans, die sich ja auf die USA beziehen, durchaus Kriterium sein für ähnliche Analysen hierzulande. Die Diagnosen, die er 1985 erstellte, sind dem Beobachter der Unterhaltungslandschaft sicher nicht fremd.

Postman ist kein fundamentalistischer Gegner der heutigen Zeit und Kultur. Was ihn umtreibt ist der Umstand, daß die Mehrheit der Menschen nicht zur Kenntnis nimmt, wie ihre sinnliche Wahrnehmung und ihre Ursprungserlebnisse durch zwischengeschaltete Medien reguliert werden.[40] Das Medium wird zur Metapher für das, was zu sagen ist, reguliert auf diese Weise aber auch das, worüber gesprochen werden kann.[41] Eine Kultur, in der das Medium des Abbildens abgelehnt wird, kann auch so keine Bild-Metaphern für Gott einsetzen; wie die Bibel belegt, wird sie es ausdrücklich verbieten. Der Inhalt steht über der Form.

Postman sieht eine neue Form des Diskurses entstehen. Dieser wird vor allem geprägt durch die Aufhebung des Raumes als Begrenzung der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen. Die Möglichkeiten der Raumüberwindung werden uns zu jeder Zeit und Stunde vorgeführt. Jeder Pedaltritt von Jan Ullrich während der Tour de France, jedes Lächeln von Lady Diana auf irgendeiner Jacht, beinah jeder Sandsack an den Deichen im Oderbruch gelangt in die Wohnstuben, Büros, Kneipen, Schrebergärten. Ermöglicht wurde dies alles durch die im Vergleich simple Technik des Telegraphen. In lächerlich kurzer Zeit entstand ein Netz von Telegraphenleitungen in den USA. Nachdem Samuel Finley Breese Morse[42] 1843 die erste Telegraphenlinie errichtet hatte, berichtete 1948 der New York Herald, daß innerhalb einer Woche 79 000 Worte telegraphischen Inhalts gedruckt wurden. Welche Bedeutung sie für den Leser hatten, wußte man damals wie heute nichts zu sagen. Im gleichen Jahr wurde die erste Presseagentur, Associated Press, gegründet. „Kriege, Verbrechen, Unfälle, Feuersbrünste, Überschwemmungen - häufig nichts weiter als das soziale oder politische Pendant zu Prinzessin Adelheids Keuchhusten - bildeten von nun an den Inhalt dessen, was man ´Tagesnachrichten` nannte.“[43]

Da wir heute aus allen Ecken der Welt jede beliebige Nachricht empfangen können, meinen wir, so unmittelbare Nachbarschaft zu erleben. Nicht ohne Grund wird zuweilen die Welt auch als ein Dorf bezeichnet und der nächste Schritt der globalen Dorfverschönerung, die Vernetzung im Internet, wird gepriesen als Meilenstein ungebremster und unzensierter Komunikation. Postman stellt dem zwei Fragen entgegen. Wie häufig ändert man aufgrund von Informationen aus Radio, Fernsehen oder Zeitung seine Pläne für den Tag oder tut etwas, was man sonst nicht getan hätte? Wie oft verhelfen diese Informationen zu Einsicht bei Problemen, die einen betreffen?[44] Das ist das Vermächtnis des Telegraphen; der größte Teil des Informationsflusses geht an uns vorbei, bleibt wirkungslos an uns. Aus ihrem Kontext gerissen gewinnen sie auch für den Betrachter selten Relevanz. Das proportionale Verhältnis zwischen Information und Aktion hat sich drastisch verändert. Wer glaubt heute noch, handlungsfähig zu sein? Die Serialisierung hat in unserer Gesellschaft so weit Einzug gehalten, daß es beinah nichts mehr gibt, was uns alle betrifft. Das Fernsehen setzt dabei die Schriftkultur des Buchdrucks weder fort, noch erweitert es sie.[45] Wenn überhaupt eine Kontinuität erkennbar ist, dann mit dem Telegraphen. Doch jede Technik hat ihre eigene Logik, und somit das Fernsehen auch.

Die Fragen der Diagnose an das Fernsehen nach Postman: „Was ist das Fernsehen? Welche Arten von kommunikativen Austausch läßt es zu? Welche intellektuellen Tendenzen begünstigt es? Was für eine Kultur bringt es hervor?“[46]

Sinn des Fernsehens ist Unterhaltung, Showbusiness für den Zuschauer; für den Macher im Hintergrund aber das Geschäft. Show & business verbinden sich hier zum für beide Seiten augenscheinlich zufriedenstellenden Showbusiness. Ihr Kennzeichen ist das und jetzt, mit der Sendung an Sendung, Inhalt an Inhalt gereiht wird. In den privaten Kanälen der deutschen Fernsehlandschaft ist gegenwärtig dieselbe Entwicklung zu beobachten, wie Postman sie für die USA erkannte. Die Nachrichtensendungen sind nur der Rahmen für das gute Aussehen und die Liebenswürdigkeit der Sprecher, eingerahmt von aufwendiger Anfangs- und Schlußmusik, abwechslungsreichen Filmbeiträge und attraktiven Werbespots. All das sagt uns, daß die Nachrichten dazwischen kein Grund zum Heulen sein können.[47] Hier soll nicht Realität vermittelt werden, sondern sie wird entworfen. Das Projekt des schönen Lebens wird selbst durch die Bilder unterernährter Kinder nicht aus der Bahn geworfen, denn im selben Atemzug heißt es: und jetzt kommt etwas Werbung - am besten mit der heiteren Knorr-Fertigsuppen-Familie. Durch die Fernsehnachrichten wird, so Postman, ein Diskurstyp propagiert, der Logik, Vernunft, Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit preisgegeben hat. Für ihn ist das vergleichbar mit der Erscheinung des Dadaismus in der Ästhetik, des Nihilismus in der Philosophie oder der Schizophrenie in der Psychiatrie. Deshalb nennt er dies auch Varieté. Es soll glauben gemacht werden, daß alle Probleme lösbar sind, und zwar schnell. Es kommt nur auf die Wahl der richtigen Technologie an, bzw. des richtigen Waschmittels.[48]

In diesem Jahrhundert gab es zwei große kulturpessimistische Prognosen. Orwells 1984 und Huxleys Schöne neue Welt. Beides kann eintreten, Orwells Tyrannei des großen Bruders, doch diese hat für die USA und für das Europa der Gegenwart nur noch marginale Bedeutung. Huxley kommt dem wesentlich näher, jedenfalls nach Ansicht von Postman. Ein Volk, daß sich von Trivialitäten ablenken läßt, ein gigantischer Amüsierbetrieb, der das kulturelle Leben bestimmt, dessen öffentlicher Diskurs Geplapper ist. Dies sind die Gefahren, die Postman als tödliche Bedrohung der Kultur erkennt und die Huxley beschrieben hat.[49]

Ausführlich noch einmal Postman: „Den Schaden, den solche Verquickungen unserer Vorstellung von der Ernsthaftigkeit der Welt zufügen, kann man kaum überschätzen. Besonders groß ist er bei jungen Zuschauern, die sich ihre Anregungen dafür, wie man auf diese unsere Welt reagieren kann, in einem erheblichen Umfang aus dem Fernsehen holen. Wenn sie sich die Nachrichten im Fernsehen ansehen, werden sie mehr als jede andere Zuschauergruppe in eine Epistemologie hineingezogen, die auf der Annahme beruht, daß alle Berichte über Grausamkeit und Tod stark übertrieben sind, daß man sie jedenfalls nicht ernst zu nehmen und sich nicht auf verständige Weise mit ihnen auseinanderzusetzen braucht.“[50] Wir befinden uns in einem Wettrennen zwischen der Bildung und der Katastrophe, wie neben Postman auch Huxley und H.G.Wells in ihren literarischen Werken betonen. Dringlich ist es deshalb, das wir die Politik und die Epistemologie der Medien verstehen lernen. Wie die Menschen in Schöne neue Welt leidet niemand daran, daß er/sie lacht. Viele aber leiden daran, da sie nicht wissen, über was sie lachen und warum sie aufgehört haben, nachzudenken.[51]

4 Die Heils-Sehnsucht des Menschen - Plädoyer für Religion

„Fürchten Sie sich,“ rief sie mir zu, „fürchten sie sich vor Gott.“ Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor Gott.[52]

Religion ja - Kirche nein, so ist schon anfangs auf die Krise des christlichen Glaubens hingewiesen worden. Grund genug zu sagen, das Christentum ist überlebt, es hat nichts mehr zu sagen, da es niemand mehr haben will; abgesehen von der sakramentalen Dienstleistungen zur Initation der Lebensabschnitte. Den Gemeinden das Gnadenbrot, dem letzten Gläubigen ein Platz im Wachsfigurenkabinett; außerdem die Wiederaufnahme von Jesus Christ, Superstar am Broadway, denn die Show hatte was.

Das war es dann. Sicherlich, der Mensch ist immer noch nicht erlöst, Leiden, Tod und Endlichkeit stören unser Lebensprojekt und die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit bleibt für viele unerfüllt. Vor allem junge Menschen leiden in vielfältiger Weise an dieser Welt. Die Comicfigur Calvin, ein kleiner Junge von sechs Jahren, fragte seinen Tiger-Freund Hobbes, ob er sich eigentlich weigern könnte, die Welt von seinen Eltern zu übernehmen. Diese sind in der Erklärungsnot, warum es so ist und nicht anders. Idole werden gesucht, die die Phantasie anregen, wie es anders sein könnte als es jetzt ist. Idole, die daß Gefühl geben, ganz für einen da zu sein und vor allem, Antwort zu geben auf die Ängste.

Bravo, die Zeitschrift für Jugendkultur und -trends, weiß um diese Sehnsucht und gibt ihr Nahrung. Normal sind Artikel wie dieser über den selbsternannten King of Pop, Michael Jackson.[53] Michael bricht alle Rekorde, nicht nur die, der kosmetischen Eingriffe. 140.000 Menschen kamen allein in München zu seinem Konzert und sahen ihn als Friedensbotschafter Panzer und Soldaten stoppen, mit Kindern vor der Weltkugel die Friedenshymne singen. Nach dem Konzert zeigt er sich seinen Fans vom Balkon des Hotels mit Ehefrau und Sohn, „den er über alles liebt.“ Ein Mensch, der sich so sehr verleugnet wie wahrscheinlich sonst niemand, macht sich zum Erlöser der leidenden Welt. Anything goes auch hier, störende Pigmente, zu breite Nase, krauses Haar, dicke Lippen, alles kein Problem. Die Botschaft heißt: Du kannst Dich so machen, wie Du Dich haben möchtest, werde ein Produkt Deiner selbst. Alles ist ersetzbar, mögliches Kunstprodukt. Für den Weltfrieden Michael Jackson, für die heile Familie die Boy-Groups, für die Revolte die Spice Girls, für die eigenen Gefühle Tic Tac Toe. Die Antworten auf das Leben sind doch einfach, oder etwa nicht?

Letztlich fehlt doch etwas, kann so die Antwort nicht gesucht werden, führt das Vertrauensmonopol der Idole in den Kreislauf der menschlichen Daseinsbeschränkung. Ein Kreislauf, der erst durch Religion unterbrochen werden kann. Religion bedeutet, das es um das geht, was nicht vom Menschen abhängt, ihn aber unbedingt angeht. Durch sie tritt der Mensch in Beziehung zu dem Unverfügbaren des Lebens, nicht, um dieses doch irgendwie verfügbar zu machen, sondern um das eigene Selbst- und Weltverhältnis zu verändern. Das bedeutet zu lernen, damit leben zu können, daß nicht alles in unser Leben selbstständig zu integrieren ist und verfügbar gemacht werden kann. Menschliches Handeln und Kommunizieren, seine Interaktion wird erst dann wirklich lebensstiftend, wenn er nicht aus sich allein über sein Wollen und Wissen verfügt, wenn er Stabilität und Orientierung gewinnt aus einem vorausliegenden und übergeordneten Beziehungsgefüge.[54] Religion ist gefragt, denn es ist ein Stadium der Kulturgeschichte erreicht, in dem es erstmals „nicht mehr nur um Mittel und Wege der sozialen Daseinssicherung geht, sondern um den Zweck und das Ziel selbst: um den Menschen und die Maßstäbe des Menschlichen.“[55] Für die Kirche und ihre Glieder bedeutet dies nicht, auf die Wiederkehr verlorener gesellschaftlicher Privilegien und Einflußmöglichkeiten zu spekulieren. Denn sie muß sich damit auseinandersetzen, daß gerade diese ihrer Glaubwürdigkeit geschadet haben.

5 Ist der Glaube noch glaubwürdig?

Warum nimmt also die Kirche, wenn die gesellschaftliche Struktur eines Staates zusammenbricht, immer die Partei der Reichen?

- Weil die Reichen immer siegen.[56]

Die Diagnose der Kirche in der Zeit macht deutlich, daß es in der gegenwärtigen Krise nicht um eine momentane Verlegenheit des potentiellen Gottesvolkes geht. Realistisch gesehen ist diese Krise ernster zu nehmen, wie Werbick es immer wieder als notwendig aufzuzeigen versucht. Die Situation des Traditionsbruches ist für ihn nicht weniger als die Glaubwürdigkeitskrise des Christentums.[57] Er hebt drei Gründe hervor, warum der Kirche ihre Wahrheit nicht mehr abgenommen wird:[58]

n weil man ihr die Wahrheit nicht „ansieht“, die sie mit ihrer Verkündigung zu verbreiten versucht;

n weil man sich auf das, was man ihr ansieht, auf das, worum es Kirche tatsächlich zu gehen scheint, lieber nicht einlassen möchte;

n aber auch zunehmend deshalb, weil einem die Wahrheit, für die Kirche offiziell „zuständig“ sein will, nichts mehr sagt und nichts mehr bedeutet, jedenfalls nicht mehr hilft, so daß man nicht mehr recht weiß, weshalb man sich auf sie einlassen sollte.

Werbick versucht nicht, einen Sündenbock für diese Verhältnisse zu opfern. Ihm geht es um die Glaubwürdigkeit der Christen, ob Amtsträger, Theologen oder Laien, um die Glaubwürdigkeit aller, die Zeugnis der Gotteswahrheit abzulegen versuchen. Hier liegt für ihn der Ausgangspunkt des Unglaubwürdigen an der Kirche und ihren Gliedern; „daß sie die Gotteswahrheit nicht annehmen, wie sie offenkundig gemeint ist.“[59] Die Gegenwart Gottes wird nicht als Gottes kritisch-verheißungsvolle Herausforderung an den Menschen ins Leben integriert, als lebensstiftend erfahren und erfahrbar gemacht. Sie wird unglaubwürdig, da die Kirche, ihre Verantwortlichen, da die Gläubigen sich von ihr anscheinend nicht mehr „treffen und herausfordern lassen.“[60]

Anhand der Zielnorm der Selbstverwirklichung, einer der Parolen der postmodernen Situation, spitzt Werbick seine These zu. Hier sieht er „die Glaubwürdigkeitslücke kirchlicher Moralverkündigung“ erkannt und bloßgelegt. Die Zielnorm Selbstverwirklichung steht entgegen dem „Defizit an Lust- und Lebensbejahung in vielen Ausprägungen kirchlicher Morallehre und Verkündigung“ bis in die Gegenwart hinein. Dies macht, so Werbick, verdächtig, daß die Heilsbotschaft der Kirchen nur bei den Gescheiterten, weil lebensschwachen, landen könne; bei den Sündern eben. Dieser Verdacht trifft tief, nicht zuletzt, weil er die Selbstzweifel derer, die sich ihres Verzichtes unsicher sind, nährt.[61]

Werbick sucht den Finger in diese Wunde zu legen, um die Defizite deutlich zu machen. Sonst bleibt nämlich unklar, wohin die Norm der Selbstverwirklichung zielt, und damit auch die kirchliche Widerrede gegen diese. Allzuoft steht ein Nein, wo keine klare Kontur eines Gegenüber erkennbar ist. Hier vermißt Werbick die Phantasie der Zeugen, „wie eine authentisch christliche Schöpfungstheologie das Ja Gottes zum Menschen, zu allem was ihn - nach Gottes Willen - zum Menschen macht und sein Leben bereichtert“, zur Geltung bringen könnte und somit auch „Ja zu sagen hätte zur Selbstverwirklichung des Menschen in Gottes Schöpfung“. Das Nein zu allem, was das Geschöpfsein des Menschen pervertiert, weil die diffuse Zielnorm der Selbstverwirklichung „das Geschöpf zum Ausbeuter der Mitgeschöpfe macht“, kann hier nicht mehr glaubwürdig gesagt werden. Durch die Vermeidung des Ja erfährt sich dieses Nein als Urwort christlichen Ressentiments entlarvt. Wenn dann das Ja - wie etwa das Ja zum Leben - erkennbar um eines Nein willen propagiert wird, wenn auch hier der zu Lust und Lebensfreude neinsagende Gott hervorgehoben wird, „da braucht man [die Ursachen (J.S.)] für die Glaubwürdigkeitskrise des kirchlichen Christentums nicht länger zu suchen. Dann hat man sich die Glaubwürdigkeitskrise redlich verdient.“[62]

6 Gotteswahrheit - Gott in rechter Weise nennen

Ich sehe die hohen grauen Häuser und sage: „Wenn man nur wüßte, wo Gott wohnt?“

„Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde,“ höre ich die Stimme des Alten.

„Er wohnt auch hier bei uns, denn wir streiten uns nie.“[63]

Eine Möglichkeit, den Weg aus der Glaubwürdigkeitskrise zu suchen und zu gehen liegt darin, daß die ‘Wahrheit’ dessen, was man glaubt und bezeugt, deutlich wird. Genau hier liegt aber auch das Problem der Glaubensverkündung in der Zeit. Was ist Wahrheit, gibt es die eine, allgültige Wahrheit, auf die man sich berufen kann, wenn man Gott meint? Ist Wahrheit nicht ein veralteter, Macht beanspruchender Begriff, der dem Menschen heute nichts mehr bedeutet? Ist die Suche nach Wahrheit nicht zu mühselig angesichts der vielfältigen Lebensentwürfe und -möglichkeiten, die alle für sich beanspruchen, ihrem Träger wahrhaftig zu sein?

Eines ist deutlich und auch nicht unter Berufung auf seine persönliche Biographie in Frage zu stellen: Das Propagieren der einen Wahrheit kommt nur selten an und dann bei wenigen, die weniger offensiv verkündigen als verzweifelt verteidigen, was sie für wahr halten. In die Richtung geht es auch, wenn die Rede ist vom Prozeß der Reduzierung der Gläubigen auf ein kleines, aber aufrechtes und wahrhaftiges Volk, daß somit wieder Salz der Erde werden soll. Wer immer diesen Weg für den zeitgemäßen hält, übersieht, was an der Zeit ist. Den Blick von den Herausforderungen abzuwenden und das Warten auf bessere Zeiten verschließen die Sinne vor den Nöten der Menschen in der Gegenwart und vor der Not-wendigen Herausforderung, sein Leben angesichts des Ganzen der Schöpfung als gutes und Lebenskraft spendendes zu erhalten. Die Kernfrage angesichts der Glaubwürdigkeitskrise des Christentums ist immer schon gestellte: Wie kommen wir zur Wahrheit des Glaubens?

Angenehm scheint folgende Antwort: Die Glaubenswahrheit ist uns offenbar geworden in der Person Jesu Christi. Durch die Verkündigung des kirchlichen Lehramts können sich die Gläubigen, verbürgt im Wirken des Heiligen Geistes, der göttlichen Wahrheiten zweifelsfrei vergewissern, als „unmittelbar göttliche Wirklichkeit, nicht von menschlicher Vermittlung verunreinigt oder verdreht und eben deshalb schlechterdings verläßlich“.[64] Gegen die Krise des drohenden Traditionsabbruchs wird so die Weitergabe durch Wiederholung des selbst Empfangenen gewährleistet, auf daß nichts verlorengehe.[65] Hier zieht man den Ort der Gotteswahrheit zurück von den Menschen, er wird exterritorial zu den Entwicklungen und Bemühungen der Menschen bei der Ermittlung und Artikulation von Wahrheit. Wieder einmal wird die Gefahr deutlich, daß sich ein Graben bildet zwischen Glaubensgewißheit und der von den Strukturen der Vernunft geprägten Zeit. Dieser wird geradezu unüberbrückbar, „wenn jede Unsicherheit bei der Identifizierung des zu Glaubenden das ewige Heil des Menschen in Frage stellt.“[66] So mag Verhaltenssicherheit demjenigen gewährt werden, der im Christentum seine sichere Heimat gefunden hat. Was aber ist mit denen, die um ihren Glauben ringen, die zweifeln, suchen; die ihr Leben und ihre Gottesweisheit wirksam werden lassen wollen in der Welt und an der Zeit?

Das Scheitern des modernen Mensch in seinem Verhältnis zum Ganzen, weil er nicht mehr alles fassen kann, was ihm angeboten wird, wurde in der Zeitdiagnose deutlich. Hier nun soll überlegt werden, wie Gott in rechter Weise Namen und Titel in der Welt erlangen kann und somit wirksam wird auf und im Leben der Menschen. Gott in rechter Weise nennen ist jedoch nur möglich, wenn man in kennt, wenn man in Beziehung zu ihm steht. Religionspädagogik sollte deshalb beziehungsstiftend wirken, d.h. es kann nicht angehen, Titel und Namen dessen, zu dem man kommen will, vorzugeben, sondern zu ihnen hinzuführen, die Möglichkeit der freien Wahl und Nennung zu schaffen. Auf diese Weise kann Religionspädagogik zunächst als das Schweigen über Gott, als das nicht reden verstanden werden. Schweigen in dem Sinne, daß man zu hören versucht, was einen im Leben anspricht. Es gilt, sensibel zu machen für Gottes Selbst-Mitteilung, die wir nicht abrufen, sondern nur zu begehen versuchen können. Beim Suchen und Gehen des Weges gilt es, die Fleischwerdung des Gott- Logos [67] zu ergründen und auszuprobieren, ihn je neu zu entdecken und zu verstehen.

7 Auf die Gesprochenheit des Wortes hören

War das noch die Stimme des Alten?

Nein, das war nicht seine, das war eine andere Stimme.

Wer sprach da zu mir?[68]

Die Glaubwürdigkeitskrise der christlichen Kirchen geht einher mit der Krise in der Beziehung des Menschen zu Gott. Diese Beziehungsgeschichte ist die eines Mißbrauchs und nicht wenige meinen, Gott selbst sei ein Geschöpf des Mißbrauchs menschlicher Gefühle. Wer dennoch glaubt, daß etwas mehr als nichts sein könnte, daß Gott etwas anderes ist als die Ausgeburt einer beschädigten Phantasie, der versinkt vielfach in Schweigen angesichts der langen Geschichte mißbräuchlicher Nennung des göttlichen Namens.

Ein Text von Martin Buber kann hier am Beginn des gemeinsamen Weges der Glaubenserfahrung stehen. Er berichtet, wie Buber einem Bekannten aus seinem noch unveröffentlichen Buch vorliest. Dieser fällt ihm ins Wort:

„Wie bringen Sie das fertig, so Mal um Mal Gott zu sagen? Wie können Sie erwarten, daß Ihre Leser das Wort in der Bedeutung aufnehmen, in der Sie es aufgenommen wissen wollen. Was Sie damit meinen, ist doch über alles menschliche Greifen und Begreifen erhoben, eben dieses Erhobensein meinen Sie; aber indem Sie es aussprechen, werfen Sie es dem menschlichen Zugriff hin. Welches Wort der Menschensprache ist so mißbraucht, so befleckt, so geschändet worden wie dieses! All das schuldlose Blut, das um es vergossen wurde, hat ihm seinen Glanz geraubt. All die Ungerechtigkeit, die zu verdecken es herhalten mußte, hat ihm sein Gepräge verwischt.“

Buber entgegnet:

„Es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigen Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gleiche, um das Höchste zu bezeichnen!“[69]

7.1 Eine lebendige Sprache sprechen

Wenn Gott einen Namen hätte, wie würde er lauten?

Und würdest Du ihn mit seinem Namen ansprechen, wenn Du ihm in all seiner Pracht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würdest?

Was würdest Du ihn fragen, wenn Du nur eine Frage stellen könntest?[70]

Religiöse Sprache ist vielfach eine Fremdsprache für den Menschen, Religionsunterricht demnach so etwas wie Fremdsprachenunterricht, so könnte man meinen.[71] Dies führt etwas in die Irre. Es läßt den Kurz-Schluß zu, daß einer eine alte und allgültige Sprache beherrscht, die der andere nur zu lernen hat, um die Zusammenhänge zu verstehen, womit wir wieder beim Weitergabefundamentalismus wären. Der Fremdsprachenunterricht „Religion“ geht beide an. Es gilt die Grammatik der Tradition zusammenzubringen mit den Stilblüten der Gegenwart, um eine lebendige, verstehbare Sprache zu schaffen. Dies bedeutet mehr, als nur eine passende Vokabel für einen Sachverhalt zu finden. Es geht darum, die Fähigkeit zu erlangen, in Sprache um das recht Wort ringen zu können, im ernsten Gespräch stammelnd nach ihm zu suchen. Wenn es ernst wird, ist Verständigung nicht reibungslos und selbstverständlich, dann müssen wir auswählen aus dem Inventar der uns verfügbaren Vokabeln und Signalen. Wenn es ernst wird geht es nicht nur um Information über ein Ereignis, sondern ich selbst bin die Botschaft. Religionsunterricht hat hier die Aufgabe zu erfüllen, die „leibsprachliche Expressivität zu fördern und zu kultivieren“[72]. Seine Herausforderung ist es, zur Authenzität von Selbstmitteilung beizutragen; dem Lernenden zu helfen, daß er nicht von „Selbstdarstellungssurrogaten und -klischees abhängig und auf sie festgelegt“[73] wird. Ihr Ausdruckswille ist so weit zu stärken, daß „sie sich nicht widerstandslos den Techniken und Strategien des jeweils propagierten Self-Managements ausliefern“[74].

Der Religionsunterricht versucht, auf diese Notwendigkeit einzugehen. Angefangen von der Grundschule wird der Religionsunterricht als Sprachenschule verstanden. Was früher Muttersprache war, muß nun in der Regel neu vermittelt werden. Dies wird aber ein mühseliges und unrentables Unterfangen sein, wenn die hier erlernte Sprache keinen Raum findet in der Glaubensverkündigung der Gemeinde und der Kirche, wenn das erlernte Stammeln weggefegt wird durch die Absolutheit mancher Kanzelverkündigung. Der Religionspädagoge Ralph Sauer hat zehn Thesen aufgestellt für eine religiöse Sprache, die aufhorchen läßt.[75] Zwei sind dabei hervorzuheben:

„4. Diese Sprache wird eine suchende, tastende Sprache sein, die zum Weiterfragen ermuntert und kein sicheres Bescheidwissen vortäuscht.

10. Unsere Sprache muß aus dem Schweigen und der Meditation kommen, sonst artet sie in Geschwätzigkeit aus.“

7.2 Für eine Bilder-Sprache

Für Werbick sind Bilder Wege, die notwendig sind für religiöse Sprachkompetenz. Gott teilt sich expressiv mit und fordert damit unser „Ausdrucks-Verstehen“[76], fordert uns selbst zur expressiven Kommunikation heraus. Diese kann nicht geschehen in der festschreibenden Rede, durch die der Angesprochene sich ein Bild machen soll, die ihm abbildet, was Realität zu sein hat. Expressive Sprache fordert uns heraus, wir können sie nur verstehen, wenn wir selber diese Expression zulassen; wenn wir versuchen wahrzunehmen und zu vernehmen, was in der Ich-Botschaft Gottes steckt. Wenn uns nicht bewegt, was ihn bewegt, wenn ich bei mir selbst nicht zum Ausdruck kommen lasse, was mich fasziniert und änstigt, wird der Geist ausgelöscht, noch bevor er uns in Brand stecken kann. Gott kommt für Werbick hier zur Sprache als der, „der mich zuletzt und zutiefst angeht“[77]. Nicht im Abbild, sondern in Metaphern kann es zur expressiven „Selbst-Mitteilung“[78],zur unmittelbaren Offenbarung Gottes kommen. In Metaphern wird versinnbildlicht, aber nicht abgebildet; es wird genannt, aber nicht begrifflich festgelegt; hier wird Gottes Wesen und Wollen ausgesprochen, aber kein Glaubenssatz davon abgeleitet.[79]

8 Weggefährtenschaft auf den Spuren Gottes

Still, wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat.

Und traurig, wie eine Kindheit ohne Licht.

So schaut Gott zu uns herein, muß ich plötzlich denken.

Einst dacht ich, er hätte tückische, stechende Augen ...[80]

Die Regelform schulischer Vermittlung von religiösem Wissen sei der Religionsunterricht, wird in einem Bericht der FAZ[81] betont. Es geht um die Klageschrift gegen das Brandenburgische Schulgesetz, in dem das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religion das Grundrecht von Eltern und Schülern auf das ordentliche Unterrichtsfach Religion unterlaufe. Der Religionsunterricht habe jedoch in „Übereinstimmung mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Staat als ordentliches Lehrfach in der Erwartung und Intention durchgeführt [zu werden], daß seine Bürger durch die religiöse Bildung und Bindung der Persönlichkeit befähigt werden, das kulturelle Erbe der großen Tradition des Abendlandes kennenzulernen und verantwortungsvoll und mit Selbstdisziplin die großen mißbrauchsgefährdeten Freiheiten auszuüben, die die freiheitlich demokratische Staatsform ihnen zur Verfügung stellt.“[82]

Religion als Spielball juristischer Spitzfindigkeiten, als Bewahrer und Vermittler der unerlässlichen Voraussetzungen des Zusammenlebens; Selbstverantwortung, politischer Mitverantwortung und Toleranz. Die Zeitdiagnose stand nicht umsonst unter dem Zitat Ödon von Horváth: „ Von Gott spricht keiner.“ Das Wagnis des Glaubens wird nicht in der Beziehung des Menschen als Subjekt zum Ganzen verstanden, zum Ewigen Du [83] , zum absoluten Geheimnis unseres Lebens, zu Gott. Religion erfährt immer wieder die Instrumentalisierung durch eine weltliche Idee. Kritiker sehen gerade die christlichen Kirchen in ihrer Geschichte als Handlanger der Mächtigen, Parteigänger der Reichen. Die Glaubens-Krise hat ihre Ursache in der Frage der Glaubwürdigkeit der Glaubensverkündigung. Der Weg aus der Krise wird mit Sicherheit nicht glaubwürdig sein, wenn es eine Frage des Recht-Bekommens ist; wenn die Macht in Form der Legislative und Judicative aufgerufen werden, sich auf die Seite der Glaubenstradition zu stellen.

Es gibt einen interessanten Gedanken zu unserer Problematik. Martin Buber schrieb ein Essay auf die Frage, was mit den Zehn Geboten geschehen solle. Er macht beispielhaft deutlich, wie die Unbedingtheit der Erfahrung, von Gott angesprochen zu werden, in der Menschheitsgeschichte immer wieder aus dem Bereich der Religion in den Bereich der Moral und, da diese Sicherung sozialer Interaktion unzureichend ist, in die Sphäre des Rechts übertragen werden. Aus dem „Ich-zu-Dir“ der Anrede Gottes meint man die „Sprache der Wenn-Festsetzung“ ableiten zu können. Dies ist für Buber nicht unstatthaft, wenn Mensch nicht beansprucht, das Original zu zitieren: „Hier ist Plagiat rechtmäßig, Zitat nicht.“ Er meint, daß selbst auf die Gefahr hin, als für „unsere Zeit Verloren aufgegeben“ zu gelten, mit den Zehn Geboten folgendes anzufangen sei; zu ihnen hinzuführen.

„Nicht zu einer Buchrolle, nicht einmal zu den Steintafeln, auf die sie einst, nachdem sie gesprochen waren, ´der Finger Gottes` grub, sondern zu der Gesprochenheit des Wortes.“[84]

8.1 Herausforderung an die Religionspädagogik

Kann der Glauben an der Zeit verkündet werden? Wie ist von Gott zu sprechen, wie erfahren wir uns von Gott angesprochen angesichts der postmodernen Zeit und ihrer Herausforderungen? Fragen, in denen es zunächst nicht um Wahrheit geht, sondern um eine Hinführung, um Begleitung junger Menschen im Werden und Gestalten ihrer Biographie. Fragen einer Pädagogik des Glaubens. Einer Pädagogik, die glaubender und das Ganze suchender Pädagogen bedarf. Menschen, die sich selber als auf-dem-Weg-seiend erfahren, die gerade darum als Weggefährten in Frage kommen. Doch die Antwort, die Martin Buber zu geben wagt, scheint utopisch:

„Wenn aber die Gesellschaft sich unterfinge, ihre Stimmlose Moral und ihr gesichtsloses Recht für ebendasselbe, für das Wort, nur zeitgemäß aus dem überholten und abergläubigen Drum und Dran hervorgeschält, auszugeben, dann wäre etwas geschehen, was noch nicht geschehen ist; und vielleicht wäre es dann für die Gesellschaft zu spät zu merken, daß es einen gibt, der es sich verbittet, von Bütteln und Henkern bedient zu werden.“[85]

Wie dies im Einzelnen geschehen soll, hängt von den Komponenten der Situation des Ortes der Weggefährtenschaft ab, vor allem auch von der Frage, ob der Religionslehrer sich unterstützt erfährt in seinem Bemühen. Wenn Eltern ihren Teil zur Glaubensvermittlung beitragen, wenn die Gemeinde als Ort des gelebten Glaubens die Erfahrung der Spurensuche mitträgt, wenn die sogenannte Amtskirche den Mut aufbringt, die Wahrheit des Glaubens im Dialog zu suchen, dann mag die „gewagte, katastrophale, erlösende Situation des Glaubens“[86] gelingen.

8.2 Die Stimme des Ewigen Du

Wenn wir angesprochen werden, wissen wir meist, mit wem wir es zu tun haben. Wenn wir es nicht wissen, fragen wir nach. Wahre Beziehung mit einem Gegenüber ist nicht auszuhalten, ohne seine Bedeutung für uns fraglich zu machen. Auf diese Weise geben wir der Beziehung ihren Wert, bekommt der Andere seinen Namen und vor allem seinen Titel - Freund, Vorgesetzter, Nachbar, Gefährte etc. Die beziehungstiftende Bedeutung der Benennung des Anderen wird auch am Beispiel des christlichen Glaubens deutlich. Mt. 16,15 zeigt die ganze Zwiefältigkeit von Beziehung auf. „Für wen aber haltet Ihr mich?“ Dies ist die Frage, von deren Antwort die Dimension des Christseins im Einzelnen abhängt. Wenn wir Jesus Christus Titel und Sitz in unserem Leben geben können, wenn wir ihn durch die Benennung wahr werden lassen, sein Name wirklich wird, können wir glaubwürdig Christen sein. Es ist aber gerade die Reaktion Jesu auf seine Benennung durch Petrus, die Gegenseitigkeit, die Grundlage wirklicher Beziehungsfähigkeit seiner Botschaft ist. „Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“[87]

Die Fähigkeit, benennen zu können, was einen im Ursprung bewegt, wessen die Stimme des Ewigen Du ist, unterscheiden zu können, was Gott und was Götze ist in der Vielfalt der Anfrage, sollte Ziel religiösen Lernens sein. Im Auge muß dabei behalten werden, daß die Spannung von Ideal und Wirklichkeit spürbar bleibt, daß die ursprüngliche Erfahrung des Ganzen wohl immer Utopie bleiben wird. Daher sind die Fragen, die es möglich machen, Gott in der eigenen Biographie zu benennen, immer überschattet von den Fragen an diejenigen, die religiöse Sprache gelehrt haben. Diese Parallelität von Ganzheitssehnsucht und Realitätserfahrung ist durch nichts aufzuheben, ohne einen Kurzschluß an der Wirklichkeit zu provozieren.

Wer ist das Ich, daß mich mit Du anspricht? - Wer übersetzt das Gesprochene?

Wie werde ich angesprochen? - Wie wird mir übersetzt?

Was hat dieses Ich mir zu sagen? - Was wird mir als dieses Ich überliefert?

8.3 Und Gott?

Es braucht nicht viel Mut, in der Herausforderung der Zeit Gott zur Sprache zu bringen, da alles, was einigermaßen von Interesse zu sein scheint, seinen Raum im gesellschaftlichen Dialog erhält. Die Frage ist, ob das Sprechen von Gott einen Sinn macht? Die Tonlosigkeit seiner Anrede ist gerade eine Folge des Geschwätz um seinen Namen. Der Mißbrauch ist aufgezeigt worden, aber auch die Notwendigkeit, die gerade aus dem Mißbrauch entsteht, seinen Namen neu zu sprechen. Diese Beziehung wird dann entstehen, wenn sie in einer lebendigen Sprache vollzogen werden kann. Nur die Vokabel für Gott reicht nicht, man muß sich ein Bild machen können, um einen Weg zu ihm, mit ihm zu finden. Religiöse Erziehung als Lehre einer lebendigen Sprache wird darum unbedingt zu vermeiden haben, diesen seinen Namen zu mißbrauchen, d.h. sich seiner zu bedienen mit einer persönlich bedingten Intention. Für den Erzieher heißt dies, Weggefährte zu sein, dessen Einwirkung auf den Gegenüber sich letztendlich beschränkt erfährt durch „dieses so fast unmerklich Hinzutretende, dies leiseste, ein Fingerheben vielleicht, ein fragender Blick, ... [als] die andere Hälfte des erzieherischen Geschehens.“[88] Man geht nicht voraus, um so den Weg zu weisen, der zu gehen ist, sondern man nimmt selber Anteil an dem Weg des Anderen, in der Begegnung wird ein gemeinsamer Weg gesucht.

Die Erfahrung des lebendigen Wortes, die in den Fußspuren Jesu Christi möglich werden, sie lassen den Einzelnen Gott zur Sprache bringen, denn auf diesem Weg[89] wird deutlich werden, was notwendig ist. In der Zeugenschaft des Erziehers sollte erkennbar sein, daß „Ich-Botschaft und Ich-Identität niemals ´fertige` Größen sind, sondern Botschaften und Bedeutungen, die sich auf einen immer wieder neu zu definierenden und zu identifizierenden Weg beziehen und auf die Spuren, in denen man seinen Weg sucht.“

Für den christlichen Pädagogen - im Übrigen nicht nur als Religionspädagoge - heißt dies, sich rückhaltlos in diesen gemeinsamen Weg einzubringen, etwas von dem zu verwirklichen, was der Wegbereiter selber als sein Versprechen gab. Da zu sein, alle Tage, bis ans Ende der Welt.

9 Auf den Weg bringen - die Rolle des Religionsunterrichtes

Heute glaube ich an Gott, aber ich glaube nicht daran, daß die Weißen die Neger beglücken, denn sie bringen ihnen Gott als schmutziges Geschäft. Und ich sage es ihm.

Er bleibt ganz ruhig. „Das hängt lediglich von ihnen ab, ob sie ihre Sendung mißbrauchen, um schmutzige Geschäfte machen zu können.“

Machen wir uns nichts vor, Religionslehrer zu sein bedeutet in stärkerem Maße zwischen den Stühlen zu sitzen als es Lehrer wohl ohnehin gewohnt sind. Nirgendwo scheint die Öffentlichkeit dermaßen sensibel zu reagieren wie in Fragen der Religion, vor allem wenn es um die zwei christlichen Kirchen geht, die in der Geschichte unseres Landes den Institutionen der Macht in einem besonderen Maße nahe standen. Die Fülle von Vorurteilen und allgemeinen Verdächtigungen machen aber deutlich, daß nicht ein religiöser Anspruch Auslöser ist, sondern eher der Wunsch, beim Schwimmen mit einem Strom im Rudel zu bleiben. Es wird aber auch leicht gemacht: Gerechtfertigt scheint ein Mißtrauen gegen beinah alle Belange der Kirche, von den Laien über die Priester bis in die Spitze der Hierarchie, sowie gegenüber dem gesamten Verwaltungsapparat. Eine eigentümliche Sorge geht davon aus, daß die Kirchen vorrangig Ziele zu ihrer Machterhaltung verfolgen. Ziele, die vor den Fragen der Vernunft nicht mehr glaubwürdig sind, formuliert in einer Sprache, die immer weniger verstehen können und wollen, in einer Form, die viele mit dem Mittelalter gleichsetzen. Mehrheitlich heißt dies aber nicht, daß diese Form der Sensibilität zu einem neuen Umgang mit der christlichen Botschaft führen würde, daß Kirchengeschichte und Tradition zu einem neuen österlichen Aufbruch im Glauben führt. Religion ist, soweit sie einem bewußt ist, Privatsache, eigenverantwortlich der individuellen Vernunft, sinngebend für die Zukunft des Subjekts. Anstatt Kinder über die Geschichte des Kreuzes aufzuklären, die semiotische Sprache deutlich zu machen, durch die das Kreuz eben nicht nur als Symbol des Leidens und Sterbens verstanden werden kann, wird es angeklagt, soll es aus dem Blickfeld verschwinden. Nicht als Stein des Anstoßes, sondern als Relikt einer vergangenen, unglaubwürdigen Geschichte.

Die bewegende Frage an Christen in der Gegenwart ist die nach ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit.[90] Kernfrage der Zukunftsfähigkeit: Werden unsere Kinder noch Christen sein? Sicherlich wäre eine Antwort darauf Spekulation, aber analytisches Nachdenken in einem futurologischen Prozeß[91] und die alltägliche Beobachtung des Kirchenbildes dürfen selbst notorische Optimisten aufhorchen lassen.

Für den Religionslehrer sieht es so aus, daß er zwar konfessionell gebundene, aber im Grunde der Kirche fern stehende Schüler zu unterrichten hat. Kinder, in deren Elternhaus die Vokabel Gott keine Rolle spielt, wo mit Gott abgeschlossen ist. So hat der Religionsunterricht womöglich ganz weit vorne anzufangen. Mehr noch als die Schüler dort abzuholen wo sie stehen und Religion in ihr Leben zu inkulturieren, gilt es, zuerst die Voraussetzungen zu schaffen, religiös denken, sprechen und unterscheiden zu können. Schulischer Religionsunterricht kann nicht mehr sein, als hinzuführen in eine Sprachlichkeit, in der die Sprechenden fähig sind, die entscheidende Frage ihrer Beziehung zu Religion frei und sich-selbst-fähig zu beantworten. Wer aber bin ich für Euch? Mehr noch, wer aber bin ich für Dich?

Natürlich ist hier einzuwenden, kann aus der Intention des Erziehers die Antwort nicht beliebig sein. Man erhofft sich von dieser Antwort etwas, in der Regel nicht weniger als alles. Unsicherheit in der Lebensentscheidung soll vermieden werden durch die Fähigkeit, das Ganze des Lebens in den Blick zu nehmen, den sicheren Weg der Nachfolge zu gehen.

Religionsunterricht, der sich viele gute und dazu noch kirchentreue Christen als Ergebnis vornimmt, provoziert Enttäuschung aller Beteiligten. Vor allem aber zur Enttäuschung der Hoffnungen der Schüler, die sich erneut um Gott betrogen erfahren.[92] Umsomehr, wenn sie erleben, daß das Zeugnis ihrer Erzieher nicht glaubwürdig ist. Dies ist daher die grundlegende Herausforderung an die Religionspädagogen, nicht überzeugend zu sein, sondern glaubwürdig; nicht nach dem Zeitgeist zu tanzen, sondern ihn glaubwürdig zu hinterfragen; nicht den Weg zu Gott weisen, sondern ihn glaubwürdig zu suchen; nicht die Wahrheit verkünden, sondern glaubwürdig zu machen, daß alles auf die Wahrheit hinweist.

Von einem Weg zu begeistern kann nur gelingen, wenn man selber davon überzeugt ist, daß es ein guter Weg ist, wenn man die Erfahrung der Begehbarkeit selber gemacht hat. Es heißt aber auch, umzukehren, um sich mit anderen neu auf diesen Weg zu machen. Der Weg wird dadurch begehenswert, daß sich ein Vermittler mit den Anderen in Beziehung setzt. Wenn deutlich wird, daß er auf diesem Weg nicht weit weg ist, sondern mittendrin. Wenn deutlich wird, daß er die Wahrheit nicht hat, sondern einen Glauben, und wenn er das Leben annimmt, in dem seine Hoffnungen gegenwärtig Erfüllung finden sollen und können. Ob der einzelne in seiner Biographie einen christlichen Weg zu finden sucht, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der Christen ab, sich als interessante Alternative darzustellen.

Die Grundthese für die Zukunftsfähigkeit des Christ-Seins in unserer Gesellschaft mag deshalb fordern, die Identität des Christlichen deutlich zu machen durch die gelebte Suche in den Fußspuren Jesu Christi in einer Gemeinschaft von Weggefährten.[93]

10 Literaturhinweise

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Buber, M.,Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie. In: Ders, Werke Bd. 1. Schriften zur Philosophie. Bd. 1. München 1962.

Buber, M., Reden über die Erziehung. In: Ders., Werke Bd. 1. Schriften zur Philosophie. München 1962, S. 783-832.

Buber, M., Was soll mit den Zehn Geboten geschehen? In: Ders., Hinweise. Zürich 1953, s. 174-179.

Höhn, H.-J., Gegenmythen. Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart. Quaestiones Disputatae 154. Freiburg 1994.

Horváth, Ö.v., Jugend ohne Gott. Frankfurt 19921.

Müller, M./Halder, A. (Hg.), Herders kleines philosophisches Wörterbuch. Freiburg 1958.

Postman, N., Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt/M. 1988

Sauer, R., Die Sprachnot der Verkündigung und Wege aus der Krise, in: Themenhefte Gemeindearbeit 25, 1/1996, S. 4-11.

Schnitt, K.H./Hoeren, J. (Hg.), Werden unsere Kinder noch Christen sein? Freiburg 1995.

Sölle, D./Metz J.B., Welches Christentum hat Zukunft? Stuttgart 1990.

Werbick, J., Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen. Düsseldorf 1992.

Werbick, J., Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre. München 1992.

Werbick, J., Vom Wagnis des Christseins. Wie glaubwürdig ist der Glaube? München 1995.

Themenhefte Gemeindearbeit 25, 1/1996. Verlag Bergmöser & Höller, Aachen.

Zuhlehner, Pastorale Futurologie, in: Ders., Pastoraltheologie Bd. 4. Düsseldorf 1990,

[...]


[1] Horváth, Jugend ohne Gott, S. 20.

[2] Wie etwa das Buch von Schmitt & Hoeren (Hg.), Werden unsere Kinder noch Christen sein?

[3] Müller & Halder (Hg.), Herders kleines philosophisches Wörterbuch.

[4] Höhn, Gegen-Mythen - Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart, S. 71.

[5] So ein Buchtitel des Kölner Theologen Hans-Joachim Höhn, Paderborn 1992.

[6] Werbick, Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen, S. 31.

[7] Vgl. Werbick Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen, S. 32. Kritisch und aufmerksam beleuchtet er hier diese Form der Identifizierung und Unterscheidung des Christlichen.

[8] Höhn, Gegen-Mythen - Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart, S. 143.

[9] Vgl. Höhn, Gegen-Mythen, S. 141.

[10] Höhn, Gegen-Mythen, S. 143.

[11] Horváth, S. 87.

[12] Vgl. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 36.

[13] Ein Beispiel ist der Informations-über-fluß der heutigen Zeit. Aktuell sind es die täglichen Nachrichten aus Tschechien, Polen und dem Oderbruch. Eine Diagnose zum Umgang mit diesen Nachrichten weiter unten im Abschnitt "Wir amüsieren uns zu Tode“.

[14] Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 35.

[15] Schulze nennt einige Beispiele. Vgl. Die Erlebnisgesellschaft S. 37.

[16] Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 38.

[17] Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 46.

[18] Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S.62. Orientierungshilfen sind für Schulze: Stil und Stiltypen, alltagsästhetischen Schemata, soziale Milieus, Rationalität von Erlebnisnachfrage und Erlebnisangebot, Szenen.

[19] Vgl. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 63. Auf das Phänomen der IN/OUT Kolumnen in beinah jedem volkseigenem, überparteilichen Meinungsmacherblatt oder den sogenannten Szeneheften wurde schon hingewiesen.

[20] Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 65.

[21] Vgl. Höhn, Gegenmythen, S. 133. Im Sommersemester 1994 habe ich bei Prof. Höhn für das Hauptseminar „Urbanität und Religiösität“ eine Arbeit über diese Klagemauer geschrieben.

[22] Zur Bedeutung von Sprichwörtern im gesellschaftlichen Kontext vergleiche: Edusei, Religion ist die Erde auf der wir Leben - Ein Afrikaner erzählt von der Kultur der Akan, S. 171-175.

[23] Vgl. dazu Höhn, Gegenmythen, S. 66ff,im Abschnitt: Gezeiten des Daseins: Kategorien theologischer Zeitdiagnose.

[24] Über Trassenführeng der ICE-Neubaustrecke von Nürnberg nach München wird seit Jahren diskutiert; es geht dabei um eine Zeitersparnis von unter fünf Minuten.

[25] Höhn, Gegenmythen, S. 82.

[26] Vgl. Höhn, Gegenmythen , S. 61.

[27] Höhn, Gegenmythen, S. 79.

[28] Vgl. Höhn, Gegenmythen, S. 59.

[29] Höhn, Gegenmythen, S. 66.

[30] Höhn, Gegenmythen, S. 56.

[31] Werbick, Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen, S. 9. Geradezu unermütlich sucht Jürgen Werbick, Wege aufzuzeigen, begehbar zu machen, denen, die sich als Christen den Herausforderungen der Zeit stellen wollen. Sympathisch und glaubwürdig zeigt sich Werbick dabei als einer, der mitgeht, dessen Weg ein Stammeln ist, der seine Theologie als „hemdsärmelig“ bezeichnet. Gerade diese Ungewißheit in seiner Aussage macht sein persönliches Zeugnis glaubwürdig.

[32] Höhn, Gegenmythen, S. 80.

[33] Vgl. Höhn, Gegenmythen, S. 96.

[34] Vgl. Höhn, Gegenmythen, S. 139.

[35] Höhn, Gegenmythen, S. 101.

[36] Höhn, Gegenmythen, S. 145.

[37] Horváth, S.87.

[38] Postman, Wir amüsieren uns zu Tode - Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, S. 14.

[39] Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 17. Hingewiesen sei hier auch auf eine frühere Arbeit von Postman: Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt 1983.

[40] Vgl. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 20. In der Geographie spricht man von Serialisierung, die dort herrscht, wo zwischen dem Ursprung und der Erfahrung eine Kette von Ereignissen existiert, die den Ursprung unsichtbar oder gar vergessen machen. Strom kommt ja aus der Steckdose und Milch aus dem Supermarktregal.

[41] Vgl. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 15. Postman nimmt als Beispiel die Kommunikationstechnik der Rauchzeichen. Es ist anzunehmen, daß mit ihnen komplexe Gedanken über das Wesen des Daseins nicht zu übermitteln wären - ansonsten dürfe man mit Recht schlußfolgern, daß der amerikanische Kontinent entwaldet wäre.

[42] Das Morse eigentlich Maler war und Mitbegründer der National Academy of Design in New York erfährt man allenfalls im Lexikon, hier: Der Große Brockhaus, Bd. 8, S. 152, Wiesbaden 1955.

[43] Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 86.

[44] Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, s. 86. Er nimmt hier die Wettervorhersage und mit Abstrichen die Börsenberichte heraus.

[45] Vgl. Postman, Das Verschwinden der Kindheit. S.97ff. Postman bezeichnet das Fernsehen als Medium der totalen Enthüllung, da keine kognitive Begrenzung der Verfügbarkeit an Information bestehe. Dies steht ganz im Gegensatz zum Geschriebenen, daß erst durch die Fähigkeit des Lesens zugänglich wird.

[46] Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 106.

[47] Vgl. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 110.

[48] Vgl. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 161.

[49] Vgl. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 190

[50] Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 130.

[51] Vgl. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S. 198.

[52] Horváth, S. 101.

[53] Vgl. Bravo Nr. 30, 17. Juli 1997, S. 4-5.

[54] Vgl. Höhn, Gegenmythen, 34-39.

[55] Höhn, Gegenmythen, S. 45.

[56] Horváth, S. 50.

[57] Vgl. Werbick, Vom Wagnis des Christseins - Wie glaubwürdig ist der Glaube?, S. 25. Für Werbick ist es mehr als nur ein Phänomen der katholischen Kirche, sondern des Christentums in der heutigen Zeit an sich, zumindest in der westlich-abendländischen Kultur.

[58] Vgl. Werbick, Vom Wagnis des Christseins , S. 26.

[59] Werbick, Vom Wagnis des Christseins , S. 32.

[60] Werbick, Vom Wagnis des Christseins , S. 32.

[61] Vgl. Werbick, Vom Wagnis des Christseins , S. 162-164.

[62] Werbick, Vom wagnis des Christseins, S. 163. In Anbetracht von Werbicks umsichtiger, fragender, beinah tastender Weise, Theologie zu begehen und dabei jede pauschale Kritik an den Verhältnissen zu vermeiden, ist dieses Urteil von besonderer Schärfe und Kritik. Hingewiesen sei hier auf seine Gedanken zur Identität des Christlichen, die stark vom Gedanken der Selbstmitteilung Gottes ausgehen, in: Werbick, Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen.

[63] Horváth, S. 95.

[64] Vgl. Werbick, Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen, S. 48.

[65] Werbick, Vom Wagnis des Christseins , S. 49.

[66] Werbick, Vom Wagnis des Christseins , S. 51.

[67] Vgl. J. Werbick, Bilder sind Wege, S. 297.

[68] Horváth, S. 95.

[69] BUBER, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, S. 508-510.

[70] Aus: Themenhefte Gemeindearbeit 25, 1/1996. Übersetzung aus dem Lied one of us von Joan Osborne

[71] Vgl. Werbick, Bilder sind Wege, S. 53.

[72] Werbick, Bilder sind Wege, S. 57.

[73] Ebd.

[74] Ebd.

[75] Vgl. Sauer, Die Sprachnot der Verkündigung und Wege aus der Krise S. 10.

[76] Werbick, Bilder sind Wege, S. 63.

[77] Werbick, Bilder sind Wege, S. 64.

[78] Werbick, Bilder sind Wege, S. 62.

[79] Vgl. Werbick, Bilder sind Wege, S. 64.

[80] Horváth, S. 148.

[81] Vgl. „Neue Verfassungsbeschwerde gegen das brandenburgische Schulgesetz“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 184, 11.08.1997, S. 1 & 2.

[82] Ebd.

[83] So Martin Buber.

[84] Buber, Was soll mit den Zehn Geboten geschehen? 1962, S. 895-899.

[85] Ebd.

[86] Ebd.

[87] Vgl. Mt. 16,18.

[88] Buber, Reden über die Erziehung. 1962, S.793.

[89] Vgl. Werbick, Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen, bes.: Der Weg und die Botschaft, 66-71.

[90] Wenn es hier um Zukunftsfähigkeit des Christentums geht, ist zunächst die Kirche in Deutschland gemeint. Ähnliche Erscheinungen sind sicherlich in den europäischen Ländern und in Nordamerika zu finden. Probleme gibt es auch in den sog. Dritte-Welt-Kirchen (J.B.Metz), diese sind aber zunächst anderer Natur.

[91] Vgl. Zulehner, Pastorale Futurologie, S.16 - 35.

[92] Vgl. dazu Biesinger: Kinder nicht um Gott betrügen, S. 34-53.

[93] Dies ist eigentlich der Beginn einer neuen Diskussion. Diese kann verfolgt werden bei J.B. Metz und D. Sölle, u.a. in dem Heftchen: Welches Christentum hat Zukunft, Stuttgart 1990.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Ästhetisierung der Lebenswelten
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veranstaltung
Hauptseminar für Religionspädagogik der Katholisch-Theologischen Fakultät
Autor
Jahr
1997
Seiten
30
Katalognummer
V96029
ISBN (eBook)
9783638087063
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lebenswelten, Hauptseminar, Religionspädagogik, Katholisch-Theologischen, Fakultät
Arbeit zitieren
Julian Alexander Staratschek (Autor:in), 1997, Ästhetisierung der Lebenswelten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96029

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