Die Verfügbarkeitsheuristik


Seminararbeit, 1997

26 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Soziale Informationsverarbeitung
1.1 Soziale Kognition
1.2 Urteile, Fehler und kognitive Täuschungen
1.3 Urteilsheuristiken
1.4 Kahnemann & Tversky's Forschungsprogramm
1.4.1 Repräsentativität
1.4.2 Urteile bei kategorialen Vorhersagen
1.4.3 Urteile bei numerischen Vorhersagen

2.Verfügbarkeitsheuristik
2.1 Verfügbarkeit
2.2 Experimente von Tversky & Kahnemann
2.2.1 Schätzung der Häufigkeit von Wörtern
2.2.2 Permutationen
2.3 Verfügbarkeit und soziale Wahrnehmung

3. Kritik an der Erklärung von Kahnemann & Tversky und eine neue Sichtweise der Verfügbarkeitsheuristik
3.1 Die Logik des Experiments
3.2 Experiment 1
3.3 Experiment 2
3.4 Experiment 3
3.5 Ergebnisse

4. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Soziale Informationsverarbeitung

1.1 Soziale Kognition

Innerhalb eines neueren Ansatzes der Sozialpsychologie wird versucht, soziale Prozesse als Verarbeitung sozialer Information zu beschreiben. Charakteristisch für dieses Forschungsgebiet der sog. ,,Sozialen Kognition" ist die Erklärung sozialen Verhaltens unter Berücksichtigung der damit einhergehenden kognitiven Prozesse. Soziales Verhalten stellt dabei das Ergebnis eines komplexen Prozesses der Rezeption externer Stimuli und dem, als beobachtbares Verhalten, sichtbaren Verarbeitungsprozeß dar, in dem die Kognitionen das wesentliche Bindeglied darstellen.

So sind die untereinander verknüpften Elemente des Informationsverarbeitungsprozesses - wie Wahrnehmung, Kategorisierung und schließlich Entscheidung - immer nur verständlich in ihrer Wechselwirkungsbeziehung zwischen sozialer Umwelt und individueller Kognition. Keinesfalls beschränkt sich der kognitive Aspekt nur auf rein intellektuelle Fähigkeiten oder abstrakte Denkprozesse wie es vielleicht einige der frühen Experimente von Kahnemann & Tversky erscheinen lassen: Emotion und Kognition, kognitive Täuschungen, Risikoverhalten, Intergruppenphänomene u.a. sind Einzelaspekte dieser Forschungsrichtung, deren Interessen sich in der Zukunft noch wesentlich erweitern dürften.

1.2 Urteile, Fehler und kognitive Täuschungen

Daß eine Sichtweise, welche die heutige kognitiv orientierte Sozialpsychologie einnimmt, nicht ganz so neu ist, wie anfangs erwähnt, zeigt ein Zitat von René Descartes (1993, S. 80) aus seinen ,,Meditationes de prima philosophia" von 1641:

(...) Da indessen die Notwendigkeit zu handeln uns zu einer so genauen Prüfung nicht immer Zeit läßt, so kann man nicht leugnen, daß das menschliche Leben häufig in Einzelheiten dem Irrtum ausgesetzt ist, und man muß am Ende die Schwäche unserer Natur anerkennen.

Ausgehend von einem normativen Modell, welches den Menschen als einen rein rationalorientierten Informationsverarbeiter charakterisiert (wie es noch für das Attributionsmodell von Kelley typisch ist), müßte man annehmen, daß Entscheidungen und Urteile in den allermeisten Fällen zu richtigen und exakten Ergebnissen führen. Die Tatsache aber der Fehlbarkeit menschlicher Urteile scheint indessen weit eher ein Charakteristikum des Menschen, eben ,,die Schwäche unserer Natur" zu sein.

Was sind nun aber kognitive Fehler und Täuschungen?

Die Tatsache, daß Menschen bei der Urteilsbildung Fehler begehen oder bestimmten Verzerrungen unterliegen ist noch längst kein Grund für die Irrationalität solchen Handelns. Denn solche Urteile entstehen meist unter bestimmten Bedingungen, wie Unsicherheit, begrenztes Vorwissen oder Zeitnot. Gerade darin könnte sich aber auch sinnvolles Handeln verbergen, denn unter diesen Bedingungen ist es unter Umständen notwendig anhand einfach- strukturierter Prozesse zu handlungsleitenden Urteilen zu kommen. Problematisch scheint dabei eher die Sicherheit zu sein, die sich häufig bei der Nutzung von Urteilsheuristiken zeigt und die subjektive Ü berzeugung, daß es sich dabei um völlig rationale und normativ-gültige Urteile handelt. Wenn in sozialen Urteilssituationen einerseits die Notwendigkeit des Handelns, aber auch die Fragwürdigkeit der Kriterien immer wieder selbstkritisch bedacht würden, dann wären möglicherweise solche schwerwiegenden Folgen, wie sie in der Anwendung solcher heuristischer Strategien auf den Bereich ,,menschliches Versagen" im Kontext technologischer Risiken auftreten, vermeidbarer. Eine Anwendung solcher kognitiver Operationen auf menschliches Fehlverhalten und daraus resultierende Risiken und Katastrophen im Bereich moderner Technologien findet sich in Reason (1994). Aus diesem Grund können solche Fehlerkonzepte immer nur an bestimmten normativen Modellen gemessen werden, wobei die Gültigkeit solcher Modelle selbst immer fraglich bleibt.

Zudem unterliegen Urteile und Entscheidungen nicht nur einfachen Kausalbeziehungen, in denen nur Gedächtnisinhalte zu Urteilen führen, sondern ebenso bedingen situationsspezifische Faktoren die Aktivierung spezifischer Gedächtnisinhalte (vgl. z.B. die Schema-Theorie). Darin zeigt sich schon die begrenzte Reichweite solcher engen normativen Modelle.

Legt man nun an die menschliche Urteilskraft einzig den Maßstab eines eindeutig richtig oder falschen Ergebnisses, insbesondere im Blick auf abstrakte und formale Denkprobleme an, zeigt sich darin die Schwäche menschlicher Urteilsfähigkeit in ihrer fatalen Konsequenz: wenn schon beim Schätzen von Wahrscheinlichkeiten solche immensen Fehler auftreten, können wir dann überhaupt unseren Urteilen vertrauen, oder sind Fehlurteile nicht eher die Regel als die Ausnahme in menschlichen Denkprozessen? Eine grundsätzliche Fragwürdigkeit menschlicher Erkenntnisfähigkeit wäre die Konsequenz einer solcher Interpretation der empirischen Befunde.

Obwohl Descartes genau diese Frage mit ihrer radikalen Kritik an der Erkenntnisfähigkeit zu beantworten suchte und in der Folge die Rationalität als einzig sichere Ausgangsbasis für sicheres Wissen postulierte, wußte er aber auch, daß ,,die Notwendigkeit zu handeln uns zu einer solchen Prüfung nicht immer die Zeit läßt" (Descartes, 1993).

Rationale Erkenntnissuche und die Notwendigkeit im menschlichen Alltag Entscheidungen zu treffen, stellen uns also vor ein Problem, welches uns zur Entdeckung der Urteilsheuristiken führt.

1.3 Urteilsheuristiken

Neben der klassischen Einteilung in drei unterschiedliche Heuristiken, findet sich in Kahnemann & Tversky (1982) noch eine vierte, die aber in Tversky & Kahnemann (1973) bereits als ,,retrieval of occurrences and construction of scenarios" ( S. 175ff) erwähnt wird und später zur ,,Simulationsheuristik" wird.

Fiedler (1996) gibt dazu einen Überblick:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Gerade die Fehler und Irrtümer, die Menschen bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben machen, zeigen - neben ihrer Abweichung von einer abstrakten Norm - auch die Wege menschlicher Erkenntnisbemühung auf und dienen damit als ,,Quelle der Erkenntnis, die zum Verständnis der Dynamik von Urteilsprozessen beitragen kann." (Strack, 1985, S. 239) Fiedler (1996, S. 157) definiert die Heuristik allgemein als ,,ein kognitives Werkzeug, welches das soziale Individuum in die Lage versetzt, durch vereinfachte »Daumenregeln« Urteile zu treffen, die keinen großen Aufwand erfordern, jedoch häufig zu recht guten Ergebnissen führen."

Wenn wir beispielsweise die Aufgabe erhalten, das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu schätzen, oder ähnliche Häufigkeitsschätzungen durchführen sollen, so haben wir (ohne spezielle Kenntnisse gesammelt zu haben) dazu in aller Regel keine validen Informationen. Trotzdem machen wir uns daran, zu einem Urteil zu kommen und möglicherweise auch eine bestimmte Entscheidung damit zu verknüpfen, so z.B. den Entschluß mit dem Rauchen aufzuhören oder die Eßgewohnheiten zu ändern.

Wie kommen wir nun zu einem solchen Urteil, wenn die dafür notwendigen Daten und validen Informationen nicht zugänglich sind?

Die naheliegendste Quelle zur Ermittlung eines möglichst zutreffenden Urteils ist dabei das Gedächtnis: wir versuchen also Menschen zu erinnern, die einen Herzinfarkt erlitten haben und registrieren nebenbei die Schwierigkeit, bzw. Leichtigkeit, mit der uns solche Beispiele einfallen (,,the ease with which they come to mind"). Je nach der Anzahl der erinnerten Personen, der Leichtigkeit des Abrufs aus dem Gedächtnis oder auch der Bedeutung, die ein bestimmtes Ereignis in unserer Erinnerung besitzt, entstehen dabei Verzerrungen und Fehler im Vergleich zu einem objektiv ,,richtigen" Ergebnis. Subjektiv gesehen ist diese Schätzung dennoch vernünftig und führt in vielen Fällen auch zu objektiv richtigen Ergebnissen, da ja die Häufigkeit des Auftretens von Ereignissen oftmals mit der Stärke der Assoziation oder dem Ausmaß der Repräsentation im Gedächtnis korreliert ist.1.Allerdings besteht damit noch kein hinreichender Grund für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Ereignissen, da diese ja noch durch weitere Faktoren beeinflußt werden. Häufig ist nämlich die Stichprobe, die als Basis der Schätzung dient, systematisch verzerrt. So führt in unserem Beispiel die Beschäftigung mit Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben eher zu einer Überschätzung (overestimation) der Häufigkeit von Infarktpatienten in der Population im Gegensatz zu deren Unterschätzung in der entgegengesetzten Bedingung, bei der nur wenige Personen aus dem Gedächtnis abrufbar sind.

Die Nutzung von Urteilsheuristiken kann also einerseits zu systematischen Fehlern führen, andererseits aber auch zu rationalen Urteilen und Schätzungen, insbesondere wenn keine ausreichend valide Informationsquelle ( ,,data of limited validity", nach Tversky & Kahnemann, 1982, p. 3) verfügbar ist, wie es in alltäglichen Situationen häufig der Fall ist.

Solche suboptimalen Bedingungen können sein:

- zu wenig Information
- hohe Komplexität der Aufgabe
- Zeitdruck und damit Entscheidungsdruck

Damit wird auch die Bedeutung solcher Heuristiken sichtbar als ein wesentlicher Faktor der Urteilsfindung, wie er unter solchen suboptimalen Bedingungen notwendig ist. Menschen sind auf die Informationen, die ihnen als sensorischer Input zur Verfügung stehen und durch sensorische Prozesse vermittelt werden, angewiesen und müssen daraus in kurzer Zeit zu gewissen Entscheidungen kommen ohne die Möglichkeit nutzen zu können, diese im Sinne der wissenschaftlichen Hypothesentestung systematisch zu variieren. Denn nur so wird eine ausreichende Ö konomie der Alltagsbewältigung erreicht, indem Aufwand und Nutzen kognitiver Operationen an die Erfordernisse der Situation und der subjektiven Ressourcen angepaßt werden. Unter diesen begrenzenden Bedingungen stellt also die Fähigkeit des Menschen, sich an jeweils unterschiedliche Situationen und Umstände anzupassen eine notwendige und sinnvolle Strategie dar, die gleichwohl unter diesen Bedingungen fehleranfällig ist.

Dies führte Wissenschaftler wie Daniel Kahnemann, Amos Tversky, Richard Nisbett und Lee Ross dazu, sich mit der systematischen Erforschung solcher ,,intuitiven" Alltagserkenntnisse, die im Gegensatz zu den systematischen Erkenntnissen naturwissenschaftlicher Forschung, zu ,,Fehlern" und ,,kognitiven Täuschungen" führen, zu beschäftigen.

Zusammenfassend lassen sich nun Urteilsheuristiken beschreiben als Strategien, die ,,relativ schnell und mit vergleichsweise geringem Aufwand Erklärungen, Vorhersagen und Schlußfolgerungen ermöglichen und als psychologisches Konzept intuitive Erkenntnisprozesse in natürlichen Situationen ermöglichen" (Strack, 1985, S. 242).

1.4 Kahnemann und Tversky's Forschungsprogramm: ,,On the psychology of prediction"

Der Ausgangspunkt dieser Forschung war die Frage nach den Regeln, die den intuitiven Urteilen und Vorhersagen zugrunde liegen. Diese Regeln stehen - teilweise - im Widerspruch zu den Regeln, die einem normativen Modell, z.B. der Wahrscheinlichkeitstheorie, zugrunde liegen:

,,In making predictions and judgements under uncertainty, people do not appear to,follow the calculus of chance or the statistical theory of prediction. Instead, they rely on a limitted number of heuristics which sometimes yield reasonable judgemnets and sometimes lead to severe and systematic errors" (Kahnemann & Tversky, 1982, p. 48).

Worin liegen also nun diese Regeln begründet, die sich auf bestimmte heuristische Prinzipien beziehen?

1.4.1 Repräsentativität

Kahnemann & Tversky beziehen sich in dieser grundlegenden Arbeit auf die Repräsentativität als einer fundamentalen Einschätzungsmethodik, mit der die Zugehörigkeit eines Sachverhalts zu einer bestimmten Kategorie als wichtiger erachtet als andere Faktoren. Repräsentativität bezeichnet dabei ein Grundprinzip kognitiver Orientierung: neue Sachverhalte, die wahrgenommen werden, können damit in eine bereits bestehende Ordnung eingereiht werden. Solche Kategorien oder auch Schemata stellen dabei eine übergeordnete Ganzheit an zusammenhängender Information dar, in die Neues anhand von Ähnlichkeitskriterien eingeordnet oder davon abgegrenzt wird. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der sogenannte Prototyp einer Kategorie, z.B. der Fisch, der seinen Lebensraum im Wasser hat und damit einem Wal weit ähnlicher erscheint, als dieser der Spezies Säugetier. Repräsentativität spielt für die kognitive Strukturierung von Umwelterfahrungen eine wesentliche Rolle, obwohl sie - wie die Einteilungen anhand von Ähnlichkeitskriterien zeigen - auch zu charakteristischen Fehlurteilen führt. Allgemein gesagt ist Repräsentativität der ,, geschätzte Grad der Übereinstimmung (...) zwischen einem Element und einer Kategorie, einer Handlung und einem Handelnden, einer Wirkung und einer Ursache oder (...) die Übereinstimmung zwischen einem Ergebnis und einem Modell." (Strack,1985, S.255) Menschen beurteilen demnach Situationen und Sachverhalte eher nach der Ähnlichkeit bzw. Zugehörigkeit zu einer Kategorie, z.B. die Ähnlichkeit einer Person mit der assoziierten Kategorie als wahrscheinlicher im Vergleich zur a priori-Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens.

Kahnemann & Tversky (1982) kommen in ihrer Einschätzung zu der Hypothese, daß Personen in ihrer Beurteilung die Regeln statistischer Gesetze wie z.B. die Ausgangswahrscheinlichkeit (,,base rate") wenig beachten im Vergleich zu intuitiven Vorhersagen, die u.a. durch die Repräsentativität von Sachverhalten bestimmt wird.

1.4.2 Urteile bei kategorialen Vorhersagen

In den dazu vorgelegten experimentellen Untersuchungen unterscheiden die Autoren kategoriale Vorhersagen von numerischen, wobei das folgende Experiment beispielhaft, aus der Reihe kategorialer Urteile dargestellt wird.

Von einer ersten Gruppe (,,base rate group") wurde eine Eingruppierung aller Studienanfänger der USA vorgenommen und ihre prozentuale Verteilung innerhalb von neun vorgegebenen Fachbereichen eingeschätzt. Die Ergebnisse dieser Verteilungsschätzung sind in Tabelle 2 dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.2 (Auszug aus: Kahnemann,D./Tversky,A, 1982, p.50)

Einer zweiten Gruppe (,,similarity group") wurde eine Personenbeschreibung vorgelegt, in der Tom W. beschrieben wird:

,,Tom W. ist hochintelligent, obwohl es ihm an echter Kreativität fehlt. Er hat ein Bedürfnis nach Ordnung, Klarheit und übersichtlichen Strukturen, in denen jedes Teil seinen festen Platz hat. Seine Handschrift ist recht schwerfällig und mechanisch, untermalt mit Fettflecken und science-fiction-ähnlichem Gekritzel. Er ist sehr ehrgeizig. Er macht den Eindruck, daß er wenig Gespür und Sympathie für andere Menschen empfindet und mag keine Beziehungen zu anderen. Selbstbezogen wie er ist hat er auch ein geringes moralisches Empfinden."

Die Personen dieser Gruppe sollten nun einschätzen, wie ähnlich Tom W. den typischen Studienanfängern in den neun unterschiedlichen Bereichen ist, Tab. 2 zeigt in der zweiten Spalte die Durchschnittswerte der Zuordnung.

Einer dritte Gruppe (,,prediction group"), die aus 114 Psychologiestudenten aus drei großen amerikanischen Universitäten bestand, wurde zu der Personenbeschreibung von Tom W. noch die folgende Information gegeben:

,,Die vorliegende Personenbeschreibung von Tom W. wurde im letzten Schuljahr von einem Psychologen auf der Basis projektiver Testverfahren angefertigt. Derzeit ist Tom W. noch Student. Bitte ordnen Sie die Wahrscheinlichkeit Tom W`s Angehöriger eines bestimmten Studienbereichs zu sein zu."

Die Berechnung der Produkt-Moment-Korrelation der einzelnen Spalten ergab nun folgendes Ergebnis:

Eine hohe Korrelation von .97 besteht zwischen den Ähnlichkeitsschätzungen der zweiten Gruppe (similarity group) und der von der dritten Gruppe geschätzten Wahrscheinlichkeit, im Gegensatz zu einer relativ niederen Korrelation von .65 zwischen geschätzter Wahrscheinlichkeit der prediction group und der Ausgangswahrscheinlichkeit (base rate group) der Studenten in den einzelnen Fachbereichen.

Dies zeigt die Mißachtung der Verhältnisse der Ausgangswahrscheinlichkeit und die viel mehr intuitiv vorgenommene Beurteilung von Tom W. als zum Fachbereich der Computerwissenschaftler zugehörig. Die geschätzte Zugehörigkeit zu den Humanwissenschaften oder den Sozialwissenschaften fällt dabei weit niedriger aus ( höhere Rangwerte!), obwohl diese a priori eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit haben. Eine Ausnahme, von diesen Ausgangswahrscheinlichkeiten abzuweichen, sollte nach Kahnemann & Tversky's normativem Modell nur dann möglich sein, wenn die Personenbeschreibung sowohl ganz exakt als auch von diagnostischem Wert ist. In der Versuchsbedingung der dritten Gruppe wird aber durch den zeitlichen Abstand des Tests und die fragliche Aussagekraft projektiver Tests insgesamt, in keinem Fall eine entsprechende Voraussetzung zum Verlassen des Modells gegeben.

In einem solchen Fall müßte jemand, entsprechend der Grundregel des Modells, seine Vorhersage eher an den Ausgangsbedingungen, z.B. der Ausgangswahrscheinlichkeit der Verteilung der Studenten auf die jeweiligen Fachbereiche orientieren als an anderen Faktoren. Die für eine Vorhersage wichtigen Informationen werden nach den Autoren in drei Gruppen eingeteilt:

a) Hintergrundinformationen (z.B. die a priori-Wahrscheinlichkeit)
b) Spezifische Kenntnisse über den Einzelfall
c) Die Beachtung der Genauigkeit der Schätzung

Im Beispiel des Experiments wäre also für eine am normativen Modell orientierte Schätzung eine hohe Korrelation zwischen der dritten Gruppe und der ersten Gruppe zu erwarten. Die Ergebnisse aus Tab.2 indessen zeigen, wie Kahnemann & Tversky postulierten, daß Vorhersagen und Schätzungen weit häufiger an heuristischen Prinzipien orientiert sind und wenig mit normativen Modellen übereinstimmen.

Die ausschließliche Bezugnahme der Vpn auf die Personenbeschreibung zeigt für die Autoren in eindrücklicher Weise, wie solche Urteilsheuristiken - hier die Repräsentativität der Beschreibung Tom W.`s für die Gruppe der Computerspezialisten - funktionieren und wie Einschätzungen davon beeinflußt sind.

1.4.3 Urteile bei numerischen Vorhersagen

Eine weitere Variante, die zu Fehlern in der Einschätzung führt, zeigen die Autoren am Beispiel numerischer Vorhersagen. Dabei unterscheiden sie zwischen der

- Einschätzung und Bewertung von College-Anfängern anhand einer Beschreibung ( ,,How does this description impress you with respect to academic ability?")
- und der Vorhersage der zukünftigen Studienleistung (,,What is your estimate of the grade point average that this student will obtain?") .

Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Verfahren (und den dabei geschätzten Durchschnittswerten) ist die Tatsache, daß bei der Bewertung ein subjektiver Eindruck eine größere Variabilität der Schätzung möglich macht und bei der Vorhersage kaum eine einigermaßen präzise Schätzung aufgrund einer Personenbeschreibung möglich ist. Wenn Menschen also nach dem normativen Modell vorgehen, sollten wir eine signifikante Differenz zwischen der Bewertung, in Form einer höheren Variabilität und der Vorhersage, die sich eng an einen Mittelwert zwischen den Extrempunkten der Bewertungsskala orientiert, erhalten. In zwei verschiedenen Studien erhielten nun Kahnemann & Tversky (1973a, 1982, p. 57 ff) jeweils für beide Schätzungen - Bewertung versus Vorhersage - sowohl eine große Variabilität der Werte, wie auch eine geringe, nicht-signifikante Differenz zwischen den beiden Funktionen. Dabei zeigt sich, daß auch in der Vorhersagebedingung die Beschreibungen der Personen einen wesentlich höheren Einfluß hatten als sie nach der normativen Theorie haben sollten. Die Unsicherheit einer präzisen Vorhersage und die Unmöglichkeit aus einer subjektiven Bewertung und eines, auf einer ungenauen Beschreibung gewonnenen Eindrucks, sollten damit zu der Erkenntnis führen, daß die Prognose- Genauigkeit sehr gering ist und sich deshalb an einem festen Durchschnittswert orientieren sollte.

Die Folgerung aus all diesen, in vielen Variationen durchgeführten Studien, war für Kahnemann & Tversky, daß Menschen sich in den unterschiedlichen Versuchsbedingungen ganz im Gegensatz zu einem statistischen Modell der Wahrscheinlichkeitstheorie verhalten. Nach einem solchen Modell sollten sich Vorhersagen in charakteristischer Weise von Ähnlichkeitsschätzungen unterscheiden, denn dabei spielt der Faktor Unsicherheit eine entscheidende Rolle. Urteile, die eine Einschätzung bezüglich Ähnlichkeit erfordern, sind verständlicherweise durch die Suche nach repräsentativen Kriterien verzerrt, aber auch - und das scheint mir der entscheidende Impuls der Arbeit von 1973a zu sein - eine Vorhersage für zukünftig Ereignisse wird wesentlich durch solche heuristische Prinzipien determiniert, obwohl hier die minimale prognostische Fähigkeit der intuitiven Modelle einem hohen Maßan Unsicherheit entgegensteht. Diese Unsicherheit sollte nun eine Regression auf wahrscheinlichkeitstheoretischer Basis nach sich ziehen, weil dies für eine Prognose den höchsten Erwartungswert hat.

Das wird aber durch eine ,,illusion of validity" (p.66), in der die Repräsentativität von Inputvariablen als Maß für die Schätzung von Vorhersagen benutzt wird, mißachtet. Regression als ein Inbetrachtziehen von Ausgangswerten scheint für menschliche Urteile weit weniger typisch zu sein, als eine an (ziemlich beliebig) vorgegebenen Sachverhalten orientierte Urteilsheuristik.

2. Verfügbarkeitsheuristik

2.1 Verfügbarkeit

Diese Heuristik dient dazu, die Häufigkeit von Ereignissen oder die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens einzuschätzen. Wie bereits oben erwähnt, wird dabei die Schwierigkeit (bzw. die Leichtigkeit), mit der bestimmte Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden können, genutzt, um zu einem Urteil zu kommen:

A person is said to employ the availability heuristic whenever he estimated frequency or probability by the ease with which instances or associations could be brought to mind. (Tversky & Kahnemann, 1973b, 1982, p. 164)

Die von den Autoren so benannte ,,availability heuristic" geht also von einem fundamentalen Prinzip der Gedächtnispsychologie aus: je häufiger z.B. zwei Ereignisse gemeinsam auftreten, desto eher wird beim Vorliegen des einen Ereignisses das andere mitaktiviert, indem in einer Art Netzwerk-Konfiguration bestimmte Knoten mit ihrem jeweils gemeinsam encodierten Kontext verknüpft wird (vgl. das Anderson & Bower - Modell in: Kluwe,R.H., 1992, S. 168 ff). und diese auch beim Wiedererkennen schneller gemeinsam aktiviert werden als andere Verknüpfungen. Nach diesem Prinzip entsteht Verfügbarkeit (availability) als Leichtigkeit des Abrufs, welche sich auch in einer höheren Abrufgeschwindigkeit äußert und damit schneller bestimmte assoziative Verknüpfungen entstehen läßt.

Life-long experiences has taught us that instances of large classes are recalled better and faster than instances of less class frequent classes, that likely occurrences are easier to imagine than unlikely ones, and that associative connections are strengthened when two events frequently co-occur. Thus, a person could estimate the numerosity of a class, the likelihood of an event, or the frequency of co-occurrences by assessing the ease with which the relevant mental operation of retrieval, construction, or association can be carried out. (Tversky & Kahnemann, 1973b, 1982 p. 163)

Dieses Prinzip gestattet die Aussage, daß die Häufigkeit von Ereignissen zu einer entsprechend ausgeprägten Repräsentation im Gedächtnis führt. Die umgekehrte Schlußfolgerung aus dieser Implikation, daß auch aus dem Ausmaß der Repräsentation und des dadurch erleichterten Abrufs eine erhöhte Häufigkeit der Ereignisse folgt, gilt nun zwar in der Praxis sicherlich oft, ist aber prinzipiell nicht zwingend. Bestimmte Faktoren wie die Beschäftigung mit bestimmten Gedächtnisinhalten oder aber die Bedeutung, die ein Ereignis subjektiv hat spielen für die Encodierung und Aktivierung von Kontext- elementen eine ebenso wesentliche Rolle.

2.2 Experimente von Tversky & Kahnemann:

In der Originalarbeit der Autoren von 1973a zur Verfügbarkeitsheuristik sind 10 Experimente berichtet, die verschiedene Aspekte der Verfügbarkeit verdeutlichen und die Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik aufzeigen.2

2.2.1 Schätzung der Häufigkeit von Wörtern

Personen wurden dabei zu folgendem Gedankenexperiment aufgefordert: Stellen Sie sich eine zufällige Auswahl von Wörtern eines englischen Textes vor und überlegen Sie, ob der Buchstabe K häufiger am Wortanfang oder an der dritten Stelle des Wortes vorkommt. Wenn nun die Schätzung wirklich durch die Verfügbarkeit der erinnerbaren Wörter bestimmt wird, so sollten wir erwarten, daß Wörter, die K als Anfangsbuchstaben haben, häufiger geschätzt würden. Genau dem entsprach das Ergebnis des Experiments, indem die Schätzung zugunsten des Anfangsbuchstabens doppelt so hoch war, wie diejenige für K an der dritten Stelle.

Im weiteren Verlauf wählten Tversky & Kahnemann fünf Konsonanten aus, die aufgrund der von Mayzner & Tresselt (1965) vorgenommenen Wortzählungen wesentlich häufiger an dritter Stelle vorkommen als an erster und ließen 152 Personen die Position der Wörter schätzen. 105 Personen schätzten die Konsonanten häufiger an erster Stelle, im Gegensatz zu 47 Personen, die für die dritte Stelle votierten. Auch in anderen Studien wurde dieser durch die Verfügbarkeitsheuristik erklärbare Fehler gefunden.

Die Repräsentation der Wörter entspricht dabei einer lexikalischen Kategorisierung, die Wörter anhand von Anfangsbuchstaben ordnet, so daß uns wesentlich häufiger Wörter mit entsprechenden Anfangsbuchstaben einfallen, als solche, die an dritter Stelle den entsprechenden Buchstaben aufweisen. Damit wird deutlich, daß die Leichtigkeit, mit der Wörter anhand von Anfangsbuchstaben generiert werden können die Häufigkeitsschätzung beeinflußt und dadurch zu einem entsprechenden Fehlurteil führt, weil diese Schätzung nicht mit der tatsächlichen Häufigkeit übereinstimmt. Die Verwendung von sogenannten ,,retrieval cues", also von Abrufmerkmalen, deren Häufigkeit nicht mit der objektiven Häufigkeit in Verbindung steht, erzeugt in diesem Falle das Fehlurteil und stellt damit für eine solche Schätzung kein effizientes Kriterium der Abspeicherung dar.3

2.2.2 Permutationen

Gegeben sind die folgenden zwei Strukturen:

(A) x x x x x x x x (B) x x

x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x

Gefragt wurde : Wieviele mögliche Verknüpfungen der Elemente der einzelnen Reihen sind möglich, wenn eine Linie nur jeweils ein Element einer Reihe verbinden darf? In welcher der beiden Strukturen gibt es mehr Verknüpfungsmöglichkeiten?

Dem spontanen Eindruck werden wir uns - wie die meisten der befragten Probanden - weit häufiger für die Version (A) entscheiden und darin mehr Verknüpfungsmöglichkeiten sehen, als in (B). Die häufigste Schätzung für die Version (A) war dabei 40 Möglichkeiten, für (B) nur 18. Mathematisch gesehen ist die Anzahl der Möglichkeiten für (A) = 83 und für (B) = 29 gleich, nämlich 512.

Wie kommen wir zu einem solchen Urteil? Verschiedene Merkmale der beiden Strukturen scheinen dafür Hinweise zu geben:

Die erste Idee ist, der Unterschied der Reihen in A und B, in A imponieren die 8 Reihen, im Gegensatz zu den 2 Reihen in B. Zweitens ist die Struktur der Reihen in A einfacher zu durchschauen als in B ( es sieht aus, als ob in B ein ,,Pfad" wesentlich mehr Elemente miteinander verknüpfen würde und darum die Möglichkeiten für neue Verknüpfungen insgesamt geringer wäre). Drittens sind die Verknüpfungsmöglichkeiten in A kürzer und damit leichter anschaulich als in B.4

2.3 Verfügbarkeit und soziale Wahrnehmung

Eine wichtige Erweiterung der Ideen der Urteilsheuristiken war die Frage, inwieweit die von Kahnemann & Tversky gefundenen Ergebnisse anhand einfacher kognitiver Operationen Einfluß ausüben auf weit komplexere Bereiche sozialer Urteilsbildung. In der Folge wurden Sozialpsychologen angeregt, diese Frage nach der Generalisierbarkeit der Ergebnisse anhand der Verfügbarkeit neu zu interpretieren.

So wurden folgende Faktoren als wesentlich für die Verfügbarkeit von Information erkannt: · Augenfälligkeit (salience) der Information: die Information, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und damit am stärksten in die Urteilsbildung eingeht

Die Aufmerksamkeit kann dabei mehr auf situative Aspekte gelenkt sein oder aber im Individuum können bestimmte aktivierte Gedächtnisinhalte die Verzerrung der Urteile bedingen.

An vier Bereichen sozialer Urteilsbildung soll - dem Artikel von Strack (1985, S. 246 f) folgend - der Effekt der Verfügbarkeit erläutert werden:

Kategorisierung:

1.) Kategorisierung stellt einen grundlegenden Prozeß sozialer Urteilsbildung dar, der es gestattet, einen einzelnen Stimulus in eine Kategorie anhand bestimmter Kriterien zuzuordnen. Wenn ich einem Menschen auf der Straße begegne, so werde ich ihn zunächst als zu einer bestimmten Gruppe von Menschen zugehörig erkennen, ein ,,typischer Yuppie", ein ,,typische Hausfrau", ein ,,Obdachloser" usw. Die Kategorisierung der Einzelinformation bestimmt dann in der Folge mein Verhalten, so daß je nach abgespeichertem kategorialem Wissen mein Verhalten dem Individuum gegenüber beeinflußt wird.

Allerdings stellt die Mehrdeutigkeit des Verhaltens in sozialen Situationen ein großes Problem dar. In diesem Zusammenhang stellte Higgins et al. (1977) fest, daß die Verfügbarkeit kategorialer Information einen wesentlichen Einfluß auf die Interpretation von wahrgenommenem Verhalten spielt: Das Verhalten einer Stimulusperson in einem bestimmten Kontext ( Risikoverhalten ) wurde völlig unterschiedlich interpretiert, wenn in einem anderen Kontext eine bestimmte Kategorie (allgemeine positive Information ) verfügbarer gemacht wurde. Die Verfügbarkeit kategorialer Information führt also z.B. in Form von selektiver Wahrnehmung zu einer veränderten Interpretation eines sozialen Stimulus.

2.) Zuschreibung eigener Einstellungen

Auch der Prozeß der Zuschreibung einer Einstellung wird von der Verfügbarkeit relevanter Information beeinflußt. In einem Experiment variierten Salancik & Conway (1975) die Formulierung von Fragen zur religiösen Einstellung von Vpn und fanden, daß Einstellungsurteile dabei systematisch von der Frageformulierung und der damit aktivierten Information abhängen und die Zuschreibung von eigenen Einstellungen beeinflußten.

3.) Ursachenzuschreibung

Die grundlegende Entdeckung des Unterschiedes der Ursachenzuschreibung zwischen eigener Person und anderen Personen fanden Jones & Nisbett (1972). So findet man bei der Erklärung eigenen Verhaltens eher situative Faktoren, die für Handlungen verantwortlich sind, im Gegensatz zu dem bei anderen beobachteten Verhalten, das eher auf die Eigenschaften der Person bezogen wird. Eine Erklärung für diese unterschiedliche Art der Ursachenzuschreibung , die sich auch als ,,actor-observer-bias" oder ,,actor-observer- difference" bezeichnen läßt, kann anhand der Verfügbarkeit oder der Augenfälligkeit der Information gegeben werden. Für einen Beobachter steht die Person des anderen im Zentrum der Aufmerksamkeit und legt daher eine Kausalattribution auf Personeneigenschaften nahe. Dazu im Gegensatz ist die Aufmerksamkeit bei eigenem Verhalten eher auf die Situation gerichtet und die Ursachenzuschreibung erfolgt daher eher auf die jeweilige Situation bezogen. Die Lenkung der Aufmerksamkeit spielt bei all diesen Experimenten eine wichtige Rolle und bestimmt die Interpretation kausaler Zusammenhänge.

4.) Häufigkeitsschätzungen und Erwartungen

Wie bei der Ursachenzuschreibung spielt auch bei der Schätzung von Häufigkeiten oder, noch allgemeiner, bei Erwartungen die Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle. Sollen Personen Merkmale, wie z.B. den Anteil von Autoliebhabern einschätzen, so werden sie dazu Eigenschaften der eigenen Person verwenden und - je nach eigenem Interesse für Autos - zu einer charakteristischen Über - oder Unterschätzung des Anteils an Autoliebhabern kommen (,,false-consensus-bias"). Bei Schätzungen zur Häufigkeit von Todesursachen fanden Lichtenstein, Fischoff et al. (1978) ebenfalls charakteristische Verzerrungen , indem dramatische und sensationelle Todesursachen (über die z.B. auch die Presse häufig berichtet) weit überschätzt wurden , im Gegensatz zu eher ,,unspektakulären" Todesursachen , wie Herzkrankheiten, Krebs und Diabetes.

Auch für andere Verzerrungen und Fehler, wie z.B. egocentric-bias, hindsight-bias u.a. lassen sich aus der Lenkung der Aufmerksamkeit der Information , deren Verfügbarkeit oder allgemein, der Verarbeitung sozialer Information, eine Neuinterpretation der Attributionsfehler geben, die - im Vergleich zu den motivationalen Theorien der Sozialpsychologie - neue Erklärungsmöglichkeiten und ein verändertes Verständnis menschlichen Verhaltens ermöglichen.

Eine Neuinterpretation des Ansatzes von Kahnemann & Tversky bietet auch die differenzierte Betrachtung des Konzepts der Verfügbarkeit. Stand bei diesen Autoren der Prozeß des Abrufs oder der Generierung von Informationen im Zentrum des Interesses, so waren es in der Folge eher die Inhalte der Informationen, die soziale Urteile beeinflussen. Die Untersuchung von Schwarz, Strack, Bless et al. (1991) , die aus 3 Experimenten besteht, hat diese Differenzierung zwischen Abrufinformationen und Inhalt der Information zum Gegenstand.

3. Kritik an der Erklärung von Kahnemann & Tversky und eine neue Sichtweise der Verfügbarkeitsheuristik

Die Erklärung der Autoren, die als Erklärungsprinzip der Verfügbarkeitsheuristik die Leichtigkeit des Abrufs (,,ease of retrieval") hervorheben, ist in gedächtnispsychologischem Kontext keine große Neuigkeit, denn wie Taylor (1982) bemerkt, beruhen alle sozialen Urteile auf denjenigen Prozessen, die irgendwie die Verfügbarkeit von Gedächtnisinhalten und damit die Abrufwahrscheinlichkeit dieser Inhalte erhöhen (,,one's judgments are always based on what comes to mind").

Unklarheit scheint darüber zu bestehen, welche der spezifischen Prozesse im Gedächtnis denn nun die Verfügbarkeit erhöhen. Ist es wirklich nur die Leichtigkeit, die durch experimentelle Variation beeinflußt wird, oder könnte es nicht auch sein, daß irgendwelche anderen Faktoren die Abrufrate beeinflussen oder die ganzen Faktoren eben nur durch eine bereits verzerrte Stichprobe und gar nicht durch die subjektiven Erfahrungen erfaßt werden? In der vorliegenden Studie wird anhand von drei Experimentalanordnungen versucht, diese Fragen nach dem Einfluß der Leichtigkeit des Abrufs gegenüber dem des Inhalts der abgerufenen Information zu klären versucht:

,,subjective experience of ease" _ · ,,"content of recall"

3.1 Die Logik des Experiments

Wenn Personen gebeten werden, sich Situationen vorzustellen, in denen sie beispielsweise selbstsicheres Verhalten zeigen und sich dementsprechend entspannt und auch sicher fühlen würden, dann hat dieses subjektiv positive Gefühl in der Logik dieses Experiments zwei Dimensionen: zum einen erzeugt die Tatsache, daß Vpn aufgefordert werden, sich selbstsichere Verhaltensweisen vorzustellen, in denen sie sich befunden hatten, den Effekt, daß je mehr solcher Verhaltensweisen erinnert (oder generiert) werden, desto mehr entsteht subjektiv ein Gefühl der Selbstsicherheit. Der postive Inhalt der erinnerten Handlungen erzeugt also mit zunehmender Zahl eine höhere Selbstsicherheit, wobei hingegen bei entgegengesetzt negativen Situationen, die vorgestellt werden sollen, eine entsprechend niedere Selbstsicherheit, bzw. - unsicherheit entsteht. Die Anzahl der erinnerten Beispiele sollte das Ausmaß von Selbstsicherheit, bzw. -unsicherheit bestimmen. Gleichzeitig gehen aber nicht nur inhaltliche Elemente in die Einschätzung mit ein, sondern ebenso die Tatsache, daß sowohl positive (also selbstsichere) Handlungen, wie auch negative (selbstunsichere) Handlungen leicht, bzw. schwer erinnerbar sein können. Die Folgerungen aus leicht erinnerbaren selbstsicheren Handlungen wäre also, daß jemand wirklich selbstsicher ist, nach dem Motto: wenn mir so leicht selbstsichere Situationen in den Sinn kommen, muß es wohl an meiner Person liegen, daß ich selbstsicher bin. Entgegengesetztes gilt für die Tatsache, daß jemand leicht selbstunsichere Situationen einfallen, die dann als Selbstunsicherheit personal attribuiert werden.

Tab. 3: Die Logik des Experiments

assertive: ease _ assertive person

difficulty _ unassertive person

unassertive: ease _ unassertive person

difficulty _ assertive person

So entstehen komplexere Zustände, in denen z.B. der positive Inhalt der Informationen durchaus Selbstsicherheit suggerieren könnte, die Erfahrung, daß solche Situationen aber nur schwer einfallen, allerdings eine Abschwächung oder eine Verschiebung der Attribution von der Person weg auf andere Faktoren bewirken kann.

3.2 Experiment 1: ,,If It Is So Difficult to Recall, It Cannot Be Typical"

Im ersten Experiment wurden Studentinnen in einem 2x2-Versuchsplan zufällig den Versuchsbedingungen zugeordnet mit der Information, daß es sich um die Entwicklung von Rollenspielen handelt. Dabei sollten die Vpn entweder 6 oder 12 Beispiele von Situationen erinnern, in denen sie sich a) ,,sehr sicher und entspannt fühlten" und b) ,,sehr unsicher und unwohl fühlten".

In Vortests wurde die Anzahl der als leicht erinnerbaren Beispiele mit 8-9 und mehr als 10 als schwer zu erinnern ermittelt. Zudem wurde die Selbstsicherheit anhand diverser Items einer Rating-Skala gemessen.5

Aufgrund der Logik des Experiments sollte nun die Gruppe, die selbstsichere Beispiele berichten sollte, sich auch als selbstsicherer einschätzen im Vergleich zu derjenigen, die unsichere Verhaltensweisen erinnerten. Die Zunahme der Zahl der Beispiele von 6 auf 12 sollte diesen Effekt noch verstärken. Die Leichtigkeit, mit der die Beispiele ins Gedächtnis kommen, sollte allerdings den Effekt bewirken, daß bei den Vpn, in der Bedingung mit 12 Beispielen die Schwierigkeit der Generierung den inhalts-basierten Effekt überwiegt. Die Zahlen in Tab. 4 zeigen diesen Effekt deutlich auf:

Tab. 4: Ratings of Assertiveness as a Function of Valence and Number of Recalled Behaviors No. of recalled Behavior Assertive Unassertive

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Bedingung der 12 Beispiele dreht sich der inhalts-basierte Effekt um, indem die Schwierigkeit 12 Beispiele zu finden, in der Bedingung ,,selbstsicher" dazu führt, daß ,,wenn es so schwierig für mich ist, zwölf selbstsichere Verhaltensweisen an mir zu entdecken, ich eigentlich doch eher unsicher sein muß". Die Bewertung der Selbstsicherheit wird also an der Leichtigkeit des Abrufs festgemacht.

Umgekehrt führt auch in der ,,Unsicher"-Bedingung die Attribution an die Schwierigkeit der Generierung von 12 Beispielen zu dem Effekt, daß der inhalts-basierte Effekt vom Effekt der Schwierigkeit übertroffen wird und im Verhältnis zur ,,Selbstsicher"-Bedingung zu einer höheren Selbstsicherheitsbewertung führt.

Es bleibt also festzustellen, daß der inhaltsbasierte Effekt, in dem der Inhalt der Beispiele die Ursache für die Einschätzung der Selbstsicherheit ist, nur in der Bedingung, in der es insgesamt leicht fällt, Beispiele zu finden, wirkt. In der ,,Selbstunsicher"-Bedingung übersteigt der Effekt der Leichtigkeit, bzw. Schwierigkeit der Beispielgenerierung denjenigen, der die Inhalte als ursächlichen Faktor sieht, obwohl dennoch in dieser Bedingung insgesamt mehr generierte Beispiele zu einem höheren Partialeffekt führen könnten. Die beiden Effekte zeigen also, daß die Leichtigkeit des Abrufs einen moderierenden Effekt auf die inhalts-basierte Einschätzung ausübt und damit insgesamt auch Inhalte beeinflußt, die im Gedächtnis präsent sind und - leichter oder schwerer - abgerufen werden.

3.3 Experiment 2: ,,An extended replication"

In einer Replikationsstudie wurde die Grundidee des Experimentes beibehalten, aber um eine wichtige Bedingung erweitert. War beim ersten Experiment die Abrufbedingung leicht gegenüber schwer entgegengesetzt worden, wurde jetzt nochmals variiert, indem beeinflußt wurde, wie diagnostisch die erwartete Leichtigkeit für die Vpn ist. Dazu wurden Vpn darüber informiert, daß viele der vorherigen Teilnehmer die Suche nach Beispielen leicht fand und andere erhielten die Information, daß viele der vorherigen Teilnehmer es schwer fanden, Beispiele zu finden. Dies sollte dazu führen, daß diejenigen Vpn, die sich mit vielen anderen im Einklang fühlten, die Aufgabenschwierigkeit für die Leichtigkeit des Abrufs verantwortlich sahen (low diagnosticity), im Gegensatz zu den Vpn in der anderen Bedingung. Aus dieser Variante ergibt sich nun ein Versuchsplan, wie ihn Tab. 5 zeigt:

Tabelle 5: Ratings of Assertiveness as a Function of Valence and Number of Recalled Behaviors and Others` Ease of Recall

Diagnosticity of ease of recall Low High

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Ergebnis der Studie, die mit 113 Frauen und 45 Männern an einer Pädagogischen Hochschule durchgeführt wurde, ergibt sich aus den Daten in Tab. 5 wie folgt: Neben einem Haupteffekt, der zeigte, daß Männer signifikant höhere Selbstsicherheitswerte hatten, als Frauen, werden die Ergebnisse der ersten Studie bestätigt. In den Bedingungen ,,selbstsicher" und ,,selbstunsicher" finden sich analog zu Experimant 1 ebenfalls entgegengesetzte Werte.

Die Bedingung ,,low diagnosticity" hatte, entgegen den Vorhersagen der Hypothese, keinen signifikanten Einfluß auf die Selbsteinschätzungen der Vpn. Im Gegensatz zu Experiment 1 schätzten diese im zweiten Experiment ihre Selbstsicherheit, ihren Wunsch nach mehr Selbstsicherheit und ihr Interesse an Selbstsicherheitstrainings anhand einer bipolaren 9- Punkte-Skala ein, wobei der Mittelwert dieser Variablen als abhängige Variable verwendet wurde.

Die Tatsache, daß unter der ,,low diagnosticity" - Bedingung keine signifikanten Unterschiede auftraten, läßt den Schluß zu, daß die Information über das subjektive Empfinden anderer keine wesentlichen Änderungen der eigenen Empfindung bewirkt. Die Tatsache, daß andere Vpn andere Einschätzungen vornehmen, könnt indes bewirken, daß die Vpn nun ihrerseits um so mehr auf ihre eigenen Empfindungen rekurrieren oder daß Individuen eigenen Erfahrungen mehr Wert zumessen, als den Einschätzungen anderer (zumal dies keine wichtigen oder einflußnehmenden Personen im engen sozialen Umfeld sind).

3.4 Experiment 3: ,,Misattributing the Ease of Recall"

Ähnlich wie in Experiment 2 wird nun hier auch wieder eine Bedingung geschaffen, die es möglich macht, eigene Erfahrungen auf äußere Umstände zu attributieren. In Experiment 2 hatte es sich gezeigt, daß der Einfluß der subjektiven Erfahrungen anderer Personen keinen Einfluß auf die eigenen Urteile hatte. In diesem Fall wurde nun den Vpn die Information gegeben, daß die Studie den Einfluß von Musik auf das autobiographische Gedächtnis zum Inhalt hat. Über Kopfhörer hörten sie nun eine Meditationsmusik, die wiederum mit unterschiedlichen Vorinformationen gegeben wurde:

a.) die eine Gruppe wurde informiert, daß diese Musik die Erinnerung an positive und entspannte Situationen fördert
b.) die andere Gruppe wurde informiert, daß die Musik die Erinnerung an unangenehme und unsichere Situationen fördert.

Wiederum wurden die Bedingungen [6 und 12 Beispiele] und [assertive _ · unassertive] durchlaufen, so daß sich die Anordnung und die Ergebnisse in nachfolgender Tabelle darstellen lassen. Nach dem Prinzip der Aufwertung bzw. Abwertung von Informationen (vgl. Kelley, 1972) sollte die Manipulation der Attributionsmöglichkeiten einen Einfluß auf die Leichtigkeit des Abrufs und entsprechend auch auf die Selbstbewertung haben. Wenn die Musik einen Einfluß auf die Selbsteinschätzung ausübt, sollte man erwarten, daß z.B. in der Bedingung mit 6 selbstsicheren Beispielen die Selbstsicherheit geringer wird und auch in der Bedingung mit 12 selbstunsicheren Beispielen eine Verringerung der Selbstsicherheit eintritt, da die Selbstsicherheit und nicht mehr personal attribuiert wird, sondern eben die Musik dies induziert hat und entsprechend die Selbstbewertung sinkt.

Tabelle 6: Ratings of Assertiveness as a Function of Valence, Number of Recalled Behaviors and Diagnosticity of Ease of Recall

Diagnosticity of ease of recall Low High

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Auch im dritten Experiment werden die Ergebnisse der ersten beiden Experimente im wesentlichen bestätigt. In allen Experiment beurteilten sich demnach Vpn als selbstsicherer, wenn sie nur 6 Beispiele anstatt 12 generieren mußten. Ebenso wurde die Selbstsicherheit bei 6 ,,Unsicher"-Beispielen niedriger eingestuft als bei 12 Beispielen. Dieser Effekt zeigte sich stabil über alle drei Experimente.

In der low-diagnosticity-Bedingung zeigt sich nun genau diese hypothetische Vermutung, indem bei 12 generierten Beispielen in der Selbstsicher-Bedingung höhere Werte auftreten als in derjenigen mit 6 Beispielen. Ebenso in der Selbstunsicher-Bedingung, in der dieser Effekt umgedreht ist. Daraus läßt sich nun folgern, daß in diesen Bedingungen die externe Beeinflussung wirksam ist und nun auch der inhalts-basierte Aspekt als Urteilskriterium wieder überwiegt - im Gegensatz zu Experiment 1 und 2.

Zusammenfassend kann man also sagen, daß sowohl der inhalts-basierte Effekt, als auch die Leichtigkeit, bzw. Schwierigkeit des Abrufs durch externe Faktoren beeinflußt werden kann. Die beiden Effekte wirken aber ebenso gegenseitig modulierend:

In summary, we conclude that peolple not only consider what they recall in making a judgment but also use the ease or difficulty with which that content comes to mind as an additional source of information. Most notably, they only rely on the content of their recall if ist implications are not called into question by the difficulty that they experience in bringing the material to mind. (Schwarz, 1991, p. 201)

3.5 Ergebnisse

In den Experimenten zwei und drei wurde der Effekt der Manipulation auf die subjektiv empfundene Leichtigkeit untersucht. Dabei wurde die subjektive Erfahrung der Leichtigkeit, bzw. Schwierigkeit des Abrufs von Informationen beeinträchtigt, indem für die Vpn die Möglichkeit bestand, nicht (nur) auf die Leichtigkeit als Urteilskriterium, sondern (auch) auf äußere Einflüsse als Urteilsgrundlage zurückzugreifen. Es zeigte sich, daß die Manipulation der Leichtigkeit durch die Informationen über die Urteile, die andere Vpn vorher abgegeben hatten, die Ergebnisse des Experiments 2 nicht wesentlich beeinflussen konnten, entgegen der als plausibel angenommenen Hypothese. Personen lassen sich also durch die Möglichkeit Erfahrungen von anderen als Urteilsgrundlage zu nehmen, weniger beeinflussen, als durch eine externe Manipulationsquelle wie z.B. Musik.

Dieses Ergebnis findet man im 3.Experiment, welches zeigt, daß in der Bedingung, in der Personen 6 Beispiele selbstsicheren Verhaltens erinnern sollten, der Selbstsicherheitswert deutlich niedriger liegt als im 2.Experiment und wie man anhand der Rekursion auf die Leichtigkeit erwarten sollte. Dabei wird nun offensichtlich das Urteilskriterium der Leichtigkeit durch die Attribution an eine externe Ursache, wie die Musik, vorgenommen. Genau so in der Bedingung, in der 12 selbstunsichere Verhaltensweisen erinnert werden sollen. Auch hier wäre zu erwarten, daß die Schwierigkeit 12 selbstunsichere Beispiele zu generieren, zu der subjektiven Empfindung eines höheren Selbstsicherheitsgefühls führt. Daß dieses aber deutlich geringer als erwartet ausfällt, läßt auch den Schluß zu, daß der Einfluß der Musik eher die subjektive Beurteilung determiniert als die Leichtigkeit, die gespeicherte Information abzurufen.

Daraus läßt sich nun die ,,neue Sicht" der Verfügbarkeitsheuristik wie folgt beschreiben: sowohl der Inhalt der generierten Information als auch die subjektive Empfindung der Leichtigkeit spielen bei Urteilsprozessen eine Rolle, wobei beide sich gegenseitig moderieren können.

4. Zusammenfassung

Welche Bedeutung kommt denn nun den Urteilsheuristiken im Kontext sozialer Informationsverarbeitung zu?

Aus dieser allgemeinen Frageformulierung lassen sich weitere konkrete Fragen ableiten, wie z.B. welche Veränderung des Menschenbildes bewirkt die Tatsache, daß Menschen sich in gewissen Situationen ganz entgegen normativer Modelle verhalten? Ebenso wäre es angemessen zu fragen, in welcher Hinsicht die Verwendung von Urteilsheuristiken zu systematischen Fehlern, z.B. bei Risikoentscheidungen oder bei Mensch-Maschine- Interaktionen führt?

Ausgehend von den Entdeckungen heuristischer Prinzipien in Urteils- und Entscheidungsprozessen, die von Kahnemann & Tversky in den 70 -er Jahren initiiert wurden, entstand im Bereich der Erforschung sozialer Kognition ein weites Feld zukünftiger Forschungsmöglichkeiten, in denen das Paradigma der Informationsverarbeitung zum zentralen Thema wurde. Daraus lassen sich nun in der Folge gängige sozialpsychologische Theorien, z.B. der motivationale Ansatz, neu interpretieren, indem nicht mehr (nur) motivationale Kräfte - wie Bedürfnisse und Intentionen - menschliches Handeln bestimmen, sondern auch die Art und Weise, wie Informationen wahrgenommen, verarbeitet, gespeichert und abgerufen werden. Dabei spielen Heuristiken eine wesentliche Rolle, indem sie das Individuum in die Lage versetzen, auch unter schwierigen Umweltbedingungen, Informationen nach handlungsrelevanten und ökonomischen Kriterien zu ordnen. Dies ist für das Individuum eine notwendige Voraussetzung der Alltagsbewältigung, insbesondere auch in unserer Zeit, in der eine Fülle von Informationen (zunehmend auch visueller Art!) verarbeitet werden muß und dafür zunehmend weniger Zeit zur Verfügung steht.

Die Tatsache, daß dabei ,,Fehler" entstehen, soll nun prinzipiell nicht dazu verleiten, menschliche Urteile als irrational zu bezeichnen. Die Frage nach der ausschließlichen Gültigkeit und der Bedeutung normativer Modelle stellt sich in diesem Zusammenhang erneut.

Der Beitrag der Urteilsheuristiken zu einem veränderten Bild des Menschen ist wohl, neben der induktiven Wirkung auf die Forschungspraxis, einer der wesentlichen Gründe für die große Bedeutung, die diesen zukommt. Dabei sollten die Ergebnisse der Experimente von Kahnemann & Tversky, ebenso wie diejenigen von Schwarz et al. nicht Anlaß zu einer verkürzten Sicht des Menschen als ,,kognitivem Geizhals" sein. So wenig wie die motivationale Sicht des Menschen - die sicherlich auch ihre Berechtigung und empirische Evidenz hat - diesen umfassend zu beschreiben vermag, so wenig wird die ,,rationalisiernede" Sichtweise oder die im Zuge der Ergebnisse der Urteilsforschung ,,entrationalisierende" Sicht den vielgestaltigen menschlichen Phänomenen gerecht.

Eine weitere Differenzierung durch aktuelle und zukünftige Ergebnisse aus diesem Forschungsbereich, wie er am Beispiel von Verfügbarkeit versus Inhalt der Information deutlich geworden ist, zeigt, daß nur umfassendere Modelle dem Phänomen sozialer Urteilsbildung gerecht werden können.

Literaturverzeichnis

Descartes, René (1993). Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg: Felix Meiner Verlag . (Nachdruck der Originalausgabe: Meditationes de prima philosophia, 1641)

Fiedler, Klaus (1996). Die Verarbeitung sozialer Informationen für Urteilsbildung und Entscheidung; In: Stroebe, W. / Hewstone, M. / Stephenson, G.M. : Sozialpsychologie - Eine Einführung, S.143-175

Higgins, E.T. (1977). Category accessability and impression formation. Journal of Experimental Social Psychology, 13, 141-154

Jones, E.E. /Nisbett, R.E. (1972). The actor and the observer: Divergent perceptions of the causes of behavior. In: Jones, E.E./Kanouse,D.E. u.a. (Eds.): Attribution: Perceiving the causes of behavior. Morristown, N. J.: General Learning Press

Kahnemann, D./ Tversky, A. (1973a,1982). On the psychology of prediction. Psychological Review, 80, 237-251; in: Kahnemann, D./Tversky, A. (Eds.)(1982). Judgment under uncertainty, 48-68. New York: Cambridge University Press

Kelley, H.H. (1972). Causal schemata and the attribution process. Morristown, NJ: General Learning Press

Kluwe, R.H. (1992). Gedächtnis und Wissen. In: Spada, H. (Hg.). Lehrbuch Allgemeine Psychologie. Bern: Huber

Lichtenstein, S./ Slovic, P. u.a. (1978). Judged frequency of lethal events. Journal of Experimental Psychology: Human Learning and Mmemory, 4, 551-578

Reason, James (1994). Menschliches Versagen. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer Verlag

Salancik, G.R./ Conway, C. (1975). Attitude inferences from salient and relevant cognitive content about behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 32, 829-840

Schwarz, N./ Strack, F./ Bless, H. et al. (1991): Ease of Retrieval as Information: Another Look at the Availability Heuristic. Journal of Personality and Social Psychology, 61, 195-202

Strack, F. (1985). Urteilsheuristiken. In: Frey, D./ Irle, M. (Hg.). Theorien der Sozialpsychologie, Bd.3: Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien, S. 239-268

Taylor , S.E. (1982). The availability bias in social perception and interaction. In: in: Kahnemann, D./Tversky, A. (Eds.)(1982). Judgment under uncertainty, 190-200. New York: Cambridge University Press

Tversky, A./ Kahnemann, D. (1973). Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 4, 207-232; in: Kahnemann, D./Tversky, A. (Eds.)(1982). Judgment under uncertainty, 163-178. New York: Cambridge University Press

Tversky, A./ Kahnemann, D. (1974). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Science, 185, 1124-1131; in: Kahnemann,D./Tversky, A. (1982). Judgment under uncertainty, 3-20. New York: Cambridge University Press

[...]


1 Die Aktivierung der Gedächtnisinhalte, in der Beschäftigung mit einem bestimmten Problembereich oder mit bestimmten Menschen, erhöht die Erinnerungsleistung und damit die Wahrscheinlichkeit des Auftretens assoziativer Verknüpfungen

2 vgl. Tversky & Kahnemann, 1973, Study 3: Judgment of word frequency

3 vgl. Tversky & Kahnemann, 1973, Study 4: Permutations

4 vgl. Tversky & Kahnemann, 1973, Study 8: fame, frequency, and recall

5 Die Selbsteinschätzung der Leichtigkeit wurde direkt durch eine Skala von (1) überhaupt nicht schwierig bis (10) sehr schwierig als Maß der subjektiven Empfindung erhoben.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die Verfügbarkeitsheuristik
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Psychologisches Institut, Fachbereich: Kognitive Theorien der Sozialpsychologie)
Autor
Jahr
1997
Seiten
26
Katalognummer
V95925
ISBN (eBook)
9783638086035
Dateigröße
525 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verfügbarkeitsheuristik, Fachbereich, Kognitive, Theorien, Sozialpsychologie, Leiter, Lehrveranstaltung, Bless, Psychologisches, Institut, Universität, Heidelberg
Arbeit zitieren
Samuel Mayer (Autor:in), 1997, Die Verfügbarkeitsheuristik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95925

Kommentare

  • Gast am 26.1.2002

    Bewertung.

    Der Bericht hat mir in meinem Psychologiestudium sehr weiter geholfen.
    Er beinhaltet alle Details die ich über die Heuristik benötigte.
    :-)Yvonne

Blick ins Buch
Titel: Die Verfügbarkeitsheuristik



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden