Zum gegenwärtigen Stand von Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität: "Eine Einladung zur Neugier" nach dem gleichnamigen Artikel von G. Cecchin


Referat (Ausarbeitung), 1999

3 Seiten


Leseprobe


Literatur: Gianfranco Cecchin "Zum gegenwärtigen Stand von Hyopthetisieren, Zirkularität und Neutralität: Eine Einladung zur Neugier". Familiendynamik, S 190-203

Die neue Haltung Neugier

Der Artikel von Cecchin stellt die systemische Arbeit des Cecchin-Boscolo-Teams vor, daß ausgehend vom Mailänder Modell neue Konzepte einiger systemischer Begriffe entwickelt hat. In den Achziger Jahren wurde vom Mailänder Team, bestehend aus Selvini-Palazzoli, Boscolo, Cecchin und Prata die systemischen Leitbegriffe Neutralität, Hypothetisieren und Zirkularität erarbeitet. Als sich das Team neu organisierte, wurden diese systemischen Prinzipien neu konstruiert, so daß diese Konzepte, basierend auf dem Mailänder Modell heute neu verstanden werden.

Eine zentrale Position nimmt der Begriff "Neutralität" ein. Um erfolgreich therapeutisch arbeiten zu können, ist es notwendig, dem/ den Patienten gegenüber eine neutrale Haltung einzunehmen. Dadurch soll es dem Therapeuten erleichtert werden, vorschnelle Schlußfolgerungen zu vermeiden, die ein weiteres Erschließen der Situation des/ der Patienten verhindern und ihn verleiten, den/ die Patienten nach den eigenen Wertvorstellungen im Sinne linearer Moral lenken zu wollen.

Da es unmöglich ist, neutral oder unpolitisch zu handeln oder zu sprechen, wurde der Begriff "Neutralität" zuerst definiert als "das Bestreben, es aktiv vermeiden zu wollen, irgendeinen Standpunkt richtiger als einen anderen zu finden". Viele Therapeuten mißinterpretierten diese Definition jedoch als "eine Position des Unbeteiligt-Seins (...) ohne ausdrückliche Meinung und ohne Verantwortung zu übernehmen, wenn es eigentlich erforderlich wäre; die Kultivierung einer kalten und distanzierten relativistischen Position". Um dies zu vermeiden, schlägt Cecchin vor, Neutralität "als das Kreieren eines Zustands der Neugier auf seiten des Therapeuten" zu verstehen. Neugier führt dazu, alternative Sichtweisen zu erforschen und zu erfinden, und nicht starr auf der eigenen Sichtweise zu beharren, dh. zu einer neutralen Haltung. Das Auffinden alternativer Sichtweisen und Bewegungen macht wiederum neugierig, weitere Aspekte aufzudecken. So bedingen sich Neugier und Neutralität gegenseitig, aber nur solange man es vermeidet, eine scheinbar "passende" (kausale) Erklärung finden zu wollen und, angekommen bei dieser, Halt macht. Dies geschieht aufgrund der falschen Annahme, daß "komplexe menschliche Interaktionen auf wenige einfache Verfahrenspostulate reduziert und trivi alisiert werden können", dh. daß es wahre/ richtige/ beste Sichtweisen und lineare Erklärungen im Sinne von Ursache-Wirkung-Zusammenhänge gibt, und soll vermieden werden. Statt dessen soll der Therapeut versuchen, in den Beschreibungen der Patienten Muster zu erkennen. Er soll sich dahingehen einige Fragen stellen zB. wie die Beschreibungen der einzelnen Familienmitglieder zusammenpassen, wie diese zu seiner eigenen (klinischen) Beschreibung passen, warum sich einzelne Beschreibungen ähnlich bzw. unterschiedlich sind, warum die Beschreibungen zu diesem Zeitpunkt auftreten, welche Beschreibung in der Vergangenheit auftraten und welche Beschreibungen in der Zukunft auftreten können usw. Dies bedeutet eine Hinwendung zur Ästhetik, die ein zentrales Konzept ist, um eine Haltung von Neugier zu entwickeln. "Wenn wir einen ästhetischen Standpunkt einnehmen, verlieren wir das Interesse daran, die beste Beschreibung und/ oder Erklärung des Familienproblems zu finden", dh. es wird eine neugierige, neutrale Haltung eingenommen und der Versuch aufgegeben, Menschen lenken zu wollen. In der therapeutischen Praxis wird jedoch häufig vom Therapeuten erwartet, soziale Kontrolle auszuüben, wenn es um Verhalten geht, daß von der Gesellschaft als unmoralisch und/ oder illegal angesehen wird. Dies macht es schwierig, neutral zu bleiben, weil man in diesem Fall sehr schnell dazu übergeht, einzelne Verhaltensweisen im Sinne einer linearen Moral als schlecht, falsch, unmoralisch usw. zu bezeichnen, und es aufgibt, nach ästhetischen Strukturen und Mustern Ausschau zu halten. So ist es nicht möglich, therapeutisch zu handeln. Jedoch kann die Arbeit in einem therapeutischen Team und der Austausch innerhalb des Teams, zur Not auch der Austausch mit Freunden und Kollegen, dazu beitragen, trotz der sozialen Konstrukte, die dem Therapeuten durch das Gesetz, die Gesellschaft und das kulturelle System aufgedrängt werden, eine Haltung von Neugier zu entwickeln, und somit das gleichzeitige Handeln auf verschiedenen Ebenen, entsprechend dem Gesetz, der Moral und der Intensivierung der Neugier, ermöglichen.

Es gibt mehrere Symptome, die auf Nicht-Neutralität und einer Abkehr von Neugier des Therapeuten hinweisen. Diese lassen sich in die beiden Klassen "Langeweile" und "psychosomatische Beschwerden" einteilen.

Langeweile beim Therapeuten entsteht, wenn er meint, er wüßte bereits im Voraus, was geschieht. Irrtümlicherweise nimmt er an, zu wissen, was die Patienten denken, was sie tun, und wie sie in ihre momentane Situation hinein gekommen sind. Er glaubt, daß "jedwede Information, die Familienmitglieder in ihren Geschichten und Beschreibungen geben, redundant ist. Wir hören nicht mehr zu. Wir definieren uns als durch die Familie gelangweilt, und wenn wir durch die Familie gelangweilt sind, ist es folgerichtig, sich in unserem Beruf wertlos zu fühlen und folglich in unserem Leben". Diese Langeweile ist aber ein Symptom der Nicht-Neutralität. Im Glauben, eine richtige Interpretation gefunden zu haben, gibt der Therapeut die geforderte Haltung der Neugier auf und ignoriert alternativ mögliche Interpretationen und Muster, was bei ihm Langeweile erzeugt. Er nimmt einen eigenen, starren Standpunkt ein und lehnt es ab, nach Information Ausschau zu halten, die ihn dazu veranlassen könnte, seinen Standpunkt zu verändern, dh. er verhält sich nicht neutral. Dies kann nur verhindert werden, indem man versucht, sich die Neugier durch die Suche nach ästhetischen Mustern zu erhalten.

Eine weitere Klasse von Symptomen, die auf Nicht-Neutralität zurückzuführen sind, sind psychosomatische Beschwerden. Die häufigsten Beschwerden sind Kopfschmerzen, Schwitzen, hoher Blutdruck und Rückenschmerzen. Diese entstehen möglicherweise aus dem typischen Konflikt zwischen dem Therapeuten und dem Kontext, in dem er arbeiten muß. Oft beinhaltet es die therapeutische Arbeit, soziale Kontrolle über die Patienten ausüben zu müssen, wenn das Verhalten der Patienten illegal und/ oder von der Gesellschaft als moralisch verwerflich betrachtet wird. In diesem Fall ist es schwer, als Therapeut eine neutrale Haltung einzunehmen und therapeutisch zu arbeiten. Es wird meist dazu kommen, daß der Therapeut, wenn er therapeutisch handeln will, die zu behandelnde Familie gegen die Gesellschaft und oft auch gegen sich selbst verteidigen muß, oder er sich entschließt, die soziale Kontrolle auszuüben und die volle Verantwortung zu übernehmen. Fühlt sich der Therapeut jedoch voll verantwortlich für das Handeln der Familie, wird er sehr schnell dazu übergehen, die Familie kontrollieren zu wollen und zu versuchen, zu unterbinden, was seiner Meinung nach nicht angebracht ist. Es entsteht leicht ein Gefühl der moralischen Empörung, die neutrale Haltung wird aufgegeben. Man muß sich aber vor Augen halten, daß die Familie, mit der man es zu tun hat, ein System ist, das lebt und das folglich irgendwie funktioniert. Die Position des Therapeuten innerhalb des Systems darf nicht derart gestaltet werden, dieses Zusammenspiel zu unterdrücken. Auch wenn "es Gewalt in der Familie gibt, bedeutet das nicht notwendigerweise, daß der Therapeut/ die Therapeutin dann das Recht hat, auch gegenüber der Familie Gewalt auszuüben", indem er versucht, das Auftreten bestimmter Muster zu verhindern, auch wenn diese, wie zB. Gewalt, aus ästhetischen Gesichtspunkten nicht befriedigend sind. "Der Therapeut/ die Therapeutin hat die Aufgabe, dem System Familie dabei zu helfen, ästhetischere Muster zu entwickeln. (...) Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir keine Veränderung wünschen - insbesondere was die Muster angeht, die innerhalb unserer Kultur als unmoralisch oder illegal identifiziert werden". Die Gesellschaft stellt an den Beruf des Therapeuten die Erwartung von Veränderungen. Zu Veränderungen innerhalb eines Systems kommt es aber eher dann, "wenn ein System nicht direkt instruiert wird, sondern ihm vielmehr verschiedene Optionen aufgezeigt werden". Am besten gelingt dies, wenn sich der Therapeut klar macht, daß "die ganze Verantwortung für ein Problem übernehmen und therapeutisch verantwortlich zu handeln, nicht dasselbe ist. Therapeutische Verantwortlichkeit beginnt damit, seine eigene Position im System zu sehen. Oftmals bedeutet das anzuerkennen, wie wenig Macht wir haben, und gleichzeitig den Respekt für das System zu bewahren. Neugier hilft auch hier, diese verschiedenen Erkenntnisse zu vereinbaren".

Zwei Techniken, die Einstellung Neugier aufrecht zu erhalten, sind Hypothetisieren und Zirkularität.

Die Metapher des Geschichtenerzählens ist eine Möglichkeit, Hypothesen zu bilden. Familien, die sich in Therapie begeben, haben Lebensskripte, die ihnen "nicht helfen, in der Weise zu funktionieren, die sie als nützlich empfinden". Der Therapeut bietet der Familie auf der Basis seiner Hypothesen neue Skripte an, "auf die die Familie durch Angleichung ihres Skripts reagiert", woraufhin der Therapeut wiederum sein Skript verändert und der Familie anbietet. Ist es ihm nicht möglich, ein neues Skript und damit neue Hypothesen zu entwickeln, ist das ein Zeichen dafür, daß er das Skript der Familie übernommen und folglich seine neugierige Haltung verloren hat. Hypothesenbildung wird aber durch den kulturellen Kontext erschwert. Oft besteht ein "Respekt gegenüber Autoritäten, der soweit geht, daß wir uns unfähig fühlen, ihre Position zu beeinflussen oder in Frage zu stellen", was ein Zeichen ist für lineares Denken. Deshalb besteht die Gefahr, zu glauben, was eine Familie sagt, und in diesem festen Glauben verharrend nicht nach alternativen Mustern und Erklärungen zu suchen.

"Zirkularität ist parallel zur Hypothesenbildung eine Technik, die durch Neugier gefördert wird; eine Technik, die für die Entwicklung von Hypothesen und für die Aufrechterhaltung von Neugier benötigt wird". Die Technik des zirkulären Fragens ist eine Möglichkeit, "das Glaubenssystem der Familie zu unterminieren, das sich auf "Wahrheiten" und auf der häufigen Benutzung des Verbs "sein" stützt", wie es in Sätzen "Mein Sohn ist faul" oder "Meine Tochter ist stur" zum Ausdruck kommt. In zirkuläre Fragen werden die Beziehungen innerhalb der Familie benutzt, nicht die mitgeteilten vermeintlichen "Fakten". Durch wenn-Fragen und zukunftsorientierte Fragen (zB. "Wenn deine Mutter entscheiden würde, sich keine Sorgen mehr um dich zu machen, was würde dein Vater tun?") werden den Familienmitgliedern Muster aufgezeigt, die sie zum Überdenken ihres Glaubenssystems anregen und damit Möglichkeiten für zukünftiges Handeln aufzeigen können.

"Zusammenfassend kann man sagen, daß diese drei Prinzipien, das Hypothetisieren, die Zirkularität und die Neutralität, rekursiv miteinander verkettet sind, so daß die Neutralität den Kontext für die Konstruktion einer Vielfalt von Hypothesen erzeugt. Eine Vielfalt von Hypothesen erzeugt wiederum den Kontext, zirkuläre Muster zu erkennen (im Gegensatz zu linearen Ursache-Wirkungs- Beziehungen) und zirkuläre Fragen zu stellen. Mit Hilfe der Technik des zirkulären Fragens können Hypothesen über eine Familie aufgestellt, verfeinert und wieder verworfen werden; dies wiederum erzeugt einen Kontext von Neugier und Neutralität". Ist dieser Kreis unterbrochen, dh. ist es nicht möglich, durch zirkuläres Fragen zu neuen Hypothesen zu gelangen und umgekehrt, ist dies ein Zeichen, daß die Haltung der Neugier aufgegeben wurde. Der Therapeut hat seine Hypothese "geheiratet", dh. er hat einer Hypothese geglaubt und diese als wahr angenommen, so daß er nun auf die Suche nach weiteren Erklärungsmöglichkeiten verzichtet und zu einem "sozialen Kontrolleur" geworden ist. Will er therapeutisch arbeiten, muß er seine neugierige, neutrale Haltung zurückgewinnen, wobei ihm die Technik des Hypothetisierens und der Zirkularität helfen können.

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Details

Titel
Zum gegenwärtigen Stand von Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität: "Eine Einladung zur Neugier" nach dem gleichnamigen Artikel von G. Cecchin
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen
Veranstaltung
Fachbereich Psychologie
Autor
Jahr
1999
Seiten
3
Katalognummer
V95915
ISBN (eBook)
9783638085939
Dateigröße
331 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zur Systemischen Familientherapie
Schlagworte
Stand, Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität, Eine, Einladung, Neugier, Artikel, Cecchin, Fachbereich, Psychologie
Arbeit zitieren
Karin Jaeger (Autor:in), 1999, Zum gegenwärtigen Stand von Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität: "Eine Einladung zur Neugier" nach dem gleichnamigen Artikel von G. Cecchin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95915

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