Kierkegaard - Rezension von Entweder - Oder


Referat (Ausarbeitung), 1998

8 Seiten


Leseprobe


Kierkegaard: Rezension von Entweder - Oder

Verführer sind der Schrecken jeder christlichen Familie mit Tochter im zeugungsfähigen Alter. Ohne Rücksicht auf Moral, Ehre und Anstand suchen sie Genuß, ganz skrupellos. Verführer machen sich über Frauen her, verbringen eine Nacht mit ihnen und stehlen sich davon. Sie sind besonders verachtenswert, wenn sie sich um den anwachsenden Bauch nicht wenigstens mit der gleichen Intensität bemühen, wie ehedem um die Frau, die nun so schwer an ihm trägt. Sie sind bemitleidenswert, wenn sie nicht anders können als zu springen, von einer Feder, zum nächsten Kern, um erschöpft auf einer Matratze zu landen. Verführer zerren an drei alt-christlichen Grundfesten: Der Unbeflektheit vor der Ehe, der ehelichen Treue und dem Sex als ausschließlichem Fortpflanzungsakt.

Der erotische Verführer ist eine allgemein bekannte und nachvollziehbare Spielart. Er verspricht die absolute Sinnlichkeit, das fulminante Erlebnis ohne Reflexion und zieht Frauen durch die Ahnung eines erotisches Wunderwerk in seine Arme. "Don Juan" wurde er in seiner Reinform von Mozart getauft und in der Oper zu Leben erweckt. Sein Ort mußte die Musik sein, denn jedes Argument, das kleinste Für und Wider hätte die Aura des absolut Sinnlichen zerstört, womit der traum-hafte Charakter verloren gegangen wäre.

Goethe hat mit Faust die intellektuelle Variante dargestellt. Faust verführt Gretchens mit Hilfe seines überlegenen Geist. An ihm reizt nicht das erotische Erlebnis, sondern die intellektuelle Schärfe. Sein Begehren richtet sich dem genau entgegen: Als in der Reflexion gefangener sucht er nach der Unmittelbarkeit einer Person. Der höchste sinnliche Genuß ist für ihn das Unbedarfte eines jungen Mädchens.

"Entweder - Oder", das erste große Werk des dreißigjährigen Koppenhageners Kierkegaard, bezieht sich ausdrücklich auf die beiden berühmten Vorbilder und liefert nun einen dritten Typus Verführer: Johannes. Von ihm ist nichts bekannt, außer daß er Tagebuch führt, ein "Tagebuch des Verführers", wie Kierkegaard es den fiktiven Herausgeber "A" nennen läßt. Kein Alter, kein Beruf, keine Eltern, keine Freunde - nur Johannes. Ein ungreifbares Phantom, das umherstreift und junge Mädchen betrachtet, seine Gedanken um sie schweifen läßt und sie zu neuen Höhen treibt. Zu lesen in fast täglichen Aufzeichnungen.

Johannes ist mit Diener und Kutsche ausgestattet und nicht mehr ganz jung. Er bezeichnet sich als "ziemlich konsequente[n] Denker" (506) und mit "kaltem Spott und herzloser Ironie" ausgezeichnet (423). Sein Leben ist eine einzige Suche nach genußvollen Eindrücken. "Ich bin ein Ästhetiker, ein Erotiker" (429), sagt er von sich selbst. Johannes erfreut er sich kaum an Dingen oder Erlebnissen, wie sie allgemein als schön bewertet werden, er schwärmt nicht von Herbsttagen, gutem Essen oder Kunst. Mit solchen Dingen schmückt er sich gerne, wenn er Kupferstiche verschenkt oder in Briefchen Gedichte einfließen läßt - ihn treibt anderes an: er versucht, sich selbst zu spüren.

Ästhetik ist in diesem Zusammenhang als Alternative zu der bestehenden christlichen Moral zu sehen. Statt Gemeinsinn, Mitmenschlichkeit oder Barmherzigkeit steht in dieser ästhetischen Lebenseinstellung der Einzelne im Mittelpunkt. Der Einzelne und seine Empfindung, die das einzige ist, was für ihn zählt, aber auch das einzige, das ihm noch bleibt und sein Dasein spürbar macht. Das Gefühl, einmal zum Höchsten erhoben, läßt alles Moralische, sogar alles Gesellschaftliche allgemein als zu wenig emotional verachten. Johannes hat durch seine Entscheidung für das Ästhetische einen vollständigen Bruch mit den Werten seiner Umwelt beschlossen, wodurch er sich faktisch alle Eckpunkte für den Sinn eines Lebens genommen hat.

Dieser Ästhet ist ausschließlich auf sich zurückgeworfen und deshalb darauf angewiesen, ausschließlich selbstreflexive Eindrücke zu sammeln. Er ist gefangen in einem einmal gesteckten Kreis der persönlichen Erfahrungsmöglichkeiten, da er sich gesellschaftlich nicht mehr betätigen kann. Innerhalb seiner Selbst kann er sich bewegen, er muß aber wegen dieser Einschränkung die wenigen Anstöße, die er spürt, bis zum Punkt des Absoluten steigern.

Johannes verfällt nicht in selbstmitleidende Lethargie; Er wird geradezu gemeingefährlich, weil er detaillierte Pläne entwirft, wie er aus seiner Orientierungslosigkeit entkommen könnte.

Das ästhetische an dem Lebensentwurf, den Kirkegaard an Johannes darstellt, ist nur scheinbar die sinnliche Auseinandersetzung, oder die sinnliche Erfahrung mit Personen oder Dingen. Das eigentlich Wichtige ist das Fehlen einer moralischen Kategorie, an der der Wert und der Sinn von Handlungen meßbar würden. Diese Ästhetik ist in ihrer Konsequenz Anti- Moralismus.

Johannes wird als konsequenter Mensch wahrgenommen. Er dagegen sucht nach Objekten, die instrumentalisierbar sind und ihm helfen, die Sinnlosigkeit zu überdecken, die seiner ästhetischen Einstellung grundsätzlich entspringt. Interaktionen sind deshalb bei ihm niemals zweckfrei, sondern vorweggenommen durchdacht und für seine Interessen konstruiert.

Ihm begegnet ein Mädchen, das er als das personifizierte Jungmädchenideal erfährt: Unbedarft, stolz, natürlich und vor allem unreflektiert.

Johannes wird zum klassischen Verführer: er verdeckt die Folgen des gemeinsamen Handelns und suggeriert, er würde geben, doch er nimmt nur. Das siebzehnjährige Mädchen wird sein Opfer. Sie wird von Johannes aus ihrem moralischen Lebenszusammenhang gerissen, abhängig gemacht, isoliert und als sinnliche Krönung entehrt. Ihr Schicksal kümmert den Verführer nicht; ihm genügt, den Reiz an sich geerntet zu haben und verläßt sie nach der ersten Nacht.

Die Frage nach dem Antrieb, der Johannes die Verführung einleiten, forcieren und zelebrieren läßt, ist der erste Punkt des Interesses im "Tagebuch des Verführers". Kierkegaard gibt durch die Figur aber auch eine Antwort darauf, was einen Menschen zu menschen- und allgemeinfeindlichem Verhalten treibt. Die Kritik an der Ursache dieses Sezierertums ist der Kern des "Tagebuch des Verführers".

Johannes sieht sie und verliebt sich. Ihm erscheint ein Bild, ein Ideal, das er träumt, mit und in diesem siebzehnjährigen Mädchen zu verwirklichen. Er spürt ihr nach, deutet ihre Bewegungen, erkundet ihr Leben und ihre Vergangenheit. Ihren Namen ruft eine Freundin auf der Straße: Cordelia. Cordelia reduziert er auf ihre Weiblichkeit, wie er bei anderen Frauen nur einen Wink oder eine Bewegung ästhetisch reizvoll empfindet.

Verliebt sein ist für diesen Verführer nur die erste Ahnung eines Genusses. Das unverwechselbare Gefühl bringt ihn auf die Fährte einer höheren sinnlichen Erfahrung, genauer gesagt: auf dessen Gedanken. Mit dem Verliebtsein an sich kann er weiter gar nichts anfangen, da es ihm keine Aussicht verheißt. Er kann nicht weiter träumen, nicht Zweisamkeit, Heirat, Kinderkriegen als Perspektiven annehmen. Seine ästhetische Grundhaltung, die alles, was sich auf moralische Grundlagen stützt verachtet, verbaut ihm jede zweisame Zukunft.

Der Verliebte analysiert sofort nach der ersten Euphorie seine Empfindung und ergötzt sich auf der einen Seite an der Möglichkeit des Unreflektiertseins, vor allem aber an dem Gefühl, sich zu spüren. Um den Zustand zu erhalten, entwickelt er umfangreiche Pläne, die sich an der Psyche seines Opfers ausrichten. In sich isoliert und ausschließlich auf ästhetische Empfindungen fixiert, wie er ist, versucht Johannes die ihm bleibenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Neben der Analyse seines eigenen Verhaltens beginnt er mit der Planung einer fremden Persönlichkeit. Er versucht zu erfassen, wie sein Gegenüber strukturiert ist, wo die Vorzüge liegen und wie es in Griff zu bekommen ist. Sein Plan lautet, ein neues Selbst in einen Menschen einzusetzen, das er dann wie sein eigenes analysieren kann. Er dupliziert sich in gewissser Weise selbst, um sich zweifach zu erfahren. Der Innere Reiz wird gesteigert, dadurch daß er auf ihn noch einmal gespiegelt wird, erhöht um den Eigenanteil seines Objektes. Dieses Eigene pickt Johannes als Besonderes heraus und stilisiert es zum eigentlichen Wesensmerkmal der Person. Es ist für ihn eine Anlage, die zur Vollendung gesteigert werden kann - zur absoluten Ästhetik. Die Weiblichkeit als Definitionsmerkmal Cordelias führt Johannes zu der Vorstellung, er könne durch sie die vollendete Frau erspüren.

Die streng erzogene und völlig zurückgezogen Lebende Cordelia wird zur Projektionsfläche seiner Phantasien. Sie wird erst dadurch zu seinem Objekt, daß er ihre kindliche Naivität entdeckt, die es ihm erlaubt, sie zur vollkommene Weiblichkeit zu formen. Das Phantasievolle in ihr reizt ihn besonders: es beinhaltet in Johannes Augen, daß ihr jegliches eigenständiges geistiges Vermögen abgeht. "Sie hat Phantasie, Seele, Leidenschaft, kurz alle Substantialitäten, aber nicht subjektiv reflektiert.", heißt ein schwärmerischer Tagebucheintrag (399). Ein Bild einer ausschließlich schönen (am liebsten dunkelhaarig, üppig gerundet mit samtiger Haut), reinen, ursprünglichen, gedankenlosen - also eines sinnlichen Frauchens, das wie Goethes Charlotte ein Vögelchen von ihre Lippe picken läßt, schwebt ihm vor. Hier die Negation zu konstruieren führt zu dem, was Johannes unter Weiblichkeit versteht. Anmut zeichnet in seinem Sinne die Weiblichkeit aus, Sinnlichkeit, Leidenschaft, Stolz, Fraulichkeit und Erotik. Vor allem aber unreflektierte Hingabe: "Was für ein Genuß aber ist an der Liebe, wenn sie nicht die absolute Hingabe in sich hat, das heißt von der einen Seite [...]" (390).

Johannes führt sich in das Haus ein, in dem Cordelia verkehrt. Dort trifft er den werbenden Jüngling Edvard an, der zu zurückhaltend ist, die Verlobung mit der Wahlschen Tochter zu erbitten. Er ist eine Figur so ganz nach dem Geschmack des planenden Verführers, der richtige, um Cordelia die gewöhnliche Liebe auszutreiben. Nicht ohne Reiz, aber ohne ausgeprägte Persönlichkeit ist Edvard der Antiliebhaber einer träumenden Frau. Cordelia soll durch ihn erfahren, daß die Liebe in gewöhnlichen Bünden durch Langeweile dominiert ist und keine weiterführende Geheimnisse birgt. Johannes will sich nicht in institutionalisierte Bündnisse begeben, die seiner Ansicht nach die ästhetische Erfahrung der Liebe abtöten, sondern Cordelia dieses Umfeld ebenfalls verleiden. Edvard wird dazu benutzt, dem Mädchen einen ersten Teil eines neuen Bewußtsein zu übertragen. Sie soll gesteuert erkennen, dabei jedoch nicht realisieren, daß ihre Entwicklung nicht durch sie selbst, also nicht unabhängig, sondern durch die präzise über zwei Banden gespielten Kugeln Johannes angeschoben werden.

Der Tagebuchschreiber geht so weit, die Werbungen Edvards nach Kräften zu unterstützen. Er hört an und verteilt Ratschläge, Ratschläge, die voll mit kleinen Dosen Gift seines eigenen Plans sind. Weder Edvard noch die zweifach Umworbene bemerken die Intrige, die um sie gesponnen wird. Johannes spielt den vollkommenen Kavalier, einen "verläßlichen und darum besonders geeigneten Menschen [...], das junge Mädchen zu bewachen." (409) Erst als Edvard seine Gefühle zu offenbaren droht, kommt Johannes aus seinem Versteck. Cordelia ist es längst leid, Edvard zuzuhören. Sie ist mit einem Auge schon bei der Erforschung des maskenhaften Verführers, angezogen durch sein undurchschaubares und im Vergleich zu Edvards Blässe in den schönsten Farben leuchtendes Wesen.

Johannes Verhalten ist durchweg provokant: er beachtet sie scheinbar nicht, plappert mit ihrer Tante, grüßt nicht, bringt sie in Verlegenheit. Er hat Erfolg, denn Johannes analysiert wie folgt: "Cordelia haßt und fürchtet mich" (422), "nicht, als ob sie mich lieben möchte, nein, [...] Wetteifern will sie mit mir." (423). Als Edvard sich endlich dazu durchringt, um die Hand des Mädchens anzuhalten, ist die Umworbene längst in das widerstreitende Wesen des Verführers eingewickelt, hin und her geworfen von kalter Ironie und beinahe unsichtbaren liebevollen Winken, die niemals direkt auf sie zu beziehen sind. Das war auch ein Element seines Plans: "Da will sie mit, fort zu kühner Gedanken Flug. Doch es ist nur ein einziger Augenblick, im nächsten Moment bin ich kalt und trocken." (424). Cordelias Tante war innerhalb der großen Gesamtaufgabe miteingesponnen worden, durch süßliche Reden vom Leben auf dem Lande hatte Johannes sie in langfristiger Kleinarbeit für sich gewonnen. Er wittert, daß Edvard sich offenbaren will und kommt ihm zuvor: er bemüht sich um eine Verlobung mit Cordelia Wahl. Die Tante gibt dem statt.

Verlobung! Allein das Wort schmerzt in den Ohren von Johannes, der seinem Ziel immer näher kommt. "Welch ein Unterschied: unter dem Himmel der Ästhetik ist alles leicht, schön, flüchtig; wenn die Ethik dazukommt, wird alles hart, eckig und unendlich langweilig." (428). Verlobung ist in seinen Augen etwas zutiefst Ethisches, sie zerstört durch die moralischen Imperative, die sich dahinter verbergen, alles Ästhetische. Die Vorstufe für den Bund des Lebens ist in Johannes Verständnis eher Freiheitsberaubung denn Sinngebung.

Sich mit Cordelia zu verloben, soll ihr das Gefühl geben, sie würde etwas erleben, das innerhalb des Rahmens des Erlaubten etwas Außergewöhnliches ist. Ihr soll die Stütze gegeben werden, sich weiter aus dem Fenster zu lehnen - eine Stütze, die fest in Johannes Hand ist. Er schiebt sie immer ein Stückchen weiter weg, bis der Kontakt zum Ausgangsrahmen abreißt und sie nur noch auf ihn gestützt schweben kann.

Wenn Johannes sich verlobt, dann macht er sich Gedanken darüber, wie die Entwicklung weiter verlaufen soll und wie er aus der Verbindung wieder entkommen kann. "Ich habe vor dem Ethischen immer einen gewissen Respekt gehabt" (428), sagt er und bringt damit zum Ausdruck, daß ihm die gesellschaftliche Meinung nicht gleichgültig ist. Den Zorn fürchtet er schon, der über ihn käme, würde er die Verlobung lösen. Das heißt noch lange nicht, daß er sich deshalb ihm unangenehmen Konventionen beugen würde. Er will sich anders aus der Affaire ziehen: "Ich werde es schon so einrichten, daß sie selbst es ist, die die Verpflichtung aufhebt." (428). Darin sieht er sogar noch eine höhere Kunst, eine Möglichkeit, ein ästhetisches Erlebnis zu steigern: "Sich in ein Mädchen hineindichten, ist eine Kunst, sich aus ihr herausdichten, ist ein Meisterstück."(429)

Cordelia ist in seiner Macht, sie ist seinem Empfinden nach sein rechtmäßiger Besitz.

Johannes plant, ihr Liebe zu lehren, ihn lieben wohlgemerkt. "Indem sie in der Liebe ihre ganze Bedeutung fühlt, gebraucht sie sie, um mich zu lieben, und wenn sie ahnt, daß sie es von mir gelernt hat, liebt sie mich doppelt."(439). Der Haltlose, Unverankerte, der, für den Liebe nur eine Möglichkeit der Steigerung sinnlicher Eindrücke ist, will der unbedarften Kleinen Halt suggerieren. Der ausschließlich selbstfixierte Mann ohne Lebenszusammenhalt treibt seinem Opfer zunächst konventionelle Stützen aus und ersetzt sie durch scheinbar erlebnisreichere und spannungsvollere. Die von ihm erzeugten Stützen sind lediglich die Spiegelung seines Gedankengebäudes in sie.

Um sie dahin zu bringen, lautet sein Ziel, ihr jegliche Bewußtwerdung unmöglich zu machen. Er möchte diesen Platz in ihr besetzen, um Eigenständigkeit zu unterdrücken. Sie soll die Ziele, die Johannes ihr vorgibt als ihre eigenen verfolgen und sie als die Basis ihres Daseins verinnerlichen. Dadurch daß er sie bewußt macht, mit seinen Gedanken in ihr, läßt er sie sich bewußt fühlen. Er geht diesen Weg, um ihr den neuen eigenen Wesenskern wieder entziehen zu können - er macht sie klassisch abhängig von sich. Der Schlüssel dazu ist die Entwurzelung von ihrer bisherigen Moral. Gelingt diese Vereinzelung, wird sie dazu getrieben, mit allem ihr ästhetisch möglichen um ihn zu werben. Sie steigert sich dann in ihre Vervollkommnung, die völlige weibliche Hingabe und damit in sein Ideal. Dem Absoluten entwickelt sie sich entgegen - und erntet das Nichts. Die reife Frucht verzehrt er, mit einem Biß. In seinen Worten: "Nein, wenn man es dahin bringen kann, daß ein Mädchen für ihre Freiheit nur eine einzige Aufgabe hat, nämlich die, sich hinzugeben, daß sie ihre ganze Seligkeit darin empfindet, daß sie sich diese Hingabe geradezu erbettelt und doch frei ist, erst dann gibt es Genuß, dazu gehört aber stets geistiger Einfluß." (398)

Er liebt Cordelia - "im ästhetischen Sinne" fügt er an (449). Sie ist für seine ästhetischen Beutezüge das richtige Opfer, mein Hirsch, ich lieb´ dich so - auf meinem Teller. Johannes spricht selber von "Angriffen" (390) und seiner "Beute" (377), er würde jedoch nie auf einen Hochstand steigen und selbst die Hand anlegen. Er gräbt ein Loch gleich unter sich, mit Mechanismen ausgestattet, die das Tier sich selbst zerlegen und braten lassen, wenn es zu nahe kommt. Die Verführung ist sein Ziel auf erster Ebene, der Genuß als Selbsterfahrung sein eigentlicher Antrieb. Cordelia soll sich ihm hingeben, mit aller Sinnlichkeit und voller Vertrauen. Sie soll seine Vorstellungen ausführen, ohne die kleinste Ahnung von dem, was sie tut. Sie soll aus den von ihm implantierten Gedanken heraus sich selbst zur ästhetischen Vollkommnung steigern, die in ihr angelegte Weiblichkeit zur absoluten Erotik und Fraulichkeit hinbewegen.

Cordelia ist soweit, mit Johannes zusammenzugehen. Dazu notiert er: "Zwar kommt sie im Schlaf zu ihrem Sieg, [...] andererseits jedoch muß sie immerfort geweckt werden. Wenn es dann für einen Augenblick so aussieht, als würde ihr der Sieg wieder entwunden, dann muß sie lernen, ihn festhalten zu wollen. In diesem Ringen reift ihre Weiblichkeit." (450). Für Johannes ist nicht der Weg das Ziel, er ist das Mittel, die Besonderheit der Verführung zu steigern. Er muß immer an sich halten und auf seinen Verstand verstrauen: "Geduld - sie muß noch ganz anders in mein Gewebe eingesponnen werden, und dann plötzlich lasse ich die ganze Macht der Liebe daherbrausen." (406).

Er spinnt und spinnt, an zwei Seiten gleichzeitig bauend. Die Briefe, die er sendet, strotzen vor Begehren, Sinnlichkeit und Romantik. Sein Auftreten ist kühl und geheimnisvoll wie bisher. Er reizt Cordelia so gut er kann. "Die Billette lassen das Höchste fern und unbestimmt ahnen" (463), die Ahnung lockt die kleine Wahl mehr und mehr. Als der Verführer den Ton in den Briefen zurückhaltender werden läßt und gleichzeitig indirekt von der Freiheit außerhalb gesellschaftlicher Bande wie Verlobungen spricht, wird für sie klar, wie sie der Liebeserfüllung näher kommen kann: Sie löst die Verbindung, um näher zu ihm zu rücken.

Das Bild dazu lieferte natürlich er, in einem Billet: "Unsere äußerliche Vereinigung ist doch nur eine Trennung. Noch ist da eine Zwischenwand..." (498).

"Das Weib ist nämlich Substanz, der Mann Reflexion" (505) heißt die Kurzzusammenfassung von Johannes. Seine Substanz hat er gefüllt mit dem von ihm Erdachten. Sie beginnt schon uninteressant zu werden, angesichts des Erfolges, den er betrachten kann. "Meine Seele fordert immer wieder Verjüngung" blickt er schon wieder nach vorne, zu neuen Erfahrungen, noch bevor er sein ausgesprochenes Ziel überhaupt erreicht hat. Sein Lohn droht kurzzeitig noch einmal davonzuschwimmen, als sie beginnt, sich Gedanken über die Folgen ihrer Hingabe zu machen, als sie die Moral wieder in ihr Blickfeld läßt. Die ersten Regungen eines eigenen Bewußtseins erstickt der Stratege mit einigen gezielten Briefchen. Er selbst muß schon dafür sorgen, sich "in Stimmung [zu] halten"(515).

Er entehrt sie auf dem Lande. Es ist beinahe nur noch Überprüfung, wie gut sein Werk gelungen ist, es ist der lästige Test eines von seinem Werk überzeugten Menschen, ob alles perfekt geraten ist. Nach ihren totalen Offenbarung kann sie seine Seele nicht mehr bewegen. Nur eine Nacht, dann ist sie uninteressant.

Die Funktion des Verführers Johannes für das Denken Kierkegaards erschließt sich am besten über die Betrachtung der Person "A", die die Tagebücher gefunden hat und innerhalb von "Entweder-Oder" veröffentlicht. "A" ist der eigentliche Vertreter der Ästheten in dem Werk. Auch ihn beengt der Wunsch nach einem irgendwie gearteten Eindruck, um sein Leben und sich selbst zu spüren. Dabei ist ihm der Sinn jeglicher Tätigkeit abhanden gekommen - er hat sich soweit auf sein Inneres zurückgezogen, daß er, vereinsamt wie er ist, wegen seiner permanenten Unerfülltheit den Reiz für seine Sinne weiter steigern muß. "A" ist ein harmloser, lethargischer, selbstmitleidiger Antimoralist, auf einer gängigen ästhetischen Ebene. Er fiebert nach Eindrücken und ist darüber verwundert, daß kein Ereignis ihn mehr berührt.

Die "Tagebücher des Verführers" möchte er gelesen wissen, da sie ihn durch ihre Radikalität sowohl anziehen als auch abstoßen. Das anziehende Moment ist der Versuch, ein "poetisches Leben zu realisieren", wie er Johannes Lebenseinstellung zusammenfaßt. Abstoßend wirkt die daraus resultierende Folge.

Nachdem alles Gemeinschaftliche und Menschliche aus dem Dasein des Ästheten gestrichen ist, kann er andere Menschen nur mehr verachten, wenn die sich weiter an moralischen Kategorien orientieren. In seinen Augen sitzen Moralisten und Ethiker in einem Käfig der Selbstbeschränkung, er selber in Freiheit, dem wahren Genuß und der wahren Erfüllung viel näher - stattdessen hat er sich isoliert und bekommt keinen Zugang mehr zu anderen. Sie wirken nicht auf ihn, denn die einzige Wirkung hat er selbst auf sich. Johannes kann nur genießen, sich in etwas zu erleben, da er das einzige ist, was ihm geblieben ist. Er benötigt dazu die geistige Auseinandersetzung, den Kontakt über das Bewußtsein. Die ästhetischen Kontakte sind deshalb nicht Erweiterungen seines Innerern, seines Empfindungsvermögens, sondern sie sind Mittel, um es überhaupt spürbar zu machen. Er benötigt fremde Personen, um sich in diesen erfahren zu lassen. Dies ist sein Weg, einen Eindruck zu verstärken, nicht durch Verstärkung des Reizes, sondern durch Steigerung seines Anteils daran.

Der Ästhet muß alleine ausfüllen, was sonst ein ethischer Grundzusammenhang liefert. Auf sich selbst gestellt, wie er ist, bleibt ihm nichts weiter als zu versuchen, das, was ihm bleibt zu kultivieren. Johannes baut auf seine geistige Fähigkeit und die Sensibilität, Reaktionsmechanismen anderer zu durchschauen. Bedingt durch seine Losgelöstheit von einem allgemeinen Daseinssinn, muß er versuchen, ein Äquivalent in sich aufzubauen. Die einzigen Bausteine dazu sind die Abneigung alles Moralischen-Ethischen gegenüber und der Versuch einer Selbst- Erfahrung. Der Antrieb seines gesamten Handelns ist demnach die Suche nach einem greifbaren Etwas in sich.

Johannes wird zum Selbst- Sucher, ist aber derart stark in seinem selbstreferentiellen Innenkreis eingeschlossen, daß er, den Fremdkontakt meidend, von sich erplante Ichs in Andere verpflanzt. Er projeziert Wunsch-Ichs in weiche, formbare Personen, um sich und die von ihm gesteuerten Handlungen über sie wieder auf sich zurückspiegeln zu lassen. Er treibt seine Opfer Höhepunkten entgegen, die ihn wegen des Bewußtsein ergötzen, sie erzeugt zu haben und die Basis ihrer Größe zu sein. So spürt er sich indirekt selbst.

Johannes muß bei Kierkegaard dazu herhalten, das Extrem zu personifizieren, das sich aus einer Lebensplanung außerhalb der christlich-moralischen Kategorien ergeben könnte. Kierkegaard steigert die Folgen nicht bis zum Mord, aber doch bis zur Verführung, als Inbegriff des Angriffs auf die Unschuldigkeit und einer Wurzel des christlichen Moralbegriffs. Er mußte die Geschichte des Verführers schon separieren, um seine Kritik an einem ästhetischen Leben nicht komplett überzogen und diskussionsunwürdig erscheinen zu lassen.

Die Verführung von Cordelia ist in soweit schlüssig, als daß die Vorgaben der Charaktere mit den Resultaten ihrer Handlungen übereinstimmen. Sie sind beide genau so angelegt, daß es zur Katastrophe kommen muß. Selbst die Plausibilität der unglaublichen Planung, der wahnhaften Verstrickung und der perfiden Ausführung des geschilderten Planes ist Kierkegaard nicht abzustreiten. Als Abschreckung vor dem Ästhetischen Leben taugt das tragische Schicksal der siebzehnjährigen Wahl aber nicht. Bei der Abwehr dieser Lebenseinstellung ist er, offensichtlich getrieben durch seine Selbstüberzeugung eines moralisch-religiösen Lebens, über das Ziel hinaus geschossen. Der Wahnwitz Johannes treibt diesen trotz der persönlichen Schilderung, die sich aus der Tagebuchform ergibt, aus der Realität davon. Es bleibt eine Kinofigur wie Hannibal Lekter, den Millionen im "Schweigen der Lämmer" als genialen aber gemeingefährlichen Kranken kennengelernt haben. Er hat Grusel durch seine menschliche Grausamkeit erzeugt, dadurch aber seine Antriebsgründe verdeckt. Dieses Schicksal droht Kierkegaards Johannes ebenfalls.

Kierkegaard stellt völlig richtig und nachvollziehbar dar, was die Loslösung eines Individuums von gesellschaftlichen Moralrahmen für diesen bedeutet. Die Freiheit der moralischen Unabhängigkeit entpuppt sich deutlich als eine Chimäre; sie ist eine Gefängnis mit neuen Grenzen. Die ganze Sinnlosigkeit, die ein Leben ohne gesellschaftlichen Rahmen, ohne ein spürbares Selbst bietet, die Notwendigkeit, das Kümmerliche, das bleibt, wenn man sich von allem Außen löst, sich selbst wieder und wieder möglichst intensiv vorzuspiegeln, um das Gefühl zu bekommen, man sei noch da, man sei noch wer - Kierkegaard macht die Ausweglosigkeit des vollkommenen Anti-Moralismus offenbar.

Johannes bleibt bestehen als der psychologische Verführer. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Kierkegaard diesen Teil von "Entweder- Oder" nicht mehr zur Verarbeitung der Lösung seiner eigenen Verlobung genutzt hat, als zur Abschreckung vor antimoralischen Wertkonzepten. Dazu taugt er ebenso wie die Diffamierung von Wählern der Sozialdemokraten als Sypathisanten einer Roten Front oder der Grünen als RAF-Anhängern. Aus derart unverhältnismäßigen Übertreibungen spricht Dogmatismus aber nicht das Interesse, sich mit der anderen Position auseinanderzusetzen. Ein genießender Menschen, der ästhetische Eindrücke über das Gefühl einer geleisteten Buße setzt ist noch kein Gesellschaftszerstörer - wie ein Linkswähler noch lange keinen Staatskommunismus verlangt.

Kierkegaards Übertreibung hat die Wirkung verblassen lassen: Johannes ist der Schreck aller keuschen Mädchen aber beiliebe nicht der Schreck einer moralischen Gesellschaft. Er bleibt ein Phantom - denn seine Kontaktlosigkeit wird durch nichts wieder aufgehoben.

Textstellen:

Plan: 401ff

Edvard gg. Johannes: 411

Johannes zu Cornelia: 424

Ethische Verlobung: 428

Lieben lernen: 439

Zweck der Briefe: 463

Schmalziger Brief: 465

Verlobung lösen: 497f

Sein für anderes: 503ff

Wäre wissenswert: 521

Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Kierkegaard - Rezension von Entweder - Oder
Autor
Jahr
1998
Seiten
8
Katalognummer
V95890
ISBN (eBook)
9783638085687
Dateigröße
345 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kierkegaard, Rezension, Entweder, Oder
Arbeit zitieren
Philipp Müller (Autor:in), 1998, Kierkegaard - Rezension von Entweder - Oder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95890

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Titel: Kierkegaard - Rezension von Entweder - Oder



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