Das Sprachspiel


Seminararbeit, 1999

17 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Hautteil:

1. Sprachspiel

2. Lebensform

3. Regeln

4. Die Widerlegung des Sprachbilds bei Augustinus

Schluss

Das Sprachspiel

Einleitung

„Nur im Fluß des Lebens haben die Worte ihre Bedeutung.“[1]

Diese Aussage Ludwig Wittgensteins enthält im Wesentlichen die zentralen Thesen seiner späten Sprachphilosophie, die vor allem in den Philosophischen Untersuchungen dargelegt sind.

Nach Wittgenstein haben Wörter „kein semantisches Jenseits, keinen Raum metaphysischer Bedeutungen“[2], wird Sprache also nicht „metaphysisch verbrämt“, wie Eike v. Savigny es ausdrückt.[3] Vielmehr findet sich für Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes oder Satzes in seinem Gebrauch, eingebettet in eine durch soziale Faktoren geprägte Situation.

Um diese Behauptung fundieren zu können und plausibel zu machen, bildet Wittgenstein den Begriff des Sprachspiels. In den Philosophischen Untersuchungen (im Folgenden nach der gängigen Abkürzung PU genannt) finden sich zahlreiche Beschreibungen von Sprachspielen; eine direkte Definition des Begriffs gibt Wittgenstein jedoch nicht. Um das Sprachspiel erfassen und verstehen zu können sind daher einige zentrale Begriffe aus den PU, nämlich der der Lebensform, und der der Regel von großer Wichtigkeit.

Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich in erster Linie mit den Paragraphen 1 bis 64 der PU. Hier wird der Begriff des Sprachspiels über das Aufzeigen eines unvollständigen Sprachbildes bei Augustinus mittels Beispielen primitiver Sprachspiele entwickelt; dies geschieht hin zu einer pragmatischen Theorie der Sprache, die den Akt des Sprechens immer als Handeln nach Regeln in einem sozialen Kontext sieht und erst in diesem Kontext die Worte, Sätze und Äußerungen, also die Sprache ihre Bedeutung erlangt.

1. Das Sprachspiel

Wittgenstein beginnt seine Philosophischen Untersuchungen mit einem Zitat von Augustinus, in welchem dieser ein klassisches Bild der Sprachentwicklung (am Beispiel des Kindes, dass zu sprechen lernt) darstellt: das Kind lerne die Sprache, indem es Gegenstände, auf die die Erwachsenen zeigen, mit den Lauten verbindet, welche diese aussprechen (PU1).

„Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände“, so Wittgenstein zu dem Zitat, und weiter: „Jedes Wort hat eine Bedeutung. Die Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welches das Wort steht.“ So lernt das Kind nach Augustinus zunächst Gegenstände, „Hauptwörter, wie ‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Brot‘ und die Namen von Personen“ zu benennen. Erst später fügen sich Verben, Adjektive und eben „all die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird“[5] in den Sprachgebrauch ein. Diese Theorie kritisiert Wittgenstein nun mittels eines Beispiels der Verwendung von Sprache: Jemand wird mit einem Zettel, auf dem „fünf rote Äpfel“ geschrieben steht, zum Kaufmann geschickt. Der Kaufmann ermittelt mit Hilfe einer Farbmustertabelle die Farbe Rot, öffnet die Lade, auf der das Zeichen für Äpfel steht und nimmt, indem er die Zahlen bis fünf aufsagt, bei jeder Zahl einen Apfel heraus. Die Bedeutung des Wortes „Apfel“ ist hier noch durch Augustinus Theorie erklärbar: das Zeichen für Äpfel bezeichnet unmittelbar die Gegenstände Äpfel. Ebenso verhält es sich mit der Farne Rot im Farbmuster. „Was ist aber die Bedeutung des Wortes ‚fünf‘ “ fragt Wittgenstein am Ende von PU1. Für ‚fünf‘ gibt es keinen Gegenstand, der auf dieses Zeichen verweist, der ihm konkrete zugewiesen werden kann. Woher kennt der Kaufmann also die Bedeutung des Wortes ‚fünf‘?

Die Antwort, die Wittgenstein im Laufe der PU entwickelt, wird im letzten Satz von PU1 bereits angedeutet: „Von einer solchen [Bedeutung, J.B.] war hier garnicht [sic!] die Rede; nur davon wie das Wort ‚fünf‘ gebraucht wird.“[6] Die Bedeutung der Sprache muss also eng mit ihrem Gebrauch zusammenhängen.

Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs führt Wittgenstein den Begriff des Sprachspiels ein. Er spricht von Sprachspielen als “Sprachformen, mit denen ein Kind anfängt, Gebrauch von Wörtern zu machen“[4] und in PU7 heißt es ( hier wird der Begriff erstmals in den PU verwendet):

Wir können uns auch denken, daß der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele ‚Sprachspiele‘ nennen und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. Und man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachsprechens des gesagten Wortes auch Sprachspiele nennen.

Aus die sen Aussagen leitet Kurt Wuchtel drei Bedeutungen des Sprachspielbegriffs ab: Das Sprachspiel

„1.) als Modell einer primitiven Sprache,
2.) als sprachliche Funktionseinheit und
3.) der sprachlichen Fähigkeiten.“[5]

PU2 beschreibt ein solches Modell einer „primitiven Sprache“: zwei Sprechpartner bauen etwas. Die zur Verfügung stehenden Bausteine sind Würfel, Säulen, Platten und Balken. Sprecher A gibt die Anweisungen zum Bau, indem er die die Gegenstände benennenden Worte (Würfel, Platten usw.) seinem Gehilfen B zuruft. B hat die Gegenstände, in der Reihenfolge, wie A sie ausruft, A zu bringen („B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen.“[10] )

Eine Erweiterung dieses Sprachspiels wird in PU8 dargestellt: Hier kommen eine Wortreihe, die wie eine Zahl- oder Buchstabenreihe verwendet wird, und eine Anzahl von Farbmustern (beide in der Verwendung gleich der des Kaufmanns in PU1) und die Wörter ‚dorthin‘ und ‚dieses‘ hinzu. Mit diesen Zusätzen sind verschiedene Möglichkeiten innerhalb des Sprachspiels denkbar. So könnte A B auffordern, einen C- Würfel ‚dorthin‘ zu tragen. Dorthin wäre die Stelle, auf die A mit dem Finger zeigen würde. Oder A könnte auf eine Platte zeigen und sie mit ‚dieses‘ bezeichnen und B auffordern, sie ihm zu bringen. Ähnliche Beispiele gibt Wittgenstein in PU8 selbst.

Wittgenstein wählt mit Absicht derart einfache Sprachspiele :

Das Studium von Sprachspielen ist das Studium primitiver Sprachformen oder primitiver Sprachen. Wenn wir die Probleme von Wahrheit und Falschheit, von der Übereinstimmung und nicht Übereinstimmung von Sätzen mit der Wirklichkeit, von der Beschaffenheit von Behauptung, Annahme und Frage studieren wollen, dann wird es von Vorteil sein, primitive Sprachformen zu untersuchen, in denen diese Denkformen ohne den verwirrenden Hintergrund äußerst komplizierter Denkprozesse auftreten. Wenn wir solche einfachen Sprachformen untersuchen, dann verschwindet der geistige Nebel, der unsern gewöhnlichen Sprachgebrauch einzuhüllen scheint. Wir sehen Tätigkeiten und Reaktionen, die klar und durchsichtig sind. Anderseits erkennen wir in diesen einfachen Vorgängen Sprachformen, die von unseren komplizierten Sprachformen keineswegs durch einen Einschnitt getrennt sind. [6]

Die Worte Tätigkeit und Reaktion verdeutlichen, dass zu den beschriebenen primitiven Sprachspielen sehr viel mehr gehört als das bloße Auffordern und Heranbringen der Gegenstände: Beiden Beteiligten, A und B, muss ihre eigene (Sprech-) Rolle im Sprachspiel sowie die des anderen klar sein. Wüßte B nicht, dass A die Bauplananweisung hat, würde er die Bausteine vielleicht in einer ganz anderen Reihenfolge bringen, nämlich nach den Vorstellungen, die er von einem Bauwerk hat. Er würde nicht auf A’s Anweisungen hören, würde die Worte vielleicht gar nicht wahrnehmen oder zumindest nicht als Anweisungen für ihn. Wüßte A wiederum nicht, dass er B als seinem Gehilfen die den Gegenstand bezeichnenden Wörter mit den zugehörigen Anweisungen wie ‚dorthin‘ zurufen muss, damit dieser sie holt, würde er vielleicht schweigen und selbst die Bausteine holen. A ist so die Funktion seines Ausrufs klar, B die Funktion seines Heranholens, deshalb sind „ Ausrufe und Herbringen [...] in den Zusammenhang aufeinander abgestimmten Handelns eingebettet.“[7] Wäre dieses Handeln von A und B nicht in der Weise aufeinander abgestimmt, dass A die Wörter nennt und B den Anweisungen, die die Wörter für ihn bedeuten, nachkommt, „gäbe es keinen Grund die vier Wörter [Würfel, Platte, Säule, Balken; J.B.] als Bezeichnung von Bausteinen aufzufassen.“[8] Denn wenn B die Gegenstände in einer anderen Reihenfolge bringt, ist die Gegenstandsbezeichnung ‚Baustein‘ in diesem Sprachspiel keine Wort- oder Gegenstandsbezeichnung mehr, eben weil A den Gegenstand nicht gebrauchen kann. Ohne das aufeinander abgestimmte Handeln, also den Gebrauch der Worte innerhalb des Sprachspiels, [9] ließen sich die Gegenstände nicht mehr als Bausteine bezeichnen, weil sie dann ihre Bedeutung im Sprachspiel verloren hätten: Die Wörter sind nur deshalb als Bezeichnungen bedeutungsvoll, „weil sie eine bestimmte Rolle im Umgang der Sprachbenutzer miteinander und mit Sachen spielen.“[10] Nur indem die Sprachpartner A und B die Bezeichnungen der Wörter gebrauchen, bekommen diese als Bezeichnungen von Gegenständen (Bausteine) Bedeutung.

Anhand dieses primitiven Sprachspiels wird also deutlich, was Wittgenstein in PU43 sagt: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“[11]

Kein Wort hat an und für sich eine Bedeutung. Erst durch den Gebrauch im Sprachspiel werden Wörter und Sätze bedeutungsvoll. „Bedeutung kommt einemWort nur in einemfunktionierenden Sprachspiel zu. Sie ist weder eine Vorstellung noch ein Dingnebender Sprache, sondern existiert nur im Vollzug des Spiels.“[12]

Das heißt auch, dass das Wort keine metaphysische Bedeutung an sich hat. Worte haben kein eigenes, narratives Wesen, sie teilen sich bzw. ihre Bedeutung nicht demjenigen, der sie als Laute oder Zeichen identifiziert, mit. Ohne den spezifischen Gebrauch im Sprachspiel sind Wörter nichts anderes als Laute und Zeichen ohne Inhalt. Savigny drückt dies so aus: „Ausdrücke sind als Wörter bedeutungsvoll nicht deshalb, weil der Sprecher sich bei ihrem Gebrauch ihren Bedeutungen zuwendet, sondern kraft ihrer Verwendung in Sprachspielen.“[13]

Da Worte in sehr verschiedenen Situationen und Kontexten gebraucht werden, gibt es auch sehr verschiedene Sprachspiele. Sie können, wie festgestellt wurde, sehr einfach und überschaubar sein. Aber auch lange Unterhaltungen, Streitgespräche oder Unterrichtsgespräche sind Sprachspiele. Da Wittgenstein in PU7 die gesamte Sprache als Sprachspiel bezeichnet, kann man sagen, dass auch Sprache an sich ein „offenes System von Sprachspielen, ein eigens Sprachspiel ist“.[14] Die Mannigfaltigkeit der Sprache, ihrer Bedeutung durch ihren Gebrauch, und die Verschiedenheit der Sprachspiele wird in PU18 beschrieben:

Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.

Einige der Häuser und Gassen stellen die Schriftsprache dar; andere und vor allem die Vororte, vielleicht die primitiven Sprachspiele , die Sprache der Mathematik, oder andere Kunstsprachen (die „geraden und regelmäßigen Straßen [...] mit einförmigen Häusern“ stehen hier für die Überschaubarkeit dieser Sprachen durch ihre abstrakte Form). Weiterhin wird deutlich, dass Sprache, wie oben erwähnt, ein „offenes System“ ist, nicht einzugrenzen und festzulegen (Savigny schreibt in seinem Kommentar zu PU18 „daß jede Sprache erweiterungsfähig, also keine Sprache vollständig ist.“[15]): „Und mit wieviel Häusern, oder Straßen, fängt eine Stadt an, Stadt zu sein?“ (PU18). Wie Wittgenstein im bereits erwähnten Paragraphen 23 sagt bleibt Sprache nie stehen, sondern entwickelt sich immer weiter. Alte Ausdrücke werden nicht mehr in Sprachspielen verwendet, neue Wörter kommen hinzu; „Häuser[.] mit Zubauten aus verschiedenen; [...] umgeben von einer Menge neuer Vororte [...]“ (PU18).

Der Sprecher einer Sprache befindet sich mitten in der Stadt (also auch mitten in der Sprache). Je besser er die Sprache beherrscht, das heißt je besser er die Wörter in verschiedensten Sprachspielen gebraucht (und er durch diesen Gebrauch die immer zahlreicheren Bedeutungen erkennt), desto besser kennt er sich in der Stadt aus. Schließlich kennt er vielleicht auch die alten Bauten (Wörter, die weil veraltet, nicht mehr gebraucht werden) und die Vororte (Kunstsprachen).

Um dem Sprechenden die Bedeutung von Sprache (und auch ihre Vielschichtigkeit) und die Bedeutung des Sprachspiels bzw. die Bedeutung, die Wörter durch das Sprachspiel bekommen, deutlich zu machen, verwendet Wittgenstein die einfachen Formen des Sprachspiels. „Wir sehen, daß wir die komplizierten Formen aus den primitiven zusammensetzten können, indem wir nach und nach neue Formen hinzufügen.“[16] (der Bezug auf das Zitat Wittgensteins auf S.3 ist hier erkennbar). Anhand der primitiven Sprachspiele werden eben die grundsätzlichen Züge, die jedes Sprachspiel aufweist, deutlich.

In PU23 spricht Wittgenstein die Vielzahl der Sprachspiele, die sich aus der Vielzahl der verschiedenen Verwendungen von Sprache ergibt, explizit an :

Wieviel Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptungen, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedener Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.

Anhand eines Beispiels in PU11 werden die verschiedenen Funktionen von Wörtern zum Ausdruck gebracht. In einem Werkzeugkasten finden sich verschiedene Werkzeuge wie Hammer, Zange oder Schraubenzieher. Der Werkzeugkasten kann hier als Metapher für Sprache verstanden werden und „so verschieden die Funktionen dieser Gegenstände [die Werkzeuge, J.B.], so verschieden sind die Funktionen der Wörter.“ (PU11). So wie also ein Hammer dazu benutzt wird, einen Nagel in eine Wand zu schlagen, wird ein Wort oder Satz mit einer bestimmten Funktion in einem Sprachspiel benutzt. Und sowohl das Werkzeug als auch das Wort erlangen ihre Bedeutung erst durch ihren Gebrauch. Der Hammer als Werkzeug wird in verschiedenen Situationen verwendet: man kann damit einen Nagel in eine Wand schlagen, oder in Holz, man kann mit ihm aber auch einfach Dinge zerschlagen. Auch ein und dasselbe Wort hat in verschiedenen Sprachspielen verschiedene Funktionen und wird in verschiedenen Situationen gebraucht. Es kommt immer darauf an, in was für eine Situation, was für ein Sprachspiel das Wort eingebettet ist. „Es geht dann nicht mehr um die Bedeutung des Wortes ‚fünf‘ oder um den Sinn des Satzes ‚fünf rote Äpfel‘, sondern um die Frage, wieso eine Äußerung die Bedeutung hat, daß der Sprecher beim Adressaten fünf rote Äpfel bestellt.“[17] Savigny bringt hier zum Ausdruck, dass die Äußerung eines Wortes oder Satzes eine spezifische Bedeutung durch die Einbettung der Äußerung in einen spezifischen Kontext bekommt. Anhand des Beispielsatzes „Ich bin gerade an der Ausfahrt Gütersloh vorbei“[18] wird dies deutlich. Der Satz sagt aus, dass der Sprecher soeben an der Ausfahrt Gütersloh vorbeigefahren ist. Als Äußerung in einem Telefongespräch könne dieser Satz als Äußerung nun verschiedene Bedeutungen haben.

Der Sprecher teilt dem Adressaten mit, daß er die letzte Ausfahrt Gütersloh passiert hat (beide planen, wie sie sich am besten treffen können); der Sprecher weist den Vorschlag des Adressaten zurück, sich mit ihm an der Ausfahrt Gütersloh zu treffen; der Sprecher droht dem Adressaten damit, ihn in Sennestadt noch zu erwischen; der Sprecher bietet dem Adressaten an, ihn in Sennestadt zu besuchen und so weiter.[19]

Die unterschiedlichen Verläufe des Telefonats, in denen der Satz „Ich bin gerade an der Ausfahrt Gütersloh vorbei“ vorkommt, sind unterschiedliche Sprachspiele. Der immer gleich verwendete Satz hat jedoch als Äußerung im jeweiligen Sprachspiel eine Bedeutung, die immer verschieden ist (gleich dem Hammer, der unterschiedliche Funktionen in unterschiedlichen Situationen hat).[20]

In PU21 schreibt Wittgenstein: „Was ist nun der Unterschied zwischen der Meldung, oder der Behauptung, ‚Fünf Platten‘ und dem Befehl ‚Fünf Platten‘? - Nun, die Rolle, die das Aussprechen dieser Worte im Sprachspiel spielt.“ Auch hier bekommt die Äußerung ihre Bedeutung erst durch die Einbettung in eine Äußerungssituation. Ob „Fünf Platten“ als Meldung oder als Befehl verstanden wird, hängt einerseits von der Betonung der Worte ab, andererseits von der Situation, in der sich der Sprecher befindet (und die ihn dann dazu bringt, den Satz als Meldung oder Befehl zu äußern).

2. Lebensform

Wesentlich für die Bedeutung von Sprache und für die des Sprachspiels ist neben dem Gebrauch der Sprache auch die Situation, in der sich Sprachpartner befinden. Die Sprache gebrauchen bedeutet für Wittgenstein auch, „daß jede sprachliche Äußerung gesellschaftliches Handeln ist und jede praktische Handlung ‚sprachlich‘.“[21]

In PU19 heißt es: „Und eine Sprache vorstellen heißt sich eine Lebensform vorstellen.“ und in PU23: „Das Wort Sprachspiel soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ Als Beispiel nennt Wittgenstein in PU19 die Sprache in einer Kriegsschlacht, die nur aus Meldungen und Befehlen besteht. Dieses Sprachspiel kann eben nur in der Lebensform „Schlacht“ gespielt werden; Befehle und Meldungen sind die charakteristischen Äußerungen in dieser Lebensform und finden sich auch in ihrer Form nur hier. „Ein Verstehen der Sprache ohne Einsicht in die Tätigkeit, in die sie verwoben ist, sei [so Wittgenstein, J.B.] ausgeschlossen.“[22], so Joachim Schulte. Damit die Sprachpartner die Befehle und Meldungen in der Schlacht verstehen (also ihnen die Bedeutung durch den Gebrauch klar ist), muss vorausgesetzt sein, dass auch das zu der Lebensform gehörige Handeln, welches die Sprache einbettet, vollzogen wird. „Unter einer Lebensform versteht Wittgenstein [...] die Gesamtheit der Praktiken einer Sprachgemeinschaft.“[23]

Wer eine bestimmte Sprache spricht, bewegt sich in einer bestimmten Lebensform, in einer sozia len Gemeinschaft, welche die Sprache prägt. Nur weil wir uns in dieser Lebensform befinden benutzen wir unsere Sprache so und nicht anders:

Daß ein Regelsystem (eine Sprache) in ein anderes (in eine Lebensform) eingebettet ist, heißt, daß die Möglichkeit, sich nach dem ersteren System zu verhalten und die von ihm vorgesehenen Ergebnisse zu erzielen (die Sprache zu benutzen), davon abhängt, daß man sich auch im letzteren System bewegt (daß man die Lebensform lebt).[24]

Und „verschiedene Sprachen kommen gerade durch Unterschiede zwischen den einbettenden Lebensformen zustande.“[25], so Savigny. Es geht also nicht darum, wie sich Sprachpartner in einem Sprachspiel zueinander verhalten, bzw. wie sie aufeinander bezogen (sprachlich) handeln (wie es beispielsweise in Bezug auf PU2 und PU8 auf S. 3 Beschrieben ist), sondern auch in was für einer sozialen Situation (Lebensform) sie sich befinden. Erst diese ermöglicht ihnen, dass sie Sprache im Sprachspiel so verwenden, wie sie es tun und dass sie ihre Tätigkeiten eben so aufeinander beziehen, dass beiden die Bedeutung ihrer Worte durch die Tätigkeit klar ist. Die Lebensform ist also quasi die erste Voraussetzung dafür, dass Wörter in einem Sprachspiel gebraucht werden und damit Bedeutung erlangen können und verstanden werden. Damit ist die Lebensform auch Voraussetzung für jegliches gesellschaftliches Handeln (vgl. Bezzel), was selbst wiederum wesentlicher Bestandteil der Lebensform (vgl. Schulte) ist.

Anhand der obigen Ausführungen wird nun verständlich, was Kurt Wuchtel mit den beiden letzten Bedeutungen des Sprachspiels („als sprachliche Funktionseinheit“, und als „Gesamtheit der sprachlichen Fähigkeiten“; siehe S. 3) meint: Das Sprachspiel ist eine sprachliche Funktionseinheit, weil es einerseits das aufeinander abgestimmte (sprachliche) Handeln der Sprachpartner impliziert. Andererseits ermöglicht erst die Lebensform den Sprachpartnern, dass sie aufeinander abgestimmt handeln können. Nur so kommt die Ebene einer Funktionseinheit der Sprache zustande, auf der sich beide finden können; ein Sprachspiel, dass beide miteinander spielen können. Das Sprachspiel als „Gesamtheit der sprachlichen Fähigkeiten“ beinhaltet dies auch, zielt jedoch auch auf die gesamte Sprache (als „offenes System“) als Sprachspiel, also ebenso auf das Ganze des gesellschaftlichen Handelns als Kommunikation überhaupt. Deshalb sagt Wuchtel über die letzten beiden Möglichkeiten: „Die dritte Verwendung ist äußerst selten, weil sie keiner Präzision fähig ist [...] Im Mittelpunkt steht daher zweifellos das‚Sprachspiel als Funktionseinheit‘.“[26] Die Definition des Sprachspiels als Funktionseinheit zeigt jedoch, dass die beschriebenen Sprachspiele aus PU2 und PU8 nicht nur primitiver Art sind, sondern bereits in einfacher Weise eine Funktionseinheit bilden, wie die Erläuterungen der letzten Seite zeigen.

In PU25 kritisiert Wittgenstein die allgemeine Annahme, Tiere sprächen nicht, weil ihnen dazu das geistige Vermögen fehle: „sie denken nicht, darum sprechen sie nicht.“ Die Voraussetzung für Sprache ist aber eben nicht die, dass es eine innere Sprache (Denken ist eine Art inneres Sprechen) gibt, so Wittgenstein, sondern dass eine Lebensform vorhanden ist, die das Sprachspiel, also das Sprechen einer Sprache ermöglicht. Da das Tier nicht in einer sozial - handelnden Gesellschaft (Lebensform) lebt, kann es Sprachspiele nicht „spielen“, da Sprache eben die Einbettung von Worten in die Lebensform ist. Ohne eine Lebensform besteht keine Notwendigkeit, das, was innerhalb dieser an Tätigkeiten ausgeführt wird, auszudrücken. Daher sagt Wittgenstein auch: „sie (die Tiere, J.B.) verwenden die Sprache nicht.“ (PU35) Denn „Verwendung der Sprache ist die Einbettung der Äußerungen in Handlungszusammenhänge. Es kommt darauf an, daß es bei den Tieren keine Lebensform wie beim Menschen gibt, die Lautäußerungen einbettet und ihm dadurch Bedeutung zuspricht. Was den Tieren dafür, daß sie eine Sprache hätten, abgeht, ist nicht das innere Denken, sondern eine soziale Lebensform, die so reich wie bei den Menschen ist.“[27] PU32 greift den Gedanken, dass nicht eine innere Sprache die Voraussetzung für Sprechen ist, auf, wie wir noch sehen werden.[28]

3. Regeln

Das Leben in einer Lebensform, also (soziales) Handeln (das Sprache selbstverständlich einschließt) wird durch Regeln definiert. Diese Regeln sind aber nach Wittgenstein zumeist nicht explizit formuliert bzw. wir verhalten uns nicht gemäß den Regeln, weil wir uns einer ausgedrückten Definition derselben bewusst sind. „Wittgenstein vertritt dagegen eine Konzeption, wonach expliziten Repräsentationen und Formulierungen von Regeln eine untergeordnete Rolle zukommt, die zudem von der letztlich nicht - artikulierbaren, quasi - natürlichen Art und Weise abhängt, wie wir nicht ausdrücklich festgesetzte Regeln befolgen.“[29].

Dass wir nicht ausgedrückte Regeln befolgen, zeigt schon PU1: Dem Kaufmann, der eine Farbmustertabelle zur Bestimmung der Farbe Rot benutzt, wird die Bestimmung der Farbe durch den Gebrauch der Tabelle klar, indem er sich nach unausgedrückten Regeln zur Benutzung dieser richtet. „Die Tabelle ist dann für den Ablauf des Sprachspiels notwendig; sie ist einWerkzeugim Gebrauch der Sprache (PU53). Der Umgang mit dem Werkzeug ist aber zugleich derAusdruck einer Regel.Nicht die Tabelle als solche [...] stell[t] die Regel dar, sondern der richtige Umgang mit dem Muster.“[30] Das bedeutet auch, dass Regeln erst durch ihren Gebrauch innerhalb des Sprachspiels ‚lebendig‘ werden, „[d]ie Regeln existieren erst innerhalb des Vollzugs des Sprachspiels.“[31]; sie sind nicht vor ihrer Anwendung da: „die Vorstellung, die Regeln der gewöhnlichen Sprache müßten vor ihrer Anwendung dasein und unabhängig von ihr regeln, ist ein Mißverständnis.“[32]. Gerade weil die Regel erst im Gebrauch in Kraft gesetzt ist, folgt man ihr ohne eine vorher bekannte, festgelegte Definition (etwas, das nicht da ist, kann man auch nicht definieren), „ohne daß man überhaupt über einen Ausdruck für die Regel verfügt.“[33] In PU54 zeigt Wittgenstein, wie Regeln befolgt werden, ohne dass sie explizit als solche des Spiels ausgedrückt sind (auch wenn er zuerst auf ausgedrückte Regeln eingeht: „Sie [die Regel, J.B.] wird dem Lernenden mitgeteilt und ihre Anwendung eingeübt.“): man lernt ein Spiel, indem man einem solchen zuschaut, und man lernt es, obwohl Regeln weder „im Unterricht noch im Spiel selbst“ verwendet werden (also als Regeln ausgedrückt sind) und nicht in einem Regelverzeichnis stehen. „Aber wir sagen, es werde nach den und den Regeln gespielt, weil ein Beobachter diese Regeln aus der Praxis des Spiels ablesen kann“ (PU54). Fehler der Spieler könne der Beobachter von einem richtigen Spielzug unterscheiden, weil es dafür „Merkmale im Benehmen der Spieler“ gebe. Savigny schreibt über PU54:

Es gibt überhaupt keinen Ausdruck für die Regel; wie man der Regel folgt, wir durch die Beobachtung kompetenter Spieler gelernt. Selbst kompetente Spieler machen allerdings Fehler; Fehler zu machen darf allerdings von dem, der das Spiel gemäß seinen Regeln zu spielen lernen möchte, nicht gelernt werden. Er muß die Fehler als etwas erkennen können, das er besser vermeidet; und er kann sie erkennen, wie Wittgenstein feststellt.[34]

PU82 knüpft an Pu 54 und die Feststellung, dass es unausgedrückte Regeln gibt, die befolgt werden, an: „ ... Wie aber, wenn die Beobachtung keine Regel klar erkennen läßt, und die Frage keine zu Tage fördert?- Denn er gab mir zwar auf meine Frage, was er unter 'N‘ verstehe, eine Erklärung, war aber bereit, diese Erklärung zu widerrufen und abzuändern.- Wie soll ich also die Regel bestimmen, nach der spielt? Er weiß sie selbst nicht.“

PU54 verdeutlicht weiterhin, dass das Befolgen von Regeln nur durch die Praxis erlernt wird und in PU202 drückt Wittgenstein das explizit aus:

Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgenglaubenist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.

Diese Praxis des Regelfolgens „ist untrennbar mit dem Gedanken der Einübung in eine praktische Handlungsweise verknüpft.“[35] Die (unausgesprochenen) Regeln in einer Lebensform werden durch den ständigen Gebrauch eingeübt, bis sie unbewusst angewandt werden. „Wie der Regel zu folgen ist lernt man dadurch, daß man in einer bestimmten Handlungsweise abgerichtet wird, bis man bestimmte Reaktionen und Verfahrensweisen geradezu automatisch vollzieht, ohne zu überlegen.“[36] Den Satz „Und der Regel folgen zuglaubenist nicht: der Regel folgen.“ kann man so verstehen: Jemand, der einem Spiel nur zuschaut, ohne die Regeln ausdrücklich lernen zu wollen und dann glaubt den Regeln folgen zu können, kann eben den Regeln nicht folgen, weil er die Regeln weder erlernt noch selbst gebraucht. Dieser passive Zuschauer, der lediglich meint, der Regel folgen zu können, weil er sie für sich selbst formuliert (ausdrückt), deutet sie nur (in bezug auf das Spielerverhalten, dass er mit „seiner“ Regel verbindet),

muss dem Beobachter des Spiels deutlich gemacht werden, dass er die Regeln durch den gebrauch im Spiel, das er beobachtet, nur erlernt. Um die Regeln befolgen zu können, muss er das Spiel selbst spielen, die regeln also selbst gebrauchen (siehe S.12) und „eine Regel deuten heißt lediglich, eine Formulierung der Regel durch eine andere ersetzten.“[37]

Wer die Regeln gebraucht, befolgt immer die Regeln einer Lebensform in einem Sprachspiel. Regeln durch passives Zuschauen „für sich selbst“ zu definieren, also einer Regel „privatim [zu] folgen“ heißt eine Regel falsch zu befolgen. Ein vermeidlich individuelles Befolgen einer (individuellen) Regel gibt es nicht, denn Muster seines (jemandes, J.B.) individuellen Verhaltens [sind] in bestimmter Weise in Muster des sozialen Verhaltens in die Gemeinschaft [oder Lebensform, J.B.], zu der er gerechnet wird, eingebettet [...].[38]

So ist auch das Sprechen der Sprache die Befolgung von Regeln. Indem jemand spricht, gebraucht er die Sprache nach Regeln, die innerhalb seiner Lebensform befolgt werden und durch sie festgesetzt sind.[39]

In Pu53 schreibt Wittgenstein “daß dem, was wir Regeln eines Sprachspiels nennen, sehr verschiedene Rollen im Sprachspiel zukommen können.“ Damit fordere Wittgenstein „uns auf den ‚Umfang‘ des Begriffs des Spiels wie der Regel anzusehen, um zu erkennen, daß in der gesellschaftlichen Praxis die Regeln gerade deshalb gut funktionieren, weil sie nicht starr sind.“[40] Mit Regeln ist es also ebenso wie mit Worten: In verschiedenen Sprachspielen haben sie verschiedene Funktionen und damit auch verschiedene Bedeutungen. Wenn sich ein Spiel verändert, verändern sich auch die Regeln; manche erscheinen dann mithin alt, weil sie nicht mehr auf das Spiel passen, neue Regeln kommen hinzu.[41] Ebenso wie die Sprache kann man also Regeln mit einer alten Stadt vergleichen.

4. Die Widerlegung des Sprachbilds Augustinus

Wie im ersten Kapitel bereits erläutert, lernt das Kind nach Augustinus die Sprache, indem es zuerst sinnliche Gegenstände durch Hinweisen auf diese zu benennen lernt. Ab PU20 (bis PU32) arbeitet Wittgenstein, mal mehr, mal weniger deutlich, auf die Widerlegung dieser Theorie hin, wobei die Begriffe des Sprachspiels und der Lebensform immanent sind.

Das bloße Benennen von Gegenständen reiche nicht aus, um eine Sprache zu sprechen, ein Sprachspiel zu spielen, so schreibt Wittgenstein in PU26: „Man meint, das Lernen der Sprache bestehe darin, daß man Gegenstände benennt. Und zwar Menschen, Formen, Farben, Schmerzen, Stimmungen, Zahlen etc. [...] Man kann das [Benennen, J.B.] eine Vorbereitung zum Gebrauch eines Wortes nennen. Aberworaufist es eine Vorbereitung?“ Und in PU27 heißt es: „‘Wir benennen die Dinge und können nun über sie reden. Uns in der Rede auf sie beziehen.‘- Als ob mit dem Akt des Benennens schon das, was wir weiter tun, gegeben wäre.“ Das Benennen von Gegenständen ist also nur „Vorbereitung zum Gebrauch eines Wortes“ im Sprachspiel, ist nicht Teil des Sprachspiels selbst. Die Worte können so, wie bereits festgestellt, auch noch gar keine Bedeutung haben, da sie nicht in einem Sprachspiel gebraucht werden. „Daß man mit einem Ausdruck etwas benenne, sagt für sich allein noch gar nichts darüber, wie er Bedeutung hat.“[42] In PU28 macht Wittgenstein deutlich, dass Worte zwar mittels einer hinweisenden Definition („Das heißt ‚zwei‘“) benutzt werden können, diese Definition dem Wort aber noch keine Bedeutung gibt. „Das heißt, die hinweisende Definition kann in jedem Fall so und anders gedeutet werden“(PU28), folgert Wittgenstein. Denn ohne eine Einbettung in ein Sprachspiel „hängt das Wort ‚zwei‘ in der Luft“, wie die Beispiele in PU28 deutlich machen bzw. „Hinweisende Definitionen sind dann vollkommen exakt, wenn sie den Lehrerfolg der hinweisenden Erklärung haben [...], wenn der Adressat also auf Grund der Definition das Wort in derselben Weise verwenden kann wie der Definierende.“[43] Die hinweisende Definition verliert aber ihre Gültigkeit, sobald der Adressat das so definierte Wort in einer anderen Weise verwenden möchte als der Definierende. Weiterhin „muss das [durch Hinweis definierte, J.B.] Wort [...] erklärt sein, ehe jene hinweisende Definition verstanden werden kann.“ (PU29). Aus PU 30 geht hervor, dass das (durch hinweisen auf den Gegenstand) benannte Wort den Gebrauch desselben dann erklärt “wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll.“ (PU30).

So kann das Benennen von Gegenständen nicht, wie Augustinus meint, der erste Schritt des Sprechens sein, denn „man muß schon etwas wissen (oder können), um nach der Benennung fragen zu können.“ (PU30). Oder, wie Savigny es ausdrückt:

Wer nach der Benennung fragen können soll, muß wissen, was er mit der richtigen Antwort anzufangen hat [...]; denn wer nichts damit anfangen kann, faßt die Antwort gar nicht auf [...] Von der Mitteilung einer Benennung kann nur Gebrauch machen, wer weiß, wie er die Benennung zu verwenden hat; über diese sprachliche Kompetenz muß also der Adressat der hinweisenden Erklärung und erst recht der Adressat der hinweisenden Definition schon verfügen.[44]

Nur wer weiß, was eine Farbe ist, kann die hinweisende Erklärung, dass dies die Farbe „Sepia“ sei, verstehen (PU30). Und nur derjenige, welcher die regeln des Schachspiels kennt, weiß welche Rolle der bis dahin in ihrer Form unbekannten Figur des Schachkönigs in den Regeln zukommt (PU31). In dem Moment, in welchem nach unbekannten Wörtern gefragt wird, wird aber schon ein Sprachspiel gespielt, welches das unbekannte Wort einbettet und ihm so eine Bedeutung zukommen läßt; das Fragen nach der Benennung gehört somit schon nicht mehr zur Vorbereitung des Sprachspiels. Wer nach der Benennung fragt, muss also bereits sprachkompetent sein; dies zeigt auch das Beispiel in PU32: wer eine fremde Sprache sprechen lernt, muss schon eine Sprache besitzen, übersetzt im Kopf lediglich die Worte der „alten“ Sprache in die neue und umgekehrt. Und ebenso könne man, so Wittgenstein, auch Augustinus Bild der Sprache beschreiben. Dieser gehe davon aus, dass es schon eine innere Sprache in Form von „Denken“ (gleich der in PU25) gebe, und das Benennen sei nur die laut ausgesprochene innere Sprache. Savigny bringt in seinem Kommentar zu PU32 den Fehler der Sprachtheorie Augustinus auf den Punkt:

Er [Augustinus, J.B.] übersieht, was für Kompetenzen über das Wörterhören und Wörtersprechen hinaus erworben werden müssen, oder: worin das Zuordnen von Wörtern zu Gegenständen eigentlich besteht. Der Fehler an Augustins Sprachbild ist damit: die Relevanz der Einbettung sprachlicher Ausdrücke in soziale Sprachspiele wird übersehen, und mit der Zurückführung des Sprechens aufs Denken wird die Frage, was Sprechen ist, bloß auf die Frage verlagert, was lautloses Sprechen sei.[45]

Bezzel fasst diese Kompetenzen unter „kulturspezifische Bedingungen“, die erfüllt sein müssen, zusammen. Hinweisende Definitionen können „daher nicht erklären, wie das sprachliche Be-Deuten unter Menschen zustande kommt und funktioniert.“[46]

Schluss

Wittgenstein entwickelt in den untersuchten Paragraphen einen Gedankengang, der Sprache weit mehr konzediert als das bloße Aussprechen von Lauten in einer logisch geordneten Form. Vielmehr ist Sprache der Ausdruck und das Ergebnis des sozial- kulturellen Hintergrunds des Sprechenden. Die Einbettung des Sprechers und seiner Sprache in den gesellschaftlichen Kontext, der von Wittgenstein als Lebensform formuliert wird, ist von größter Wichtigkeit um Sprache, ihren Gebrauch und ihre Bedeutung zu beschreiben und zu analysieren. Anhand des Sprachspiel-Begriffs zeigt Wittgenstein, dass Worten und Sätzen Bedeutung nur durch ihren Gebrauch zukommt. Wörtern herausgehoben aus ihrem Bedeutungskontext eine Bedeutung zu zugestehen ist für ihn schlechterdings unmöglich. Die Rolle des Regelbefolgens innerhalb des Sprachgebrauchs verweist sowohl auf die Lebensform als auch auf den Gebrauch der Wörter: Sprache beruht auf Regeln, nur derjenige, der sich nach ihnen richtet kann sprechen, wird verstanden und versteht andere Sprecher. Die Regeln werden dabei einerseits von der Lebensform bestimmt, anderseits durch sie gelehrt und durch die Notwendigkeit des Gebrauchs eingeübt bis zur automatischen, unbewussten Befolgung. Weiterhin fasst Wittgenstein Sprache nicht als den reinen Sprechakt auf; sie impliziert Tätigkeit allgemein, denn Sprache begleitet das Handeln und fordert es gleichzeitig. Wir können also feststellen, dass Wittgensteins Theorie der Sprache Sprachpraxis intendiert. Pragmatisch verweist sie auf Gemeinschaft, Gesellschaft, Kultur etc., gleichzeitig definiert sie sich wesentlich durch diese.

Auf sprachphilosophische Aspekte der „Philosophischen Untersuchungen“, welche das vielfach metaphysische Selbstverständnis von Sprache in der Philosophie selbst kritisieren, kann in diesem Rahmen leider nicht eingegangen werden. Das Wittgenstein - zu Recht- die Sprache der verklärt-metaphysischen Ebene enthebt und damit zurückverweist auf ihre einzige Bedeutung, nämlich ihren Gebrauch, ist hoffentlich deutlich geworden.

Literaturverzeichnis:

Bezzel, Chris, Wittgenstein zur Einführung, Hamburg, 1988

Puhl, Klaus, Regelfolgen. In: Eike v. Savigny (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998

Savigny, Eike von, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen‘, München 1996

- Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung?. In: Eike v. Savigny (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998
- Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. I, Frankfurt a. M. 1988

Schulte, Joachim, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989

Wittgenstein, Ludwig, Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. 1984

- Bd. 5 Das blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch)
- Bd. I Tractatus logico-philosophicus [u.a.]

- Wuchtel, Kurt, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1969

[...]


[1] Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 7, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, Frankfurt a. M. 1989, S. 37

[2]Chris Bezzel, Wittgenstein zur Einführung, Hamburg 1988, S. 33

[3] vgl. Eike v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. I, Frankfurt a. M. 1988, S.39, im Folgenden als „Kommentar“ bezeichnet

[4] Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 5 Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), S.37

[5] Kurt Wuchtel, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1969, S.122

[6] Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 5, S.37

[7] Savigny, Kommentar, S.35

[8] ebenda, S. 35

[9] sowie das Verhalten beider Sprechpartner zueinander, ihre Rolle im Sprachspiel, etc., siehe Kap. 2

[10] Savigny, Kommentar, S. 36

[11] Nach Savigny meint Wittgenstein diese These nicht so konkret, wie sie für die hier angestellten Überlegungen verwendet wird. Für die weiteren Überlegungen ist dies jedoch nicht von Bedeutung. Vgl. Eike v. Savigny, Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung? In: Eike v. Savigny (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 8

[12] Wuchtel, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, S. 112

[13] Savigny, Kommentar, S. 31

[14] vgl. Bezzel, Wittgenstein zur Einführung, S. 20

[15] Savigny, Kommentar, S. 31

[16] Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 5, S.37

[17] Savigny, Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung?, S.12

[18] ebenda, S. 12

[19] ebenda, S. 12

[20] Für Savigny entfernt sich Äußerungstheorie jedoch ein Stück weit von den PU, vgl. Savigny, Sprachspiele und Lebensformen..., S.13

[21] Bezzel, Wittgenstein zur Einführung, S.20

[22] Joachim Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989, S. 146

[23] ebenda, S. 146

[24] Savigny, Sprachspiele und Lebensformen..., S. 29

[25] ebenda, S.34

[26] Wuchtel, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, S. 122

[27] Savigny, Kommentar, S. 60

[28] vgl. Savigny, Kommentar S. 71 und Kap. 4

[29] Klaus Puhl, Regelfolgen. In: Eike v. Savigny (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 251

[30] Wuchtel, S. 135. Auch in Pu 54 sagt Wittgenstein:“ Oder sie [die Regel, J.B.] ist ein Werkzeug des Spiels selbst.“.

[31] ebenda, S. 133

[32] Savigny, Kommentar, S. 111

[33] Eike v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen‘, München 1996

[34] Savigny, Der Mensch als Mitmensch..., S. 98. Um nicht in Widerspruch mit Pu202 zu kommen,

[35] Schulte, Wittgenstein..., S. 161

[36] ebenda, S. 159

[37] ebenda, S. 161

[38] Savigny, Kommentar, S.7

[39] Dies ist gleichzeitig ein Argument gegen die „innere Sprache“, denn Regeln kommen von außen, es gibt keine „privaten regeln“, vgl. auch Puhl S. 122

[40] Bezzel, S. 40

[41] vgl. Bezzel, S. 41

[42] Savigny, Kommentar, S. 62

[43] ebenda, S. 64

[44] ebenda, S. 68

[45] ebenda, S. 71

[46] Bezzel, S. 31

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Das Sprachspiel
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Autor
Jahr
1999
Seiten
17
Katalognummer
V95853
ISBN (eBook)
9783638085311
Dateigröße
367 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprachspiel
Arbeit zitieren
Janine Böckelmann (Autor:in), 1999, Das Sprachspiel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95853

Kommentare

  • Gast am 17.1.2002

    Kommentar der Verfasserin.

    Diese Proseminararbeit wurde für den Fachbereich der Germanistischen Sprachwissenschaft verfasst. An den eigentlichen Titel kann ich mich schon nicht mehr genau erinnern. Jemand mailte mir, die Fußnoten seien nicht angegeben. Dies zu ändern wäre mir zu viel Aufwand. Aber wer sich die Sek.Lit. durchliest, wird sehen, wozu die Zitate thematisch gehören. Die Arbeit wurde mit 1,3 (wegen kleiner Ausdrucksmängel) bewertet. Es hieß, die Augustinus-Rezitation sei sehr brauchbar.
    Lest mehr Wittgenstein!
    Fachschaft Philosophie steigert Ihre Lebensqualität.
    Janine

Blick ins Buch
Titel: Das Sprachspiel



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