Übersetzungsfehler Englisch-Deutsch-Englisch. Ihr Einfluss auf die psychologische und psychiatrische Diagnostik

Berücksichtigung von Houellebecqs Roman "Serotonin"


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2020

25 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Zwei Sprachen gleichzeitig, in jeder Sprache

Auch die Psychiatrie hat je eine eigene deutsche und englische Sprache

2000 greift der deutsche Gesetzgeber greift in die Sprache der Psychiatrie ein

Gegensatz zum DSM

Beispiel Melancholie

Beispiel milde Depression

Impotenz (erektile Dysfunktion)

Jeder milden Depression liegt ein ungelöstes Problem zugrunde, das psychotherapeutisch zu behandeln ist

Houellebecqs Roman Serotonin

Beispiel Typus melancholicus

Auch anderes ist falsch übersetzt

Die Sache mit den affektiven Störungen, die keine unbeherrschten Affekte sind

Die Sache mit den Rückübersetzungen aus der englischen lingua franca

Störungen und Persönlichkeitsstörungen

Wenn Sprechen nicht disordered wird, sondern disorganized

Aus Übersetzungsfehlern werden manchmal Krankheiten

Ein Berufszweig, falsch übersetzt aus dem Englischen 21 Schlussfolgerungen

Was ist zu tun?

Autorenportrait

Literatur

Einleitung

«Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeiten zu bequemen. Die­ses und die große Fügsamkeit der deutschen Sprache machte denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen. Und dann ist wohl nicht zu leugnen, dass man im Allgemeinen mit einer guten Übersetzung sehr weit kommt.»

Diese Sätze mögen manchen Heutigen in Deutschland erstaunen. Aber sie gehen nicht um die Frage, was an fremder Sprache in unse­rer deutschen Sprache willkommen ist und was nicht.

Mit seiner Äußerung während des Gespräches erklärte Goethe 1825 seinem englischen Besucher, dem Captain Hutton, einige Be­sonderheiten der deutschen Sprache. Der Ton liegt hier auf «guten» Übersetzungen und um diese geht es in dem kleinen Essay hier eben­falls.

Goethe dachte vermutlich an die große englische Literatur etwa die Dramen von Shakespeare oder die großen literarischen Werke der Geschwister Charlotte, Emily und Anne Brontë, die alle in so gu­ter Übersetzung vorlagen und noch vorliegen, dass man meint, sie seien in deutscher Sprache verfasst worden. Auch Sir Walter Scott erlangte seinen großen Ruf und seine Beliebtheit in Deutschland nicht nur seinem schriftstellerischen Können, sondern den sehr gu­ten deutschen Übersetzungen vor allem der deutschen Romantiker. Die Deutschen waren immer auch ein Volk von Übersetzungen. Ob­wohl Goethe die englische Sprache fließend beherrschte, bevorzug­te er für solche Literatur die deutschen Übersetzungen. Nicht aber, wenn Goethe sich lediglich verständigen wollte. So sagte er in dem­selben Gespräch mit Captain Hutton.

«Von der französischen [Sprache] rede ich nicht, sie ist die Sprache des Umgangs und ganz besonders auf Reisen unentbehrlich, weil sie jeder versteht und man sich in allen Ländern mit ihr statt eines guten Dolmetschers aushelfen kann.» (Goethe 2000, 30260).

Inzwischen befinden wir uns in einer Epoche, in welcher die fran­zösische Sprache nicht mehr, wie im 19. und 18. Jahrhundert die Sprache für internationale Verständigung ist, sondern die englische. Die Geschichte dieser Sprache geht historisch einerseits auf das Sächsische zurück, wie es im heutigen Niedersachsen gesprochen wurde. Andererseits geht Englisch auf das alte Angeliter Deutsch, das heute noch im hohen Norden Schleswigs als Dialekt des Nieder­deutschen gesprochen wird. Das Angeliter-Deutsch ist noch in dem Namen des Landes erhalten, Angeland (England).

Wegen der vielen Ähnlichkeiten zwischen dem Englischen und dem Deutschen von heute sollte man eine leichte Verständigung er­warten. Denn viele englische Wörter haben einen nahen deutschen Vetter. Doch offenbar ist eher das Gegenteil der Fall.

Zwei Sprachen gleichzeitig, in jeder Sprache

Häufig hängen Übersetzungsfehler damit zusammen, dass der Un­terschied zwischen der einer lingua culturalis (Hochsprache) und einer lingua franca (Verkehrssprache) nicht beachtet wird. Der Un­terschied zur Goethezeit besteht lediglich darin, dass an die Stelle der romanischen lingua franca eine germanische getreten ist, eben Englisch. Wenn man bösartig sein will, kann man das Englische auch als einen altertümlichen Dialekt der deutschen Sprache bezeichnen. Etwa auch für Romanliteratur gibt es heute in Deutschland auch heute hervorragende Übersetzungen. Wenn es aber um Gesundheit geht, dann ist für gute Übersetzungen merkwürdigerweise kein Geld da. Das hat zum Teil weitreichende Folgen.

Auch die Psychiatrie hat je eine eigene deutsche und englische Sprache

Selbstverständlich können professionelle Übersetzer die Sprache der Psychiatrie erlernen. Beide Sprachen haben jeweils etwa einen Umfang von 10.000 Wörtern. Im Unterschied zur Sprache der Na­turwissenschaften gibt es jedoch das Problem der vielen nicht de­ckungsgleichen Bezeichnungen.

2000 greift der deutsche Gesetzgeber greift in die Sprache der Psychiatrie ein

Zum 1. Januar 2000 hat der deutsche Gesetzgeber eine deut­sche Übersetzung aus der englischen Sprache zur Grundlage für psychiatrische Diagnostik und überhaupt für die Entloh­nung von Ärzten allgemein und von Psychiatern im besonde­ren gemacht. Wer sie nicht benutzt, bekommt kein Geld für seine Arbeit. Gemeint ist die deutsche Fassung der ICD-10 (International Classification of Diseases, 10th edition). Offen­bar hat sich der Gesetzgeber zuvor nicht einmal von Sprach­gelehrten beraten lassen.

Wer nun meint, bei der ICD-10 handele sich um ein von englischen oder amerikanischen Muttersprachlern verfasstes Original, der irrt. Vielmehr ist schon das Original von Büro­kraten der Weltgesundheitsorganisation in der Lingua franca des Englischen verfasst worden. Man kennt nicht einmal die Namen der Verfasser..

Von diesen Original ist eine deutsche Übersetzung her­gestellt worden. Auch die Namen der Übersetzer sind nicht bekannt. Das Deutsch der Übersetzungen klingt oft wie von einem professionellen Übersetzungsbüro für die Zwecke der pharmazeutischen Industrie oder als ob es gar automatisch übersetzt wurde.

Damit ist die Problemlage entstanden, dass derjenige der eine sprachlich richtige Fassung des Textes benutzt, bestraft wird. Das hat auch Folgen für die Rechtsprechung. Wenn ein Gerichtssachverständiger im Strafgericht seine eigene bessere Übersetzung benutzt, um den Sachverhalt möglichst treffend darzustellen wird sich kein Verteidiger sich die Gelegenheit entgehen lassen, an der Sachkompetenz zu bezweifeln. Als Beispiel kann ich auf eine eigene Erfahrung zurückgreifen. Das oberste deutsche Zivilgericht, für das ein sorgfältiges Gutach­ten gemacht hatte, beanstandete meine deutsche Sprache. Ich hätte mich an die »moderne« Sprache der ICD-10 zu halten. Ganz abgesehen davon, dass dieses Gericht sich anmaßte, zu entscheiden was modern ist und was nicht, es ist auch in der Sache falsch. Das Gutachten sollte für das Gericht nachvoll­ziehbar sein und weiter nichts.

Bei all diesen Fehlern, die schon im Original und noch mehr in den Übersetzungen gemacht wurden, kann man das getrost eine Sprachkatastrophe nennen. Mit Wissenschaft hat das oh­nehin nichts zu tun — obwohl man das häufig in den Medi­en lesen kann — denn nirgendwo wird eine wissenschaftliche Quelle genannt. Diese fehlerhafte Übersetzung hat unser Ge­setzgeber in den Rang eines Gesetzes erhoben.

Gegensatz zum DSM

Ehe ich Beispiele anführe, noch eine kurze Bemerkung zu DSM III/V (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, 5th edi­tion), herausgegeben — ebenfalls ohne wissenschaftliche Nachweise herausgegeben — von der amerikanischen Privatgesellschaft für Psy­chiatrie (American Psychiatric Association). Auch da sind Original und Übersetzungen durchaus problematisch. Aber niemand ist ver­pflichtet, das DSM III/V zu benutzen und tut es daher auf eigenes Risiko. Gegebenenfalls kann er Verbesserungen für das Original vor­schlagen oder anders übersetzen. Wer die Fehler von aus dem DSM übernimmt, wer die Fehler der deutschen Übersetzung von des DSM übernimmt, der macht Fehler. Das war in der Schule schon nicht anders. Wenn man beim Abschreiben vom Nachbarn dessen Fehler übernahm, dann bekam man sie selbst angekreidet. Die Sache hat jedoch den Haken, dass eine Vorstufe (DSM III-R) die Vorlage für die ICD-10 gewesen ist.

Beispiele Beispiel Melancholie

Zu den bedeutenden Beispielen gehört die Melancholie. Das aus dem Englischen kommende, »wirtschaftlichen Niedergang« bedeu­tende Wort Depression war allerdings schon vorher von den Deut­schen als Wortersatz für Melancholie übernommen worden. Die Quelle habe ich bei Adam Smith (1776) ausmachen können. Im Zu­sammenhang mit dem Niedergang der französischen Wirtschaft un­ter Colbert heißt es da:

„This state of discouragement and depression was felt more or less in every different part of the country, [...]" (Smith 1776, Book IV, Chap­ter IX).

Im Deutschen kannte man jedoch einerseits eine »eigentliche« Depression, die »endogene Depression«. Andererseits kannte man Zustände, die aus demselben Stoff gemacht zu sein schienen, aber keine »eigentliche« Depressionen waren. Daher wurde der Begriff daher mehr metaphorisch verwendet. Darin waren übrigens die deutsche und die französische Psychiatrie gleich. So heißt es etwa bei Pinel (1800) an einer Stelle, an welcher er von den vielen melan­cholischen Stimmungen spricht, die im Leben vorkommen können:

"La mélancholie qui est proprement une vesanie, et qu’on observe dans les hospices, a un autre caractère, en venant cependant d’une mème source“ (Die Melancholie, die eine wirkliche Geisteskrankheit ist und in den Hospizien beobachtet wird, ist ganz anders geartet, kommt aber aus derselben Quelle.) (Meine Übersetzung)

Von einer solchen Betrachtungsweise finden wir im Original der ICD-10 sogar noch einen gewissen Abdruck. Die »eigentliche« Depression heißt darin »severe depression«. Korrekt wäre das mit »qualvolle Depression«, »strenge Depression« oder »ernsthafte De­pression« zu übersetzen. Denn severe gehört zum lateinischen Erbe der englischen Sprache (severus). Die Bezeichnung bezieht sich so­mit auf eine bestimmte Qualität der Depression.

Neben dieser »qualvollen Depression« gibt es im Original von ICD-10 noch zwei weitere, jedoch weniger bedeutsame Qualitäten, »mild depression« und »moderate depression«. Mild gehört zum germanischen Erbe des Englischen und be­deutet zu Deutsch milde, sanft, liebreich, freundlich, in einer Bedeutung wie wir es noch in Wortverbindungen kennen wie mildes Klima, mildes Gerichtsurteil, milde Gabe, Mildtätigkeit kennen.

«Leicht und erquicklich atmet sich die Luft und ihre Milde schmeichelt unsern Sinnen » steht bei Schiller. Ebenso spricht Goethe von "der Perlen Milde, der Juwelen Strahl".

Die andere Qualität lautet im Original »moderate depressi­on«. Wir haben dieses lateinische moderatus ebenfalls in unse­rer Sprache, wenn auch als seltenes Fremdwort. Das Adjektiv moderat bedeutet maßvoll, bescheiden.

Was aber macht die deutsche Übersetzung mit diesen verschiede­nen Qualitäten? Sie verwandelt sie in eine Stufenleiter von Quanti­täten, von zu messenden Gewichten: leicht, mittelschwer, schwer.

Die Botschaft dieser Übersetzung lautet: Alle Depressio­nen sind gleich, es gibt nur eine Krankheit Depression, nur sind einige noch etwas gleicher. Die Ursache ist im Körper zu suchen. Weil der Körper krank ist, hat man eine Depres­sion. Allerdings ist die Körperursache bis jetzt noch nicht gefunden worden.

Eine Folge davon ist, dass in der deutschen Medizin die Dia­gnose Depression ist von etwa 3 % auf über 50 % gestiegen ist. Depressionen sind nun die häufigsten psychischen Krankhei­ten überhaupt. In deutschen Medien wird das unzählige Male als Tatsache wiederholt.

Das hat soziale Folgen. Depression ist eine der häufigsten Begründungen für Frühberentungen geworden und belastet damit die Renten- und Pensionskassen.

Belastet werden auch die Sozialkassen, weil es zunächst zu längeren Krankschreibungen kommt, in denen mit Medika­menten behandelt wird. « In Deutschland wurden im Jahr 2002 etwa vier Milliarden Euro [für Antidepressiva] ausgegeben« meldet Wikipedia.

Beispiel milde Depression

Die milde Depression, die aus der gleichen Quelle kommt, wie Pi- nel das sagte, hat noch mehr Folgen für unsere Kultur. Schon nach zehn Jahren nach der Einführung des ersten Antidepressivums war klar, dass es ein Danaergeschenk für Psychiatrie war. Die Medien nahmen das aber begeistert auf. Endlich ein Medikament gegen De­pressionen gefunden worden. Man muss nur eine Tablette schlucken, dann verschwindet die Depression.

Roland Kuhn, der Entdecker der Wirkung von Antidepressia, hat mir etwas anders erzählt als es bei Wikipedia steht.

Wikipedia: «6. September 1957 - Erstes Antidepressivum vorge­stellt. Der Schweizer Psychiater Roland Kuhn testet für Geigy Sub­stanzen in der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, allerdings ohne Erfolg. Er macht jedoch eine Zufallsentdeckung: Die Testsubs­tanz G 22355 scheint depressive Symptome zu lindern. So verlässt ein Patient die Psychiatrie singend auf dem Fahrrad. »

Roland Kuhn war ein Psychotherapeut und behandelte in seiner Praxis einen Patenten mit einer milden Depression psychotherapeu­tisch, wie es auch erforderlich ist. Er hat nichts mit der psychiatatri- schen Klinik in Münsterlingen zu tun. Auch ist er sonst nicht wis­senschaftlich hervorgetreten.

Ihm gab ein Vertreter der Firma Geigy eine Testsubstanz, von der ihm gesagt worden war, dass es sich um ein neues Neuroleptikum handele mit milder beruhigender Wirkung. Der Patient brach in der Folge die Psychotherapie ab und nahm lieber weiter die Testsubs­tanz. In diesem Abbruch liegt ein Problem verborgen.

Impotenz (erektile Dysfunktion)

Nur der Mann, nicht die Frau, muss die angenehme Milderung sei­ner depressiven Beschwerden jedoch oft teuer bezahlen. Er wird im­potent, wie es mit dem heute verpönten Wort treffend heißt. Er wird machtlos auf einem Gebiet, dessen Wichtigkeit für die körperliche und seelische Gesundheit die Gegenwart grundsätzlich anerkennt. Wir erleben wir eine noch nie dagewesene Freiheit des Sexuellen in allen seiner Formen. Verbunden ist damit eine ebenfalls noch dage­wesene Kenntnis des Sexuellen, auch beim allgemeinen Publikum.

Wohl machen die Ärzte aufmerksam diese Nebenwirkung auf und in den Beipackzetteln stehen auch Hinweise, aber nur nebenbei, als sei das bedeutungslos. In der Bibel steht die kleine Geschichte, dass Samson seine ungeheure Kraft verliert, nachdem Deliah ihm den Zopf abgeschnitten hat. So ergeht es auch dem Mann, wenn der Mann Antidepressiva nimmt, er wird von diesem Teil des heutigem Alltags ausgeschlossen.

Jeder milden Depression liegt ein ungelöstes Problem zugrunde, das psychotherapeutisch zu behandeln ist

Ein Antidepressivum hellt die depressive Stimmung auf und er­zeugt damit zwar nicht eine Sucht aber eine Art von Abhängigkeit vom Antidepressivum, das immer wieder genommen werden muss, sonst kehrt die depressive Stimmung wieder. Dies führt meistens dazu, dass Probleme ungelöst bleiben und im Leben fortwirken, was auch einmal zum Selbstmord führen kann.

Als ich diese Beobachtung kurze Zeit nach der Einführung des neuen Medikaments auf dem Karlsruher Therapiekongress bekannt gemacht hatte, erntete ich in den Medien Empörung. Endlich sei eine wirksame medikamentöse Behandlung gegen Depression gefunden worden, ich sollte das zur Kenntnis nehmen und nicht dagegen re­den. Der Pharmahersteller forderte mich auf, das mit großen Fall­zahlen zu beweisen. Ich bin aber kein Kreuzritter, der sich für seine Ideen auf dem Scheiterhaufen verbrennen lässt und schwieg fortan.

Wikipedia meldete, dass 2002 allein in Deutschland 125.000.000 Euro für Antidepressiva ausgeben wurden.

Houellebecqs Roman Serotonin

Genau das ist aber das Thema von Michel Houellebecqs jüngten Roman Serotonin. Der Titel des Buches spielt auf die Catechola- min-Hypothese der Entstehung von Depressionen an. Diese Hypo­these weist Serotonin ein zentrale Rolle zu. Obwohl die Catechola- min Hypothese längst widerlegt wurde, hat sie noch viele Anhänger.

Labrouste, die Hauptfigur des scheinbar autobiographischen Ro­mans, hat irgendwas mit Landwirtschaft studiert. Die Praxis der Berufsausführung findet er enttäuschend und langweilig. Auch im Privaten ist sein Leben nicht zufriedenstellend. Obwohl er Sexpart­nerinnen meist leicht findet, verliert er Camille, seine einzige gro­ße Liebe, aufgrund eines dämlichen Seitensprungs. Er sucht einen Psychiater auf. Dieser diagnostiziert eine Depression und verordnet ein Antidepressivum. Im Hotelzimmer liest er den Beipackzettel und entnimmt daraus, das er impotent werden wird.

Wieder zu Hause, das heißt in meinem Hotelzimmer, studierte ich eifrig den Beipackzettel, der mich darüber informierte, dass ich wahrscheinlich impotent werden und meine Libido einbü­ßen würde. Das Captorix wirkte über erhöhte Serotoninaus- schüttung, aber die Informationen, die ich im Internet über die Auswirkungen der Hormone auf die Funktion der Psychefinden konnte, machten einen konfusen und inkohärenten Eindruck. Die bei Captorix am häufigsten beobachteten unerwünschten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Libidoverlust, Impotenz.

In der Folge reist er Camille nach, ohne sie wiederzugewinnen, ihm bleiben nur die Erinnerungen und Fotografien.

Die zweite Fotografie ist pornografisch, es ist die einzige por­nografische Aufnahme, die ich von ihr aufbewahrt habe. Ihre Handtasche, von einem leuchtenden Rosa, steht neben ihr im Gras. Sie kniet vor mir und hat mein Geschlechtsteil in den Mund genommen, ihre Lippen sind um die Mitte meiner Eichel geschlossen. Sie hält die Augen geschlossen, und sie ist so auf diese Fellatio konzentriert, dass ihr Gesicht ausdruckslos ist, ihre Züge sind völlig rein, nie wieder habe ich eine solche Ver­körperung der Hingabe gesehen.

Trotzdem lässt er sich sozusagen bis zur letzten Seite immer wie­der das Antidepressivum verordnen. Aber die Probleme bleiben un­gelöst und werden immer drückender. Er sieht für sich keine Zukunft mehr. Als letzter Ausweg bleibt nur noch der Suizid. Daher der Titel der Romans, auf der letzten Seite sagt er des noch einmal ganz klar, sodass es auch eine Zusammenfassung dieses Kapitels wird.

Es ist eine kleine ovale, teilbare Tablette. Sie erschafft nichts, und sie verändert nichts; sie interpretiert. Was endgültig war, lässt sie vergehen; was unumgänglich war, macht sie unwesentlich. Sie liefert eine neue Interpretation des Lebens - weniger reichhaltig, künstlicher und von einer gewissen Unbeweglichkeit geprägt. Sie bietet weder irgendeine Form von Glück noch auch nur tatsächli­chen Trost, sie wirkt auf eine andere Art: Indem sie das Leben in eine Abfolge von Formalitäten verwandelt, lässt sie Veränderung zu. Mithin hilft sie den Menschen zu leben oder zumindest nicht zu sterben - über eine gewisse Zeit hinweg.

In den Buchbesprechungen von Serotonin, die ich bisher gelesen hat­te, wird das zentrale Thema nicht erwähnt, die Aussage ist wohl nicht geglaubt oder nicht verstanden worden.

Beispiel Typus melancholicus

Es geht aber noch weiter. In der deutschen Psychiatrie war von Hubertus Tellenbach ein zur »gefährlichen Depression« gehöriges Persönlichkeitsbild als feste Verbindung herausgearbeitet worden: der Typus melancholicus. Das ist eine häufige Persönlichkeitsvarian­te oder ein Charaktertypus.

Grundzug des Typus ist ein Festgelegtsein auf Ordentlichkeit. Im Arbeitsleben herrschen Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Beharrlichkeit, Pflichtbewusstsein und Solidität vor. Die persönlichen Beziehungen werden ordentlich, d. h. frei von Störungen, Reibungen, Konflikten, insbesondere von Schuldhaftem in jeglicher Form gehalten. In den Beziehungen zu Vorgesetzten und Kollegen herrschen Treue, Dienst­willigkeit und Hilfsbereitschaft vor. Weitere Eigenschaften sind: Be­sonnenheit, Sicherheitsbedürfnis, Mangel an Mut zur Originalität, Neigung zum Konventionellen.

Es besteht ein überdurchschnittlich hoher Anspruch an das eige­ne Leisten in Quantität und Qualität und eine überdurchschnittliche Empfindlichkeit des Gewissens, das auf Vermeidung von Schuld be­dacht ist. Es besteht ein Sich-Einordnen, ein Sich-Einschließen in die Grenzen der Ordnung. Es besteht eine Einschränkung des Daseins in den Grenzen einer strengen Ordnungswelt der Ordentlichkeit und Gewissenhaftigkeit in mannigfaltigen Formen. Der Typus melancho- licus ist in seinem Verhalten auf diese strenge Ordnung festgelegt und vermag aus ihr auch mit starker Willensanspannung nicht her­auszubrechen.

Zu einer Depression kommt es, wenn aufgrund von einschneiden- den Lebensereignissen die Charakterstruktur zusammenbricht. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Während der Depression ist der Typus melancholicus nicht vorhanden. Gegen Ende der Depression baut er sich wieder auf.

Die amerikanische Psychiatrie kennt weder den uns so geläufigen Idealtypus Max Webers noch gar den Typus melancholicus. Da er im amerikanischen System nicht vorhanden ist, dürfen nun auch die Deutschen nicht davon sprechen.

Auch anderes ist falsch übersetzt

Man könnte nun die ganzen Charakteristika der Melancholie durchgehen und aufzeigen, was alles sonst noch alles falsch ist. Die ICD-10 führt etwa unter den Kriterien der Depression auch distress an, was die deutsche Fassung mit Gequältsein übersetzt. Weder die englische noch die amerikanische Psychiatrie kannten distress als Symptom der Depression. Auch die deutsche Psychiatrie kannte ein Gequältsein nicht als Zeichen von Depression. Distress bedeutet im Kern so viel wie in Not geraten, z. B. in Seenot geraten. Das Wort Ge­quältsein kommt im Grimmschen überhaupt nicht vor.

Die Sache mit den affektiven Störungen, die keine unbeherrschten Affekte sind

Im DSM III hatte es einen Krankheitszustand affective disorders als zusammenfassenden Begriff für depressive und bipolare Stö­rungen gegeben, was mit affektive Störungen Wort für Wort ins Deutsche übersetzt wurde, als Lehnübersetzung. Im Englischen ist affective disorder vielleicht noch halbwegs sinnvoll. Im Deutschen weiß man aber nicht, ob die Affekte gestört oder ob die Störungen affektbeladen sind. Zum deutschen Affektbegriff gehört, dass die Ge­fühlstönung nur für kurze Zeit geändert wird und so stark werden kann, dass die rationale Persönlichkeit sich nicht dagegen durchzu­setzen vermag. Falsch war der Ausdruck also auf jeden Fall, denn in der deutschen psychiatrischen Literatur hatte man gerade das Feh­len von Affekten als Kennzeichen der Depression beschrieben. Ein Beispiel ist das Nicht-traurig-sein-können im Kern melancholischen Erlebens, wie es von Walter Schulte herausgestellt worden war. In der strengen Depression können typischerweise gerade keine Affekte er­lebt oder empfunden werden. Dieses Phänomen trägt den Namen Anhedonie.

Unerwartet tat die Korrektur im DSM III-R dann aber etwas Gutes. Es ersetzte affective disorders durch mood disorders. Das Wörtchen mood geht auf die dem Englischen und Deutschen gemeinsame go­tische Sprachwurzel (mods) zurück und ist bei uns auch noch in der mittelhochdeutschen Sprachentwicklungsstufe als das eigenständige Wort muot vorhanden. So klagte Walter von der Vogelweide in Rei­mars Preislied: Nie getroste si dar under mir den muot (nie tröstete sie mir unterdessen den muot). Muot ist also eine bestimmte Art von Stimmung. Welche Stimmung, das bestimmt der Kontext oder auch ein Beiwort. Wir haben dasselbe Wort heute nur noch in Wortzu­sammensetzungen oder Sprachformeln wie wohlgemut, hochmütig, mutlos, gutmütig, guten Mutes sein. Selbst Gemüt kommt der Be­deutung von muot sehr nahe. Tief depressive Menschen sagen uns, sie seien mutlos und meinen damit diese besondere Art melancholi­scher Gestimmtheit.

Bei der Übersetzung von mood disorders verbot sich allerdings die direkte Form, etwa als Mutstörung, denn das wäre falsch verstanden worden, weil wir im deutschen Hauptwort Mut die ostgermanische Bedeutung von muot behalten haben, als Mut im Sinne von beherz­ter Entschlossenheit. Das meinen die Depressiven eben nicht, wenn sie sagen sie seien mutlos.

Aber Gemütsstörung als Übersetzung für mood disorders wäre im­merhin möglich gewesen, weil es Gemütskrankheit in der deutschen Psychiatrie bereits lange gab.

Als Morbus animi gab es »Seelenkrankheit« im Gegensatz zu den Krankheiten des Körpers gab es im Deutschen schon 1725.

Von Seelenkrankheit sprach man auch, wenn man die Krankheit des Gefühlslebens im Gegensatz zu den Krankheiten des Verstandes (Geisteskrankheiten) meinte. Diese Unterscheidung gibt noch heute nicht in der englischen Sprache.

Seelenkrankheit ist eine Krankheit, bei welcher die Werthaltun­gen, die Fähigkeit zu Mitfreude und Mitleid verändert sind, während die Verstandesfunktionen der Ratio unverändert bleiben.

In Goethes »Tasso« (1790) heißt es: »Die Krankheit des Gemütes löset sich in Klagen und Vertrauen am leichtesten auf.«

Kant (1798) unterteilt die Gemütskrankheiten »in »Grillenkrank­heit (Hypochondrie) und das gestörte Gemüt (Manie)«.

Seelenkrankheit wird im 19. und 20. Jahrhundert für alle Psycho­sen ohne Verstandesstörungen gebraucht. Gegenwärtig ist es kaum noch üblich. - Die (korrekte) engl. Übersetzung »affective disorder« trifft nicht das Gemeinte, wie auch »Gemüt« nicht ins Englische übersetzt werden kann.

Oder, wenn man sich davon absetzen wollte, hätte man eine neu­deutsche »Moodstörung« bilden können. In the mood von Glen Mil­ler ist jedenfalls der älteren Generation noch in Erinnerung. Aber was taten die Übersetzer des ICD-10? Sie blieben bei dem im Origi­nal sprachlich überholten »affektive Störungen«.

Auf Tagungen kann man sich darüber wundern, wie glatt der in jeder Hinsicht falsche Begriff den deutschen Kollegen über die Zun­ge geht.

Die Sache mit den Rückübersetzungen aus der englischen lingua franca

Erstes Beispiel. Schwunglosigkeit als Gegenbegriff zu schwungvoll gehört traditionell zum sog. Losigkeitssyndrom der Depressiven. Ein genauer gibt es entsprechendes Wort im Englischen nicht. Daher wurde Schwunglosigkeit mit affective bluntness ins Englische übersetzt. Das bedeutet allerdings - rückübersetzt - so viel wie Stumpfheit der Affekte.

Die Übersetzer der ICD-10 kannten jedoch nicht die deutsche Bedeutung dieses Doppelbegriffs Schwunglosigkeit und machten daraus die Lehnüber­setzung affektive Abstumpfung, welche die Deutschen nun als neues, bisher unbekanntes Symptom der Depression kennen lernen mussten.

Zweites Beispiel. Die den deutschen Psychiatern geläufige Willenssper­rung war mit avolition ins Amerikanische übersetzt worden und findet sich nun als Avolition auch in vielen deutschen Texten.

Drittes Beispiel. Das Gefühl der Kraftlosigkeit der Depressiven wurde durch Rückübersetzung seiner englischen Übersetzung zur Sensation moto­rischer Schwäche.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, eine vollständige Liste aller falschen Übersetzungen in der ICD-10 zusammenzustellen, zumal ohnehin keine Hoffnung auf Korrekturen oder Besserung besteht.

Störungen und Persönlichkeitsstörungen

Das Wort disorder, das im DSM und in der ICD-10 jeder Kriteri- enklasse angehängt wird, sollte offenbar - begründet wurde es nicht - ein Präjudiz vermeiden, ob etwas als Krankheit zu werten ist oder nicht. Ganz sicher ist das allerdings nicht, denn Englisch disorder ist ein starkes Wort und steht auch für Zerrüttung des Geistes, Krank­heit und Missverhalten.

Ein Präjudiz zu vermeiden, ob Krankheit oder nur sonderliches Verhalten, hatte sich schon Heinroth gewünscht, als er 1818 in sei­nem Lehrbuch des Seelenlebens oder der Seelenstörungen schrieb: «Nicht einmal der Name Seelenkrankheit, so allgemein er scheint, passt überall auf die Summe der Seelenstörungen». Diese Botschaft war vielleicht 1980 bei den amerikanischen Psychiatern angekom­men. Der Sprachgebrauch in Deutschland hat aber etwas anderes daraus gemacht. Störung ist zum Synonym für Krankheit geworden. Das hat nun wieder Folgen.

Persönlichkeitsstörungen, das als falsche Lehnübersetzung einge­deutschte Wort für Psychopathie oder akzentuierte Persönlichkeiten sind damit zu Krankheiten geworden. Das ist genau das, was sich diese Spielarten des menschlichen Charakters gewünscht haben, sie haben nicht keine Normvariante des Charakters, für man selbst die strafrechtliche Verantwortung trägt, sondern sie sind krank. Wenn ein Sachverständiger eine Persönlichkeitsstörung festgestellt hat, dann fordern viele Strafverteidiger Deutschlands den Delinquenten zu psychologisch zu behandeln statt zu bestrafen.

Natürlich steckt auch da ein Übersetzungsfehler dahinter. Seit Theophrast, oder doch zumindest seit La Bruyère das aus dem Grie­chischen ins Französische übersetzt hatte, bezeichnet man Men­schen mit einer besonders ausgeprägten Eigenart als Charaktere (xapaKiqp) (La Bruyere, 1851). Dazu gibt es eine Charakterkunde. Aus einem hier nicht zu vertiefenden Grund hatte man im Engli­schen das griechische Wort Charakter für die Buchstaben vergeben, die etwa ein Setzer in seinem Setzkasten hat. Obwohl es im elek­tronischen Zeitalter keine Setzkästen mehr gibt, heißen sie immer noch so. Daher stand Englisch charakter für die englische Überset­zung von deutsch Charakter nicht mehr zur Verfügung. The Person betitelte deshalb etwa Theodore Lidz und sein großes Buch über den menschlichen Charakter und dessen Wandlungen im Laufe des Le­bens (Lidz 1968). Während seines Studiums in Bonn hatte Lidz die große deutsche psychologische und psychiatrische Literatur zum menschlichen Charakter und dessen Wandlungen im Laufe des Le­bens (Prozesscharakter) kennen gelernt. Trotzdem verwundert es wohl den Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, nicht, dass die deut­sche Übersetzung einen (doppelt) falschen Titel bekam, Das mensch­liche Leben. Die Entwicklung der Persönlichkeiten im Lebenszyklus. Person im Englischen entspricht Charakter im Deutschen. Obwohl Persönlichkeit in bestimmten Zusammenhängen auch als Synonym für Charakter gebraucht werden kann, ist personality disorder schon im Englischen falsch. Es hätte aber jedenfalls als Charakterstörung ins Deutsche übersetzt werden müssen und wäre dann sogar ohne Kommentar verständlich. Im Deutschen gibt eine große Literatur zum Charakter: Philipp Lersch: Der Aufbau des Charakters, 1948; Albert Wellek: Die Polarität im Aufbau des Charakters, 1966.

Jeder Gedanke an Krankheit wäre damit obsolet. Wir machen da feinere Unterschiede. Jeder hat eine Persönlichkeit, also einen eige­nen Charakter, aber nicht jeder ist eine außergewöhnliche Persön­lichkeit. Nun, es ist anders gekommen, niemand hat Einspruch er­hoben.

Wenn Sprechen nicht disordered wird, sondern disorganized

Am verwunderlichsten ist aber, dass das DSM III/IV in einigen Teilen die längst tot geglaubten Vorstellungen des Mesmerismus und des amerikanischen Spiritualismus zu neuem Leben erweckt hat. Ohne jede Erläuterung erscheint im DSM IV unvermutet disorgani­zed speech als ein Kriterium für Schizophrenie. Desorganisiertes Spre­chen war eine Eigenschaft von spiritistischen Medien im Zustand der Trance. Letzteres Wort wurde übrigens aus dem Amerikanischen ins Deutsche übernommen, wird aber heute mit einem französischen Nasal ausgesprochen, weil die Herkunft des Wortes vergessen wurde. Unter desorganisiertem Sprechen kann man sich nichts Bestimmtes vorstellen, am wenigsten ein Kriterium. Das wussten die Deutschen an sich schon sehr lange, denn schon 1787 schreibt ein Anonymus in der Berliner Monatsschrift Etwas über die Worte Desorganisation und Somnambulismus. Darin heißt es: [...] mich dünkt es in der That Wert zu sein, dieses Wort [Desorganisation] näher zu betrachten. Das DSM IV beruft sich im Kontext fälschlich auf Bleuler und versteht darunter vielleicht so etwas wie Assoziationslockerung und Zerfah­renheit in einem oder nur irgendwie unklare Sätze. Der Text in DSM IV ist konfus. Näheres dazu in der in Druck befindlichen Arbeit Was ist eigentlich desorganisiertes Sprechen, desorganisiertes Denken?

Die ICD-10 enthält allerdings das desorganisierte Sprechen nicht, einfach aus dem Grunde, als da nicht das DSM IV dafür das Vorbild war, sondern das DSM III-R, welches das Neualtwort noch nicht ent­hält.

Aus Übersetzungsfehlern werden manchmal Krankheiten

Andere Beispiele sind eigentlich schon zu bekannt, um hier noch ausführ­lich gewürdigt zu werden. Hiervon ist sozialer Rückzug als Übersetzungspro­blem entstanden. Im Deutschen ist Autismus als Ausdruck für eine selbstge­wählte, jedoch als schmerzhaft empfundene Einsamkeit bei Normalen und Depressiven ganz geläufig gewesen. In den USA wird aber Autismus allein auf schizophrenen Autismus bezogen, so, wie es in den Übersetzungen von Bleulers Schizophreniebuch (1911) ins Amerikanische steht. Daher wurde social withdrawal als Ersatzwort für Autismus gebildet, wenn Autismus in nichtschizophrenen Zusammenhängen gemeint ist. Dabei musste der ame­rikanische Übersetzer auf eine Nebenbedeutung von withdrawal zurück­greifen, weil das Wort auch sich abwenden heißen kann. Denn in der Haupt­bedeutung ist withdrawal Entzug, also etwas, was jemandem von außen her entzogen wird, wie beim alcohol withdrawal, dem Altkoholentzug. Nun hätte bei der Rückübersetzung von social withdrawal das deutsche Fremd­wort Autismus benutzt werden müssen. Aber wieder kam es zu einer Lehn­übersetzung, es wurde Wortteil für Wortteil übersetzt. Wieder weiß man im Deutschen eigentlich nicht, ob der Rückzug das Attribut sozial hat wie in Soziales Hilfswerk oder was sonst gemeint ist. So aber entstand durch die Rückübersetzung eine Krankheit, die es vorher nicht gegeben hatte, wie Jörg Blech in seinem Buch über die Krankheitserfinder (2003) zutreffend festge­stellt hat. Bald hatte die pharmazeutische Industrie auch ein Medikament gegen den falsch übersetzten Autismus in den Handel gebracht. Wissen- schaftler fuhren herum zu den Ärzten, um ihnen das neue Mittel gegen die neue Krankheit zu empfehlen.

Schlimmer noch ist es mit dem Lampenfieber, das manche, auch manche Professoren, jedes Mal bekommen, wenn sie öffentlich auf­treten und andere, wenn sie mit Respektspersonen reden. Scheu sein, als Charaktereigenschaft, nannte man es früher. Soziale Phobie heißt es jetzt. Nun ist soziale Phobie ebenso wie sozialer Rückzug eine Krankheit, mit der man, weil unüberwindbar, einen Rentenantrag begründen kann.

Ein Berufszweig, falsch übersetzt aus dem Englischen

Es gibt einen ganzen Berufszweig, der sein Dasein einer falschen Übersetzung aus dem Englischen verdankt. Gemeint sind die kli­nischen Psychologen. Das deutsche Wort Klinik leitet sich aus dem griechischen Wort nX^lvh (kline) ab, was so viel wie Bett, Bahre, To­tenbett heißt. Klinikum bedeutet also so viel wie Bettenhaus. Für die­selbe Sache benutzt das Englische hospital, von lateinisch hospitium (die Gaststube) (in der Mehrzahl hospitalia, hospitalium). Gemeint sind die mittelalterlichen Klosterstuben, in denen Kranke unter dem Gesichtspunkt der misericordia, der Barmherzigkeit, gepflegt wur­den.

Der Wortteil clinical in Englisch clinical psychologist leitet sich jedoch nicht vom Bettenhaus ab, sondern vom griechischen Verb KÄiva, was so viel wie neigen, hinneigen, beugen, sich anlehnen be­deutet. In den einstigen child guidance clinics ist das deutlich zu mer­ken. Sie wurden vernünftig mit Kinderberatungsstelle eingedeutscht und nicht etwa als Lehnübersetzung mit Kinderführungsklinik. Eng­lisch clinic meint daher eher eine Ambulanz, jedoch das amerikani­sche Wort ambulance steht für deutsch Krankenwagen. Allerdings findet man im Deutschen heute auch Ambulanz für Krankenwagen, was überhaupt keinen Sinn macht. ambulare heißt im Deutschen ge­hen. Dass man ein Fahrzeug, mit dem man Nichtgehnfähige trans­portiert, einen Namen gibt, der sich gehen ableitet ist eine contra- dictio in dictu.

Wie ich erfahren musste, wissen weder das deutsche Publikum noch die deutsche Ärzteschaft, welche Bedeutung das Wort klinisch in klinischer Psychologe hat. Die daher vom Publikum oft gestellte Frage, was eigentlich der Unterschied zwischen klinischer Psychologe und Psychiater sei, braucht eine eindeutige und für jedermann ver­ständliche Antwort. Da unter den deutschen Sprachregeln klinischer Psychologe ständig zu der falschen Annahme eines ärztlichen, in ei­ner Klinik erlernten Berufs führt, muss der Ausdruck im Interesse der Gesundheit unbedingt durch einen anderen ersetzt werden. An­gesichts der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­richts, das in letzter Instanz zuständig wäre, ist eine solche Korrektur voraussichtlich auch durchsetzbar. Das Verfassungsgericht hat sich stets gegenüber vernünftigen Erwägungen, die dem Gemeinwohl dienen, als aufgeschlossen gezeigt. Hier geht es um die Unterschei­dung zwischen Ärzten und einem nicht ärztlichen Beruf.

Schlussfolgerungen

Der Befund ist somit klar. Wir haben es in der Psychiatrie und speziell in der psychiatrischen Diagnostik mit einer Fülle von Übersetzungsfehlern aus dem Englischen und in das Englische zu tun. Nicht nur wird das Eng­lische als lingua culturalis nicht ausreichend beherrscht und ist als lin­gua franca für die Psychopathologie unzureichend. Auch das Deutsche wird als lingua culturalis schon nicht mehr ausreichend beherrscht. Teil­weise haben die Fehler ihren Grund in der großen Nähe der beiden ger­manischen Sprachen zueinander. Damit dürfen wir uns aber ebenso we­nig zufrieden geben wie mit einem Belächeln der Ungereimtheiten. Die Hauptursachen liegen einfach im Mangel an Kenntnissen der deutschen Psychiatrie und ihrer Geschichte, der amerikanischen Psychiatrie und ihrer Geschichte und es fehlt an der Kunst des Übersetzens. Der Einfluss dieser verschiedenen Mangelhaftigkeiten auf die Diagnostik psychischer Krankheiten, auf die Prognosestellung und die psychiatrische Behand­lung ist unschätzbar groß. Den Sozialversicherungen wie den Privatver­sicherungen entstehen unmessbare zusätzliche Belastungen.

Was ist zu tun?

Was also ist zu tun? Das Problem ist letztlich so ganz neu nicht, je­denfalls außerhalb der Psychiatrie. In der Europäischen Union haben wir 23 Amtssprachen, die alle ihre eigene Geschichte und Kultur in die Gegenwart der Sprache tragen. Das ist ein großer Reichtum. Bei den Juristen etwa hat sich das Problem schon früher gestellt. Daher hat sich ein Studiengang Europäische Rechtslinguistik gebildet. Man kann Rechtslinguistik in jeder der üblichen Formen studieren, also auch nebenberuflich und im Fernstudium. Ein Studiengang Psycho­linguistik wäre eine sehr sinnvolle Parallele dazu. Freilich müssten von den Bundesländern auch die entsprechenden Positionen und Gelder zur Verfügung gestellt werden. Dann könnten von diesen Fachleuten gute Übersetzungen hergestellt werden. Wie gesagt, be­herrschte Goethe zwar die englische Sprache sehr gut und noch dazu die griechische, lateinische, französische, italienische, ihm wäre aber niemals eingefallen, den Faust auf Englisch zu schreiben, wie das heute von jedem durchschnittlichen Wissenschaftler verlangt wird.

Autorenportrait

1951-1956 Studium der Medizin in Kiel, Freiburg/Br, Heidelberg und Straßburg. Promotion 1957, Habilitation für Neurologie und Psychiatrie 1965 in Kiel. 1969-1979 o. Professor für Neuropsychiat­rie und Direktor der Neuropsychiatrischen Universitätsklinik Mainz. Seit 1979 o. Professor für Neurologie und Psychiatrie, Univ. zu Köln. 1979-1996 Direktor der Klinik für Neurologie und Psychiatrie Univ. zu Köln. 1991-1994 Präsident und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkun­de. 1992 Initiator und Vorsitzender des ersten deutsch-israelischen Psychiatertreffens nach dem 2. Weltkrieg in Jerusalem. 1981 Ad­junct Professor for German Literature, Cornell University, Ithaca, New York. 1991 Stipendiat der Taniguchi Foundation in Kyoto (Ja­pan). 1995 External Examiner an der University of Malaya in Kuala Lumpur (Malaysia). 1973-1996 in verschiedenen Funktionen für den Weltverband für Psychiatrie (WPA) tätig, u. a. als Vorsitzender der Sektion Humanities in Psychiatry und Mitglied in 5 weiteren Sektio­nen. 1993 Präsident die Regional Symposiums (Europe) des Weltver­bandes. 1991-1996 Mitglied des Councils des Weltverbandes. 1993 und 1996 vom Nominierungskomitee als Präsident des Weltverban­des für Psychiatrie nominiert. Mehr als 400 Bücher und Einzelarbei­ten auf verschiedenen Gebieten der Psychiatrie. Diese wurden teils ins Englische, Französische, Italienische, Spanische, Russische, Un- garische und Japanische übersetzt. Ehrenmitglied zahlreicher psy­chiatrischer Fachgesellschaften u. a. in Frankreich, Italien, Spanien, Ägypten, Chile, Argentinien, wie auch des Weltverbandes der Psych­iatrie. Fellow der American Psychiatric Association. Die Universidad Ricardo Palma in Lima (Peru) verlieh ihm 2004 die Ehrendoktorwür­de. Festschriften zum 60., 75., 80. Geburtstag.

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Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Übersetzungsfehler Englisch-Deutsch-Englisch. Ihr Einfluss auf die psychologische und psychiatrische Diagnostik
Untertitel
Berücksichtigung von Houellebecqs Roman "Serotonin"
Autor
Jahr
2020
Seiten
25
Katalognummer
V956170
ISBN (eBook)
9783346298263
ISBN (Buch)
9783346298270
Sprache
Deutsch
Schlagworte
übersetzungsfehler, englisch-deutsch-englisch, einfluss, diagnostik, berücksichtigung, houellebecqs, roman, serotonin
Arbeit zitieren
Uwe H. Peters (Autor:in), 2020, Übersetzungsfehler Englisch-Deutsch-Englisch. Ihr Einfluss auf die psychologische und psychiatrische Diagnostik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/956170

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