Karl Kraus und Maximilian Harden


Seminararbeit, 1995

53 Seiten


Leseprobe


Studium der Kulturwissenschaften im Semester III

Dozent: Wolfgang Beutin

Seminar: Sprachkritik

im Bereich Sprache und Gesellschaft (B1)

Weißt du, der du die Zeitung liest,

wie viele Bäume mußten bluten,

damit geblendet von Valuten,

du dein Gesicht in diesem Spiegel siehst,

um wieder dich an dein Geschäft zu sputen?

Weißt du, der du die Zeitung liest,

wie viele Menschen dafür sterben,

daß wenige sich Lust erwerben

und dafür, daß die Kreatur genießt

der Kreatur unsägliches Verderben?

Und kannst du, wissend, doch die Zeitung lesen?

Verhängt das Blatt des Tags dir nicht das Licht?

Wie wächst der Trug gewaltig zum Gewicht

und drohend dieser Schein zum Wesen!

Ich seh den Wald vor lauter Bäumen nicht!

(Karl Kraus, 'Die Zeitung')

Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt nichts der Sache.

(Karl Kraus)

EINLEITUNG

Als Karl Kraus sich mit dem Gedanken trug, sein eigener Herausgeber zu werden, gab es in Berlin bereits seit mehreren Jahren einen Mann, der sich seine eigene Zeitung aufgebaut hatte, mit dem erklärten Ziel, eine von der käuflichen Presse unabhängige Plattform zu schaffen: Maximilian Harden. Der sich so nannte, hatte sich hochgearbeitet von einem schauspielerischen Nichts zu einer mit viel Beachtung rezipierten Person. Zehn Jahre älter als der Debütant Kraus, Jude wie er und akribischer Arbeiter mit hohem Anspruch an das eigene Werk, war er zum Vorbild avanciert.

Kraus hat Harden zunächst angeschrieben, ihm seine Bewunderung übermittelt und ihn 1897 das erste Mal besucht. Mit dieser Bekanntschaft will die hier vorliegende Arbeit einsetzen. Gegenstand der Darstellung soll die Entwicklung einer Freundschaft hin zum erbitterten Haß sein, vor dem Hintergrund des Wandels der jeweiligen Werke.

Das Verhältnis zwischen Kraus und Harden hing von Anfang an mit den gemeinsamen Vorstellungen von publizistischer Tätigkeit zusammen. Sie waren zueinandergekommen, weil sie der Ansicht waren, in ihrer Arbeit voneinander zu profitieren. Die gegenseitige Bewunderung fußte auf Ansichten über die Presse der Zeit, den Ex-Kanzler Bismarck und vor allem auf dem bisherigen Schaffen, zusammengesetzt aus Schreibstil, Thematik und Erfolg.

Welche persönlichen Erfahrungen sie bei ihren Begegnungen gemacht haben und welchen Einfluß Herkunft, Distinktionen, Vorbilder und spätere Erfahrungen auf ihre Beziehung zueinander hatten, soll hier nur ein Aspekt sein, der den Wandel des Werkes und der Personen verstehbar macht.

In dem Zeitraum zwischen 1899, der Gründung der Fackel, und 1908, als sich die EulenburgAffaire dem Ende näherte, lassen sich zahlreiche Veränderungen zwischen Kraus und Harden aufzeigen, die sämtlich entweder direkt auf das Werk rückwirkten oder durch eine Entwicklung der jeweiligen Position in verschiedenen Diskursen erst hervorgerufen wurden. Diese Verbindungen sollen innerhalb der folgenden Arbeit deutlich werden.

Harden war herausragende Person und später auch herausragendes Thema in Kraus' Leben bis 1908, nur zu vergleichen mit der Stellung von Annie Kalmar. Daß zu diesem Zusammenspiel bislang nur ein Artikel veröffentlicht wurde, dieser auch noch von einem Verehrer der Hardenschen Stilistik und Pressearbeit geschrieben wurde, zeigt, wie vernachlässigt ein Bereich ist, der nicht mit den Kategorien von Pressegeschichte oder Stilkritik zu greifen ist. Die hier verwendetete Literatur stellt sich daher aus unterschiedlichen Bereichen zusammen, bedarf jedoch einiger Erklärung, da sie zentral verschiedene Ansätze verfolgt und die Autoren von eigener Zustimmung oder Abneigung zum behandelten Gegenstand häufig nicht absehen. Um vom Leser dieser Arbeit die zugegebenermaßen zahlreichen Zitate in der ihnen angemessenen Weise einordnen zu können, ist dem eigentlichen Text eine Kurzcharakterisierung der wichtigsten hier rezipierten Autoren vorangestellt.

Das Verständnis der Person und des Werkes Karl Kraus ist natürlich auch über andere Zugänge als den, den Harden bietet, ohne Abstriche möglich; zu dem jungen Kraus bietet dieser Weg aber ohne Zweifel die meisten Angriffspunkte und läßt dabei keinen entscheidenden Bereich unberührt. Wenn grundsätzliche Tendenzen beider Charaktere deutlich werden, der Zusammenhang zwischen Leben und Werk und außerdem Ausblicke auf Entwicklungsschemata gegeben werden konnten, dann hat diese Arbeit ihren Zweck erfüllt.

Philipp Müller, Lüneburg, 11.4.1995

Kommentare zur Einordnung einzelner wichtiger oder umstrittener Autoren zum Thema.

KROLOP

Das Buch von Krolop enthält Beiträge zu Karl Kraus, die während dreißig Jahren entstanden sind. Krolop hat sie teils für Vorträge geschrieben, teils erschienen sie in Zeitschriften. Geplant war, das zusammenfassende Werk anläßlich des fünfzigsten Todestages Karl Krauses, 1986, zu veröffentlichen. Daß dieser Termin nicht eingehalten werden konnte und die erste Auflage im Sommer 1987 mit einer Auflage von nur 1500 Stück erschien, ist den politischen und wirtschaftlichen Umständen der vor-revolutionären Tschechoslowakei zuzuschreiben. Krolop:

"Daß aus der wohlgemeinten Publikationsabsicht 1986 nichts geworden ist, lag an den nur sehr euphemistisch als 'Rahmenbedingungen' zu bezeichnenden Unberechenbarkeit dessen, was nicht sowohl in polygraphischer als vielmehr in jeder, gerade auch 'in des Wortes verwegenster Bedeutung' sich den Namen 'Druckwesen' wo nicht redlich, so doch reichlich verdient hat." (Krolop, S.I)

Karl Krolop gibt in dem Vorwort zur Ausgabe von 1992 zu bedenken, daß er niemals an den Wirkungsstätten von Kraus gewesen sei, doch das ist dem Buch nicht anzumerken. Heute stechen die Vergleichen mit Marx, die Beurteilung des Pressewesens mit sozialistischem Vokabular noch stärker heraus als sie es vor zwanzig Jahren getan hätten - und geben auch einen Einblick in die Rezeptiongeschichte des Fackel-Herausgebers. Krolop schreibt ansonsten in seinem ruhigen, angenehm deutlichen Stil auffallend detailgenau und zurückhaltend sicher. Der essayistische Stil paart sich gut mit einer pointierten Erzählweise, die Zuneigung und Distanz spüren läßt.

Für diese Arbeit wurde vor allem das Kapitel "Dichtung und Satire bei Karl Kraus" ausgewertet.

SCHICK

Paul Schicks Monographie zu Karl Kraus ist von den mir zugänglichen allgemeinen Darstellungen zu Leben und Werk des Autors die lebendigste, prägnanteste und in ihrer Kürze umfassendste. Gerade für den Einstieg in das Thema Karl Kraus eignet sich das dünne Büchlein bestens: Chronologisch aufgebaut, die Schwerpunkte immer wieder auf das Werk setzend und mit viel Bildmaterial angereichert, macht es Karl Kraus greifbar, ohne seine Vielfalt zu dezimieren.

Schick verhehlt seine Bewunderung für Kraus nicht, er läßt ihn in großen Farben leuchten. Es ist eine Beschreibung durch einen Verehrer, der dies offen voranstellt, sich nicht mit Ausgewogenheiten quält und deshalb auch den Lesern kein Glorienbild unterschieben möchte. Er stellt seine Zeichnung zur Verfügung - auf der die Farben nur angedeutet sind, derart, daß ihre Stärke zu ahnen ist. Die Koloration darf gerne in seinem Sinne vorgenommen werden, ein blasseres Rot nimmt er gelassen Kraus-überzeugt ebenfalls an.

Dadurch daß Rowohlt in seinen Monographien den Schwerpunkt auf die gute Lesbarkeit und die bildreiche, knappe Darstellung legt, verliert das Buch an studienbezogenen Zugangsmöglichkeiten. Die an das Ende verlegten Fußnoten machen mühseliges Nachschlagen notwendig und die bibliographischen Hinweise sind in der Sammlung Metzler ausführlicher und konkreter gesammelt.

Zu der Thematik Kraus/Harden findet sich bei Schick nur eine Seite (Schick, S.55).

Zusätzlich wurden unter anderen die biographischen Hinweise, die Ausführungen zu Kraus' Ursprungsgedanken und die abschließende Betrachtung Schicks in diese Arbeit integriert

PFABIGAN

Es scheint immer sein persönlicher Anspruch durch, den Kraus nicht erfüllt hat, und dieses Versäumnis macht er Kraus zum Vorwurf: Das Erkennen und Kritisieren des Systems verlangt er von einem gelobten Autoren. Pfabigan kann Kraus' Methodik, Vorgänge beispielhaft und personengebunden zu bekämpfen nicht achten, in seinen Augen ist dies oberflächlich. Er fordert Kritik an der Gesellschaftsform und nicht Weiternutzung, wie dies Kraus in Verharren im bürgerlichen Millieu und der Gründung einer Zeitung nach kapitalistischem Muster ohne Zweifel tat.

Ein verängstigtes, behindertes Männchen mit Ödipuskomplex kratzt an der Oberfläche eines Systems, das zu durchschauen er nicht in der Lage ist und dessen Grundfesten er ungewollt stabilisert, aber fest der Ansicht ist, er würde es alleine zerstören. Ein von Kompensationstrieben Gejagter deutet Systemvokabular der Arbeiter nach seinen Emotionen um und glaubt als Einziger Schreibender keiner Parteilichkeit zu folgen. Die Beziehung zu seiner Mutter blieb unbewältigt, das Schicksal seiner ersten Angebeteten blieb als Trauma zurück und seine große Liebe war Antisemitin: Masochistische Sprachlust war das Ergebnis, die sich erst entfaltete, als das Leid persönlich wurde.

Nie wollte jemand behaupten Kraus sei ein Revoluzionär gewesen, er ging kaum aus Wien heraus, blieb konservativ und familienzentriert - warum ist es ihm zum Vorwurf zu machen, daß er nicht die Institution Familie angegriffen hat, daß er nicht das Bürgertum verlassen hat, daß er kein modernes Frauenbild verfochten hat? Weil Pfabigan sich persönlich in seinen Werten durch die Person Kraus angegriffen fühlt; und das fünfzig Jahre später, mit nur personaler Polemik.

Trotzdem bleibt Kraus "Der größte deutschsprachige Satiriker des zwanzigsten Jahrhunderts" (Pfabigan, S.26) und Pfabigan verhilft dem Leser durch seinen "Bilderstürmer"-Ansatz zu neuen Perspektiven auf die Person Kraus.

ARNTZEN

Helmut Arntzen hat ein Buch mit dem Titel "Karl Kraus und die Presse" veröffentlicht, in dem sich gute Bemerkungen zur Verarbeitung des Themas Presse in der Fackel finden. Ebenso geht er auf die Komplexe Phrase und Pressesprache ein. Es ist eine Arbeit, die den publizistisch-geschichtlichen Ansatz verfolgt und dadurch für eine Gesamtinterpretation des Verhältnisses Kraus zu seinem eigenen journalistisch-literarischen Werk und der Hintergründe der großen Thematiken seines Lebens nur sachdienliche Hinweise geben kann. Derer allerdings zuhauf.

WELLER

In der Sekundärliteratur zu Harden sind zwei Autoren hervorzuheben, Bernd Uwe Weller und Hans Dieter Hellige. Ersterer schreibt zu Beginn seiner Arbeit:

"Der Verfasser der vorliegenden Studie entschloß sich zu einem im Rahmen des wissenschaftlichen Arbeitens möglichen 'pro', das in etwa mit wohlwollender Unvoreingenommenheit übersetzt werden kann." (Weller, S.17)

Unter diesem Filter muß alles gesehen werden, was in dieser Arbeit an Weller-Zitaten auftaucht, denn wenn er auch biographisch interessante Hinweise gegeben hat, so bleibt Harden doch völlig unhinterfragt. Harden ist der größte deutsche Publizist, der heute unverstanden unberücksichtigt bleib, dessen Stil Ausdruck einer enormen Bildung, einer ehrlichen Aristokratie ist und der in der Eulenburg-Affaire nach bestem Wissen gehandelt hat, die Entwicklung leider aber einen anderen Verlauf nahm, woran er keinen Anteil haben konnte.

HELLIGE

Hellige ist das genaue Gegenteil von dem immer etwas glorifizierenden Weller. Seine Studie über Rathenau und Harden ist auf den aktuellen Stand der Forschung hinsichtlich der jüdischen Psychologie der Jahrhundertwende und der Person Harden. Hellige bemüht sich um Distanz zum Thema, bettet Harden immer wieder in größere Zusammenhänge ein und kann die Balance zwischen dem Patrioten und dem Sexualverräter Harden halten, ohne parteiisch zu werden. Der Abschnitt über das Assimilationsjudentum war bei der Analyse sowohl von Kraus als auch von Harden sehr dienlich.

ZITATIONSWEISE

Es wurde weitgehend darauf verzichtet, Belege in Fußnoten zu verbannen, da das Wissen um die Autorenschaft für die Einordnung des einzelnen Zitates unerläßlich ist und unmittelbar im Lesefluß aufgenommen werden sollte. Inenerhalb einer Klammer findet sich der Nachname des Autoren, von dem das Zitat stammt, gefolgt von einer Seitenzahl aus dem von ihm hier genutzten Buch. In zwei Fällen wurden zwei Texte eines Autors bearbeitet, jeweils eines davon erschien in der Zeitschrift Publizistik. Dies wird mit der zusätzlichen Abkürzung Publ. gekennzeichnet.

Zitate aus der Fackel werden mit "F", solche aus der Zukunft mit "Z" abgekürzt. Auf den Buchstaben folgt zunächst die Nummer der Ausgabe und nach einem Semikolon die Seitenzahl, auf der sich der Beleg findet. Falls es sich um einen Textabschnitt handelt, in dem nur ein Originaltext behandelt wird, beziehen sich alle Angaben innerhalb dieses Bereiches auch ohne Hinweis auf diese Quelle.

Die kompletten Literaturangaben finden sich am Ende der Arbeit.

MAXIMILIAN HARDEN

Kindheit und Jugend

Arnold Witkowski unterhielt nahe des Berliner Hofes ein gutgehendes Seidengroßhandelsgeschäft. Der Kaufmannssohn heiratete die Kaufmannstochter Ernestine Krakau und zeugte mit ihr neun Kinder, ihr siebtes (oder sechstes?) nannten sie Felix Ernst. Er wurde am 20.Oktober 1861 geboren. Er "stammte also aus dem ökonomisch aufsteigenden, politisch noch progressiven Mittelstand." (Hellige, 42)

Durch ein Gehirnleiden des Vater wurde die Situation in der Familie Witkowski immer bedrückender, Arnold Witkowski entwickelte Wahnvorstellungen und machte seinen Kindern immer wieder deutlich, daß ihn deren Dasein abstoße. Bald hatten sie mit einem unberechenbaren aber doch autoritären Vater zu leben. Felix Ernst reagierte darauf mit stärkerer Anlehnung an seine Mutter, "die ihn zwar nie richtig verstand, aber eine Ahnung seines innersten Wesens hatte und ihn unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte gegen Anfeindungen des Vaters in Schutz nahm." (Hellige, 43).

Die Scheidung, die die Mutter beantragte, hatte zur Folge, daß Felix Ernst seinem Vater zugesprochen wurde, von dem er bereits am ersten Tage zu seiner Mutter zu fliehen versuchte. Der Vater nahm ihn daraufhin von dem Gymnasium, in dem strebsamer, etwas verbissener Klassenbester war, und meldete ihn zu einer Kaufmannslehre an. Daraufhin läuft der nicht ganz 14-jährige von zu ause fort und schließt sich einer Theatergruppe an.

Um nicht gefunden zu werden, wechselt Felix Ernst Witkowski den Namen und wird Maximilian Felix Ernst Harden. Als sein Vater 1878 verstirbt, kehrt er noch einmal nach Berlin zurück, schreibt seinen Namenswechsel offiziell fest (bis auf einen Bruder nehmen alle Familienmitglieder neue Namen an) und wechselt seine Religionzugehörigkeit. Aus dem christlich erzogenen Juden wird ein evangelischer Christ.

Das "unstete Wanderleben" (Weller, 21) führt er zehn Jahre lang, bis 1888, wobei er alle Familienbindungen meidet. Die Heirat mit Josephine Katarine Joost, eine Pastorentochter aus Münster, wird diesen Schritt befördert haben. Wiederum zehn Jahre später scheiden sie sich voneinander. Ab 1898 lebte er mit der Tochter des Bankiers Isaak Aaron, Selma Frontheim zusammen, mit der er die Tochter Maximiliane zeugte. Seine Mutter stirbt 1903.

1878 begann Harden, erste Theaterkritiken und Rezensionen zu schreiben, sein erster längerer Aufsatz wurde am 27.2.1888 veröffentlicht. "Es war eine muntere und freche, dabei stilistisch schlichte, weil unkonventionelle Satire über Berliner Theaterpremieren..." (Weller, 25). Harden wurde für seine Texte gelobt und versuchte sich auf dem neuen Gebiet zu schulen. Mit der ihm zugeschriebenen strengen, enorm fleißigen Art begann er, seinen Stil zu verfeinern, "... indem er immer wieder Romane von Fontane las, Bismarcks Reden und Aufsätze studierte und die Begegnung mit Nietzsche schließlich war eine, die über das Handwerklich-Schriftstellerische, das er lernen wollte, weit hinausging." (Weller, 24). Bismarck blieb ihm sein ganzes Leben Vorbild und Vergleichspunkt, "Er sah in Bismarck in erster Linie eine, wie er gesagt hatte, 'Individualität von ganz märchenhafter Pracht und Fülle'".

Der Publizist

1890 urteilte er erstmals generalistisch über die Qualität des Berliner Journalismus und empfand sie als kläglich. Er führte das darauf zurück, "daß es nur wenige Publizisten wagten, das zu schreiben, wovon sie ehrlich überzeugt waren. Die wirklichen Talente hätten überhaupt keine Entfaltungsmöglichkeiten oder würden von den Meinungsmonopolen unterdrückt." (Weller, 27)

Zu dieser Zeit entstand auch das Pseudonym apostata, unter dem Harden seine Artikel veröffentlichte. "Mit voller Bewußtheit hatte er sich apostata genannt und damit ein Schlagwort zur Erklärung seines Wesens geliefert: inner und äußerliche Unabhängigkeit; Selbstbewußtsein und das Unvermögen, sich unterzuordnen; Nonkonformismus und Kampf" (Weller, S.106)

Seit 1888 kam es zu immer stärkeren Konzentrationsbewegungen bei den Pressekonzernen Berlins. Rudolf Mosse, August Scherl und Leopold Ullstein erweiterten ihre Konzerne und begannen um das Monopol zu kämpfen. Von Harden sind keine Erlebnisse überliefert, daß er den direkten Einfluß von Inserenten auf seine journalistische Arbeit gespürt hätte. Er versuchte sich auf jeden Fall neutral zu verhalten und entschied sich für keinen der konkurrierenden Konzerne, sondern beobachtete die Entwicklung, um sie als für seine berufliche Zukunft unzumutbar abzulehnen. "Da er keine Tabus anerkennen und Vorurteilen aus dem Weg gehen wollte", wie Weller (27) seine Entscheidung rühmt, die zur Gründung der Wochenzeitschrift 'Die Zukunft' führte.

"Das Dilemma der gesellschaftlichen Krise sah er darin, daß es in Berlin kein Blatt gab, 'in das ein selbständiger Geist selbständige Gedanken schreiben durfte Die Zeitungen sagten niemals, was ist, sondern immer nur, was die Abonnenten zu lesen wünschten." (Weller, 33). Sowohl das Schreiben für ein Massenpublikum und dessen Geschmack als auch die Kontrolle durch die Zeitungsinhaber empfand er als widersprüchlich zu der Selbständigkeit eines Feuilleton-Schriftstellers.

Die erste Ausgabe dieser "Wochenschrift für Politik, öffentliches Leben, Kunst und Literatur, unabhängige Tribüne für jedermann" (Untertitel) erschien am 1.10.1892 mit einer Auflage von 6000 Stück in Berlin. Wer dem jungen Publizisten das Geld für die Zeitschriftengründung zur Verfügung stellte, ist umstritten. Weller bringt eine lange Erklärung, wie der Bahnhofsbuchhändler Georg Stilke Hardens Talente zunächst auf dem Markt testete und ihn dann finanzierte. Der distanziertere Hellige dagegen zieht den Bruder Carl Sigismund als Kreditgeber heran.

Als die Zukunft erschien, erzeugte das keine Flut roter Heftchen. 6000 Stück war die erste Auflage, ein bescheidener Beginn, den der fleißige Neu-Selbständige als Basis seiner persönlichen Zukunft annahm. Starke Selbstkontrolle, Aufopferungsbereitschaft und ein strenger Zeitplan garantierten, daß jede Woche eine neue Ausgabe zum Verkauf bereit lag. Hardens Leben scheint in der Anfangszeit der Zukunft wie mit deren Erscheinen synchronisiert. Themensuche, langsames Herantasten an die mögliche Argumentation bildeten den Anfang und steigerten sich bis hin zur gestreßten Korrektur der Druckbögen kurz vor Drucklegung. Woche um Woche; wie Harden Tag für Tag seinen Dauerlauf am Morgen absolvierte. Rhythmen, die ihm lagen und ihm Rahmen waren.

Weller versucht sich in einer Kurzdarstellung dessen, was die Zukunft ausmachte und was Harden von ihr erwartete. Er kommt dabei zu Thesen zur Effekthascherei und der gebildeten Sprache, die noch zu diskutieren sein werden.

"Die Zukunft machte es durch Stil und intellektuelles Niveau dem Leser unmöglich, sie wie ein beliebiges anderes publizistisches Organ zu konsumieren: sie war eine Herausforderung, die, wenn man sie lesen wollte, angenommen werden mußte. Hardens (im anspruchsvollsten Sinne des Wortes) Gesinnungspublizistik war nie auf journalistische Effekte bedacht, sondern zielte auf politische Wirkung, forderte zum Nachdenken auf, zum Raisonnieren. Zur Sicherung dieses Zieles bediente er sich schriftstellerischer und intellektueller Mittel, die seinem Schaffen einen Zwangscharakter gaben, Faszination durch das geschriebene Wort und Provokation durch die Mitteilung auslösten. Das nur-gebildete Raisonnement des Durchschnittsjournalismus um 1900 ging ihm ab..." (Weller, S.16)

Die Zukunft war in weiten Teilen eine Ein-Mann-Zeitschrift, zumindest waren ihre Artikel immer von Harden gutgeheißen worden. Er selber schrieb und korrigierte mehrere umfangreiche Artikel für jede Ausgabe. Wenn er auch Gastbeiträge aufnahm, war es doch der ständige "intellektuelle Alleingang inmitten der von Massenpresse und Monopolen korrumpierten Gesellschaft..." (Weller, S.17), wie er seine Arbeit verstand. Die Auflage schwankte zumeist zwischen 6.000 und 9.000 Exemplaren, nur zur Zeit der Eulenburg- Prozesse konnte sie auf 30.000 gesteigert werden. An diesen bescheidenen Zahlen kann man den Einfluß der Zukunft jedoch nicht messen. Der bewußte Einsatz seiner in langer Arbeit erworbenen Studiertheit ließ ihn zu einem geachteten Individuum in einflußreichen Kreisen der Politik und des gesellschaftlichen Bürgerlebens werden, die mit ähnlichen Distinktionen zu arbeiten pflegten. Aus seinen Artikeln sprach, daß er gut informiert war, und seine Argumentationen waren möglichst angreifend ohne auf Andeutungen zu verzichten und beachteten genau den Punkt, an dem er selber angreifbar werden konnte.

Sprache

"Den Zwangscharakter, den seine Publizistik kennzeichnet, erreichte Harden durch eine eigenwillig-esoterische Sprach- und Formgebung, die den Mitteilungscharakter seines Wortes in die Dimension des Dämonischen hob, die durchweg herrisch war; den Leser durch Diktion und Intensität der Aussage bezwang und ihn durch die Präzision der Analyse überwältigte. Harden lesen bedeutete: von ihm fasziniert werden in der breitesten Bedeutung des Wortes." (Weller, S.18)

Weller ist hier eher als Harden-Leser denn als Biograph interessant. Die Herausforderung, die es bedeutete, Harden mit den vielen Verweisen auf Literatur, Geschichte und aktuelle Politik lesend zu verstehen und aus der sich das elitäre Gefühl des Lesers speiste, kann er noch nachvollziehen. Harden begann als Nonkonformist und als Korruptionskritiker,wobei er sich kompromißbereit um Veränderungen an den Zuständen bemühte. "... es hat nicht an Versuchen gefehlt, aktiv, durch privaten Einsatz oder unterstützende Kritik, zur Sanierung des 'Presseunwesens' beizutragen" (Weller, S.54). Harden wurde daraufhin nicht ausgeschwiegen, sondern als brillianter Denker beachtet und rezipiert. In der Eulenburg-Affaire zeigte sich, daß der Kaiser die Zukunft nicht selber las, es aber als unumgänglich angesehen wurde, ihm die immer intensiveren Angriffe Hardens vorzulegen, da ihnen Einfluß zugesprochen wurde. Der Kaiser reagierte nicht mit Maßnahmen gegen den Autor, sondern ließ die Beschuldigten zu sich kommen. Er nahm die Artikel Hardens ernst und unterstellte ihnen Seriösität und breite Wirkung.

Psychosoziale Deutungen

Hans Dieter Hellige hat an unscheinbarer Stelle eine detaillierte und überzeugende "sozialgeschichtlich-biographische Studie" zu dem Herausgeber der Zukunft veröffentlicht. Er führt den Großteil Hardenscher Publizistik auf frühkindlich erfahrene psychische Verletzungen zurück.

Sein Schreibstil, seine "Zettelkastenlyrik" (Kraus), dessen Kennzeichen, neben den ungemein vielfältigen Zitaten, häufige Metaphernbildung und Umschreibung von zentralen Begriffen waren war Ausdruck einer geistigen Elite, der Harden sich zugehörig fühlen wollte und für die er schrieb. Neben Fontane und Nietzsche gehörte auch der von Kraus für alle Auswüchse der deutschen Sprache verantwortlich gemachte Heine zu den bevorzugten Autoren Hardens. Dieser bemühte sich auch um Kenntnisse über Klassiker wie Horaz, den er in Praeludium kokettierend alleine dreimal zitiert. Hellige nennt dies "unbedingte Anerkennung" (Hellige, S.44), nach der Harden strebte, ein Streben, das wie "seine krankhafte Eitelkeit, [...] seine übersteigerte Empfindlichkeit gegenüber der leisesten Art von Kritik" (Hellige, S.44) auf die fehlende Anerkennung während seiner Kindheit zurückzuführen ist. Es gibt noch keine Harden-Biographie "Aus guten Gründen, weil es wahrlich kein leichtes Unternehmen ist, aus diesen mit gelehrtem Wissen und oft abstrusen Stoff, mit weithergeholten wie ganz aktuellen Bezügen, mit Rückblenden und Wiederholungen vollgestopften, in einer künstlichen und manirierten, absichtlich barock gehaltenen Eigensprache abgefaßten Artikeln das für Harden und seine Zeit wesentliche und für die Gegenwart Beziehungsreiche herauszuholen." (Rogge, Publ.S.301). Eine Erklärung für diese Eigenart läßt sich aus den Ausführungen Helliges zu dem fehlenden Schulabschluß herleiten, der offiziellen Nicht-Anerkennung. "Der daraus resultierende Minderwertigkeitskomplex quälte Harden bis über das 30.Lebensjahr hinaus. Er kompensierte es durch einen überstarken Bildungseifer und war später besonders stolz, seine geistigen Konkurrenten auf autodidaktischem Wege überrundet zu haben. [...] Der weitestgehende Mangel an Bestätigung und Liebeszuwendung in der Jugend führte zu ausgeprägten Kontaktstörungen gegenüber der Umwelt." (Hellige, S.43) Es erscheint hinter dem politischen Beobachter, dem scharfen Kaiser-Kritiker und dem Kämpfer für die unbestechliche Journalistik ein Mensch, der nicht nur unter der Ablehnung durch seinen Vater gelitten hat, sondern der dies als Ablehnung seiner Person empfunden hat und deswegen sein Leben lang divahafte Umwerbungen verlangte. Die zweite Demütigung, die der junge Witkowski erfuhr, war die Entfernung aus der Schule durch seinen Vater, dem Ort, an dem der schüchterne Junge seine stärksten Erfolgserlebnisse gemacht hatte. Eine Demütigung durch eine objektiv nicht zu achtende Autorität - und doch verletzend wirkungsvoll. "Die familiäre Konstellation erzwang Hardens Auflehnung gegen 'Vater'- Autoritäten und drängte ihn in seine lebenslange Oppositionshaltung, bewirkte aber gleichzeitig, daß er seinen Kampf immer nur im Schutze von 'positiven Vater-Helden' zu führen imstande war, zu deren unbedingter Verteidigung er sich aufgerufen fühlte." (Hellige, S.44)

Am Beispiel der Bedeutung der deutschen Regenten für Harden läßt sich diese Psychologie nachvollziehen. Zunächst nahm Harden den Beruf des Schauspielers an, als "die konsequenteste Absage an die bürgerliche Herkunft" (Hellige, S.79), verlagerte dann aber seine Aktivitäten hin zur direkten Auseinandersetzung mit den höchsten deutschen Autoritäten. Er wurde politischer Publizist. Die für ihn notwendigen Antipole waren schnell gefunden: Bismarck als der Über-Vater auf der einen Seite. Er dient dazu, das schwache Selbstbewußtsein durch Rückendeckung zu ersetzen. Geeignet ist er, weil er nach seiner Amtsenthebeung den Status eines Outsiders inne hat, hinausgejagt trotz hervorragender Leistungen, was Identifikationsmöglichkeiten bot. Die Gegenfigur bildete Kaiser Wilhelm II., der schwache ungerechtfertigte Herrscher mit dem ihn umgebenden Beraterstab, der Kamarilla. Bismarck stand also geistig im Hintergrund Hardens Werkens, auch wenn er keine direkten Handlungsanleitungen gab. Harden war von ihm nicht direkt beeinflußt worden, sondern er ihm aus tiefer Überzeugung. Der Ex-Kanzler verkörperte für ihn die Ideale, für die er zu arbeiten gedachte, konnte die Einflußnahme deshalb ohne eine plötzliche Wende vollziehen zu müssen und ohne merkbares Aufgeben alter Positionen leicht integrieren. Seinen Ziehsohn trieb die Verehrung der guten, wahren, starken Autorität zum vorauseilenden Gehorsam an. Was ihn zu dieser Konstellation bewog, war "... die Sehnsucht nach einer hypermaskulinen, Schutz gewährenden 'echten' Autorität, mit dem der Kampf gegen den väterlichen Tyrannen legitim und erfolgreich zu führen wäre." (Hellige, S.44)

Autoritäten, die trotz eigener Fehler Macht ausüben dürfen, Menschen, die trotz geringerer Anstrengungen und weniger geistigem Potential als Harden selbst deren Richtung beeinflussen können - dies waren seine natürlichen Gegner, doch "Er bezog die Klasse, die politische Richtung und die Religions- und Rassezugehörigkeit des Vaters in seine Auflehnung mit ein." (Hellige, S.46).

Weiterentwicklung

Nachdem er zur evangelischen Kirche übergetreten war, verstärkte er seine antijüdischen Angriffe, wurde ausgesprochen antisemitisch, vertrat Volk-ohne-Raum-Thesen, argumentierte rassisch und malte Feindklischees in seiner Zukunft. Ab 1890 wird Harden vom Nonkonfirmisten zum Sozialdarvinisten mit "pseudobiologischen Konzepten zur Rechtfertigung und Verteidigung bedrohter Klassenpositionen" (Hellige, S.107). Die Angriffe gegen die Presse sind zum einen der Judenfeindschaft zuzurechnen, zum anderen sind sie Ausdruck seines "autoritätsfixierten Konservatismus", der die liberalen Pressekonzerne ablehnt und zum dritten seinen Nietzsche entlehnten Vorstellungen vom "Recht der Stärke, das Recht des zum Kampf ums Dasein Lebenstüchtigerem" (Hellige, S.104), die durch den Korruptionismus in seinem neuen Metier, dem Zeitungswesen, konterkarriert wurde. Er mußte wieder fürchten, trotz seiner Qualitäten, von denen er überzeugt war, nicht den ihm angemessenen Posten bekommen zu können, weil nicht zu achtende aber mächtige Autoritäten gegen ihn arbeiten könnten. Der Kampf gegen Korruption ist so gesehen eine selbst-sichernde Maßnahme, die Ausdruck einer permanenten Furcht vor und einer Aggression gegen nicht-objektive Bewertungen ist. Harden gab sich als verantwortungsbewußter Patriot, der durch seine Arbeit in der Publizistik etwas an seinem Land zu verbessern. Als im Dienst eines höheren Auftrages Arbeitender. "Dennoch entschloß er sich, den für ihn einsamen und oft bitteren Weg des politischen Journalismus zu gehen, denn er betrachtete seine Tätigkeit als eine ihm auferlegte Pflicht, der er sich nicht entziehen durfte." (Weller, S.49) Die Zukunft stellte das Vorbild-Blatt dar, für einen Journalismus des freien Geistes, der Bildung, der pro-vaterländischen Politik und der bekennenden Meinungsäußerung. Losgelöst von Interessen der Inserenten und Konsumenten sollte vorgemacht werden, daß "starke Persönlichkeiten" sich durchsetzen können. Wenn dieses vermittelte Gefühl motivierend wirken könnte, würde das der Stärkung des Landes dienen und den korrumpierten Journalismus eindämmen.

Hellige faßt diese für einen kleinbürgerlichen Einzelproduzenten typische Gesellschaftsbild zusammen: "Gerade die Gefährdung seiner Unabhängigkeit als Schriftsteller durch die materielle Bindung an 'korrupte' Pressekonzerne forcierte Hardens Widerstand gegenüber den organisierten Mächten in Staat und Wirtschaft und seinen Kampf gegen bürokratische Apparate, Instanzen, Parteien und Autoritäten, durch die er die Entfaltung und den Aufstieg fähiger einzelner behindert sah." (Hellige, S.84) Sein Feind war die Phrase, verstanden als das Gegenteil der - fast metaphysisch aufgefaßten - Wahrheit, so daß er zu der Ansicht kam, Phrase sei das Gegenteil von Wahrheit (Weller, S.35) und "die typischen Vertreter einer angefaulten Moral haben den Pranger verdient und die Peitsche." (Weller, S.35)

Standort

Es ergibt sich ein Bild eines Menschen, der sich berufen fühlt, im Sinne einer höheren Verantwortung seinen Ehrgeiz für den Dienst an der Sache zu kultivieren. Getrieben durch die Kompensationsversuche der kindlichen Kränkungen, die Dualität zwischen Oppositionshaltung und Autoritätsglauben, den selbstschützenden Bildungseifer nahm er den Kampf für das Gute und gegen die Korruption des Geistes auf. Im Laufe seiner Karriere entwickelte sich seine politische Artikulation fort. Er begab sich dann in die Hände eines greifbareren Arbeitgebers als der der Wahrheit. In einer Partei war er nie, wohl aber im geistigen Gefolge Bismarcks.

Aufgenommen in die höchsten bürgerlichen Kreise, war aus dem aufsässigen Schauspieler der Assimilationsjuden geworden mit dem "typischen Erscheinungsbild konservativer Überanpassung." (Hellige, S.66), der zudem zu Einfluß und einigem Vermögen gekommen war. Harden schloß sich Kreisen an und genügte seinem "Unabhängigkeitsbedürfnis", das Weller zufolge "zur Gründung der Zukunft geführt hat" (Weller, S.45), innerhalb des bürgerlichen Besitzstandes und der patriotisch-politischen Publikationstätigkeit, die mit zahlreichen Freundschaften zu hohen Personen des Deutschen Reiches einherging. Auch wenn die politische Haltung Hardens ingesamt als "konfus" bezeichnet wird (Pfabigan, S.125), wurde er doch derart ernst genommen, daß er mehrmals zu Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung verurteilt wurde und schließlich mit seinen Anspielungen zum Eulenburg-Kreis einen reichsweiten Skandal verursachte.

"Die Zukunft sollte das Blatt einer 'freien Schar' und geistigen Elite werden, die bereit sein würde, das 'Vaterland über die Partei', die Menschheit über Verhetzung, die 'Kunst über die Clique' und das 'Gedeihen des gesunden Stammes über absterbende und kränkelnde Triebe ' zu stellen." (Hellige, S.100)

Die beiden Biographen Hardens bewerten die Aufgabe, die die Zeitung einnehmen sollte, verschieden pointiert: "Harden sah seine journalistische Aufgabe als Herausgeber der Zukunft unter anderem darin - neben der grundsätzlichen Kritik an der Presse -, Nachrichten und Kommentare der verschiedensten Zeitungen mit seinen eigenen Gesichtspunkten zu analysieren und zu korrigieren." (Weller, S.53)

"Die Zukunft sollte das Blatt einer 'freien Schar' und geistigen Elite werden, die bereit sein würde, das 'Vaterland über die Partei', die Menschheit über Verhetzung, die 'Kunst über die Clique' und das 'Gedeihen des gesunden Stammes über absterbende und kränkelnde Triebe ' zu stellen." (Hellige, S.100)

In der Bewertung ist Weller gewohnt emphatisch und schreibt:

"...seine Zeitschrift wurde, als eine wahre Tribüne des freien, unabhängigen Geistes, überall gelesen, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt." (Weller,S.58)

EULENBURG-AFFAIRE

Vorgeschichte

Mit Wilhelm II. ging auch die Ära Bismarcks zu Ende. Ein halbes Jahr nach der Thronbesteigung, am 20.3.1890 wird der Kanzler entlassen und durch General Leo von Caprivi ersetzt. Der Bismarck-Verehrer Harden, der in engem Kontakt mit seinem Vorbild auch nach 1890 blieb, sah diesen Wechsel mit Sorge. Caprivi war in seinen Augen nur eine Marionette und der junge Kaiser schlecht beraten, wenn er die Regierungsgeschäfte alleine in die Hand nehmen wolle, sozusagen als sein eigener Kanzler fungierte. Er bemängelte dessen Weichheit, seine jugendliche Kurzsichtigkeit, ohne deshalb Kaiseruntreu zu werden, trauerte aber einem lenkenden Kanzler nach, dem er die Einigung Deutschlands hoch anrechnete, und der für ihn sowohl persönlich als auch politisch Kompetenz und Charakter ausstrahlte. Hätte Wilhelm II. nicht sein eigener Kanzler werden wollen, "nie wäre Harden auf die Idee gekommen, die Eulenburg-Affaire in Gang zu setzen, auch wenn man sie als eine posthume Rache Bismarcks interpretieren möchte" (Weller, S.163). Das ist richtig, doch bleibt die eigentliche Motivation noch ungeklärt.

Wilhelm II. war noch sehr leicht zu beeinflussen und ließ sich mitunter von persönlichen Schmeicheleien leiten. Dies konstatierte auch Harden, der daraus schloß, daß die den Kaiser umgebenden Personen maßgebend für das Werden Deutschlands sind. Er ging nie soweit, den höchsten Mann im Staat ernsthaft zu kritisieren, sondern mahnte Umsicht bei der Auswahl seiner Berater und eine kluge Beeinflussung, eine Erziehung des Kaisers zu einem Bismarck ebenbürtigen Herrscher an. Die Situation stellte sich ihm anders da: Wilhelm II. war umgeben durch eine Clique, die Hardens strenge Ziele nicht verfolgte. "Wilhelm II. gesellte Höflinge und Freunde um sich, die seine Eitelkeit und den Glauben an das 'Gottesgnadentum' unterstützten, die die illuminierte Politik des Kaisers feierten und dem Kaiser schwärmerisch huldigten. [...] Er sah in ihnen die Bewahrer des Personenkultes, die den Kaiser hinderten, sich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln und sich über die wahre Stimmung im Volk zu orientieren." (Weller, S.162)

Einer, der zu dieser "Kamarilla" (Harden) gehörte, war Fürst Philipp zu Eulenburg: Am 1.1.1900 in den Fürstenstand gehoben, Mitglied des Preußischen Herrenhauses, 1891 preußischer Gesandter in München, wo erstmals Gerüchte über seine sexuelle Anomalie kursierten (Weller, S.164), 1894 deutscher Gesandter in Wien bis 1902. Darauf folgte der Rückzug auf sein Schloß zu Musik und Dichtung. "Süßliches Wesen, Adoratentum, neigte zu Spiritismus und Geisterseherei und verehrte Wilhelm II. abgöttisch" (Weller, S.163)

Antriebe

Eulenburg bildete ein Zentrum in dem Kreis um Wilhelm II. und war homosexuell - dies war kein Geheimnis, doch gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der gleichgeschlechtliche Geschlechtsverkehr war durch §175 teilweise sogar verboten. Homosexualität war ein Tabu, es war eine Ehrverletzung, diesen Verdacht gegen jemanden auszusprechen, und es war ein Grund, einen Menschen als erpressbar, nicht kalkulierbar, anormal und damit für staatliche Aufgaben ungeeignet anzusehen. Auch wenn Fischer schreibt, Harden habe Wilhelm II. mit allen publizistischen Mitteln bekämpft (Fischer, S.24), so ist es doch eher zutreffend, daß er nur dessen Politik kritisierte, seine Angriffe galten jedoch den vermeintlichen Urheber dieser Entwicklung, der einflußnehmenden Umgebung. Sein Antrieb war die Vorstellung von einer für Deutschland richtigen Politik nach dem Vorbild der Bismarckschen, die er wieder herstellen wollte. "... was nichts an der Tatsache ändert, daß Harden sie [die E.-Affaire] nach bestem Wissen und einer Pflicht folgend ausgelöst hat." (Weller, S.161) Diese Pflicht war zu einem guten Teil auch eine tief empfundene Pflicht seinem Gesprächspartner Bismarck gegenüber, der Eulenburg als nicht ernst zu nehmenden Politiker ansah, die Abneigung gegen seinen Kreis jedoch teilte, so daß die Annahme, Harden habe in vorauseilendem Gehorsam gehandelt nahe liegt. Auch Holstein hat Hardens Kampagne gut geheißen und von Bülow gab es auch billigende Stellungnahmen. Harden fühlte sich demnach in die Pflicht genommen, eine Aufgabe für das Wohl aller zu übernehmen, eine zutiefst politische. "Was sich zwischen 1907 und 1909 als Skandal- und Sexualaffaire darstellte, war für Harden eine politische Tat, die mittels der Publizistik ausgelöst wurde." (Weller, S.161) Es ist wahrscheinlich sogar richtig zu sagen, "Eulenburgs vita sexualis hätte ihn nicht interessiert, wäre dieser nicht ständig in der Umgebung des Kaisers gewesen." (Weller, S.167), der Streitpunkt ist jedoch, ob das Sexualleben eines Politikers überhaupt als politisches Mittel geeignet ist - diese Frage hat sich Harden nicht gestellt, so daß es zu einer publizistischen und politischen Schlammschlacht in Deutschland kam, die ein Fiasko für Harden wurde. "Die Geschichte der Eulenburg-Affaire ist wahrscheinlich die Geschichte von Hardens größtem politischen Irrtum, und er selbst hat das fünfzehn Jahre nach dem letzten Prozeß eingesehen." (Weller, S.161)

Weg zur Staatskrise

Die ersten Anzeichen der Affaire finden sich schon 1901 in der Zukunft, da Harden die Gefährlichkeit Eulenburgs als Berater und Freund des Kaisers zum ersten Mal benennt. Die Artikel Praeludium und Dies irae vom 17.12.1906 und 24.11.1906 läuten die zweite Phase der Atacken ein, die durch die Verleihung des Schwarzen Adlers an Eulenburg, also durch seine Rückkehr in das politische Berlin ausgelöst wurden, die Harden vermuten ließ, er solle Nachfolger Bülows im Amt des Kanzlers werden. Fünf Monate später bekamen die Artikel eine neue Qualität.: in diesen tauchen erstmals Hinweise darauf auf, daß Harden um die Homosexualität Eulenburgs - und auch Moltkes - weiß und dies als Druckmittel verwenden möchte, indem er immer offenere Andeutungen abdruckt. Daraufhin wurde am 2.Mai Wilhelm II. durch seinen Sohn informiert, der umgehend Moltke, von Hohenau und von Lynar, Mitglieder des Eulenburg-Kreises, aus ihrem Dienst entließ. Wilhelm II. gibt zu erkennen, daß er an Eulenburgs Schuld glaubt und bringt dadurch den Skandal ins Rollen. Moltke weist alle Anschuldigungen zurück und will sich mit Harden duellieren. Eulenburg zeigt sich am 31.5.1907 selbst an und wird von einem offensichtlich für ihn eingenommenen Gericht in bezug auf einen Verstoß gegen §175 freigesprochen. Harden will zu dieser Gelegenheit nicht aussagen, da er bestreitet, Vorwürfe im Sinne §175 erhoben zu haben. "Unter allen Umständen wollte er es vermeiden, daß die politischen Motive seines Handelns unterschätzt würden und er statt dessen als Sensationshascher gebrandmarkt würde." (Weller, S.186) Genau diesen Eindruck machte der Skandal auf Karl Kraus, woraufhin er seine Polemik gegen ihn begann.

Am 6.6.1907 erhebt Moltke Privatanklage gegen Harden, nachdem alle Vermittlungsversuche gescheitert sind. Obwohl Harden weiterhin bestreitet, Vorwürfe nach §175 erhoben zu haben - und nur in diesem Sinne war Homosexualität strafbar - war in dem Prozeß zu klären, ob Moltke überhaupt homosexuell veranlagt sei. Um dies zu beweisen, bringt Harden als Hauptzeugin die Ex-Frau Moltkes vor, die jedoch keinen glaubwürdigen Eindruck macht. "Harden erklärte, daß er der Frage der Homosexualität ohne alle Voreingenommenheit gegenüberstehe, daß es sich um kranke, nicht verbrecherische Menschen handele, die aber keinen politischen Einfluß haben dürften, da dieser zu Spiritismus und irrealen Glorifizierungen ausarten könne." (Weller, S.189) Diese Kausalitäten erscheinen dem Gericht plausibel, so daß Harden freigesprochen und auf Händen aus dem Saal getragen wird.

Am 19.12.1907 stellt das Gericht in einem neuen Prozeß um Fürst Eulenburg fest, daß in Hardens Artikeln Anspielungen auf Homosexualität zu finden sind. Aus diesem Grund wird ein Wahrheitsbeweis notwendig, den Harden nicht stichhaltig erbringen kann. Er muß für vier Monate in Haft gehen und alle Kosten tragen.

Danach engagiert Harden einen Detektiv, der neue Beweise gegen Eulenburg beschaffen soll. Er findet Ernst und Riedel, zwei einfache Männer, die angeben, mit Eulenburg sexuelle Kontakte gehabt zu haben. Um diese Informationen einem Gericht zugänglich zu machen, kauft er einen Artikel in der Bayerischen Zeitung, in der ein befreundeter Journalist behauptet, Harden habe eine Million Mark als Schweigegeld von Eulenburg erhalten. Der scheinbar Beschuldigte bekam dadurch die Möglichkeit, den Autor zu verklagen und vor einem nicht- preußischen Gericht zu beweisen, daß Eulenburg eben doch homosexuell war. Das Gericht erkennt die Beweise an, der Journalist wird zu einer Strafe von 100 Mark verurteilt, die er sofort von Harden zurückerstattet bekommt, und Eulenburg ist des Meineides überführt.

Eine Gegenüberstellung zwischen Ernst/Riedel und Eulenburg soll am 7.5.1908 letzte Klarheit bringen. Ein neuer Prozeß droht, zu dem Harden Unmengen Material sammelt, das sich nur um die Frage schwul oder nicht dreht. Eulenburg meldet sich jedoch ab da an krank, so daß das Verfahren nicht mehr zur Verhandlung kommt. "Was als politische Kampagne begonnen hatte, endete als sinnloser Skandal und war für die Justiz eine Schande, weniger, weil man Eulenburg nicht verurteilt, sondern vielmehr, weil man über der Meineidsfrage die politischen Aspekte des Verfahrens vergessen hatte und sich von den Verstellungskünsten des Fürsten hatte beeinflussen lassen." (Weller, S.198)

Rehabilitierung

Die hier hervorgehobenen politischen Aspekte waren längst nicht mehr vorhanden und vor allem nicht vor einem Gericht zu verhandeln. Moralisch verurteilt wurde Harden in Deutschland nicht, er wurde sogar offiziell als Patriot rehabilitiert und bekam gute Gesinnung bescheinigt. Am 13.9.1909 kommt es zum Vergleich mit Moltke, dem aber ein nicht mehr zu vermeidender 3.Moltke Prozeß am 20.4.1909 folgt, der am 11.6.1909 damit abgeschlossen wird, daß Harden zwar für schuldig befunden wird, indirekt aber aus der Staatskasse 40.000 Mark Entschädigung für entstandene Prozeßkosten erhält. Die gesamte Affaire endete für alle Beteiligten in einer Schlammschlacht, die keinerlei positive Auswirkungen für das Reich oder einzelne Personen hatte. "Den Einfluß Eulenburgs auf Wilhelm II. und die deutsche Politik hat Harden weit überschätzt bzw. falsch gewertet; und Moltkes politische Ambitionen waren mehr als gering." (Weller, S.201)

Sein wohlwollender Biograph bescheinigt ihm nur gemeinte Absichten. "Er benutzte das Wissen um die Krankheit des Fürsten, um auf diesen Druck ausüben zu können. Daß sich die Prozesse schließlich nur noch mit der Frage der Homosexualität beschäftigten, war nicht seine Schuld." (Weller Publ, S.48)

DARSTELLUNG IN DER ZUKUNFT

Liebenberg

1901, am 9.November, findet sich ein erster Artikel in der Zukunft, der sich unter dem Titel Liebenberg mit dem Fürsten Eulenburg und seinem Einfluß auf den Kaiser befaßt. Eulenburg, "Er ist Spiritist, dichtet, komponiert ..." (Z: 207), wurde vorgeworfen, seinen Aufgaben als Botschafter nicht nachzukommen, es wurde ihm "vorgeworfen, er sei allzu selten in Wien" (Z: 208). Dies diente Harden als Anlaß, die Person des Mannes, "der auf den zärtlich klingenden Rufnamen Phili hört" (Z: 212), in seinem Einfluß auf die Reichsgeschäfte zu analysieren und zu bewerten. Der Abkömmling der starken Sippe der Eulenburgs habe Bismarck seine Treue geschworen, später "doch recht thätig an der Beseitigung des selben Kanzlers mitgewirkt" (Z: 210). Zum Zeitpunkt des Artikels befand sich Kaiser Wilhelm II. gerade zu Besuch in Liebenberg, dem Sitz des Fürsten Eulenburg. Harden legt daraufhin dar, daß dieser zwar jederzeit versichern werde, er würde mit dem Kaiser nur über schöngeistige Themen reden ("von des Wickingers Meerfahrerluft und vom Spiritismus" (Z: 212)), in Wirklichkeit aber großen politischen Einfluß ausübe. In distanzierter Form geschrieben: "Es kann dem Grafen Bülow unbequem sein, daß ein Botschafter, den er Durchlaucht nennen muß, dem Kaiser persönlich befreundet ist und sich in jedem Jahr Wochen lang von früh bis spät in des Monarchen Nähe aufhält. Er kann fürchten, der ihm dienstlich Untergebene werde bei so günstiger Gelegenheit manchmal das 'höhere Maß von selbständiger Initiative und von Fruchtbarkeit an eigenen politischen Ansichten' zeigen, das Bismarck an den Chefs deutscher Missionen nicht liebte." (Z: 211). Durch die Hintertür kommt die Warnung vor dem Sohn eines unzüchtigen Vaters: "Die persönliche Stellung neidet man ihm und dichtet ihm, um unkleidsame Regungen zu bergen, politischen Ehrgeiz größten Stils an." (Z: 212) Deutlicher erst zum Schluß: "Jahre lang dauert der Spuk; ob er endet, wenn dem Träger das Laken vom Leibe gerissen ist, das allein ihn gespensterhaft wirken ließ?" (Z: 212)

Harden schreibt im Stil der großen Furcht vor Anklage und Zensur mit Vermutungen, die er anderen in den Mund legt, mit vagen Andeutungen und bloß spekulativen Sätzen, deren Kern herauszulesen ist. Er tarnte seine Kritiken "durch den reichen Formenkatalog, der ihm zur Verfügung stand" (Weller, S.111) - lästerlich anfügen läßt sich ...und wurde andauernd erwischt. 1898 saß er 14 Tage wegen eines Streits mit König Otto von Bayern, 1899 sechseinhalb Monate wegen Majestätsbeleidigung aufgrund seiner Artikel.

Bismarck bildet immer wieder Anknüpfungs- und Vergleichspunkt bei der Bewertung der Lage um Kaiser Wilhelm II. "Bismarck war das Ziel seiner Suche nach einer politischen Persönlichkeit (wie es in anderer Beziehung Wagner und Nietzsche waren)" (Weller, S.105)

Zugleich wird schon sechs Jahre vor den eigentlichen Angriffen gegen Eulenburg und seine Freunde Hardens Ansicht deutlich, daß der Kreis nicht nur einen schlechten Einfluß auf Kaiser Wilhelm II. ausübe, sondern auch versuche stärker politische Macht zu gewinnen. Ein Ansinnen, das wegen des wankenden und weichen Charakters, der ungenügenden Disziplin und den fragwürdigen, bismarckfeindlichen Absichten des Wiener Botschafters durch die Zukunft zu vereiteln war. In Harden lebte ein glorioses Bild von der Regierungszeit Bismarcks fort, was die Herrschaft Wilhelm II. in jedem Fall blaß erscheinen ließ. "Das Zeitalter der Ideen sah er abgelöst durch das der Phrase." (Weller, S.139)

In dem Scheidungsprozeß der Gräfin Moltke wird Harden zum Eingeweihten und hat durch sie Zugang zu den Prozeßakten. Daraus entnimmt er, daß ihr Mann, Graf Kuno Moltke, seinem Freund, Fürst Philipp zu Eulenburg versprochen habe, aus Rücksicht auf ihn nicht mit seiner Frau zu schlafen. Sie stützt ihre Scheidung nun darauf, daß ihr Mann seinen ehelichen Pflichten nicht nachgekommen sei.

Für Harden war dies Anlaß, dem Fürsten ein Ultimatum zu stellen, sich aus der Politik zurückzuziehen. Ansonsten würde er die ihm zur Verfügung stehenden brisanten Informationen veröffentlichen. Bismarck soll von diesem Ultimatum gewußt haben und es als Lösungsmöglichkeit für die in seinen Augen für das Land gefährliche Entwicklung angesehen haben. "Harden... hatte Bismarcks Sorgen durch das Ultimatum aufgehoben." (Weller, S.169)

Praeludium

Im zweiten Teil des Artikels Praeludium (Zukunft vom 17.11.1906) behandelt Harden zunächst die Entlassung des Ministers Podbielskis, seine persönliche Bereicherung durch die Erhöhung von Nahrungsmittelpreisen und das Verhalten des Kanzlers bei dessen Absetzung. Ziel dieser Überlegungen ist die Spekulation über die Position Bülows selber. Nach einem Schwächeanfall angeblich geistig nicht mehr ganz wiederhergestellt, nach vielen Ratschlägen, das Amt niederzulegen, scheint Harden ein baldiges Ende dessen Amtszeit wahrscheinlich. Als Nachfolger vermutet er "Philipp Friedrich Karl Alexander Botho Fürst zu Eulenburg und Hertefeld" (Z: 264), der gerade durch die Verleihung des Schwarzen Adlers wieder in die Politik zurückgekehrt war oder wenigstens dessen Einflußnahme auf die Auswahl. Zur Zeit als Bülow als Kanzler ausgewählt wurde, war auch Eulenburg im Gespräch gewesen. Harden läßt Eulenburg seine Ablehnung wie folgt formulieren: "Ich habe zu wenig Ehrgeiz und zu wenig Freude an den Exigenzen dieser Stellung. Auch kann mein Verhältnis zum Kaiser durch den steten persönlichen Verkehr und die Vorträge gestört werden; gerade dieses freundliche Verhältnis ist aber sehr wichtig und dem Kaiser nützlich. Ich verlange nie Etwas vom Kaiser und gebe ihm nur ehrliche Rathschläge; in dieser vermittelnden Stellung kann ich mehr nützen als im Auwärtigen Amt." (Z: 264)

Harden sieht die "Kamarilla" (hier benutzt er den Ausdruck erstmals) innerhalb der Regierung Deutschlands unlegitimiert am Werk: "Er [Eulenburg] hat für alle Freunde gesorgt. Ein Moltke ist Generalstabschef, ein anderer, der ihm noch näher steht, Kommandant von Berlin, Herr von Tschirschky Staatssekretär im Auswärtigen Amt; und für Herrn von Warnbüler hofft man auch noch ein warmes Eckchen zu finden. Lauter gute Menschen." (Z:265) Dieser Kreis, von dem noch nicht alle Personen aufgezählt seien, erschwere dem Deutschen Reich die Athmung, da er einen Kaiser, in dem unguten Hang, alles selbst regeln zu wollen unterstützt, indem er ihm zuraune, er sei dazu berufen, alleine zu regieren und sei nur sich verantwortlich. "Solche Entwicklung wäre ein unabsehbares Unglück für das Reich und für die Monarchie und muß deshalb mit allen erreichbaren Mitteln verhindert werden." Diese Ankündigung sollte Harden wahrmachen.

Dies irae

Dies irae (24.11.1906) beschäftigt sich hauptsächlich mit Reichskanzler Bülow, der als ein Kanzler für Sonnentage bezeichnet wird, der schlechte Reden hält und seine Aufgabe für erfüllt sieht, wenn alle zufrieden gestellt sind und die Presse, die er umschmeichelt, ihm wohlgesonnen ist. Bülow ist ein "verwässerter und verzückerter, verzierlichter und verschwächlichter Bismarck" (Z:299), der den ehemaligen Kanzler ständig nachzuahmen versucht. Harden stellt mit Genugtuung fest, daß jetzt, vierzehn Jahre nachdem er genau davor gewarnt habe, Stimmen laut werden, der Kaiser führe eine Regierung, in der "persönliches Regiment, in der ein kaum verhüllter Absolutismus, in der außerkonstitutionelle Einflüsse aller Art einen großen Einfluß haben" (Z: 302), was zu unkontrollierbaren Entwicklungen führen könne, zumal der Kaiser sehr beeinflußbar sei. Harden fühlt sich ein wenig rehabilitiert, da er 1892 für genau diese Behauptungen ("Der Mangel an Aufrichtigkeit, dem er überall begegnet, hindert den Kaiser (oder erschwert ihm mindestens), seine Erziehung zu vollenden" (Z: 31.12.1892, in Z: 292)) wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und freigesprochen worden war.

Harden richtet hier seine folgenschwere versteckte Drohung an Eulenburg ('Der Süße') und Moltke ('Der Harfner'), die nur wenige Eingeweihte verstehen konnten, um sie vor weiterer Einflußnahme auf den Kaiser zu warnen: "November 1906. Nacht. Offenes Feld im Ufergebiet. Der Harfner: 'Hast Dus gelesen?' Der Süße: 'Schon Freitag.' Der Harfner: 'Meinst Du, daß noch mehr kommt?' Der Süße: 'Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen; er scheint orientiert, und wenn er Briefe kennt, in denen von Liebchen die Rede ist..' Der Harfner: 'Undenkbar! Aber sie lassens überall abdrucken. Sie wollen uns mit Gewalt an den Hals.' Der Süße: 'Eine Hexenzunft. Vorbei! Vorbei!' Der Harfner: 'Wenn er nur nichts davon erfährt!'

Während der kommenden fünf Monate erscheint nur ein Artikel, der die Position 'Fürst Phili's' zum Thema hat. In 'Symphonie' vom 2.2.1907 werden an einer Stelle französische Botschafter beschrieben, die erstaunt über die Anwesenheit Eulenburgs bei vertraulichen Gesprächen sind und die Tatsache beäugen, daß der Kaiser nicht nur Gast bei einem Untergebenen war, sondern sich von diesem auch noch bei Spaziergängen begleiten ließ.

Die Skandalartikel

Die Artikel, aus denen der eigentliche Skandal erwuchs, die die Diskussion um das Sexualleben des Eulenburg-Kreises hervorriefen, erschienen zwischen dem 6. und 27.April. 'Wilhelm der Friedliche' (6.4.1907) bereitet die Situation vor und erläutert die außenpolitischen Verwicklungen, in denen sich Deutschland zu jener Zeit befand. Die Weichheit Wilhelm II. wird durch den schlechten Einfluß Eulenburgs begründet. 'Monte Carlino' (13.4.1907) spielt die Folgen einer kriegerischen Eskalation durch, die entstehen könnte, wenn der Deutsche Kaiser sich weiterhin auf der ganzen Welt offensichtlich und insgeheim in Streitereien verwickeln läßt, was zu der Annahme führt, er wolle seine Macht enorm ausdehnen. Harden beschreibt düstere Verwicklungen, um zu fragen: "Wo war unser Auge? Blickt auf diese Tafelrunde. Philipp Eulenburg, Lecomte (den Tout-Paris nicht seit gestern kennt), Kuno Moltke, Hohenau, des Kanzlers Ziviladjutant Below: Die träumen nicht von Weltbränden; habens schon warm genug." (Z:44). Dies war die erste unverhohlene Anspielung auf Homosexualität im Eulenburg-Kreis. Sie blieb noch ohne Reaktion. Die kam erst auf 'Roulette' vom 27.4.1907.

Die Verleihung eines Schwarzen Adlers ist wieder Anlaß zur Kritik. Harden zählt auf, welche Berühmtheiten für welche Leistungen diese höchste deutsche Auszeichnung erhalten haben und kritisiert die Verleihung an Albert Honorius von Monaco. "Niedlich. Ist die Sache aber nicht verdammt ernst? Prinz Friedrich Heinrich von Preußen mußte, weil er an ererbter Perversion des Geschlechtstriebes leidet, auf die Herrenmeisterschaft im Johanniterorden verzichten. Gilt für das Kapitel des Schwarzen Adlers mildere Satzung? Da sitzt mindestens Einer, dessen vita sexualis nicht gesunder ist als die des verbannten Printen." (Z: 118) Dieser eine ist Eulenburg.

Nur ein paar Worte

Bis in den Juni hinein, also während der Zeit der großen Aufregung um die Vorwürfe gegen Eulenburg, veröffentlichte Harden keine Artikel in seiner Zeitung, die dazu Stellung nahmen. Erst am 15.6.1907 bricht er sein Schweigen mit Nur ein paar Worte, worin er zu erklären versucht, welche Motive ihn zu "dem Kampf, den ich führen zu müssen glaubte" (Z:367) bewegten. "Skandal verhüten wollte ich; nicht Skandal machen." (Z:368) schreibt er und beteuert, aus eigenem Antrieb,"Weder Hinterfrauen also noch Hintermänner." (Z:369) gehabt zu haben. Zu einer Stellungnahme genötigt habe ihn die Darstellung in anderen Zeitungen, daß eine tückische Kamarilla, ein Bande schmutziger Verbrecher geherrscht habe, wovon er nie etwas behauptet habe. Er habe anderes vermitteln wollen: "Auch auf normwidrige Gefühlsregungen einzelner zum liebenberger Kreis gehöriger Personen habe ich hingedeutet; so behutsam, wie der Anstand befahl. Auf strafbare Handlungen? Niemals. Auf ein süßliches, unmännliches, kränkliches Wesen, das am Hof seit langem bespöttelt wurde." (Z:372). An diese Gruppe hatte er seine Anspielungen gerichtet, nicht auf eine instrumentalisierbare Öffentlichkeit. "Strafbare Handlungen? Mit einer schmutzigen Kriminalgeschichte würde ich mich nicht abgeben. Die wäre auch politisch nicht wichtig." (Z:372) Er wollte demnach nicht aufhetzen und nicht anklagen, wollte keine "Unsittenschnüffelei" betreiben, sondern nur politisch handeln, dadurch daß er den Kaiser von schändlichem, nämlich homosexuellem Einfluß befreit. "Wenn aber an der sichtbarsten Stelle des Staates Männer von anormalem Empfinden einen Ring bilden und eine durch Erfahrung nicht gewarnte Seele einzuklammern suchen, dann ist dies ein ungeheurer Zustand." (Z:372). Harden sieht sich also als Befreier des unbedarften, weil erfahrungslosen Kaiser von Personen, deren Sexualleben zwar ihr persönlicher und unantastbarer Bereich ist, solange es sich in den Schranken des Gesetzes bewegt, das aber dennoch als "nicht ganz normal" (Z:373) anzusehen ist, was den Wert der Person keinesfalls herabsetzt. Trotzdem, "Was ich bekämpft habe, ist: die Einwirkung normwidriger (wenn auch ideeller) Männerfreundschaft." (Z:374). Nur in diesem Sinn sei die

Thematisierung der Homosexualität einer Person zulässig, "Hier hat sichs um Politik gehandelt. Um Kaiser und Reich." (Z:374)

Prozeß Eulenburg

Am 25.Juli 1907 folgt ein sehr ausführlicher Beitrag Hardens mit dem Titel Prozeß Eulenburg. Darin läßt er noch einmal die gesamte Genesis der Affaire aus seiner Sicht Revue passieren, er geht zurück bis in das Jahr 1891, als Bismarck ihm gegenüber die ersten Urteile über Graf Eulenburg abgegeben habe, wobei jener auch auf Philis "normwidriges Sexualempfinden" (Z:126) hingewiesen habe. Weiter führt Harden einen Briefskandal, Prozesse und Bemerkungen an, die schon Jahre vorher in ähnlicher Art mit Graf Eulenburg beschäftigt gewesen waren, um die Singularität seiner Artikel zu widerlegen. An einem ähnlich gelagerten Fall macht Harden noch einmal seinen publizistischen Ehrenkodex deutlich. Da er Homosexualität nur bei strafrechtlich verfolgbaren Taten zur Veröffentlichung geeignet bezeichnet, "So aber wars im schlimmsten Fall nach heute noch herrschendem Sittendogma eine Familienschande, die der politische Gegener nicht auf den Markt zerren durfte." (Z:133). Harden nimmt scheinbar progressive Positionen ein, wenn er homo- und heterosexuelle gleich behandeln möchte, doch schränkt er sofort ein. "Soll man diese Menschen ächten? Das wäre unvernünftig und grausam. Darf man ihre öffentliche Propaganda dulden? Das wäre dumm und antisozial. Sie sind untüchtiger, doch nicht weniger ehrenhaft als wir Normalen. Die Geschlechtshandlung ist der privateste Akt. Nur wenn sie ein nationales oder soziales Recht antastet, darf der Fremde sie entschleiern." (Z:134).

Genau so meint Harden auch gehandelt zu haben. Nicht einmal politischer Gegner sei Eulenburg gewesen, er hat ihn angegriffen "als den unwahrhaftigsten, skrupellosesten, gefährlichsten Höfling im Reich." (Z:136), der nie eine Sache gewollt habe, sondern "nur Glanz und Gloria für sich und seine Kreaturen" (Z:135) im Sinn gehabt hat. Aus dem politischen Kampf ist in seinen Augen nur durch den Prozeß gegen Eulenburg ein sexual- moralischer geworden, denn "als beeideter Zeuge mußte ich mein ganzes Beweißmaterial vorlegen" (Z:137), da es um die Frage ging, ob Eulenburg einen Meineid geschworen hatte, als er abstritt, mit Männern zu verkehren. Zu diesem Nachweis führt Harden alle Beweise auf, die Gericht und er gesammelt haben, und die zur Verurteilung Eulenburgs geführt haben, vom Matrosen Trost über die Fischer Georg Riedel und den Milchmann Jakob Ernst bis zu der "mutuellen Onanie" des Fürsten.

Eine Stelle des Textes weicht von der patriotischen, im guten Geiste handelnden und differenzierten Argumentation ab. Harden scheint sich hinreißen zu lassen und behauptet zum einzigen Mal alles das, was er nie angedeutet haben wollte. Unter dem Mantel des Kaiserdienstes kommt plötzlich die persönliche Kränkung und die wahre Meinung über Eulenburg und Anhänger durch.

"...weil der Hohenzollernhof von fünf Männern befreit ist, die unter Ausnützung ihrer dienstlichen, geldlichen, gesellschaftlichen Macht Jahre lang den ekelsten Geschlechtsunfug getrieben hatten. Fragt Gericht und Polizei nach den Thaten der Eulenburg, Hohenau, Lecomte, Lynar, Wedel: und Ihr werdet hören, daß es sich da um Anderes gehandelt hat als um den nach freier Selbstbestimmung vereinbarten Geschlechtsverkehr abnorm empfindender Männer. Um die listige Verführung argloser, dienstlich oder ökonomisch abhängiger Jünglinge. Um Gräuel, deren Schilderung alten Soldaten, grauen Polizeiratten selbst das Blut in die Schläfen jagte. Was da ans Licht kam, kannte ich längst. Hatte den Thätern eine leise Warnung zugedacht, nicht den Schrecken persönlicher Infamierung; aus dem hellsten Bezirk

sollten sie weichen, nicht in den Abgrund stürzen. Daß es dahin kam, ist nicht meine Schuld." (Z:136)

KARL KRAUS

Kindheit

Der 28.4.1874 war im nordböhmischen Jicin der Tag, an dem Ernestine Kraus einen Sohn entband, der Karl genannt wurde. Für die Arzttochter war es bereits die neunte und vorletzte Geburt, die auf die Hochzeit mit Jakob Kraus zurückzuführen war. Dieser war durch den Handel mit geklebten Papiersäcken zu Geld gekommen und galt als ein sehr umsichtiger, zurückhaltender Kaufmann, der dadurch von den wirtschaftlichen Unruhen der Zeit verschont blieb. In Jicin wohnten sie "mit Aussicht auf das Schloß, das Bismarck am Abend nach einer der blutigsten Schlachten im Österreichisch-Preußischen Krieg, die zuletzt in den Straßen Jicins ausgefochten wurde (29.Juni 1866), zu seinem Quartiert wählte (Schick, S.10). 1877 beschloß die Familie nach Wien zu ziehen, wo "...die kinderreiche Familie [...] den Standards bürgerlicher Prosperität - Stadtwohnung in Ringstraßennähe und Villa in Ischl - vollauf genügen." konnte (Wagner, S.16).

Schick beschreibt den Vater als einen Menschen, der durch seine sarkastischen Bemerkungen oft verunsicherte, viel Humor besaß und komplizierte Situationen logisch überdenken konnte. Er fand wenig Zeit für seine Familie, brachte den Kindern jedoch viel Liebe entgegen. Insgesamt erscheint die Kindheit Kraus' als eine glückliche, "harmonische Zeit" (Fischer, S.19), einer Darstellung, der Pfabigan widerspricht: "Der Ursprung der Legende von Kraus' glücklicher Kindheit liegt in seinen eigenen Mitteilungen" (Pfabigan, S.28.) Dieser benötigte den Selbstbetrug für seine Arbeit. "Dabei wird jedoch übersehen, daß Kraus für seine satirische Kritik einen Fixpunkt brauchte, der ihm einerseits die Maßstäbe liefern und andererseits den Beweis erbringen sollte, daß es realisierte positive Alternativen zum bekämpften Bestehenden gebe." (Pfabigan, S.28f) Ungewöhnliches Verhalten und psychische Labilität dienen als Beleg für eine familiäre Situation, die den jungen Kraus belastet habe. "Angst vor dem Straßenverkehr, vor dem Einschlafen, vor der Schule, oder auch irrationale Angst, der allzu lebhaften Phantasie entsprungen" relativieren das Bild von der glücklichen Kindheit. (Pfabigan, S.29)

Hellige ist sogar der Ansicht, daß Kraus den Umzug in die Großstadt als traumatisches Erlebnis empfand, das er dem "teilweise cholerischen Mann", gegen den sich "das psychisch und physisch zarte Kind kaum zur Wehr setzen" konnte (Hellige, S.64) unbewußt anlastete. In dieser Phase des ödipalen Lernprozesses führte dies zu verstärkten Aggressionen, deren Unterdrückung eine innere Kränkung waren.

Das wichtigste im Leben des Jungen war sein Marionettentheater. Den ersten Schulbesuch 1880 empfand er als ein "spannendes und dabei beglückendes Erlebnis" (Schick, S.15), da er, den Mangel der amusischen Familie ausgleichend, in Kontakt mit der Kunst der Lesebücher treten konnte. "Dann dringt, nicht greifbarer als ein Sonnestrahl im Staub, ein Tanz von Stimmen, Farben und Gerüchen ein, ein toter Tag schlägt seine Augen auf, und wir ertappen uns beim Einsagen, beim Zuspätkommen, beim Nachsitzen" (F372/373, 16).

Der "aufgeweckte Junge" (Schick, S.16) war ohne Zweifel kränkelnd und zog sich von den Raufereien seiner Mitschüler in die Welt der Bücher, der zu verehrenden Lehrpersonen und des klaren Lateins zurück. Er war ein Musterschüler und Liebling seiner Lehrer. "Zweifellos brauchte das schwächliche, ängstliche, kränkelnde, unsportliche und durch dicke Brillen behinderte Kind den Erfolg in der Schule, der nur durch ein hohes Maß an Anpassung erreichbar war, als Ausgleich." (Pfabigan, S.29) Weder die Anpassung, noch seine Furcht vor der Großstadt und den Kameraden erscheinen später als Negativerlebnisse, ein Kraus- typischer Bewältigungsmechanismus "Dinge, unter denen er früher offensichtlich gelitten hat, interpretiert er in der Erinnerung als positive Erfahrung." (Pfabigan, S.29)

Der Publizist

Von 1884 bis 1892 besucht Kraus ein humanistisches Gymnasium in Wien, das ihn weniger fasziniert als die umliegenden Theater. Seine Leistungen werden mittelmäßig, die Schule immer lästiger, je mehr er den Drang zum Theaterspielen in sich spürt. Die Schule beendet er mit einer mittelmäßigen Matura, seine Theaterkarriere mit einem mißglückten Auftritt in einem Vorstadttheater 1893. Auf Wunsch seines Vaters beginnt er mit dem Studium an der juridischen Fakultät, die er nach zwei Semestern zugunsten der Fächer Philosophie, Pädagogik und Germanistik verläßt. 1892 findet Kraus' erste Lesung statt, "Im Reich der Kothpoeten", die ein guter Erfolg ist und ihn zu weiteren derartigen Aktivitäten animiert: 1893 folgen die verbotenen Weber Hauptmanns, die sein damaliges literarisches Vorbild abgaben. Gleichzeitig beginnt er, für einige Wiener Zeitungen zu schreiben und nähert sich dem Café Griensteidl-Kreis, in dem er bald mehr Zeit als in der Universität verbringt. (Krolop, S.14ff) Karl Kraus war acht Semester lang an der Wiener Universität immatrikuliert, "ohne jedoch ein Brotstudium zu erwägen. Der intensive Wunsch, Schauspieler oder Schriftsteller zu werden, schloß für ihn jedes andere Berufsziel aus." (Krolop, S.14)

Seit 1892 hatte er Beiträge für die österreichische und deutsche Presse geschrieben, 1894-96 auch für die Neue Freie Presse, vor allem für deren Literaturblatt. (Krolop, S.15) Der Brief aus Ischl ging an Das Rendevous, 1892 erschienen Buchbesprechungen und Theaterkritiken in Die Gesellschaft (angesehenes Leipziger Journal und Organ des literarischen Naturalismus), weiter schrieb er für die Breslauer Zeitung, Wiener Literatur-Zeitung, Wiener Rundschau, Neuen Literarischen Blätter (Bremen) , die Zeit (Wien) und andere (Zohn, S.11) Bei der Neuen Freien Presse"gewann er Einblick in den Mechanismus eines kapitalistischen Pressebetriebs, und als Chroniquer der erklärtermaßen 'unabhängigen' Wiener Wochenschrift Die Wage bekam er 1898 zu spüren, was der Unabhängigkeit eines Journalisten eine feste Grenze setzte, die er bei Strafe des Boykotts nicht überschreiten durfte." (Krolop, S.15)

Ihn stößt aber die Unwahrheit der in den Kaffeehauskreisen vertretenen Literatur ab, was zu dem großen Bruch führt, den er mit der demolirten Literatur (1897), einer Parodie auf Hermann Bahr, vollzieht. "... das für die Wiener Jahrhundertwende charakteristische Amalgam des Journalisten und des Schriftstellers" ist der Anlaß der Kritik an den Jung- Wienern. (Arntzen, S.26). "Kraus wendet sich, indem er sich von den Jung-Wienern abwendet, gerade dem Journalismus zu, und zwar einem kritischen Journalismus, der sich thematisch mehr und mehr an der politischen und sozialen Situation orientiert" (Arntzen, S.26) Sein literarisches Vorbild ist der deutsche Naturalismus, namentlich Hauptmann. Wagner bezeichnet ihn als einen "literatursüchtigen, politisch völlig ahnungslosen Neuling" (Wagner, S.17).

1898 bekam er als ein witziger Feuilletonist ein Angebot der Neuen Freien Presse, das Satireressort zu übernehmen. Er lehnte die Offerte ab, die ihm kurz zuvor noch als der große Durchbruch erschienen wäre, da er bereits den Plan hegte, sein eigener unabhängiger Herausgeber zu werden. Er wollte "...ein neues literarisches Bewußtsein entwickeln ..., das in der Auseinandersetzung mit der (selbstgestellten) Aufgabe entsteht, den zufälligen journalistischen Tagesstoff, statt ihn nach den Regeln des Metiers bloß aufzubereiten, negativ bedeutend erscheinen zu lassen." (Arntzen, S.26)

Finanzierungsprobleme oder gar Überlebensängste hatte Kraus nie. Er lebte von einer Grundrente, die ihm seine Familie zugestand, und auch das Geld für seine eigenen Projekte streckte der Vater vor. Er gehörte zu der "Sohnesgeneration. Vom unmittelbaren Lebenskampf sind sie im allgemeinen nicht mehr betroffen, weil die Väter den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg geschafft und damit die Basis für die arbeitsfreie Existenz der Söhne bereitet haben." (Wagner, S.27) Dazu war er erfolgreich, weil er sich von der Anpassung noch nicht verabschiedet hatte, wie Wagner meint. "Er hat Erfolg, denn die Tendenzen der Vor-Fackel-Phase unterscheiden sich, abgesehen von den ersten Zeugnisse satirischer Begabung, kaum von den liberalen, fortschrittlichen und oppositionellen Ideen, die andere kultivierte Söhne aus dem Bürgertum auch hegten..." (Wagner, S.17)

Die Fackel

Anfang April 1899 war es soweit, die erste Fackel erschien in Wien. Sie war ein enormer Erfolg, mußte nachgedruckt werden und erreichte in wenigen Wochen die Rekordauflage von 30.000 Stück; die eindrucksvolle Schilderung von Robert Scheu - alles rot - findet sich in jedem Buch zu Kraus. Kraus hatte Anleihen bei der Zukunft genommen. "Die Fackel hatte zwei Vorbilder: Direkt beeinflußt war sie von der in Berlin erscheinenden Zeitschrift Die Zukunft, deren Herausgeber Maximilian Harden, von Kraus zunächst verehrt und als Mentor angesehen ... wurde." (Zohn, S.23) Beeinflußt war er, doch kopieren konnte und wollte er das Heft aus Deutschland nicht. "Der junge Kraus ist bei der Gründung der Fackel weit von einer dem Zeitgeist entsprechenden österreichischen Adaption der Zukunft Maximillian Hardens entfernt, der eben die Literarisierung des Journalismus als dessen Hebung und erwünschte Entwicklung sieht." (Arntzen, S.37)

Der Unterschied bestand zunächst darin, daß sie mehr und bessere Formulierungen und frischen boshaften Witz hatte (Fischer, S.39). "Er griff die Größten und die Mächtigsten an, die Herren der Börse und der Banken, die Kartelle und die korrupte Presse, welche die Machinationen getriebener Spekulanten deckte. Mutig enthüllte er alles, was das geistige Leben bedrohte: den Nepotismus auf den Hochschulen, das Unwesen der Cliquen, die Literatur und Theater beherrschten. Sein Angriff war immer persönlich." (Fischer, S.39)

Diese Nähe zu den Lesern, die Personen, die erstmals in einer Zeitung bei ihrem Namen genannt wurden, erklärt ein wenig den Erfolg, den die Fackel hatte. "Auch wenn wir nicht einverstanden sein mögen, auch wenn da Einzelnes uns nicht berührt oder betrifft: die Institution des Anti-Institutionellen spricht uns magisch an. Indem wir lesen, naschen wir gleichsam von der verbotenen Frucht und haben Anteil an der Kühnheit dessen, der schreibt." (Weigel, S.34) Es wurde Kraus abgenommen, unvoreingenommen, ohne Hintergedanken, also im Dienste einer höheren Wahrheit zu schreiben, er bildete ein Ventil gegen die Schönfärberei und die Einheitsmeinung der Wiener Presse. "Er wollte ein Hüter der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Authetizität in einer verlogenen Zeit sein." (Zohn, S.15) und wurde auch als solcher weithin akzeptiert.

Themenwahl

Thematisch schränkt sich Kraus ein, nur anfangs schreibt er noch einige Theaterrezensionen, unter anderem zu Annie Kalmar. "Kraus beginnt als Kritiker von Korruption, Nepotismus und Presseunwesen. Er greift 'Fälle' auf, die er (unterstützt von einer Reihe von Informanten) gut recherchiert und absichert, bevor er sie publiziert." (Fischer, S.22) Kraus arbeitete seine Positionen immer wieder an Beispielen heraus. "Die Methode [...] war die der konkreten Benennung konkreter Überstände: nicht Pauschalanklagen gegen die Gesellschaft" (Krolop, S.17), was zum einen ein sehr offensiver, auf gezielte Veränderung ausgerichteter Kampf war, zum anderen aber leicht an den Ursachen vorbei ging, wenn die Auswüchse kritisiert wurden. Diese "allgemein personalistisch orientierte Gesellschaftskritik" (Pfabigan, S.35) kritisiert Pfabigan an mehreren Stellen und sieht Kraus' Kritik verpuffen. "Der Kraussche Antikorruptionismus blieb daher letztlich an der Oberfläche haften, war ein Kampf gegen Einzelphänomene und damit zwangsläufig eine Sisyphusarbeit..." (Pfabigan, S.46). Er spricht auch von ahistorischem Denken, einem "Versagen auf analytischem Gebiet" (Pfabigan, S.92) und vermißt die "gesamtgesellschaftliche Denkweise" (Pfabigan, S.90), wobei der eigene sozialistische Ansatz durchklingt.

Weigel erklärt Thematik und Ursache Kraus' Werk aus einem "Entschluß, nein zu sagen" (Weigel, S.37) heraus. Dieses Nein bezog sich dann auf das, was ihn bis dahin ausgemacht hatte, den Journalismus, dem er fragwürdig gedient hatte. "Weil er seiner Natur nach Publizist war und als Journalist begonnen hatte ..., mußte er, was immer er aufgriff, im journalistischen Widerhall hören und vor allem den Widerhall bekämpfen; ... Er war gegen Lüge und bekämpfte die Verlogenheit der Zeitungen. Er war gegen den Krieg und geißelte die Kriegsberichterstatter. Er haßte die Phrase und brandmarkte das Journalistendeutsch." (Weigel, S.37) Kraus hat demnach sein frühes Bezugssystem nie verlassen und hat dem sein eigenes reines Lebensbild Karl Kraus entgegengesetzt, das aus dem thematischen Erbe nicht entkommen konnte. "Er war ein konzessionswilliger Journalist gewesen; dagegen mußte er ein Leben als idealer Journalist setzen. Er war Wiener und Österreicher geworden, darum mußte er gegen alles kämpfen, was faul und fragwürdig war im Staat und in der Stadt. Er war im mosaischen Glauben aufgewachsen, darum mußte er sich von allem distanzieren, was ihn an jenen, die seinesgleichen gewesen waren, schmerzte und abstieß." (Weigel, S.38) Weigel nennt dies einen "höchst produktiven Selbstrechtfertigungsdrang", bei dem das selbstgeschaffene ideale Ich vor Kompromittierung und Verfälschung geschützt werden soll.

Kraus' Publizistik war nicht nur nach außen persönlich (im Sinne von namentlich angreifend), sie war auch persönlich, da sie Teil seiner selbst war, er ureigene Ansichten äußerte, die Fackel zu einer Art Tagebuch werden ließ und er sich mit den von ihm selbst vertretenen Thesen maß. In der Art, wie er später Schönheit als die Einheit von Sprache, Person und Inhalt verstehen sollte, "... versuchte Kraus ein vorbildliches Leben zu führen, eine Art 'öffentliches Leben', untadelig, absolut konsequent und asketisch, ein Leben, das nur seiner Arbeit dienen und mit ihr im Einklang stehen sollte." (Zohn, S.15) Aus anderer Perspektive will er das Gegenbeispiel zu den verdammenswerten Zuständen darstellen: "Er tat und schrieb nur, was er wollte; er fand im Schreiben die äußerste Selbstbestätigung, und wie er sich keinem seiner Objekte gegenüber durch Hemmungen belastete, so hat er auch sich selbst gegenüber keine Hemmungen zwischengeschaltet, hat er sich selbst in seine absolute Freiheit miteinbezogen und sich als Gegenbeispiel für alles, was er ablehnte, rühmend und anerkennend mit ins Bild gesetzt." (Weigel, S.34)

Kraus wirkt für sein junges Erzeugnis vierzehn bis sechszehn Stunden täglich, "Er arbeitet gewiß nicht leicht, aber er arbeitet fanatisch und unablässig." (Weigel, S.33) Sein größtes Kapital ist neben seinem exzellenten Gedächnis seine Ungebundenheit, daß er ohne Auftraggeber, außerhalb jeder Gruppe tätig war und seine hohen Ansprüche in der Fackel vorlebte. "Hinter Karl Kraus steht keine Religion, kein System, keine Partei, hinter Karl Kraus sthet immer wieder nur Karl Kraus." (Weigel, S.9) "... ein freundlicher, unkompliziert und natürlich wirkender Mensch, eher charmant als egozentrisch, kleinlich oder gar jähzornig." (Zohn, S.16)

Kraus und die Presse

"Es wäre durchaus möglich, das Lebenswerk von Karl Kraus, ohne Berücksichtigung äußerer Einflüsse, einzig vom Aspekt dieser Pressegegnerschaft, ihrer Entstehung, ihrer Erscheinungsformen und ihrer Folgen her zu interpretieren." (Pfabigan, S.141)

Karl Kraus war angestellter Journalist, bevor er die Fackel nach dem Vorbild Maximilian Hardens Zukunft gründete. Er hatte in den Redaktionen miterlebt, daß die Arbeit beständig durch äußere Interessen eingeschränkt wurde. Den größten Zensor erlebte er nicht im Staat, sondern im ihm vorgesetzten Redakteur, der aus Rücksicht auf Inserenten und Finanziers die Inhalte beschnitt und Artikel als nicht druckbar ablehnte. Nicht aus persönlichen Motiven, nicht wegen einer fundierten Weltanschauung wurden den Lesern Informationen vorenthalten, sondern weil die ökonomischen Zwänge überall die eigentliche Entscheidungsgewalt waren.

Diese Erfahrungen bringt der junge Kraus in sein eigenes Organ mit ein. Gegen den falschen Liberalismus setzt er privatwirtschaftliche seine eigene Zeitung. Er nimmt in den ersten Jahren nur sehr begrenzt Anzeigen auf und macht sich möglichst unabhängig, indem er nicht von den Einnahmen der Zeitung lebt - "das durch den Verkauf des geistigen Produktes hereingekommene Geld war schmutzig, es wurde verschenkt." (Pfabigan, S.139) - sondern von seiner Familienrente. Außerdem läßt er die Fackel bei einer kleinen, ungebundenen Druckerei herstellen, organisiert den Verkauf über Tabak-Trafiken und paßt die Erscheinungsweise seinen Möglichkeiten an, so daß er in der Lage bleibt, sie alleine zu füllen. "Kraus war also unabhängig, weil er so unangreifbar war, und zwar so unabhängig wie wohl kein anderer bedeutender Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts." (Pfabigan, S.140)

Eine weitere Folge seiner frühen Presse-Erlebnisse war, daß er sie in der Fackel thematisierte. Die Korruption des Geistes, die er in seiner eigenen Arbeit erfahren hatte, prangert er immer wieder an und stellt heraus, daß die Presse nicht ihrem Auftrag folgt, nämlich zu informieren, sondern sich selbst ständig repräsentiert. Sie ist nicht unabhängig, sie stabilisiert ihr eigenes Dasein dadurch, daß sie die Wirklichkeit derart mitbeeinflußt, daß ihre eigene Stellung unverändert bleibt.

"So wenig die Presse heute schon oder noch das ist, was als ihre historische Rechtfertigung gilt: Nachrichtenüberbringerin, so sehr ist sie Weltmacht im genauesten Sinn geworden, nicht weil sie Informationen verwaltet und manipuliert, sondern weil sie die Sprache beherrscht. Daß dies nicht unerkannt geblieben ist, ist das Verdienst von Karl Kraus. Daß diese Erkenntnis unbekannt bleiben konnte, das der Presse." (Arntzen, S.8)

Angriffsziele

"Die Erlaubnis zur Subjektivität gab Kraus nur der Kunst; Ziel seiner Bestrebungen war daher eine völlige Entliterarisierung der Presse" (Pfabigan, S.135) Er versucht es vorzumachen, indem er sich seinen Lesern dadurch annimmt, "daß er ohne Rücksicht auf Folgen, die das für ihn haben könnte, seinen Lesern Informationen gibt, die die Wiener Presse gar nicht oder nur verkürzt bietet..." (Arntzen, S.18). Zu seinen allgemeinen Angriffen, vor allem gegen die Neue Freie Presse, eine Weltzeitung, die einen unangefochten hohen journalistischen Standard erreicht hatte (Pfabigan), arbeitet er mit Einzelbeispielen, an denen er das Verfehlen des Auftrages und auch die Sprache der Journalisten kritisierte. "Schon im ersten Jahrgang der Fackel greift der junge Karl Kraus die Presse nicht bloß an, er zitiert sie vielmehr so, kontrastiert Zitate aus ihr, greift ein Detail ihres Redens auf und verfremdet es derart, daß ihr Reden als Gerede kenntlich wird; dann wieder nimmt er dieses Reden beim Wort ..." (Arntzen, S.24). Immer wieder geht er auf die "Neue Feile Presse" (Kraus) ein, die ihn einst für sich gewinnen wollte, da sie in seinen Augen am wenigsten eingestehen möchte, daß sie nur "Appendix des Anzeigenteils" (Arntzen, S.30) ist - an sie richtet er das "Postulat nach offener Pressekorruption" (Arntzen, S.31). Robert Scheu berichtet: "Ein früherer Herausgeber hat es einmal rund herausgesagt: 'Hier haben sie den Kopf des Blattes: 'Neue Freie Presse'. Das muß stehen bleiben; alles andere ist gegen bar zu haben." (Krolop, S.17) Beachtet werden muß auch, daß die liberale Presse Wiens hauptsächlich von Juden getragen wurde, was die Abneigung Kraus' verstärkt haben dürfte. Zohn folgt einem Zitat Reich-Ranickis und sieht den Kampf gegen die Presse als Kampf gegen das Judentum und damit als Selbstauseinandersetzung an.

Karl Kraus soll über das Judentum gesagt haben: "Sie haben die Presse, sie haben die Börse, jetzt haben sie auch noch das Unterbewußtsein." (Zohn, S.45) und vereint damit zwei seiner großen Gegner: den des falschen Liberalismus und den des Judentums. "Seine Ablehnung des Liberalismus hatte also in seinem Denken einen ähnlichen Stellenwert wie die Ablehnung der Juden: Sie war eine Krücke, mit deren Hilfe Kraus seine mangelnde Einsicht in gesellschaftliche Prozesse und seine Unfähigkeit, die am erkannten Elend tatsächlich schuldigen Kräfte namhaft zu machen, kompensierte; der reale Liberalismus war von dieser Ablehnung genausowenig betroffen wie die Juden." (Pfabigan, S.51)

Pressesprache in der Sekundärliteratur

Nach einigen Jahren, in denen er die Sprache in seinem Denken immer weiter aufgewertet hatte, schrieb er der Presse einen großen Einfluß auf die Konstitution unserer Wirklichkeit, auf die Sprache und damit unser Denken zu. Dies betonen verschiedene Autoren, wenn sie schreiben: "Kraus spürte voller Unruhe eine Identität von Zeit und Zeitung, eine Verbindung zwischen dem Zeitalter, in dem er lebte, und den Zeitungen, die gelesen wurden, deren Worte Werte usurpierten und vernichteten und die mit ihren Berichten Ereignisse nicht nur beschrieben, sondern auch verursachten." (Zohn, S.61). Schick geht über das "Ereignis verursachen" der Presse hinaus und findet die Entstehung einer gesellschaftlichen Tatsache durch Medien in deren Beeinflussung des Denkablaufs durch eine persönliche Korruption der Einfachheit der vorgefertigten Gedanken. "Was die Menschen von der Zeitung erwarten sind Informationen, was sie bekommen sind tendenziös geschmückte Impressionen. Durch die Massenmedien der Kommunikation, damals der Zeitung, heute auch Rundfunk und Fernsehen, wird die Meinung, mit der man zu allem Stellung nimmt, gebrauchsfertig geliefert, das eigene Denken überflüssig gemacht und durch ein Klischee ersetzt. So wird ein Scheinbericht durch seine Wirkung zu einer gesellschaftlichen Tatsache. Dieser heute den Soziologen geläufige Sachverhalt wurde von Karl Kraus zuerst als Grundproblem unserer Zeit erkannt." (Schick, S.54)

Erst Arntzen findet bei Kraus einen semiotischen Ansatz, wenn Kraus darauf hinweist, daß Pressesprache Wirklichkeit konstituiert, alleine schon deshalb, weil öffentliche Sprechakte - gerade journalistische - um ein Vielfaches häufiger sind als persönliche. "Kraus lernt am Sprechen der Zeitung die Bedeutung der Sprache begreifen, indem er Gründe und Wirkungen ihrer Zerstörung als Zerstörung des Denkens und der Phantasie im und durch das Reden der Zeitung begreift." (Arntzen, S.39)

Pfabigan nennt es ein großes Verdienst, "Ihren Nimbus [den der Presse] der Vornehmheit und Unabhängigkeit durchschaut und die dahintersteckende Abhängigkeit von Kapitalinteressen, die Unfreiheit der Redaktionskulis, die Unterdrückung von Meldungen, den Verkauf von Inseraten als Nachrichten, die Bestechlichkeit, Dünkelhaftigkeit und Dummheit gezeigt zu haben." (Pfabigan, S.142). Im Einzelfall gibt er Kraus' Pressekritik recht und nennt sie stichhaltig. Im ganzen gesehen erscheint sie ihm jedoch als "Stückwerk, das die tatsächlichen Wurzeln des Übels nicht erreichte. Die Pressegegnerschaft teilt so mit dem vorgeblichen Krausschen Antisemitismus eine wichtige Eigenschaft: Sie ist eine Krücke, notwendig durch den Zwang, für das erkannte, aber nicht wirklich durchschauet Übel der Gesellschaft einen Verantwortlichen zu finden." (Pfabigan, S.142f).

Totschweigen und die Gegenmittel

Von seiten der Wiener Presse aus wurde Kraus als gefährlicher Gegner angesehen, den man mit Nichtbeachtung strafte. Daß man ihn totschweigen wolle, erkannte Kraus und veröffentlichte daraufhin in der Fackel Artikel, die im Ausland über ihn erschienen waren, "Selbstbespiegelung" (Pfabigan, S.133) nennt Pfabigan dies. Der Ausschluß Kraus' ging soweit, daß Plakate in Wien nicht aufgehängt wurden, oder Theaterstücke, an denen Kraus Anteil hatte, nicht aufgeführt wurden. Arntzen weist darauf hin, wie Kraus reagierte und die Situation ironisch umdrehte. "Statt der Beschwerde über das Totschweigen erscheint der Wunsch, totgeschwiegen zu werden; zugleich mit diesem Wunsch aber wird die These formuliert: daß die Presse ihn totschweige, sei keine private Rache, sondern eine sachliche Verfehlung, ja mehr: eine metaphysische." (Arntzen, S.15)

Pfabigan bemüht sich außerdem um eine sexuelle Deutung der "fast als manisch zu wertende[n] Pressefeindschaft" (Pfabigan, S.141). Da Kraus' Beziehung zur Sprache eine erotische darstellte, wie er am sexualisierten Vokabular belegt, das Kraus bei seinen eigenen Erklärungen benutzt, spielt sich das Verhältnis zu Journalisten auch auf dieser Ebene ab. "Innerhalb dieses sprachtheoretischen Systems spielt der Journalist die Rolle des erfolgreichen Rivalen um die Gunst einer Frau." (Pfabigan, S.144)

Schöne Episoden ergeben sich aus den kleinen, spielerischen und dabei entschleiernden Racheakten von Kraus und seinen Freunden an der Neuen Freien Presse. Sie schrieben Leserbriefe an die Redaktion, um deren Sachunkenntnis zu belegen. In einem scheinbar fachlich-sicheren Brief wiesen sie auf einen Grubenhund hin, der ein Erdbeben meldete. Die Doppeldeutigkeit zum gemeinten Kohlentransportfahrzeug blieb der Neuen Freien unerschlossen. Sie druckte diverse solcher Unsinnstexte ab, die sie entlarvten.

Das Sprachproblem

"... so muß doch ohne Einschränkung festgestellt werden, daß Kraus' wichtigstes Thema, in dem alle anderen vollständig aufgehoben sind, das Thema der Sprache als des Sprechens, der Rede der Presse sich schon im ersten Jahrgang der Fackel' unüberhörbar meldet." (Arntzen, S.38)

Karl Kraus hat niemals eine Theorie der Sprache verfaßt, hat sich nicht dezidiert um eine grundlegende Sprachanalyse bemüht. Sein Vorgehen war auch hier exemplarisch und dabei durchaus treffend. "Karl Kraus ist der einzige, der durch die Mikroanalyse von Zeitungstexten die historische Qualität des Sprachproblems begriffen und es dadurch überhaupt erst konkret und auch sinnvoll gemacht hat." (Arntzen, S.39) lobt Arntzen, wohingegen Pfabigan wiederholt diese Vorgehensweise kritisiert, da sie nicht an den Grund der Übel angreife und nur persönlich bleibe. "Aus Mangel an realer Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge versuchte er, die Schuld am Weltelend einzelnen Personen oder Personengruppen zuzuschieben" (Pfabigan, S.36)

Aus der Beispielhaftigkeit heraus hat Kraus aber eine fundamentale Sprachverehrung aufgebaut. Worte waren nicht beliebige Zeichen, die die Kommunikation vereinfachen, sondern Kraus war der Überzeugung, "daß das unterbewußte Sein eines Wortes die sprachlich geformte Idee auslöse, die dann das Wort ins Leben rufe." (Zohn, S.72)

Er selber hatte eingestandenemaßen Schaffensschwierigkeiten, er rang mit den Worten und quälte sich beim Schreiben, ohne Alternativen zu erkennen. "Die Grunderlebnisse der Sprachangst, des Sprachzweifels sowie das quälende Gefühl, daß seine Sprache den eigenen Ansprüchen nicht genüge, werden ihn sein Leben lang nicht verlassen. Wie so vieles, das er als Defekt empfand - es sei nur an sein Judentum und an seine körperliche Behinderung erinnert -, wird er auch diesen überkompensieren... aus der Sprachangst und dem Sprachzweifel des Kindes wird die masochistische Sprachlust des Meisters der deutschen Sprache werden." (Pfabigan, S.30) In den Momenten, in denen er glaubte, sich an den Wänden der Sprache den Kopf blutig zu rennen, dachte er mit neidvollem Ekel der Journalisten, die zu jeder Zeit das passende Adjektiv parat haben. Er sagte von sich, von der Sprache beherrscht zu sein, sie aber nicht zu beherrschen, wie es die Journalisten täten. "Am Journalismus, der in seinen besten Momenten zu einer Sprachbeherrschung gelangte, konnte Kraus den Unterschied zu seiner Sprachauffassung klarmachen. Er beherrschte die Sprache nicht, sondern ließ sich von ihr beherrschen, er ging mit ihr nicht um (Daraus entstand für ihn nur 'Umgangssprache'), sondern nahte sich ihr mit Ehrfurcht und Respekt." (Fischer, S.63) Ehrfurcht und Respekt brachte er seiner Sprache und der Sprache an sich immer entgegen. "Sein Verhältnis zur Sprache war ein religiöses. Wer sich an der Sprache versündigt, der lügt und vermehrt die Lüge, das Böse in der Welt." (Schick, S.92)

Das Modell

"Sein Modell war die absolute Übereinstimmung zwischen Wort und Gedanke, Sprache und Leben" (Zohn, S.70), erst dann bekam für ihn etwas Geschriebenes einen Wert. Es ist dies der damals populäre Gedanke der Ehrlichkeit, der Kampf gegen das funktionslose Ornamentale, das sein Freund Adolf Loos in der Architektur austrug. "Wie Adolf Loos ..., so verfocht sein Freund Karl Kraus in den Bereichen des gesprochenen und geschriebenen Wortes die reinliche Scheidung von Sprachkunst und Informationsgewerbe gegen die 'Annoncenkultur'(58,17) einer Presse, welche die Phrase als das 'Ornament des Geistes' (279,8) produziert und unablässig reproduziert." (Krolop, S.18f) Diese Ornamentalik behinderte im Extremfall die eigentliche Aufgabe und war immer etwas, das die Harmonie zwischen Wort und Welt konterkarierte. Wann diese Einheit hergestellt ist und wie sie feststellbar ist, hat Kraus nicht in einer Sprachtheorie beantwortet, sondern exemplarisch individuell begutachtet. "Das Schöne als Wortbegriff spielt bei Kraus keine große Rolle. Er beurteilte es im Kontext: Wo eine Einheit von Stil, Schöpfer und Funktion noch seinen subjektiven ästhetischen Kriterien genügte, sah er einen Wert." (Pfabigan, S.134). So konnte es sein, daß für Kraus ein gutes Gedicht dann schlecht wurde, wenn er erfuhr, daß es von jemandem geschrieben war, der mit seinen Worten nicht in Einklang stand oder von Kraus moralisch verurteilt wurde. Es kann als ein "Bemühen, das Schöne im Gesamtzusammenhang zu erfahren" (Pfabigan, S.135) angesehen werden, eine "prästabilisierte Einheit von Sprache, Stil, Gedanken und Person" (Pfabigan, S.145). Diese Einheit war quasi unveränderlich, wodurch sie wie ein dem Autoren entlarvenden und an der Sprache zu entblößenden Fingerabdruck wurde. Dieses Modell wandte Kraus auf seine Gegner an, deren Stil er kritisierte und an deren Wortwahl er Absichten und Charakter bloßlegte. Dem nicht- künstlerischen Teil der Menschheit, der Leserschaft, spricht er diese Einheit ab und geht von der Formbarkeit ihrer Sprache aus. "Da Sprache und Stil identisch sind, entwertet die Sprachverschlampung, die der Journalismus betreibt, jede von ihm vertretene Sache. Da auch Sprache und Mensch eins sind, bewirkt die Vernachlässigung sprachlicher Gesetze, die bei Kraus natürlich höchst subjektiv sind, auch die Zerstörung der humanen Substanz des Lesers." (Pfabigan, S.145). Wenn also der die Sprache dominierende Journalismus dieses die Wahrnehmung und den Menschen determinierende Instrument verwahrlost, dann schadet er allen. Kraus gelangte zu dem Punkt, an dem er die Presse als den Hauptfeind der Menschheit begreift und sie für gesellschaftliche Desaster mitverantwortlich macht.

Maßstab für eine Person und deren Sprache waren die Kategoren Phrase und Ursprung, die wie alles nicht-exemplarische nur vage umschrieben sind. Kraus ist der Ansicht, daß es 'Urwahrheiten' gibt, die zum Beispiel durch das Medium der Satire aufleuchten können. Die Sprache, verstanden als in einem erotisch-religiösen Akt geschaffen, sucht - trotz aller Degenarationen und Verzerrungen - nach einem Urbild, sogar nach dem Ursprung des Urbildes. Kraus geht nicht davon aus, daß der anhaltende Fortschritt der Menschheit zu diesem Idealzustand finden wird; "für ihn als enttäuschtem Idealisten liegt das ideale Urbild in mythischen Vorzeiten." (Marahrens, a.a.O., S.61). Die Sprache soll wieder zu der Reinheit zurückgeführt werden, die der Dichter spüren kann. Andersherum ist es so, daß der Dichter, der von dem Urbild Kenntnis hat, die Reinheit der Sprache erst wieder herstellen kann. "Die Sorge um das verlorene 'Urbild ' und die gefährdete Menschlichkeit lassen Kraus zum Satiriker werden und die Polemik benutzen ..." (Marahrens, a.a.O., S.60). Marahrens führt dies zu der Ansicht weiter, daß die personalistische Polemik bei allem Haß immer konstruktiv ist, denn sie dient einer "idealen Utopie" (Marahrens). Geschichtlich ist sie damit noch immer nicht, denn vorherrschend bleiben die mythisch-religiösen Urgewißheiten, die das geschichtliche Denken nicht zulassen.

Journalistische Phrase

Besonders abstoßend und verderbend empfand Kraus die Phrase der Journalisten. "Wenn der junge Kraus Phrase als das begreift, was sich vor die Sache stellt, was Information verhindert, so ist für ihn Phrase nun die Beherrschung der Sprache um bloßer Effekte willen, die nicht mehr die Sache als das Wichtige verdrängen, sondern die die Erkenntnis verhindern sollen, daß es allein um Nichtiges noch geht. Das journalistische Sprechen, die Phrase, ist eine Metasprache, allein dazu gut, vergessen zu machen, daß nichts anderes in ihr steckt als das Ensemble immer gleicher Gemeinplätze." (Arntzen, S.41). In seinen Augen ist sein höchstes Gut, die metaphysische Sprache, ("Für Kraus ist die Sprache nicht nur Kommunikationsmittel, sondern ein Weg, geistige und seelische Verbindungen aufzudecken" (Zohn, S.71)) in den Händen der Presse sinnentleert und verstümmelt. Das gedankenlose Benutzen oder auch das gedankenvolle Mißbrauchen des Geschriebenen zur Ablenkung der Leser und zu ihrer Ausrichtung auf das Unwahrhafte findet seinen Höhepunkt in der Phrase. "'Der Journalismus dient nur scheinbar dem Tage. In Wahrheit zerstört er die geistige Empfänglichkeit der Nachwelt' (BWG, S.76) Mit der Anzeige derartiger Wirkung beginnt Kraus' Erkenntnis davon, daß das Nichtssagende des Journalismus zugleich ein Etwassagendes ist, und zwar in seiner Wirkung auf den Leser und Hörer wie in der auf die historische Wirklichkeit im ganzen. Diese Erkenntnis ist die explosivste, die Kraus der satirischen Darstellung sich umsetzenden Reflexion des Sprechens der Presse als Phrase abgewonnen hat, sie ist aber die explosivste auch, die überhaupt aus der Sprachreflexion diese Jahrhunderts hervorgegangen ist." (Fischer, S.43)

Freunde

Männliche Freunde hatte Kraus vor allem zwei: Peter Altenberg und Adolf Loos. Dieses Trio hatte sich außerhalb der Wiener Caféhausszene formiert, die jedem auf seinem Gebiet als zu engstirnig und verdorben erschien. Sie hatten enge persönliche Kontakte - Loos war Taufpate von Kraus, Kraus sprach die Totenrede für seinen Freund. In ihrer Arbeit arbeiteten die drei einander zu. Kraus stellte einen Sammelband Gedichte des von ihm auch künstlerisch verehrten Altenberg zusammen und schaltete häufig Anzeigen für dessen Veranstaltungen in der Fackel. In bezug auf das Loossche Haus am Michaelerplatz war Kraus auf der Seite der wenigen Verteidiger dieses Affronts gegenüber der Hofburg.

Ansonsten ließ Kraus viele Freundschaften zerrütten, wenn sie seinen hohen, kompromißlosen Ansprüchen nicht mehr genügten. "Auch das ist symptomatisch für Kraus: Wenn er geliebt und entweder er oder der andere sich geändert hatte, dann vollzog er den 'Abfall' in der Regel mit geradezu ritualisierter Grausamkeit." (Pfabigan, S.31) Mit seiner Anlage zu Extrempolen kam es zu Verehrungen und Verwerfungen, so daß es als ein steter Kampf erscheint, den Kraus zwischen auf Größe ausgerichteter Kooperation in geistiger Amalgamität und befreiender Einsamkeit ausfocht. "Nicht selten wurden frühe Verehrer von Karl Kraus später zu Feinden." (Zohn, S.37)

Die erste Frau

Die erste von ihm verehrte Frau war Annie Kalmar, eine Schauspielerin am Burgtheater, über die Kraus in der Fackel lobend berichtete. Sie war ein kleines Licht innerhalb des großen Zirkus, hatte in den Augen Kraus' und Altenbergs großes Talent, war schön und hatte kein Geld. Da war es nicht ungewöhnlich, daß sie sich prostituierte. Kraus' Verehrung wurde dadurch nicht geschmälert. In den anderen Wiener Zeitungen häuften sich aber die schlechten Kritiken - vielleicht auch als Mittel gegen Kraus. Sie wogen die künstlerischen Leistungen mit dem Geld auf, das sie von ihren Männern bekam. Kraus stellte sich weiter hinter die junge Frau, gerade nachdem sie näheren Kontakt zueinander bekommen hatten. Dazu Wagner: "Er verdankt Annie Kalmar seine Dankbarkeit der Frau gegenüber. " (Wagner, S.102) "Kraus Dankbarkeit der Frau gegenüber ist deshalb außergewöhnlich, weil sie der Frau gilt, die ihm nicht allein gehört." (Wagner, S.103) "Es scheint, daß Kraus mit dieser Entscheidung auch die Eifersucht, die untrennbar mit dem Besitzanspruch verbunden ist, bewältigt hat..." (Wagner, S.103). Als Annie Kalmar erkrankte, besuchte Kraus sie regelmäßig, schrieb Briefe und organisierte ihr zuletzt einen Aufenthalt im Hamburger Sanatorium - sie hatte Tuberkulose.

1901 starb sie, gerade als Kraus die Arbeiten an der Fackel beendet hatte und auf dem Weg zu ihr war. Die lästerhaften, vernichtenden Zeitungsartikel erschienen in Wien weiterhin, sogar an ihrem Todestag. Dieses Erlebnis hatte zur Folge, daß Kraus sich einem zweiten Thema neben dem der Korruption intensiv zu widmen begann, wobei sie oft einander ergänzten. "Durch die Liebe zu ihr, die aufgrund ihrer sozialen Notlage zur Beute der Männerwelt geworden war, findet er zu einem engagierten Mitleid mit den verachteten, 'gefallenen' Geschöpfen..." (Wagner, S.105)

Sittlichkeit und Kriminalität

1902 lassen viele Kraus Interpreten in dessen Werk eine neue Phase beginnen, die der "Sittlichkeit und Kriminalität". Behandelt wird nun immer wieder die Situation von Prostituierten in der Wiener Gesellschaft und die Rechtssprechung über sexuelle Angelegenheiten. "... sondern mit dem Pathos eines Naturanwalts, dem das Mandat zugefallen ist, 'die Sache der gepeinigten und gemarterten Kreatur zu vertreten' (890,306) stellt Karl Kraus das Recht selbst - nicht dessen Wirkung, sondern dessen Wesen - unter Anklage; im Namen der Gerechtigkeit." (Krolop, S.19f). Er kommt über diese Betrachtungen zu grundlegenden Ansichten über die sexuelle Freiheit der Menschen, deren Vorlieben nicht Diskussionspunkt und Meßlatte in gesellschaftlichen Angelegenheiten sein dürfen. "Kraus zufolge ist man zur Homosexualität weder psychisch noch physisch determiniert, sondern sie ist ein Vorrecht des kultivierten Mannes. Die Brücke, die diesem die homosexuelle Handlung ermögliche, sei die Phantasie: da sie und nicht der Partner das Wesentliche am Liebesakt sei, unterscheide sich ein homosexueller Verkehr nicht von einem heterosexuellen." (Pfabigan, S.114).

Einen ähnlich progressiven Standpunkt nahm Kraus zur Prostitution ein, die er auf anderem Gebiet als dem körperlichen weit verwerflicher empfand. "Zuständig ist der Begriff der Prostitution für Karl Kraus nicht in der Sphäre des Geschlechts, wo er nur dazu mißbraucht wird, ein Naturvermögen zu verleumden, sondern im Bereich des Charakters, wo er Verrat und Profanisierung des Geistes exakt bezeichnet." (Krolop, S.20). Die ärgsten Vertreter des prostituierten Geistes sah Kraus wiederum in der Presse Wiens: "... die verzerrten, auf Sensationsgier setzenden Zeitungsberichte, die unsittlicher seien als das Verbrechen selbst." (Zohn, S.49).

Es muß jedoch angemerkt werden, daß er zu den liberalen Urteilen zur Prostitution nicht aus dem Standpunkt der sexuellen Freiheit heraus kam, sondern, ähnlich, wie er die Anlage zur Homosexualität erklärte, es auf Grundanlagen zurückführte: "Er glaubte, es läge in der Natur der Frau, daß sie ihren sexuellen Regungen nachgeben müsse, und es wäre daher ein Verbrechen gegen die Natur, die weibliche Sexualität in die Zwangsjacke der sittlichen Normierung zu stecken." (Zohn, S.51).

In Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um Eulenburg wird wichtig, daß um 1902 bei Kraus auch die Kriterien für eine juridische Beurteilung von Sexualität entstehen, sei es in bezug auf Homosexualität, Prostitution oder Ehebruch. "Richtung, Art und Geschmack in der Erotik sind für Kraus Privatangelegenheiten, die den Richter und Staatsanwalt nichts angehen, das individuelle Gefühlsleben zieht der öffentlichen Rechts- und Unrechtssprechung eine Grenze, die zu überschreiten sie nicht befugt ist. Kraus ' Abneigung gegen ein ornamentales Ineinander der Verhältnisse, gegen ein vermittelndes Zwielicht der Kompetenzen, bewährt sich auch auf ganz anderem Feld. Aufgrund seiner Forderung nach sauberer Trennung von privater und öffentlicher Sphäre in sittlichen Dingen gelingt es ihm, das 'österreichische[n]

Paragraphendickicht[s]' gründlich in Unordnung zu bringen. Diese Ordnung ist freilich so gründlich, daß sie einer Neuordnung der gesellschaftlichen Basis gleichkommt. Kraus entwirft ein Kehrbild der liberalen Übereinkünfte: er will eine starke staatliche Kontrolle der sozialen Güter, d.h. Eingriffe in die Zone, die sich der Bürger freigehalten hat, die Privatwirtschaft, dafür aber die Ausschaltung strafgesetzlicher Maßnahmen auf dem privaten Sektor, dem Sektor der Sittlichkeit." (Wagner, S.107). Fischer begründet dies damit, daß ihm "die Freiheit der menschlichen Instinkte über alles ging" (Fischer, S.23), eine andere Formulierung dafür, daß sein Rechtsbegriff immer auf eine natürliche Gerechtigkeit zurückgriff, auf ein "Naturrecht" (Wagner, S.106). Es ist ein thematisch neuer Kraus, der aus der unglücklichen Beziehung zu Annie Kalmar hervorgeht.

"Der einstige Journalist, spätere Polemiker gibt sich mit dieser Essaysammlung als Moralist zu erkennen, der ehemalige Gesellschaftskritiker wird hier zum Kulturkritiker. [...] dominiert jetzt eine polemische Heftigkeit, die mit Mitleid und Ritterlichkeit verbunden ist und von der Absicht geschürt wird, ethisch-moralisch zu wirken." (Zohn, S.49)

DARSTELLUNGEN IN DER FACKEL

Startunterstützung

Kraus hat wenig Berichterstattung zu dem eigentlichen Prozeßverlauf Eulenburg/ Moltke gegen Harden geleistet, sondern hat auch in diesem Fall personalistisch gearbeitet und anhand der Geschehnisse seinen Berliner Kollegen kritisiert und eigene Positionen deutlich gemacht. Die useinandersertung mit Harden beginnt aber früher. Erstmals hat sich Kraus in der zweiten Ausgabe der Fackel mit seinem damaligen Freund Harden beschäftigt. Dieser hatte zur Gründung der Fackel einen Brief geschrieben, in dem er die erste Ausgabe einen "verheißungsvollen Anfang" (F:2) nennt und Kraus "starkes Talent und neidenswerte Frische des Witzes" (F:2) attestiert. Er lobt den Entschluß des Jüngeren, es alleine zu versuchen und die Vorsätze, die dieser ihm anvertraut hatte: "Sie wollen, nach Lassalles gutem Leitsatz, 'aussprechen, was ist', und hoffen, auf diese Weise Ihrem Lande, Ihrer Stadt und Ihrem Stande nützen zu können." (F:1). Zu beklagen ist in seinen Augen die "banausische Stümperei" (F:3), die in den Zeitungen herrscht, die durch ihre großkapitalistische Organisationsweise nicht mehr nach den Kriterien Güte und Wirksamkeit sondern nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung handelt, wobei die Zustände im Berliner noch schlechter seien als im Wiener Pressewesen. Doch "gibt es noch wichtigere Aufgaben als die, schmierigen Narren auf die tintenfleckigen Finger zu klopfen..." (F:5). Daraus folgt der Ratschlag: "... und vergessen Sie im Literatenlärm und Zeitungsgezänk nicht die großen Gegenstände menschlichen Mühens, nicht die wirtschaftlichen Zusammenhänge, die Alles erklären, Alles verzeihlich machen..." (F:5). Harden schließt mit: "Nur vor gefährlicher Verengung des Horizontes wollte ich warnen. Mit guten Wünschen [...] Ihnen herzlich ergeben Maximilian Harden." (F:6)

Kraus antwortet auf die Wünsche und Warnungen mit einem offenen Brief in der gleichen Ausgabe. Er legt in aller Breite dar, warum seiner Ansicht nach der Theater- und Zeitungsmarkt in Berlin dem Wienerischen vorzuziehen ist. Collectivgemeinheit,

Geheimbund, ein lästiger Impressionismus kennzeichnen seiner Ansicht nach die Wiener Szenerie, der ein Publikum gegenübersteht, das "die Lectüre seiner Leibblätter als pünktlich zu verrichtendes Morgen- und Abendgebet" (F:9) ansieht. Die Frage, was schärfer zu attackieren ist, die ökonomischen Zusammenhänge oder die Repräsentanten dieses Systems, fördert die erste Kontroverse zutage: "Wenn ich einen einzelnen aus jener Reihe mir ausgesucht habe, so geschah es, weil er mir so recht als die Incarnation des literarischen Schachergeistes erschien, als der deutlichste Repräsentant des Systems, unter dem hier alle gute Entwicklung leidet. Dass sich dieses System, so sehr es bei uns seinen Ursprung schon überwuchert hat, auf die Grundübel der capitalistischen Presse zurückverfolgen lässt, ist mir dabei nicht unbewußt geblieben, und fern sei es von mir, die Personen kurzsichtig mit der Institution zu verwechseln." (F:13) In der Praxis sieht er sich aber als Gefangener einer wienspezifischen Denkweise und kann keine wichtigere Aufgabe als die Bekämpfung des verkommenen, käuflichen Pressewesens erkennen. "Ja, ich beneide Sie, der Sie den Pressklüngel nur so nebenher abzuthun brauchten, um Ihre größeren Angriffsobjecte. Es ist das über unserem Milieu schwebende Verhängnis: wer einen Julius Bauer erlegte, der hat - ich muß selbst über die Wirkung lachen - eine That vollbracht." (F:16)

Lakonisch beendet er seine Antwort mit "Vorläufig schweigen die von mir gezeichneten Blätter wie auf Commando [...]. Sie [die FNP] schweigt, als ob sie dafür bezahlt wäre In herzlicher Verehrung Ihr Karl Kraus." (F:18)

Pfabigan zieht aus diesem ersten öffentlichen Kontakt Schlüsse, denen er für das weitere Werk Geltung zuschreibt. "Kraus konnte wohl polemisieren, weil er als der Stärkere in der Polemik sein eigenes Bezugssystem schaffen konnte. Zu einer Diskussion innerhalb eines von jemand anderem gelieferten Bezugsrahmens aber war er unfähig." (Pfabigan, S.49)

Bis 1904 läßt sich Kraus in der Fackel nur positiv über Harden aus, nennt ihn "Freund Harden" (F3), nimmt ihn in Schutz gegenüber Kaiser Wilhelm (F7) und zitiert ihn zustimmend (F30). Nach kürzeren Nennungen geht er in Heft 122 wieder ausführlicher auf den Berliner Kollegen ein und ruft aus, daß der Kunstwert eines Harden-Essays sämtliche positiven Leistungen des Herrn Sudermann aufwiege. Kraus verzeiht Harden sogar, daß dieser Ostern 1903 einen Aufsatz in der Neuen Freien Presse veröffentlicht. Er habe sich "an dem seltenen Anblick tadellos deutscher Sätze in der 'Neuen Freien Presse'" erfreut, teilt er allen schadenfrohen Wiener Journalisten in einer langen Glosse zum Thema mit. Weigel stellt fest "Harden war also als Publizist wie als Stilist anerkannt und 'verehrt' worden." (Weigel, S.50).

Der Bruch

Die Wende kam durch den Nachruf Hardens auf die Schauspielerin Jenny Gross und seine Stellungnahmen zur Affaire der Prinzessin Louise von Coburg. Beide Artikel nahm Kraus ihm sehr übel. Anstatt wie Kraus dagegen zu schreiben, daß Louise von Coburg, weil sie sich von ihrem Mann trennen wollte, von ihrer Familie für wahnsinnig erklärt wurde und entmündigt werden sollte, stellte er sich auf die Seite "der deutschen Pastoren und Züricher Frauenvereine", die "das Selbstbestimmungsrecht weiblicher Sinne vollends aufheben" (F167:24). Anstatt wie Kraus die schauspielerischen Leistungen von Jenny Gross nach deren Tod zu loben, warf Harden ihr ihren Reichtum vor, den sie ihren Männerkontakten zu verdanken habe. Harden hatte sich zu den Themen geäußert, die von Kraus seit 1902 besetzt worden waren, zu denen er sich hohe Sachkompetenz angeeignet und eine feste eigene Meinung gebildet hatte. Harden hatte zu "Sittlichkeit und Kriminalität" den "Standpunkt der Ungerechtigkeit" (F166:17) bezogen.

Kraus hat sich gewandelt, oder hat zumindest einen neuen Schwerpunkt in seinem Leben gelegt, wodurch die Distanz zu Harden größer wurde. Weigel stellt das dar:

"Er kämpft nicht mehr gegen Korruption und Heuchelei ganz allgemein, er ist tief ergriffen von der Moralheuchelei und ihrem grausigen Niederschlag nicht nur in der Presse, sondern ebenso in der Prozeßführung und Judikatur der 'Sittlichkeitsprozesse'. [...] In diesem Stadium ist Harden noch ein 'außergewöhnlicher' Essayist, doch schon wird sein gestelzter Stil beanstandet. Karl Kraus verteidigt nun leidenschaftlich ... das, was ihm als das Recht der Frau erscheint. Darum wendet er sich auch gegen Harden. Kraus ist für sexuelle Selbstbestimmung, für die Freiheit des Privatlebens, insbesondere des sexuellen Privatlebens, [das] von jedem Eingriff und jeder Einbeziehung der Öffentlichkeit" (Weigel, S.51) verschont bleiben muß.

Es kommt zum Bruch, offensichtlich durch Harden: "Neugieriger. Sie fragen, ob Maximilian Harden 'reagiert' habe. Gewiß. Er hat die Zusendung des Tauschexemplars der Zukunft eingestellt. Jetzt muß ich das Blatt abonnieren. Ja, ja, so strafen Große." (F167, letzte Seite kleingedruckt)

Die beiden großen Texte zu Harden, die sich beide schon auf die Eulenburg/Moltke-Affairen beziehen, erscheinen Oktober 1907 und Januar 1908. 'Maximilian Harden. Eine Erledigung' und 'Maximilian Harden. Ein Nachruf' sind zunächst Artikel der Fackel, werden später aber von Kraus in einer extra Publikation zusammen veröffentlicht und gehen in die 'Chinesische Mauer' mit ein. Sie bilden den Beginn und Höhepunkt einer beispiellos energiegeladenen Auseinandersetzung, bei der Kraus einseitig seinen sprachlosen Widersacher mit aller Schärfe attackiert.

Erledigung

'Maximilian Harden. Eine Erledigung' (Nr.234-35, 31.10.1907) beginnt mit: "'Da erstirbt einem das Wort - -' Graf Kuno Moltke.

Ich trage einen Haß unter dem Herzen und warte fiebernd auf die Gelegenheit, ihn auszutragen..." (S.52). Die war damit gekommen, daß Moltke Privatanklage gegen Harden gestellt hatte, in der er die in seinen Augen verleumderischen Aussagen zu seinem Geschlechtsleben widerlegen möchte. Harden verwahrt sich in dem Prozeß dagegen, Moltke jemals Homosexualität und Perversitäten unterstellt zu haben, versucht ersteres aber zu beweisen, nachdem seine Artikel in der Art interpretiert wurden.

Die Affaire erscheint Kraus als ein Bild, "auf dem sich forensischer Pöbelsinn und journalistischer Geschäftsgeist in der Eintracht einer päderastischen Orgie verewigt haben." (S:52) Hardens Argument, er handele patriotisch, ist für Kraus nur heuchlerisch, bringt "die geistige Perversität dieses Volkes ins Licht" (S.54), zumal die Affaire "mit der Verzehnfachung der Auflage einer Wochenzeitschrift endet" (S.54). Ehrenwerte Motive kann der Mann mit den zwei Witzen - "Portefeuilletonist" und "Soziallüstling" (S.63) - nicht haben, wenn er das Privatleben anderer nicht achtet und daran auch noch verdient. Die Rechtfertigung, die Harden brachte, erscheint Kraus scheinheilig. "Er hat nicht behauptet, aber er wird beweisen. Welch praktikable Verantwortung, die Ausflucht und Drohung verbindet!" (S.73) Statt dessen habe Harden das "Damoklesschwert seiner Informiertheit" (S.73) als Drohmittel genutzt und gegen die falschen Gegner im Staat gekämpft. "Es ist aber nicht wahr, es ist eine herzlose, von aller geschichtlichen Erfahrung verlassene Lüge, daß 'Normwidrigkeit' zur Ausübung eines öffentlichen Amtes untauglich macht.

Günstlingswirtschaft ist ein Übel im Staat, das der mutige Publizist aufdecken mag." (S.73) Harden hat das ehemals gemeinsame Feindbild nicht nur aus den Augen verloren, sondern arbeitet ihm in die Arme und verdient am Ende noch daran. "Er hat Zinsen genommen von der wahrhaft tragischen Schande einer Sittlichkeit, die es erlaubt, das Rückenmark als corpus delicti zu behandeln." (S.70) und "Wer ihn stärker betont, enthüllt bloß eine Gesinnung, der das Geschäft mit der Moral wichtiger ist als der Kampf gegen die Korruption." (S.74)

Das Justizsystem, das Harden zu kritisieren unterlassen hat, führt Prozesse, die einer "neuzeitlichen Inquisition" (S.70) gleichen, mit einer Moral, die "nur den als 'normal' gelten läßt, der mit einer Frau unter den Linden gesehen wird, aber für einen Päderasten den, der mit einem Mann ausgeht, und wer allein spaziert, für einen Onanisten." (S.70)

Der frühe Streit aus der zweiten Nummer der Fackel, ob es größere Themen als das der lokalen Korruption gebe, wird in der 'Erledigung' fortgeführt. "Der Glaube, daß der Hintere eines Fürsten die schönere Zielscheibe sei als das Gesicht eines Journalisten, ist ein bescheidener Irrtum." (S.66) Auch das Bezugssystem, das Harden genutzt hatte, den Übervater Bismarck, kann Kraus nicht gutheißen, seine Ansichten seien "...nicht Sache des Temperaments, sondern der Konjunktur... Der Glücksfall Bismarck hat den liberalen Journalisten, der damals auch anders gekonnt hat, aus seiner Bahn getragen, ohne den Riesenschatten, an dem sichs bequem nassauern läßt, wäre vielleicht heute noch eine Rückkehr zum Glauben Mosses möglich." (S.67) Kraus scheint schon bei dem Gedanken, über die Ungerechtigkeiten hinweggehen zu sollen, die in seiner Nähe, in Justiz und in Presse vor sich gehen, aufzubrausen, denn gleich fällt ihm der Fall Jenny Gross ein. Die Leistungen der Schauspielerin waren in der Zukunft posthum wegen ihres Einkommens durch Prostitution geschmälert worden. Kraus "konnte dem Erzfeind der Prostitution vorrechnen, um wieviel einträglicher als jener Erwerb, bei dem der Leib der Frau verkauft wird, ein Zeitungsgeschäft sei, das aus dem Leichnam Kapital schlägt." (S.67) Kraus hatte in Erfahrung gebracht, welche Auflagensteigerung die Berichterstattung über das Intimleben der Jenny Gross gebracht hatte.

Karl Kraus sieht sich in der Notwendigkeit, weiter gegen Preßkorruption zu arbeiten, durch seinen ehemaligen Mitstreiter bestätigt. Der Versuch, patriotisch zu wirken, den Harden unternommen hatte, kommt für ihn nicht in Frage. Er bleibt bei seinen immer persönlichen Angriffen, um das Hauptübel sein Menschheit, die Presse, zu beseitigen. Sogar sein Fazit aus der Angelegenheit fällt in einer Selbstbestätigung aus: "Der Prozeß Harden-Moltke ist ein Sieg der Information über die Kultur. Um in solchen Schlachten zu bestehen, muß die Menschheit lernen, sich über den Journalisten zu informieren." (S.78) Kraus schreibt: "Was ich will - wenn man von dem, was ich tue, unmittelbar eine Tendenz abziehen kann - ist, daß die Presse aufhöre, zu sein. Das will ich in fast jeder Zeile" ("Untergang der Welt durch schwarze Magie S.131) Dadurch wird verständlich, daß die sich selbst schützende Presse nicht über ihn berichtete. (Arntzen, S.16)

Kraus stempelt seinen Gegner zu einer Null, den er nicht mit den gleichen, ihm so abscheulichen Mitteln erledigen möchte. "Um meine Überzeugung darzutun, daß er zum Ratgeber der Nation nicht taugt, werde ich ihn nicht durch die Behauptung kompromittieren, daß er seinen Geschlechtsakt normal ausübe." (S.55) Die "Individualität, deren geistige- moralischer Habitus sich aus einem Detektiv und einem Bibiothekar zusammensetzt" weist er an dessen Stil nach. Die Sprache einer Person wird zum wichtigsten Kennzeichen seines Charakters: "Ich bedarf keiner Information, um ein Bild der geistigen und sittlichen Verfassung des Herrs Maximilian Harden zu entwerfen. 'Daß einer ein Mörder ist, beweist nichts gegen seinen Stil': auf diesen Standpunkt einer absoluten Ästhetik darf sich ein Ethiker wie er nicht stellen. Ich gehe in der Schätzung stilistischer Vorzüge weiter und mache sie zum Maßstab moralischer Werte. Daß einer ein Mörder ist, muß nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, daß er ein Mörder ist!" (S.55) Harden wird zum Phrasendrescher, zum einfachen Sprachhandwerker, zum Zettelkastenschreiber. "Schwulst ist Krücke" (S.58) ruft Kraus ihm entgegen, und meint, bei ihm "stellt sich die Sprache auf Stelzen, um sich doch über den Durchschnitt zu erheben." (S.58) Harden ist "Einer, der, bevor er einen Minister angreift, über die Thronfolgeordnung bei den Langobarden Bescheid sagen muß".

Der Abschnitt mit dem Titel "Molybdänomanie" kündigt die bissige "Übersetzung aus Harden" an. Über mehrere Seiten hat Kraus im übertrieben aufgesetzten Stil Hardens unverständliche Sätze aneinandergereiht, in denen immer wieder Formulierungen auffallen, die original aus der Zukunft stammen.

Harden-Lexikon, das Lügenmüssen und München

In Ausgabe 237 beginnt Kraus den Bogen, der sich bis zum 'Patriot' (F267-68) spannt. Das Thema des Bismarckschen Hausverbotes an Harden und deutsche Moral, die die Wahrheitslieb nur im bestimmten Bereichen anwendet, ansonsten Homosexuelle zum Lügenmüssens zwingt: "Er war so wahrheitsliebend, einen Trieb nicht zu unterdrücken, den ein Mann in seiner Stellung unterdrücken muß, dessen Unterdrückung aber den Homosexuellen zu jener Unwahrhaftigkeit zwingt, die ihn zur Bekleidung einer verantwortlichen Stellung ebenso untauglich macht, wie die Wahrheitsliebe, die zur Bestätigung des Triebes führt..." (F:23)

251 bringt die erste 'Übersetzung aus Harden'. Höhnisch erklärt Kraus, daß die Leser der Zukunft seit Jahren die wertvollsten Gedanken Hardens versäumten, da die in einer fremden Sprache verfaßt seien. Darauf folgt eine Tabelle mit den Origanalzitaten Hardens links und der Krausschen Übersetzung rechts. Es ergeben sich Übersetzungen, die ohne jede Ornamentik gleiches in verständlicher Sprache und der halben Länge aussagen, es werden griechische und lateinische Zitate in ihrer banalen Bedeutung entlarvt oder mit Fragezeichen als nicht verständlich gekennzeichnet und die verklemmte Sprache Hardens bei Themen der Sexualität enttarnt.

In der gleichen Ausgabe findet sich ein Artikel zum Münchener Eulenburg-Prozeß, den Harden durch einen gekauften Journalisten angestrengt hatte und mit Hilfe zweier Männer die Homosexualität Eulenburgs nachweisen will. "Jeder Sexualakt, auch der normalste, hat dort Meineid, Zuchthaus, Mord und Tod zur Folge" (F:46) schreibt Kraus über Deutschland, denn Angeklagte stecken in einem höchst infamen Dilemma: "Sagt er die Wahrheit, so muß er sich erschießen. Sagt er die Unwahrheit, so muß er sich erschießen." (F:47). Der einzige Ausweg ist der Widerstand gegen die Gesetzesordnung, eine moralische Umwertung. "Gegenüber einer Kriminalität, die die Helferin der niederträchtigsten Niedertracht ist, jener, die an den Sexus greift, erscheint der Meineid als eine aus tieftster Ethik begründete Notwehr." (F:47)

In diesem "Volk der Richter und Henker" (F253:1) ist es so, "wenn zwei Leute ein Geheimnis miteinander haben, macht [es] den berühmt, der es verriet, und der Schweinehund, der die Fenster eines Schlafzimmers aufgerissen hat, gilt für einen Lichtbringer." (F253:2). Der Journalismus ist dort "das moralische Kriechtier auf dem Boden der Tatsachenwelt, das zugleich ein Menschenglück vergiftet und die Phantasie einer Gesamtheit erdrosselt!" (F253:4). In der gleichen Ausgabe befindet sich eine 'Übersetzung aus Harden' (F253:23ff).

Nachruf

"Maximilian Harden. Ein Nachruf" (Nr.242-43, 31.1.1908) heißt der nächste Schlag. "Da einer starb - an einem kranken Ruhm und nicht an einem gesunden Rippenfell..." (F:4) erscheint diese Polemik gegen Harden und die ihn verteidigenden Journalisten. Kraus dreht deren Sichtweise um und verteidigt das Gegenteil. Harden ist nach seiner Verurteilung zu vier Monaten Gefängnis für sie ein bedeutender Mann, für Kraus wäre seine Schuld größer, wäre er freigesprochen worden. Harden will sich dadurch entlasten, daß er nachweist, daß er nur angespielt und nichts behauptet hat, nach Kraus richtet ihn schon das Erheben des Vorwurfes. Das Gericht hat Harden wegen einer Unwahrheit verurteilt, aber Kraus fordert die Verurteilung bei wahren Anschuldigungen: "Je wahrer die Tatsache des Privat- und Familienlebens ist, die der Beleidiger in die Öffentlichkeit trug, desto empfindlicher die Beleidigung, desto größer muß die Strafe sein." (F:17)

Zum Prozeß hätte Kraus nur die Frage zugelassen, ob eine Beleidigung vorliegt oder nicht. Ob sie wahr oder falsch ist, wäre seinen Vorstellungen nach nicht zur Sprache gekommen. Alle Argumente Hardens, seine Artikel seien in der Hinsicht des Päderasten-Vorwurfes nicht zu verstehen gewesen, widerlegt Kraus sprachlich und logisch. Es nicht ausdrücklich gesagt zu haben, läßt er entschuldigend nicht gelten, da das Wissen schon ein Schweigensbruch ist. (s.u.)

Die Moral, die aus den Prozessen spricht nennt Kraus das "Reich der wahren Erweislichkeit" (F:46), in dem es nur um Wahrheiten und nicht um deren Folgen geht. "Denn jetzt ist bloß die Nicht-Informiertheit unterlegen und damit sind die Waffen verherrlicht, mit denen man der Kultur künftig wirksamer beikommen kann." (F:19)

Weiter variiert Kraus seine Mörder-Stil-Thesen aus der 'Erledigung' und legt eifersüchtelnd Wert darauf, Harden das geistige Bismarck-Erbe abzusprechen, indem er darauf hinweist, daß Bismarck dem "Päderastensucher" (F:43) Hausverbot erteilt hatte.

In der Presse ist Harden nach seinem Freispruch ein verpönter Mann gewesen, durch die Verurteilung wird er zum Mäthyrer. Er steht als Opfer der Zensur da, als Symbol der Pressefreiheit, eine Darstellung, die Kraus scheinheilig empfindet. In seinen Augen war Harden ein Verleumnder, ein Denunziant, dessen eigener Berufsstand nun noch höchst anmaßend den Freispruch Hardens wegen seiner erwiesen guten Absichten fordere und an dem versuchten Wahrheitsbeweis zu sexuellen Neigungen vor Gericht keinen Anstoß nimmt. "Ein Eingriff in die Unterleibssphäre, der das geistige Niveau eines Publizisten mehr als seinen Charakter beschämt, soll nicht mehr als Beleidigung strafbar sein, und wenn er schon nicht mehr als vaterländische Tat drapiert werden kann, so soll bei seiner Bestrafung irgendein Genius das Haupt verhüllen." (F:10). Es waren nämlich Stimmen laut geworden, daß Harden eine Sonderbehandlung, ein Kaiserlicher Freispruch, zukommen solle. Dieses "Deutschland, das den Wohllaut seiner Sprache dem Lärm der Rotationsmaschinen geopfert hat" (F:10) wird von einem Journalismus dominiert, dessen Weltanschauung "unsere Nachttöpfe als öffentliche Angelegenheit reklamiert und sich bloß die Pflicht einer gewissenhaften Untersuchung ihres Inhalts setzt." (F:18). Der Schreiber wird von seiner Verantwortung für die Gesellschaft nach dieser Moral entbunden, wenn guter Glauben und fremde Täuschung als Entschuldigung für die Folgen akzeptiert werden, wie dies Harden vormachte, da er patriotische Absichten und die Aussagen einer kranken Frau gelten machte. Kraus setzt dem eine Selbst-Beschränkung der Presse entgegen, die eine erhöhte Freiheit des Einzelnen zur Folge hat: "Es ist uns nicht erlaubt, 'unehrenhafte, wenn auch wahre Tatsachen des Privat- und Familienlebens' zu verbreiten, unser Leben hat also eine größere Freiheit."

(F:15). In dem Zusammenhang lobt es das rigidere österreichische Pressegesetz, das einen Paragraphen enthält, "in dem die christliche Sexualethik gleichsam das Gebot der christlichen Nächstenliebe erfüllt hat" (F:16). Dieser führt zwar dazu, daß nicht alles gesagt wird, "Aber die Heuchelei schützt die Freiheit des Geheimnisses, und diese ist ein höheres Gut als die Öffentlichkeit der Unfreiheit." (F:16)

Kraus beschreibt Harden in seinen Prozessen als "doppelt schielender Taktiker" (F:13), der im ersten Prozeß gesagt hat, er habe "nie etwas behauptet, aber er könne alles beweisen, im zweiten hat er nichts behauptet und auch die Zumutung etwas zu beweisen abgelehnt." (F:40). Hier macht Kraus den logischen Gegenbeweis und kommt zu dem Schluß: "Wenn ich nichts behauptet habe und zufällig das beweisen kann, was ich nicht behauptet habe, so ist diese Möglichkeit der Beweis dafür, daß ich behauptet habe." (F:37)

Hardens Persönlichkeit ist mit diesen Prozessen völlig diskreditiert. Schon der Journalist, der tageweise seine Themen wechselt, ist Kraus nicht mehr ehrlich, weil Sprache dann Tagwerk und nicht Kunstwerk ist. Auch von der anderen Seite her kommend ist Harden erledigt, da seine Sprache seine Nichtpersönlichkeit verrät. "Daß Herrn Harden der Funke fehlt, kann ich aus einem Satz, den er schreibt, viel besser erschließen, als aus einer Meinung, die er ausspricht." (F:30) Einer politischen Beurteilung bedarf es nach der sprachlichen nicht mehr.

Die letzte Umwertung schlägt vor, Harden nicht einzukerkern, sondern indirekt die moralischen Barrieren durch Aufwertung der gesellschaftlichen Verdamnis wiederaufzurichten. "Vier Monate schlechtere Luft und schlechtere Kost sind eine unweisere Strafe als die Aberkennung des Rechtes, sich einen Kulturmenschen zu nennen. Die ist mit der Schuldigsprechung wehen eines Eingriffs in die vita sexualis gegeben, auf den weiteren Strafvollzug kann der Kläger verzichten." (F:51).

Seine Antwort

Er erhielt sie doch, "Seine Antwort". Maximilian Harden hatte sich am 7.Juni 1908 in einer deutschen Zeitung zu seinem Verhältnis zu Kraus geäußert, ein Artikel, den Kraus in Ausgabe 257-58 abdruckt, mit einem Auszug aus der 'Erledigung' direkt daneben. Die Antwort sei "ganz im Geschmack der Aktionen, denen meine Angriffe gegolten haben" (F:24), weshalb Kraus sich im Folgenden bemüht, Parallelen in der Argumentation zwischen den Rechtfertigungen Hardens im Moltke-Prozeß und den hier artikulierten Anschuldigungen gegen ihn anzudeuten.

Harden erklärt den Haß Kraus' gegen ihn so, daß es zunächst ein freundschaftliches Verhältnis gegeben habe, in dem Harden viele Opfer gebracht hat, da er "aus Mitgefühl mit dem armen Teufel" (Harden, F:15) den Verehrenden nicht kränken wollte. Der Wendepunkt ist in Hardens Augen erreicht worden, als er Kraus anfing zu kritisieren, als er Artikel veröffentlichte, die dem jungen Kollegen mißfielen und er dessen Artikel in der Zukunft nicht abdruckte. Ein Disput über Annie Kalmar (der "groteske Roman") war die letzte Auseinandersetzung. "Seit dem schimpft er... Ich bin der Selbe geblieben, der ich in der Zeit seiner Verhimmelung war, habe nur gearbeitet." (Harden, F:16).

Kraus ist der Vorwurf sehr zuwieder, daß er aus Rachsucht gehandelt habe. Er besteht darauf, daß er Harden die Bewunderung "nach reiflicher Überlegung entzogen" (F:24) hat, weil er eine "Entwicklung" (F:28) durchgemacht habe, jedoch nicht wie ein "Meinungswechsler" (F:29) - das ist Harden -, sondern wie eine Persönlichkeit, die eine Andere wird. Die Verurteilung Kraus' nach dem Rachemotiv ist für ihn ein Paradoxon, das in der Öffentlichkeit nicht bemerkt wird: "Denn wenn ich einen des Taschendiebstahls beschuldigen will und vor versammeltem Volke den Vedacht damit begründe, daß der Mann schielt, so wird vielen die Nachweisbarkeit des Körperfehlers so sehr imponieren, daß sie ihm auch den Diebstahl glauben werden." (F:25).

Die Rache läßt Kraus dadurch unglaubwürdig erscheinen, daß er die freundlichen Briefe Hardens veröffentlicht, mit denen er auch dem Eindruck entgegentraten möchte, Harden habe sich durch seine Besuche belästigt gefühlt. Interessanter Weise läßt sich Kraus damit auf einen Tatsachenprozeß à la Eulenburg ein und begründet sein Verhalten wie Harden vormals mit einem höheren Zwang. "Ich bin dazu zu haben, aber man wird mir den Widerwillen glauben müssen, erweisliche Unwahrheiten, die ich längst verdaut habe, zu korrigieren." (F:23), doch so "muß ich zu den Dokumenten greifen." (F:32). Eine zweite Paralle zeigt sich, wenn er Angst zeigt, in seinen Aktivitäten gegen Harden mißverstanden zu werden. "...mein ganzes öffentliches Bemühen soll zu einer Privataffaire erniedrigt werden, zu einem Ringkampf mit Herrn Harden." (F:22), eine Entwicklung, die er durch den Gang in das Gebiet der Erweisbarkeit stoppen möchte.

Diese höheren Motive, die ihn zu seinen Polemiken antreiben, legt er auch noch einmal dar. Er erläutert seinen Wandel ("Und ich reinige meine Arbeit vom Schutt des Tages, und entdecke, daß der Schutt mehr künstlerischen Gehalt hat, als seine Edelsteine." (F:27)), er wiederholt den Hinweis auf die Unbedeutung Hardens, die an seinem Stil belegt ist und baut ihn als Beispiel für einen korrupten Schreiber (Kraus baut Hardens Erwähnung eines unbezahlten Artikels, den er für die Fackel geliefert hatte, zu dem unerfüllten Wunsch nach Bezahlung um) und einen moralischen Schuft auf. Die Andeutungen zu Annie Kalmar lassen Kraus aufbrausen, "Aber um dieses einen Satzes willen lasse ich ihn nicht mehr los." (F:46)

Harden hatte von dem "grotesken Roman" mit Annie Kalmar geschrieben, durch den Kraus derart empfindlich gegenüber Kritik an der Schauspielerin geworden sein, daß dies mit zu dem Haß auf ihn geführt habe. Daß Harden hier das Privatleben Kraus' mit einbaut und die ins Zwielicht rückt, von der er sagt, "ich glaube, ihr verdanke ich mein Bestes" (F:47), läßt Kraus sagen: "Die Unfähigkeit, vor dem Geist zu bestehen, vergreift sich am Geschlecht. Mein grotesker Roman lag Herrn Harden nicht als Rezensionsexemplar vor, aber er wußte von ihm, weil ich ihn besuchte, wenn ich auf einer Reise zu einem Sterbebett in Berlin Station machte." (F:47) Tief getroffen, fühlt sich von Harden verraten - wie der andere umgekehrt auch - greift Kraus zu dem Argument Bismarck, dem gemeinsamen Idol, um das sie seit ihrer Entzweiung kämpfen. "Ein Roman, den der Andere großtesk findet, kann mehr Macht haben, ein Persönlichkeit auszubilden, als selbst das Erlebnis, von einem Bismarck gerufen, von einem Bismarck hinausgeworfen zu werden." (F:47)

Nachwehen

'Deutschland' vom 13.Juli 1908 beschreibt den Fortgang des Prozesses, das Verhalten der Presse und das Hardens, reflektiert aber vor allem die Prozeßordnung, die dem zugrunde liegt. Kraus erläutert die Paradoxie des deutschen System, das bei der Befragung von Homosexuellen den großen gesellschaftlichen Druck auf den Angeklagten weitergibt, der es ihm unmöglich macht, zu seiner Vorliebe zu stehen. Statt dessen wird er zur Lüge gezwungen, was ihn zum Straftäter macht, da er sich des Meineides schuldig macht. Es wird deutlich, daß Homosexuelle nicht gegen den §175 verstoßen müssen, um trotzdem von einem Gericht verurteilt zu werden.

Ausgabe 261-62 enthält Artikel, die in Deutschland über Kraus veröffentlicht wurden und einen neuen Teil im 'Harden-Lexikon'. In 'Der Patriot' (F267-68) beschäftigt sich Kraus in bissiger Weise mit Harden und spricht seine Vorwürfe ungeschminkter aus. Der "Ehrenmann mit logischen Unterbrechungen" (F:11), der "in einem seiner Sexualprozesse beweisen will, was er nicht behauptet hat, oder behauptet, was er nicht beweisen kann" (F:9) ist ein Patriot, denn "der wahre Patriot ist immer ein Denunziant der Vaterlandslosen." Er ist unwahrhaftig und legt dem toten Bismarck Aussprüche in den Mund, die dieser nicht gesagt haben kann. "Wenn ein Sarg und ein Zettelkasten zusammenstoßen, so muß nicht immer der Sarg daran schuld sein." (F:4). Vor allem aber vertritt Kraus offen die These, daß Harden den Skandal zur Bereicherung genutzt hat. "...für das Vaterland hat er sich unter den Betten der Adlervillen und der Starnberger Hotels gewälzt. Ein Commis Voyeur ist durch Deutschland gezogen, aber er hat das Erlebte, Erlauschte, Erlogene mit staatsretterischer Gebärde offeriert. Wer sollte glauben, daß es ihm darauf ankam, dem Skandal zu opfern, ihm, der den Skandal nicht scheute, um dem Vaterland zu opfern, und um der Ehre willen selbst einen Mehrgewinn seines Blattes nicht gescheut hat? Daß ihm der Skandal nicht Selbstzweck war, sondern bloß die notwendigsten Mittel zum Zweck hereinbrachte, beweist er gerade jetzt, da er der Politik der offenen Hosentüren endlich entsagt hat..." (F:5)

DIE ZWEI HERAUSGEBER

Die Freundschaft

Es war Karl Kraus, der den Kontakt zu dem Berliner Harden gesucht hat. Aus der Ferne wird Harden als derjenige erschienen sein, der die Ansichten über die durch den Einfluß von finanziellen Interessen beschränkten journalistischen Möglichkeiten, die Verlogenheit der scheinbar wahren Artikel und den verheerenden Einfluß des Pressewesens auf die Entwicklung des Kunstbetriebes als einzelner Rufer artikuliert. Kraus hat offenbar zu Ende des Jahrhunderts schon mit dem Gedanken gespielt, sein eigener Herausgeber zu werden, zumindest hat ihm der Weg Hardens imponiert. "Harden ist der kritischste deutsche Journalist seiner Zeit, der Vorkriegszeit - darum hat sich Kraus, als er sich selbst als kritischen Journalisten begriff, an Harden orientiert" (Arntzen, S.40)

Vom kleinen Rezensenten von Theaterstücken zum Herausgeber eines Blattes, der sagen will, was ist und sich weder von den An- und Umsichten eines Vorgesetzten noch von den potentiellen Interessen von Inserenten und Abonnenten dirigieren läßt; Harden erscheint Kraus wie der einsame Zwilling in der Ferne, wie der verständnisvolle Vater, der helfen kann, die eigenen Vorstellungen Realität werden zu lassen. Dazu beigetragen hat auch, daß sich kein rein freundschaftliches Verhältnis einstellte, sondern Harden die überlegene Position des zehn Jahre Älteren mit jahrelanger Erfahrung als eigener Herausgeber nicht aufgab, denn "Harden ließ sich gerne auf den jungen Verehrer ein, ohne aber eine gewisse Distanz aufrecht zu erhalten." (Pfabigan, S.47)

Kraus wurde häufiger und auch gern gesehener Gast in Berlin. Wenn Harden später nach Wien kam, dann besuchte er seinen Freund und vernachlässigte häufig alle anderen Kontakte in der Stadt. Sie haben miteinander auch über das Projekt gesprochen, mit der Fackel ein neues journalistisches Medium zu gründen, das nicht in den Mechanismen des Klüngels, der Käuflichkeit und der Rücksichtnahme auf Meinungen von Finanziers gefangen ist. Die Zukunft stellte das Vorbild dar, an dem Kraus sich orientierte. Kraus "besprach mit ihm, in Wien oder auch in Berlin, Themen und Tendenzen seiner neuen publizistischen Arbeit; er glaubte damals noch, eine Zeitschrift herausgeben zu können, die der Zukunft in etwa entsprach." (Weller Publ, S.44) Aber auch die Person Harden wird ihm achtbar erschienen sein, da die Parallelen in Erfahrungen und Einstellungen spürbar gewesen sein müssen.

Vatererlebnisse

Die beiden Kaufmannssöhne aus dem aufsteigenden Bürgertum hatten auf den ersten Blick völlig unterschiedliche prägende Kindheitserlebnisse. Harden war davon gezeichnet, daß er seinem unberechenbaren Vater unterworfen war, was dazu führte, daß er ihn nicht als Schutz, sondern als wahnhaften Gegner und Zerstörer der eigenen Ausbildung empfand. Kraus dahingegen wurde von seinem Vater protegiert, er genoß eine lange Ausbildung, wurde selbst dann nicht kritisiert, als er die gewünschte juristische Laufbahn verließ und bekam letztenendes sogar den Start in seine publizistische Karriere finanziert. Hatte bei Harden die Kindheit mit vierzehn aufgehört, als er von zuhause floh, tummelte sich Kraus noch mit fünfundzwanzig in den Cafés Wien und literarisierte, finanziert durch das elterliche Papiergeschäft. Jakob Kraus bildete jedoch in soweit einen Antipol, als sich Karl nicht gegen dessen Entscheidungen zur Wehr setzen konnte. Er mochte gute Absichten gehabt haben, sein Sohn spürte auch die drückende Überlegenheit - bei jeder Überquerung der Großstadtstraße. Das zarte Kind suchte Schutz bei seiner Mutter, die nicht die dominierende Figur in der Familie war. Die familiäre Autorität dahingegen konnte ihn nicht wirklich verstehen, sie handelte unangreifbar und gütig aber blieb immer fremd und unecht.

Motive der jungen Journalisten

Ihren Weg zum Journalisten sind Kraus und Harden über das Theater gegangen, sie hatten nach wenigen Versuchen beziehungsweise nach zehn Jahren im Wandertheater die Möglichkeit der neuen Betätigung in der Rezension von Stücken gefunden. Gute Redner waren beide, Kraus wie Harden, sie brillierten mit ihren Gedächnissen und hatten ein Vorbild und einen gemeinsamen Gegner. Das Vorbild war konkret, es war Bismarck, der vorausschauende Staatskünstler, der weise Taktierer, der vorbildliche Staatsvater, der dieses Gebilde mit starker Hand lenkt, dabei nicht seinen eigenen Vorteil im Blick hat, sondern den Vorteil Aller. Es war der späte Bismarck, der hinausgeworfene, der Ungedankte, das Zeichen, daß Deutschland den klugen Weg nicht weiter gehen wollte. Der gemeinsame Gegner war bis zur ersten Ausgabe der Fackel ein unspezifischer und nur dadurch ein gemeinsamer: die Korruption der Presse, die Käuflichkeit des Geistes, die Unwahrhaftigkeit des geschriebenen Wortes.

Kraus war durch seine persönlichen Erfahrungen als Mitarbeiter der 'Wage' und Schreiber diverser Blätter zu der Einsicht gekommen, daß darin, daß die Presse ihrem Auftrag nach Information und Informationsweitergabe nicht nachkommt, ein Grundübel der Gesellschaft zu sehen ist. Hardens Hinwendung zum Journalistentum klingt eher wie eine Versöhnung mit der bürgerlichen Lebensweise. Mit dem Ende seines Aussteigerdaseins suchte er eine neue Arbeit, die notwendigerweise auf sein Theaterleben aufbauen mußte, da er keinerlei Ausbildung besaß. Seine ersten Theaterrezensionen wurden gelobt und Harden entschied sich für diesen Weg, mit der Konsequenz, daß er sich massiv für diesen Beruf fortzubilden begann. Seine Stellung in den Konzernen war mittelmäßig, aufgrund seiner schlechten Position beschränkte er sich auf das Beobachten der Einflußnahme durch Außen auf den Inhalt der Zeitung und hielt sich mit öffentlicher Kritik zurück. Es wird ihn schwer belastet haben, daß es auf dem Zeitungsmarkt nicht bestimmend ist, wer den besten Inhalt, sondern wer den besten Kontakt zu Geldgebern hat. Auch daß es in den Zeitungen nicht gewünscht ist, daß Charakter und scharfes Denkvermögen zählen, da der Auftraggeber keiner Idee, sondern seinem Geldbeutel dient. Die Vorgesetzten in der Redaktion und die Zeitungen, für die er arbeitete, waren keine akzeptierbaren Autoritäten. Sie waren die Stärkeren, ohne die entsprechende Legitimation zu haben. Gerade das mußte Harden fragwürdig erscheinen, dem ohnehin die Oppositionshaltung vertrauter war und Kooperationen wie unterkriegen lassen erschien. Zudem mußte er sich beweisen, daß er trotz fehlendem Schulabschluß und schlechter sozialer Ausgangsstellung das Zeug dazu hatte, den Aufstieg zu schaffen. Er hoffte um objektive Kriterien, aus Furcht, daß seine Arbeit aus sachfremden Motiven verworfen werden würde, wie er es so oft bei seinem Vater erlebt hatte, der ihm nie Richtlinie und Unterstützung beim Aufbau eines auf Erfolgserlebnisse gestützten Selbstbewußtseins war. Sein Minderwertigkeitskomplex ließ ihn nicht ruhig offensichtlich weniger gescheite Vorgesetzte akzeptieren, sondern zwang ihn zur Konkurrenz. Dadurch erwuchs der Anspruch an seine eigene Arbeit, daß sie unbestreitbar hochwertig sein müsse. Angesichts der käuflichen Schreiber in den Redaktionsstuben der Massenblätter konnte er dort niemals seine Verwirklichung finden. Als Schreiber mußte er selbständig werden, er mußte sich alleine gegen alle beweisen.

Kraus war der wiener Alleinkämpfer, der zudem immer persönlich wurde, was ihm wenig Freunde und viele Feinde einbrachte. Es verbaute ihm auch den Weg, mit der Presse seiner Stadt zu kooperieren - den hielt sich Harden mit seinen generellen Kritiken noch offen und wurde deshalb auch weithin anerkannt. Kraus war gefährlicher und wollte es sein. Er manövrierte sich absichtlich in die Lage des einsamen Schreibers, der für etwas Höheres arbeitet. Diesem ordnete er alles unter, seine Kontakte, seine Angebote, die Zusendungen, das Geld; sein 'Lob der verkehrten Lebensweise' ist die ausdrückliche Abwendung von dem gesellschaftlichen Leben. Er quälte sich selbst mit der Einsamkeit, mit dem auferlegten Zwang zu schreiben, der Öffentlichkeit und der Aggression, die ihm seine Arbeit eintrug. Alleine sein wollte er auch auf der Straße, wo er es als schrecklich empfand, wenn ihn Unbekannte ansprachen. Die Selbstbestätigung holte er sich bei seinen Vorträgen, wenn er einen vollen Saal in seinen Bann zog und unter Beifall still den Raum verließ.

Harden für Kraus

Harden war nun für Kraus eine ebenso wahre Autorität wie Bismarck - wenn auch auf anderem Niveau - er bot ihm die "schutzsuchende Unterwerfung", derer er bei seiner Hinwendung zum literarischen Alleingang bedurfte. Er schrieb 1899 an sein Vorbild: "Habe ich Ihnen schon einmal gesagt, wie sehr es mich beglücken würde, Ihre Photographie auf meinem Schreibtisch zu besitzen?" (Weller Publ, S.44). Die beharrliche, akribische und auch quälende Arbeit, die Harden von sich verlangte, war für Kraus nachvollziehbar und wegen des hohen eigenen Anspruchs, den Harden an sich stellte, waren seine Ratschläge akzeptierbar. Für Kraus zählte in der Zeit der gemeinsamen Freundschaft nicht der stilistische Harden - den er auch guthieß - , sondern der Antikorruptionist. Er wandte sich an den, der 1902 schrieb: "Männer, die sich für Literaturkritiker ausgeben, vertreten, anonym, aber nicht anodin, in hundert Zeitungen die Interessen großer Reederfirmen, Tingeltangel, Fleischextrakt- und Mundwasserfabriken, Gasthäuser, Möbelgeschäften und Bordellen für die Gewährung billiger Preßpreise und sind selig, wenn ihnen, unter der Bedingung prompten Reklamedienstes, ein (...) Schiffsbillet geschenkt wird." (Weller, S.52 )

Kraus für Harden

Andersherum war für Harden die Bekanntschaft mit Kraus Balsam für das Selbstbewußtsein. Von einem begabten Jüngling, der Ausstrahlung besaß und seine Augen blitzen lassen konnte, verehrt zu werden, kam seinem Bedürfnis nach divahafter Behandlung entgegen. Die Rolle des Protégées, des 'wiser man', war ein Zeichen der Anerkennung, der er, gerade in der Losgelöstheit von direkten Bezugsrahmen, als sein eigener Herausgeber besonders bedurfte. Solange Kraus verehrte und Harden Ratschläge geben konnte, die der andere wie zur Bestätigung der eigenen Kompetenz getreu umsetzte, so lange konnte die Zusammenarbeit und die Freundschaft funktionieren. Noch zur ersten Fackel soll Harden gesagt haben "Daß er mich so kopiert, ist recht ärgerlich." (Pfabigan, S.47), doch war dies noch ein Ausdruck des noblen Geshmeicheltfühlens, denn er machte Kraus deswegen keine Vorwürfe. Es mag ein Schmunzeln gewesen sein, als er die erste Fackel in den Händen hielt; der Brief, der in der zweiten Ausgabe abgedruckt wurde ist weiter gönnerhaft und voll mit gutgemeinten Hinweisen. Weller bestätigt zwar indirekt die These, daß Harden die Unterordnung seines Freundes wünschte, ist aber der Ansicht, daß Harden ernstlich verstimmt war wegen des angeblichen Plagiats. "Vermutlich war er über die konsequente Befolgung seiner eigenen Vorschläge verärgert; vielleicht auch fürchtete er einen Konkurrenten, denn Kraus hatte in seinem programmatischen ersten Artikel 'Was wir umbringen' Ziele formuliert, die aus Hardens Feder hätten stammen können, sogar was die Formulierungen betrifft." (Weller Publ, S.45)

Kraus hatte derweil das Attackieren institutionalisiert. Im Sinne der 'demolirten Literatur' griff er in seinem Heft einzelne Personen der wiener Kunstszenerie an. Auch seine Antwort auf den Brief Hardens zeigt deutlich, daß er beginnt, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Distanz zu seinem Zieh-Vater ist spürbar, die Autorität ist keine uneingeschränkte. Die freundlichen Ratschläge weist er nicht nur zart-bestimmt zurück, sondern macht deutlich, daß er in eigenen Koordinaten agiert. Ein Harden läßt sich nicht auf Wien kopieren lautet die Botschaft und damit: Ein Harden kann ich hier nicht sein.

Harden scheint diese Entfernung seines Schützlings zu bemerken, sieht sich zwar in der Einschätzung des Talentes Kraus bestätigt, klingt aber einem Brief vom Oktober 1899 ein wenig pikiert, daß jener eigene Wege geht. "K.K.: ich habe eine Ewigkeit nichts von ihm gehört, stehe in gar keiner Verbindung mit ihm und finde die Fackel nicht im großen Stil, aber recht gut gemacht, recht Erfolg für eine Weile verheißend. Er ist doch immerhin sehr gewachsen. Das sah ich voraus und deshalb riet ich ihm zu dieser Sache. Die Idee, Format, Titel, Rochefortart, ist ja von mir." (Weller Publ, S.45)

Selbsthaß

In den ersten Jahren lebt die Fackel von "ihren Qualitäten als 'Enthüllungsblatt'" (Fischer, S.22), da in ihr "skandalöse Zustände bei der Eisenbahn, bei den Banken, in der Universität" (Fischer, S.22) angeprangert werde. Auch die Angriffe gegen die 'Neue Freie Presse' brachten ihm Ansehen, Leser, Drohungen und Feinde ein. Hellige erklärt die Motive für dieses aufreibende Einzelgängertum:

"Psychologisch stellt dieser nonkonformistische Gestus in der Anfangsphase der Fackel, der auffallend an den Beginn der publizistischen Laufbahn Hardens erinnert, eine nachträgliche Demonstration von Stärke gegenüber der Vaterwelt und ein intensives Ausagieren des Selbsthasses dar." (Hellige, S.65)

Den Selbsthaß begreift Hellige als ein typisch jüdisches Phänomen, das sowohl Harden als auch Kraus auslebten. Sie hatten an ihren Vätern beobachten können, daß deren Assimilationsversuche, sie hatten in einem Bündnis mit dem Liberalismus eine stärkere Emanzipation angestrebt, fehlgeschlagen waren. Seit dem Gründerkrach von 1873 waren die Juden wieder vermehrt zu Sündenböcken der wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Da sie wegen der jahrhundertelangen gezwungenen Beschränkung auf Geldberufe durch die Industrialisierung in ökonomische Schlüsselpositionen geraten waren, wurden sie nun als Mitschuldige gebrandmarkt. Ihren Söhne blieb "die nach der Adoleszenskrise in der Regel übliche Rückkehr zur Vateridentifikation nach einer Phase offener Ablehnung zunehmend versperrt" (Hellige, S.50), da sie sich einer Zukunft in gesellschaftlicher Ächtung gegenüber sahen. Sie wandten sich deshalb von ihren Vätern ab, verstärkten dadurch den Generationenkonflikt, und suchten auf anderem Wege akzeptiert zu werden. "Die Zugehörigkeit zu einer Minorität, die für die Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung verantwortlich gemacht wurde, veranlaßte die rebellischen Söhne, antijüdische, antikapitalistische und antibürgerliche Vorstellungen und Verhaltensweisen zu übernehmen." (Hellige, S.50). Hellige betont die individuellen Unterschiede der Juden, die diesen nicht seltenen Weg gingen, er findet aber Gemeinsamkeiten:

"... ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist jeweils die Verinnerlichung jener ideologischen Verkehrung, die die Übel der kapitalistischen Zivilisation der 'Geschäftstüchtigkeit, Geldgier und niedrigen, materiellen Gesinnung des Juden' anlastet. Selbsthaß wird somit als Resultat einer typischen Form der Identitätskrise formal gleichberechtigter, faktisch aber diskriminierter jüdischer Minoritäten in kapitalistischen Gesellschaften interpretiert, die sich aus der Internalisierung von Feindstereotypen des antisemitischen Gegners ergibt und aus der Verschränkung von Assimilationsziel und Generationskonflikt ihre Dynamik und Intensität bezieht." (Hellige, S.49)

Der Ausgangspunkt, die Abgrenzung zum Vater, steigert sich demnach zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, bei der die Erfahrung des Scheiterns der Assimilationsbemühungen zu dem doppelten Selbsthaß von eigener Herkunft und eigenem Ich führt. Eine weitere Folge des Konfliktes ist, daß ökonomischer Aufstieg nicht mehr mit erfolgreicher Assimilation gleichgesetzt werden kann, es setzt sich vielmehr die Ansicht durch, daß man "sich und seine ganze Rasse vom Fluch des Geldes erlösen" (Hellige, S.62) müsse, was die Flucht in die "reinere, die geldlose Sphäre des Geistes" (Hellige, S.62) nahelegte.

Hellige parallelisiert die kindlichen Erfahrungen der beiden Herausgeber stark, Kraus ist "in vieler Hinsicht geradezu ein Wiener Doppelgänger Hardens" (Hellige, S.64). Aus der Erfahrung, dem Vater einerseits unterworfen und andererseits auf ihn angewiesen zu sein und seinen Halt, seine Zuneigung zu bedürfen (s.o.), ergibt sich nach seiner Ansicht folgender Verhaltenskomplex. Denn die Unterwerfung wird spürbar an der mißlungenen Assimilation der Väter, woran scheinbar das Judensein Schuld trägt - und der Wunsch nach Akzeptanz ist das ersehnte Ende der natürlichen Auflehnung gegen die familiäre Autorität.

"Wie bei Harden erzeugte dieser Verlauf des Konflikts daher jene ambivalente Gefühlsstruktur, in der trotzige Auflehnung und schutzsuchende Unterwerfung sich gegenseitig bedingten, und wurde zur Quelle lebenslanger Schuldgefühle bzw.latenter Selbstverachtung, deren Niederlage auch Kraus zwang, sein 'Leben als Feldzug zu gestalten' und deren Selbsthaß durch Projektion nach außen zu bewältigen." (Hellige, S.65)

Der Jude Kraus

Karl Kraus, "das leuchtenste Beispiel jüdischen Selbsthasses" (Theodor Lessing) distanzierte sich bereits 1897 von seiner jüdischen Gemeinde und trat 1899 aus ihr aus. Er befürwortete eine "unbedingte, nicht-opportunistische Assimilation" und verarbeitete das Thema des Judentums schon in den frühen Fackel -Heften. Die Angriffe gegen die Presse galten Juden, die diesen Bereich und die Kulturszenerie beherrschten, zudem war von der 'jüdisch- kapitalistischen Ausbeutung' (Hellige, S.65) die Rede. Politisch setzte sich der Wunsch nach einer starken Persönlichkeit an der Spitze des Staates durch, eine Tendenz, die in der "geschilderten psychischen Ambivalenz von vorneherein angelegt" war (Hellige, S.66). Dieser Selbsthaß hatte auch Auswirkungen auf den privaten Bereich, zum Beispiel war die spätere Geliebte von Kraus, Sidonie Nádherny, ausgespochene Antisemitin, weshalb sie letztendlich Kraus nicht heiratete. Die Selbstisolierungs Kraus' durch seine Arbeit, die ihm viele Schmerzen bereitete, hat ebenfalls Züge von Selbstgeißelung, sie sprechen von einem sehr unbefriedigten und gespannten Verhältnis zu seinem sozialen Umfeld, was auf die unbefriedigende Haltung zur eigenen Herkunft und Geschichte zurückzuführen ist. Sein Verhältnis zu Geld bestätigt die Theorie Helliges: Kraus lehnt es ab, sich durch seine Arbeit zu bereichern, betrachtet das erwirtschaftetete Geld sogar als schmutzig. Aufstieg über ökonomischen Erfolg ist ihm fremd, sogar der Aufstieg selbst ist offensichtlich nicht mehr attraktiv. Le Rider findet selbst in Kraus' Arbeit mit der Sprache den masochistischen Ansatz wieder. "Es geht für Kraus darum, jenes Trauma einer dichterischen Impotenz zu überwinden, die der Antisemit am Juden wahrnimmt, ein Trauma, das der 'jüdische Selbsthaß' als ein ständiges Sich-selbst-in-Frage-Stellen verinnerlicht." (Le Rider, S.373). Den Weg zur Überwindung sieht Kraus selber nicht, er baut Sprache als ein mystisches Gebilde auf, das sich einer exakten Benutzung entzieht, das Potenzgefühl - um dabei zu bleiben - nicht endgültig zuläßt. "Eine Nähe erweist sich als Ferne; eine Intimität behält sich die Fremdheit vor und ruft damit mehrdeutige Gefühle wach; darin bestand der Zweifel, den Karl Kraus so oft erwähnt, wenn er von seiner Arbeit an der Sprache spricht." (Le Rider, S.373). Anzufügen ist die Hypothese, daß Kraus es ebenfalls seinem Vater und damit über seinen Vater seinem eigenen Judensein angelastet hat, daß er sich 'den Kopf an der Sprachwand blutig rennen' mußte. In seiner Kindheit war er in einem Gemisch aus Tschechisch, Jiddisch und Deutsch aufgewachsen, das es ihm lange sehr schwer machte, eine eigene Sprachidentität zu finden. Die Wut auf das jüdische Mauscheln findet sich oft in der Fackel wieder, wenn Bankiers und Pressechefs mit diesem Dialekt dargestellt werden.

Der Jude Harden

Harden war ebenfalls Jude und war durch seine Auseinandersetzung mit seinem Vater ebenfalls zu dem Muster des Selbsthasses zum Zweck der Selbstbehauptung gekommen. Mit siebzehn Jahren löst er sich von der jüdischen Kirche und wird evangelischer Christ. Einen Beruf sucht er sich ebenfalls außerhalb des kaufmännischen Bereiches, kehrt aber mit der Zukunft zum eigenen Unternehmertum zurück. Innerhalb dieser agitiert er ausgiebig gegen alles Jüdische und scheint durch seinen Namenswechsel, durch seine neue Identität, sich selber zwar unbewußt noch bekämpfen, sich jedoch längst uneingeschränkt assimiliert zu fühlen. Der Selbsthaß, der bei ihm zur Selbstleugnung ausgebaut ist, erlaubt es ihm auch wieder, Geld als Auszeichnung zu verstehen, deutsch-patriotisch zu denken und sich als Teil der geistigen Elite des Landes zu verstehen, mit allen Kontakten, die dies nach sich zieht. Insofern sind Kraus und Harden gänzlich andere Wege gegangen, da der Eine den Stachel sein Leben lang gespürt und dem Gefühl nachgegeben hat und der Andere alles daran setzte, ihn nicht zu beachten.

Bei der Betrachtung von Kraus und Harden wird durch diesen kleinen Exkurs deutlicher, warum es die zwei verschiedenen Verhältnisse während ihrer Bekanntschaft gegeben hat. Die erste Phase der Freundschaft war auf der "Zuflucht zu autoritären Führungspersönlichkeiten" (Hellige, S.66) von Seiten Kraus' fundiert, die zweite Phase des Hasses war Teil des Kampfes gegen alles Jüdische im Umfeld des Wieners, wozu auch Harden zählte, der Vater-ähnlichen Status erreicht hatte. Der Haß weitet sich später sogar auf die jüdische Sprache, die Kraus in der Person des von Harden verehrten Heine bekämpfte.

Trennungsphase

Während Harden in Berlin Anerkennung und in das Presse- und Politiksystem Zugang fand, blieb Kraus der ignorierte Einzelkämpfer. Er beobachtete publizistisch den Fall Hervay, lernte Annie Kalmar kennen und mußte ihren Tod und die darüber hinausgehende Berichterstattung miterleben. Seit 1902 hatte er sich auf das Gebiet der "Sittlichkeit und Kriminalität" gewagt, hatte Prostituierte gegen die verlogene Sittenhaft und Homosexuelle in ihrer aussichtslose Verteidigungslage vor Gericht unterstützt, während Harden den Kaiser kritisierte, die Reichskanzler an Bismarck maß, Kritiken veröffentlichte, sich fortbildete und die Kritik an der Korruption der Presse immer weiter zugunsten einer reformerischen Kooperation zurückstellte. Auf zwei großen Arbeitsbereichen wurden im Laufe der Zeit große Diskrepanzen zwischen beiden Herausgebern deutlich.

In der zweiten Ausgabe der Fackel deutete sich bereits der Zwist um das Verhalten zur Korruption an. "Harden, der an das Zeitungswesen den Maßstab einer relativen Ethik anlege, wolle die Presse verbessern. Er, Karl Kraus, wolle sie verschlechtern, wolle es ihr erschweren, ihre schädlichen Absichten hinter geistigen Prätentionen wirken zu lassen; er hält die stilistisch bessere Presse für die gefährlichere." (Weller Publ, S.46) Harden war schlicht "durchaus kompromißbereit" (Pfabigan, S.47), ganz im Gegensatz zu Kraus, der in der Presse den großen Gegner fand. Die Ahnung, daß er sogar von seinem Freund bei der Korruptionskritik nicht in deren totaler Verurteilung unterstützt würde, machte den, der um Verständnis ob der ökonomischen Zusammenhänge bat, zum zweifelhaften Mitstreiter und bestärkte Kraus in der Ansicht, bei dem Kampf keinerlei Unterstützung zu erwarten zu haben. Harden steht damit schon halb auf der anderen Seite, auf der derer die mit dem gekauften Geist paktieren.

Annie Kalmar gab den Anlaß zum ganz großen Krach in der Sittlichkeits-Thematik, da Kraus die ihm so wertvolle Frau bis in den Tod pflegte und in der Zukunft, wie in vielen anderen Zeitungen, ihre schauspielerischen Leistungen geschmälert wurden, mit dem Argument, daß sie sich durch die Prostitution beschmutzt habe. "Harden war auch hier Gesellschaftskritiker. Nicht so Kraus, der in der Angeklagten zuallererst die Frau sah, er verurteilte die gutbürgerliche Moral- und Sexualheuchelei und verteidigte die Frau gegen die wütenden Bestien der Presse." (Weller Publ, S.47)

Damit ist ein zweites Feuer entzündet, das von einer zweiten Seite das freundschaftliche Verhältnis der beiden Männer unterhöhlt. Das Fundament, auf dem die gegenseitige Toleranz noch steht, wird immer schmaler. Der Korruptionskritiker Harden ist zu Beginn der Eulenburg-Affaire für Kraus schon nur noch eine Jugenderinnerung. Statt dessen erscheint ein sprachlich aufgesetzter moralischer Heuchler, der die homosexuellen Anlagen eines Politikers für seine Interessen als Druckmittel einsetzt. "Wie sich der Kampf gegen den korupten Journalismus in einen Kampf gegen die Korruption des Geistes verwandelte, kann man am deutlichsten in der Polemik gegen Maximillian Harden sehen." (Schick, S.55)

Umwertung der Sittlichkeit

Die 'Erledigung' ist der endgültige Bruch. Es wird deutlich, wie sehr Kraus und Harden doch verbunden waren, denn

"Karl Kraus ist ausführlich und eindringlich bemüht, seine ambivalente Stellung zu Harden ins Bild hineinzunehmen und ihre Entwicklung zu begründen. Es ist, als hätte er nun wieder einmal nachzuholen, was seine private Situation ihm erspart hat: den Aufstand gegen den Vater. Karl Kraus muß nachweisen, daß, ungeachtet aller scheinbaren Parallelen und Ähnlichkeiten, er kein Harden und Harden kein Karl Kraus ist. Er grenzt sich von dem einstigen Idol ab und erhebt sich über Harden mit (gelinde gesagt) selbstbewußter Hybris" (Weigel, S.52)

Harden ist zu der Zeit ganz in der Verteidigung verstrickt. Angeklagt, hohe Politiker der Homosexualität verdächtigt zu haben, ihnen sogar noch strafbaren Sex mit Untergeordneten unterstellt zu haben, steht er mit einem Fuß im Gefängnis und betreut die Zukunft - wenn er durfte - aus der Ferne. Die Artikel mit den fraglichen Andeutungen liegen schon ein halbes Jahr zurück, er ist einmal freigesprochen worden, doch noch lange nicht den Prozessen entronnen. Andeutungen wollte er machen, um Moltke und Eulenburg, beide gehörten zu den Personen aus dem Dunstkreis des Kaisers, ohne öffentliches Aufsehen zum Gehen zu zwingen. Denn Homosexualität ist für ihn etwas nicht Normales, bringt Spiritismus und Geisterseherei einher und im Staatsdienst untauglich. Diese Ansicht verneint Kraus kategorisch und stellt fest, daß das eine mit dem anderen nichts gemein hat. Genauso wenig der Beruf der Prostitution nichts über die Schuldigkeit einer Frau aussagt, gibt die Homosexualität Auskunft über die Ehrenwertigkeit eines Mannes. Anstatt zu argumentieren, daß er durch seine Anlage erpressbar sei, schlägt Kraus die Entlastung dieser Menschen vor, dadurch daß sexuelle Dinge grundsätzlich nicht mehr vor Gerichten verhandelt werden können.

Als Harden Eulenburg dadurch versucht zu belasten, daß er sein Privatleben an die Öffentlichkeit holt, liegt für Kraus der Fall klar auf der Hand. Die politischen Aspekte, die Harden im Kopf hatte, existierten für ihn nicht, die beiden Bereiche durften einfach nichts miteinander zu tun haben, "Kraus [...] sah in Eulenburg nur das durch einen geschäftstüchtigen Journalisten in seinem sexuellen Selbstbestimmungsrecht angegriffene Individuum..." (Pfabigan, S.126)

"Fürst Eulenburg, eine äußerst farbige Erscheinung, Dichter und Diplomat, war das Haupt einer bis in den innersten Kreis um Wilhelm II reichenden einflußreichen Clique." (Pfabigan, S.125). Soweit unumstritten, die politische Bewertung des Mannes haben die Streitenden nie diskutiert, aber die Auffassung über den Komplex Privatleben - Moral - Presse ging weiter nicht auseinander. Dies allein war noch nicht der Grund, warum Harden derart zum Haßobjekt werden konnte. Dies begründet sich dadurch, daß nicht er nicht nur bei Sittlichkeit und Kriminalität schuldig gesprochen wurde ("Mit der Erwähnung des 'grotesken Romans' hatte Harden seinen ehemaligen Freund zu seinem haßerfülltesten Gegner gemacht." (Weller Publ, S.49)), sondern auch der Korruption überführt wurde.

Korruptionist Harden

Die Auflage der Zukunft schnellte damals in die Höhe, als die Meldung laut wurde, daß Harden Intimitäten aus Kaiserkreisen nach außen getragen hatte und dafür sogar noch vor Gericht gestellt werden sollte. Harden bereicherte sich also indirekt daran, daß er in fremder Leute Leben schnüffelte. Er wurde dadurch selber kompromittierbar, wurde zu einer Person, der Ideale, hohe moralische Anforderungen und Korruptionskritik nicht mehr abgenommen werden konnten, er wurde fragwürdig, weil er das Geld mit der Presse und der Un-Sittlichkeit verknüpfte. Demgegenüber "... versuchte Kraus ein vorbildliches Leben zu führen, eine Art 'öffentliches Leben', untadelig, absolut konsequent und asketisch, ein Leben, das nur seiner Arbeit dienen und mit ihr im Einklang stehen sollte." (Zohn, S.15) Harden blieb auf dem Posten zurück, ständig gute Absichten beteuern zu müssen. "Unter allen Umständen wollte er es vermeiden, daß die politischen Motive seines Handelns unterschätzt würden und er statt dessen als Sensationshascher gebrandmarkt würde." (Weller, S.186). Kraus hat die Motive nicht unterschätzt, er hat sie absichtsvoll abgelehnt."Er wollte ein Hüter der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Authetizität in einer verlogenen Zeit sein" (Zohn, S.15) und dazu paßte Kooperation oder Rücksicht mit diesem Harden in keinem Fall. Der argumentierte auf der beschränkten Basis des Inhaltes, dessen, was genau gesagt sei, wohingegen Kraus die Folgen im Blick hatte. Wenn Kraus durch seine personalistische Sichtweise oft die gesellschaftlichen Mechanismen nicht zur Sprache brachte, wie dies Pfabigan so häufig moniert - an dieser Stelle ist er derjenige, der die eigentlichen Auswirkungen von Einzeltaten benennt und darüber deren Relevanz für das Gemeinwesen sichtbar macht.

Spracherkenntnisse

"... er zeigte die Zeit, wie sie sich hinter den Phrasen verbarg(,) und übergab sie dem Weltgericht. Sein Weg war der indirekte, der satirische Nachweis der Inkongruenz von Sprache und Sache." (Schick, S.139)

Kraus kommt zu der Erkenntnis, daß die Sprache einen Menschen verraten kann. Er sieht an den Artikeln, die Harden gegen die Kamarilla verfaßt hat, daß der Ausdruck mit dem in seinen Augen verlogenen Inhalt konform geht, daß Unwahrhaftigkeit schon an dem Zusammenspiel von Sprache und Inhalt erkennbar wird. "Die Hardensche Phrase, erkennt Kraus, kann entweder übersetzt werden und ergibt dann Trivialitäten, oder sie bleibt als bloße Aktualisierung des Geschwätzes schlechthin unübersetzbar Die Harden-Aufsätze erbringen ... die ersten Aphorismen zu jenem Thema, in denen der Gedanke aus der Darstellung hervorgeht." (Arntzen, S.40) Das nutzt er aus, um zum ersten Mal ohne argumentatives Arbeiten, nur durch leicht polemisches Vorstellen von sprachlichen Verrenkungen, eine Person anzugreifen. Und er diskreditiert sie.

Den Beweis, daß Sprache einen Menschen entlarvt, führt Kraus an Harden durch, in den 'Übersetzungen'. Die Arbeit gegen schamlose Beweismittelsuche wäre nichts eklatant ungewöhnliches gewesen, geschadet hat Harden vielmehr die Polemik gegen seinen Stil. Die Lästereien über seine Sätze aus langen, aufgesetzt klingenden Versatzstücken aus unterschiedlicher Literatur konnte er nicht zurückweisen. Diese offensichtlichen Zeichen des Gebildetseins hatten ihm große Achtung in Deutschland eingebracht (obwohl diese Teile der Texte für den eigentlich zu behandelnden Gegenstand unerheblich waren). Kraus hatte sein bestes Werkzeug entlarvt und ein für alle Mal lächerlich gemacht. Mit den "Übersetzungen aus Harden" hatte Kraus einen besonders tiefen Schlag gegen Harden gelandet. Seine Gegenüberstellungen zielten darauf, die aufgesetzte Sprache zu entlarven, die Fragezeichen auf der Erklärungsseite ließen die literarischen und belesen-geschichtlichen Anspielungen wie Blasen in der Luft hängen, die Metaphern als gezerrte Wortbildungen zerplatzen. Der Schlag saß und es läßt sich Hardens "...Betroffenheit erklären: er mußte sehen, wie ihn Kraus auf dem Gebiet, auf dem er sich für die Autorität hielt, schlug." (Weller Publ, S.50)

Im Leben von Karl Kraus ist die Auseinandersetzung mit Harden und dessen Sprache nicht nur eine psychologisch notwendige Arbeit. Sie führt vielmehr dazu, daß der Sprachkritiker Kraus erst entstehen konnte, denn erst hier werden ihm die Zusammenhänge deutlich, die die Basis seines sprachtheoretischen Ansatz werden sollten.

"Die schwulstige Sprache Hardens [...] wird Kraus zum Anlaß einer wichtigen sprachkritischen, sprachethischen Etappe: in den ornamentalen Exzessen der Hardenschen Journalistik entdeckt er das Indiz für die Verlogenheit des Inhalts. Stil ist zum 'Maßstab ethischer Werte' für Kraus geworden" (Wagner, S.100)

Andere Autoren pointieren die Wichtigkeit des Streits um die Eulenburg-Affaire für Kraus' Werk etwas anders. Pfabigan hebt hervor, daß Kraus damit erkennt, wie unerbittlich er fremde Sprache benutzen kann, er läßt die Satire erst mit Harden für Kraus zielgenau einsetzbar werden. "Daneben begriff er [Kraus] zum erstenmal, welche Waffe dem Satiriker durch die Sprache des Gegners gegeben ist." (Pfabigan, S.127). Fischer reiht die 'Erledigung' und den 'Nachruf' in die Reihe der großen Polemiken des Wieners ein. "Innerhalb der Krausschen Polemik ist der Kampf gegen Harden ein erster Höhepunkt." (Fischer, S.24). Krolop meint, daß die Form der Glosse aus dem Harden-Streit, den 'Übersetzungen aus Harden', hervorging (Krolop, S.29). Außerhalb der stilistischen Ebene stellt er fest, daß der Harden-Streit prägend für das weitere Werk war. "In den Jahren der Auseinandersetzung mit Harden [...] und vor allem an dieser selbst gingen Karl Kraus neue Erkenntnisse künstlerischen Selbstverständnisses auf, befestigten sich seine Ansichte über Sprache und Satire zu dauernden Gedanken, die für sein weiteres Schaffen konstitutiv geblieben sind." (Krolop, S.26). Schick wiederum erweitert die These der gewonnene Erkenntnis von der Einheit von Sprache und Person zu einem Unterscheidungsmerkmal zweier Schriftstellertypen. "Am Beispiel Hardens wird der Unterschied zwischen Schriftsteller und Journalisten demonstriert: 'In der literarischen Persönlichkeit lebt der Gedanke von der Form und die Form vom Gedanken. In Herrn Harden vegetieren sie nebeneinander.' Wo keine Gedanken sind, soll das Ornament die Leere verdecken." (Schick, S.55)

Harden bleibt ein geachteter Journalist und wird als Patriot offiziell rehabilitiert. Einigen bleibt er in Erinnerung als "Maximilian Harden, einmal in Europa der meistgenannte Deutsche neben seinem Erzfeind, Kaiser Wilhelm II., der Publizist der Kaiserzeit, der vielleicht bedeutendste politische Schriftsteller der letzen einhundert Jahre..." (Weller, S.11). Als einer, der mit sprachlicher Variabilität und hoher Bildung glänzte, der mit besten Vorsätzen unglücklich in einen Prozeßsumpf geriet, obwohl er nur den Kaiser schützen wollte. In jedem Fall ist er Politiker und nicht Literat geworden - vielleicht erklärt das, warum er nur noch in der Fußnote der Literatur zu Kraus auftaucht. Weller bekommt zu Hardens Ehrenrettung die letzte Chance, und diesen Punkt sollte man ihm einfach glauben.

"Vor allem fehlte eins, was man Harden unzählige Male nachgesagt hat: er besaß keine Zettelkästen, aus denen er sein immenses Wissen hätte holen können; er brauchte sie nicht, denn sein polyglottes Talent hatte eine fast unglaubliche Registrierfähigkeit entwickelt, auf die er sich besser verlassen konnte als auf Karteien und Zettelkästen." (Weller, S.59)

PRIMÄRLITERATUR

FACKEL

Herausgeber Karl Kraus, Gesamtausgabe erschienen im Verlag Zweitausendeins, nach KöselVerlag, München 1986-1976, Band 1 und Band 5

KARL KRAUS

Schriften, Herausgegeben von Christian Wagenknecht, Frankfurt 1986, Band 1,2,3,7,8,11 ZUKUNFT

Herausgeber Maximilian Harden, Originaltexte aus den Jahren 1901 und 1906 bis 1908, Staatsbibliothek Berlin

SEKUNDÄRLITERATUR

ZU KARL KRAUS

Helmut Arntzen

Karl Kraus und die Presse, München 1975; in der Reihe Literatur und Presse. Karl-Kraus- Studien Band1. Herausgeber: Helmut Arntzen

JENS MALTE FISCHER

Karl Kraus, Stuttgart 1974. Reihe Realien zur Literatur, Sammlung Metzler

KURT KROLOP

Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus, 2.Auflage, Berlin Akademie-Verlag 1992

PAUL SCHICK

Karl Kraus mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg, Dezember 1965. In der Reihe rowohlts monographien herausgegeben von Klaus Schröter.

HARRY ZOHN

Karl Kraus, aus dem amerikanischen von Ilse Goesmann, Frankfurt am Main, 1990

ALFRED PFABIGAN

Karl Kraus und der Sozialismus, Eine politische Biographie, Wien 1976

NIKE WAGNER

Geist und Geschlecht, Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt am Main 1982

WERNER KRAFT

Das Ja des Neinsagers - Karl Kraus und seine geistige Welt, München 1974

JAQUES LE RIDER

Das Ende der Illusion - Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990

JOSEPH P.STRELKA

Karl Kraus - Diener der Sprache, Meister des Ethos, Tübingen 1990 Spiegel, 1.4.1974, S.135-138

ZU MAXIMILIAN HARDEN

BERND UWE WELLER

Maximilian Harden und die "Zukunft", Bremen 1970

BERND UWE WELLER

Karl Kraus und Maximilian Harden, Publizistik 1968

HELMUT ROGGE

Aus Maximilian Hardens Politischer Publizistik 1912.1922, Publizistik 1961

HANS DIETER HELLIGE

Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches. Eine sozialgeschichtlich-biographische Studie zur Entstehung neokonservativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen, Vorwort der Walther Rathenau-Gesamtausgabe Band VI, München 1983

HELMUTH ROGGE

Holstein und Harden, Politisch-publizistisches Zusammenspiel zweier Außenseiter des Wilhelminischen Reiches, München1959

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Karl Kraus und Maximilian Harden
Veranstaltung
Seminar Sprachkritik im Bereich Sprache und Gesellschaft
Autor
Jahr
1995
Seiten
53
Katalognummer
V95593
ISBN (eBook)
9783638082716
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karl, Kraus, Maximilian, Harden, Seminar, Sprachkritik, Bereich, Sprache, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Philipp Müller (Autor:in), 1995, Karl Kraus und Maximilian Harden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95593

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