Die Kirche und die Macht der Reaktionäre


Seminararbeit, 1999

9 Seiten


Leseprobe


Bis zur Französischen Revolution war die Französische Kirche vom Papst auch in kirchlichen Angelegenheiten unabhängig (Gallikanismus). Im System der Monarchie und im Leben des ganzen Volkes nahm der zahlreiche und geachtete Klerus eine maßgebliche Stellung ein. Dem hohen Klerus mit reichen Einkünften aus seinen Bistümern und Abteien stand der niedere Klerus gegenüber, dem nur Armut und die Verkündung des Glaubens zustand. Er gewährleistete Seelsorge und Gottesdienst und betätigte sich geschickt und wirksam im Unterrichtswesen und in karitativen Einrichtungen zur Erleichterung des menschlichen Leidens. Dafür steht im Roman die Figur des alten Abbé Chélan. Er ist mit Leib und Seele Priester, die Kirche ist sein Leben: "Il y a cinquante-six ans que je suis ici; j'ai baptisépresque tous les habitants de la ville, qui n'était qu'un bourg quand j'y arrivai. Je marie tous les jours des jeunes gens, dont jadis j'ai mariéles grand-pères. Verrières est ma famille."1

In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts fand in Europa eine weitverbreitete religiöse Erneuerung statt, die starken Einfluß auf die Französische Kirche hatte. Diese verfügte über ein eifriges Episkopat sowie eine niedere Geistlichkeit, die zahlenmäßig allmählich zunahm. Man versuchte, zu den Beziehungen von Staat und Kirche des Ancien Régime zurückzukehren, doch die Bedingungen waren für das Papsttum zu günstig. 1814 wird die Religionsfreiheit zwar anerkannt, aber die katholische Religion wird doch wieder zur Staatsreligion erhoben.

Seit dem Ende der napoleonischen Ära hat sich in der Entwicklung der katholischen Kirche ein kontinuierlicher Aufstieg vollzogen. Der Geist der Aufklärung sollte durch die Erziehungskraft der römischen Kirche erstickt werden. Deshalb stand die Restaurationszeit zunächst ganz im Zeichen des strengen Gallikanismus. Auch der Jesuitenorden war wieder ins Leben gerufen worden. In „ Le rouge et le noir” werden die Konflikte, die sich daraus ergaben, sehr deutlich.

Der Klerus

Die französischen Bischöfe waren oft aristokratischer Abstammung ("l'évêque d'Agde") und gaben sich autoritiv, auch in ihrer Gewalt über die niedere Geistlichkeit, die von einer Gemeinde zur anderen versetzt oder des Amtes enthoben werden konnte, wie es den Bischöfen gefiel. Ihr Wort war Gesetz: "Vous me devez la sainte obéissance en vertu du paragraphe dix-sept de la bulle Unam Ecclesiam de saint Pie V. Je suis votre supérieur ecclésiastique. Dans cette maison, entendre, mon très fils, c'est obéir."2 Deshalb war es ganz normal, daß die Geistlichkeit nach Rom schaute oder sich gar dorthin wandte, da es sonst niemanden gab, an den sie sich hätte wenden können: "L'Église tremblante s'attache au pape commeàla seule chance de salut."3.

Ein gewichtiger Teil der gebildeten Schichten Frankreichs hatte nicht die Absicht, es dahin zu bringen, daß ein Priester herrschen oder daß ihre eigenen Söhne von ihnen erzogen werden sollten, obwohl sie glaubten, daß die Religion gut für die Massen sein könnten. Sie wandten sich gegen ein System, in dem der Einfluß der katholischen Kirche in zunehmenden Maße zu dominieren schien. Die Gesellschaft war streng hierarchisch organisiert, von der Familie über die Kooperation bis hin zum theokratisch begründeten und damit allmächtigen Staat, der ein enges Bündnis mit der Katholischen Kirche und dem Papsttum als höchster moralischer Instanz eingeht. Insbesondere der Schriftsteller de Maitre hatte alle Neigungen zum Gallikanismus scharf bekämpft. Er versuchte in seinem Buch Du Pape den Katholizismus und päpstlichen Primat auch als Grundlage der Staaten zu begründen. Auch Julien Sorel, der Held der Geschichte, hat dieses Buch gelesen, doch es schien ihm wenig glaubwürdig: "[...], il avait appris par coeur tout le Noveau Testament en latin, il savait aussi le livre Du Pape de M. de Maistre et croyaitàl'un aussi peu qu'àl'autre."4.

Jansenismus

Obwohl die katholische Kirche wieder an Einfluß gewann, fanden auch andere Glaubensrichtungen und -bewegungen immer mehr Anhänger. So zum Beispiel die von dem niederländischen Theologen Cornelius Jansen (1585-1638) ausgehende Reformbewegung innerhalb des französischen Katholizismus. Diese Jansenisten fanden mit ihrer Betonung strenger Moralgrundsätze ("Le principe invariable du sévère

janséniste Pirardétait: Un homme a-t-il du mériteàvos yeux? mettez obstacleàtout ce qu'il désire,àtout ce qu'il entreprend. Si le mérit ist réel, il saura bien renverser ou tourner les obstacles."5 ) und religiös-asketischer Verinnerlichung vor allem in Frankreich viele Anhänger. Diese katholisch-theologische Richtung hatte einen großen Einfluß auf die Gesellschaft und auch auf die Literatur. Es kam unter einigen Anhängern des Jansenismus zu berühmt gewordenen paranormalen Phänomenen und Heilungen. Sie sollen Weissagungen gemacht haben, über unerklärliche Kräfte verfügt und geheilt haben: "Huit ou dix séminaristes vivaient en odeur de saintété, et avaient des visions comme sainte Thérèse et saint Fran ç ois lorsqu'il re ç ut les stigmates sur le mont Verna, dans l'Appenin. Mais c'était un grand secret, leurs amis le cachaient. Ces pauvres jeunes gensàvisionsétaient presque toujoursàl'infirmerie."6.

Der katholische Klerus und der Jesuitenorden waren den Jansenisten aufgrund ihrer ansonsten relativ liberalen Einstellung eher feindlich gesinnt ("L'abbéCastanède est l'ennemi de M. Pirard qu'on soup ç onne de jansénisme, [...]"7 ), sie erhielten aber Unterstützung von den Liberalen.

Kuriale Politik

Mit der wachsenden Einflußnahme der Jesuiten auf die Regierung trat auch die "ultramontane" Reaktion wieder auf, die ihre Anhänger zum Teil unter der Flagge des "Liberalismus" vereinte. Die kuriale Politik war auf die Bekämpfung von Liberalismus und Toleranz gerichtet: "[...], toutàcoup le examinateur changea de visage et lui reprocha avec aigreur le temps qu'il avait perduàcesétudes profanes, et les idées inutiles ou criminelles qu'il s'était mises dans la tête."8 Man glaubte, das Verbieten von bestimmten Büchern würde revolutionäre und liberale Gedanken im Volk verhindern: "Depuis Voltaire, depuis le gouvernement des deux chambres, qui n'est au fond que méfiance et examen personnel, et donneàl'esprit des peuples cette mauvaise habitude de se méfier, l'Eglise de France semble avoir compris que les livres sont ses vrais ennemis."9

Die staatliche Restaurations- und Reaktionspolitik schuf hierfür die besten Voraussetzungen.

Unter der Restauration schien die Gefahr gegeben, daß der Staat zum Instrument der Kirche gemacht werden könnte. Das Regime begünstigte die sich wieder stärker politisierende katholische Kirche. Das Priesterseminar in Besançon ist der Ort, an dem der unter Karl X. gedeihende Katholizismus in konzentrierter Form zu beobachten ist. Die Oberen intrigieren gegeneinander, Jesuiten bekämpfen Jansenisten und umgekehrt, die Stärkeren unterdrücken die Schwächeren und jeder sucht dabei seinen eigenen Vorteil: "[...], l'espionnage et la dénonciation entre camarades y sont encouragés. Le ciel le veut ainsi, pour montrer la vie telle qu'elle est, aux jeunes prêtres, et leur inspirer le dégoût du monde et de ses pompes."10

Hier wird Julien mit einer komplizierten Entwicklung der Machtverhältnisse innerhalb des Klerus konfrontiert: sein Gönner, Abbé Pirard, ist Jansenist und intrigiert gegen die Jesuiten. Doch für Julien ist das Seminar nur eine Etappe seines Lebensweges. Sein Interesse an der Kirche ist soziologisch, nicht theologisch motiviert. Sein Traum, eine Karriere beim Militär anzustreben, war nach dem Sturz Napoleons, den Julien sehr verehrt, nicht mehr möglich. Als er dann bemerkt, daß die Kirche das größte Ansehen genießt, beschließt er, dort seinen Weg zu gehen. Ebenso verhielt es sich wahrscheinlich mit den meisten Seminaristen. Viele junge Männer, meist Söhne von Bauern, traten lieber dem Klerus bei, als das ärmliche Leben eines Bauern zu führen: "Presque t ousétaient des fils de paysans, et ils aimaient mieux gagner leur pain en récitant quelques mots latins qu'en piochant la terre."11, "Après avoirétécomme suffoque ... bien d î ner et avoir un habit chaud en hiver."12

Die Ultraroyalisten

Die Ultraroyalisten schmiedeten geheime Pläne und Intrigen, um die Macht der Monarchie und der Kirche zu stärken. Julien wird durch seine Arbeit für M. de La Mole in diese Vorhaben hineingezogen (siehe das ganze Kapitel "La note sécrète" und "la discussion"13 ).

Die ultraroyalistische Parteiung bestand hauptsächlich aus den adligen Grundbesitzern. Ihre Idee war, daß ein entscheidender Durchbruch nur über die Eroberung der Staatsmacht sowie durch einen verstärkten Einfluß der katholischen Kirche auf die Gesellschaft gelingen konnte: "Dans cinquante ans il n'y aura plus en Europe des présidents de république, et pas un roi. Et avec ces trois lettres, R, O, I, s'en vont les prêtres et les gentilhommes."14 ; "Impossibilitéde former un parti arméen France sans le clerg é"15 ; "Cinquante mille prêtres répètent les mêmes paroles au jour indiquépar les chefs, et le peuple, qui, après tout, fournit les soldat, sera plus touchéde la voix de ses prêtres que de tous les petits vers du monde..."16

Ihr Ziel war es, den Liberalismus, vor allem die freie Meinungsäußerung, zu verhindern: "Sachons qui il fautécraser. D'un c ô téles journalistes, lesélecteurs, l'opinion, en un mot: la jeunesse et tout ce qui l'admire."17

Karl X. glaubte, mit dem Emigrantenadel (z. B. "le comte Altamira") und dem Klerus gegen den Geist der Revolution regieren zu können.

Die Liberalen

Desweiteren stand der Adel in Reaktion gegen den neuen, reich gewordenen, zum Liberalismus tendierenden Bürgerstand. Zu diesen gehört im Roman Fouquet, der Freund Julien Sorels. Dieser versucht auch, ihn zu überreden Teilhaber an seinem Geschäft und nicht Priester zu werden: "Il trouva Fouqué... finit par le croire un peu fou."18 Zu diesen Besitzenden gehörten aber auch alle diejenigen, die heftigen Argwohn hegten wegen der in der neuen Regierung wirksamen klerikalen Einflüsse. Auch die meisten Journalisten vertraten in ihren Schriften den Liberalismus und die Jugend war diesem Thema ebenso äußerst zugetan und bereit dafür zu kämpfen: "Toute cette jeunesse qui fait des articles incendiares dans le Globe vous donnerons trois ou quatre mille jeunes capitains, parmi lesquels peut se trouver un Kléber, un Hoche, un Jourdan, un Pichegru, mais moins bien intentionn é."19. Die Mehrheit der jungen Leute war für eine Revolution: "Deux cent mille jeunes gens appartenantàla petite bourgeoisie sont amoureux de la guerre[...]."20.

Die Liberalen dehnten ihren Einfluß im Land unaufhörlich aus. Sie fürchteten zu Recht eine Erneuerung des alten Bundes zwischen Reaktionärem Adel, Kirche und Königtum und äußerten zunehmend Widerspruch und organisieren sich angesichts der schärfer werdenden Repressionsmaßnahmen, wie die Pressegesetze, kirchliche Schulaufsicht, Rückkehr der Jesuiten, Wahlrechtsänderungen zur Stärkung der ultraroyalistischen Spitze. Sicherlich nährte sich der Liberalismus weiterhin aus alten Haßreaktionen gegenüber Klerus und Aristokratie.

Sämtliche Maßnahmen zugunsten von Kirche und Religion wurde dem Einfluß der Jesuiten zugeschrieben. So wurde zwar das eigentliche Ausmaß der klerikalen Reaktion übertrieben, aber die Stärke antiklerikaler Regungen in Frankreich unterschätzt. Die Liberalen nutzten die Furcht vor dem Klerikalismus zur Erreichung politischer Ziele, die in einem Land, das für Politik kein besonderes Interesse hatte, mit direkteren Methoden nicht hätten erreicht werden können, so ist das an sich schon ein Beweis für die Stärke des antiklerikalen Gefühls.

Das Versagen der Restauration lag nicht in erster Linie im Bereich der Staatsführung, auf dem sie sich als schwach erwies, sondern in dem der Religion.

Darf man einerseits Tiefe und Ernsthaftigkeit der religiösen Erneuerung in Frankreich nicht unterschätzen, so sollte man auch ihre Grenzen nicht außer acht lassen. Rationalismus und Antiklerikalismus waren in Frankreich zu tief verwurzelt, um leicht ausgerottet zu werden.

In "Le rouge et le noir" gestaltet Stendhal dieses dunkle Frankreich, zu dem es die

Bourbonen, die Ultras und die Jesuiten gemacht haben.

Bücherverzeichnis

STENDHAL, Le rouge et le noir, Pocket, 1998

THORAVAL, Jean, Les grandesétappes de la civilisation fran ç aises, Bordas

SOBOUL, La franceàla veille de la révolution, Economie et Société (2nd édition)

PASCHKE, U.K. Holle Universalgeschichte, Karl Müller Verlag Erlangen

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Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Die Kirche und die Macht der Reaktionäre
Veranstaltung
Literaturkurs Französisch "Stendhal - Le rouge et le noir"
Autor
Jahr
1999
Seiten
9
Katalognummer
V95551
ISBN (eBook)
9783638082297
Dateigröße
343 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kirche, Macht, Reaktionäre, Literaturkurs, Französisch, Stendhal, Dozent, Gerhardi
Arbeit zitieren
Beate Kuhl (Autor:in), 1999, Die Kirche und die Macht der Reaktionäre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95551

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