Frauenfiguren in den Wahlverwandtschaften


Seminararbeit, 1997

9 Seiten, Note: 3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung: Konstellation der Frauenfiguren im Roman

1. Ottilie
1.1 Figurenkonzeption
1.2. Figurencharakterisierung
1.2.1 Äüßeres Erscheinungsbild
1.2.2. Charakter und Persönlichkeitsmerkmale

2. Charlotte
2.1. Figurenkonzeption
2.2. Figurencharakterisierung
2.2.1. Äußeres Erscheinungsbild
2.2.2. Charakter und Persönlichkeitsmerkmale

3. Luciane
3.1. Figurenkonzeption
3.2. Figurencharakterisierung
3.3.1 Äußeres Erscheinungsbild
3.3.2. Charakter und Persönlichkeitsmerkmale

4. Resümee

5. Bibliographie

O. Konstellation der Frauenfiguren im Roman

Neben den beiden Männerfiguren Eduard und dem Hauptmann bestimmen drei Frauenfiguren die Handlung des Romans: Charlotte, eine reife Frau und die beiden heranwachsenden Mädchen Ottilie, ihre Pflegetochter sowie Luciane, ihre leibliche Tochter. Von Bedeutung ist dabei quantitativ und qualitativ in erster Linie das Verhältnis Charlotte - Ottilie und vor allem um letztere besser zu verstehen, auch Ottilies Verhältnis zu Luciane, das durch eine extreme Kontrastrelation gekenn-zeichnet ist. Auch Charlotte und Ottilie stehen in Opposition, welche aber ein Verständnis der beiden Frauen füreinander nicht ausschließt (S. 13, S.45). Die Gestalt der Ottilie ist in der vorliegenden Figurenkonstellation die einzige, die über sich hinauswächst, was im folgenden erörtert wird. Durch eine genaue Definition und einen Vergleich der drei Frauenfiguren soll ein Versuch unternommen werden, den vieldeutigen Roman zu beleuchten.

1. Ottilie

1.1. Figurenkonzeption

Bei Ottilie handelt es sich um eine dynamisch konzipierte Figur, die sich im Laufe der Handlung abhängig von äußeren Bedingungen und Ereignissen, vor allem aber an bestimmten Wendepunkten kontinuierlich verändert. Der Teenager Ottilie befindet sich in einem Reifungsprozeß. So erscheint die Figur am Anfang noch relativ eindimensional und gewinnt dann immer mehr an Komplexität. Sie wird eingeführt durch den Bericht der Pensionsvorsteherin und das Gespräch zwischen Charlotte und Eduard als schönes, liebes Kind, jedoch ruhig, sehr zurückhaltend, „ohne besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten", ja sogar von vergleichsweise langsamer Auffassungs-gabe (S.12 ff, S. 25 f). Doch schon kurz nach ihrer Ankunft im Schloß, zeigen sich erste -wenn auch von außen bedingte- Veränderungen. So kleidet sich Ottilie auf Charlottes Anregung hin in modischeren Gewändern (S. 45), findet sich in ihrem neuen Umfeld schnell zurecht und wird bald „völlig Herrin des Haus-halts"(S.59) indem sie ihre Aufgaben pünktlich, korrekt und ruhig erledigt und sich durch besondere Sorge um das Wohlergehen der anderen auszeichnet (S.46). Ottilie kann also im Ganzen, die ihr innewohnenden positiven Neigungen in der neuen Umgebung viel besser entfalten. In der schwärmerischen Liebe zu Eduard zeigt sich jedoch noch ihre Unreife: Ottilie geht völlig in ihrem Gefühl auf, erschafft sich mithilfe von Reisebeschreibungen eine Traumwelt (S.117) und hütet das Köfferchen, daßEduard ihr geschenkt hat wie einen Schatz (S.117). Zudem ahmt sie den Geliebten in vielen Dingen nach: Beim Einstudieren eines Musikstücks am Klavier etwa orientiert sie sich an Eduards fehlerhaftem Flötenspiel, „macht seine Mängel zu ihren" (S.116 f), sie kopiert seine Schrift (S.88) und versucht sich in der Anleitung von jungen Mädchen in häuslichen Arbeiten, so wie Eduard die Idee zur Ausbildung der Bauersknaben für die Gartenarbeit hatte (S.114). Nach der Niederkunft Charlottes wird diese schrankenlose Leidenschaft jedoch zum ersten Mal gebrochen. Ottilie wird sich allmählich ihrer Situation bewußt. Das Gefühl der Ausweglosigkeit erwächst . So beneidet sie den alten Geistlichen, der bei der Taufe des Knaben stirbt: „Das Leben ihrer Seele war getötet, warum sollte der Körper noch erhalten wer-den?" (S. 190). Auf der einen Seite kann Ottilie ihre Gefühle für Eduard nicht unter- drücken, auf der anderen Seite wünscht sie, daßder Knabe im Kreise seiner glücklich verbundenen Eltern aufwachse. Sie erkennt, „daßihre Liebe völlig uneigennützig werden müßte" und glaubt, diesem Ideal entsprechen zu können (S.193). Doch Ottilie kann Eduard nicht entsagen. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf ein Zeichen seiner Rückkehr gerichtet: „Ottilie war klug, scharfsinnig, argwöhnisch geworden, ohne es zu wissen" (S. 113). Der entscheidende Wendepunkt für ihre Entwicklung ist dann der von ihr selbst verschuldete Tod des Knaben: „...ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren" (S.232) gesteht sie vom Schmerz erschüttert. Ottilie erfährt die Präferenz des Sittengesetzes vor dem Naturgesetz und erkennt die Unverletzbarkeit der Ehe1, was sie eindrucksvoll zum Ausdruck bringt indem sie die Hände der beiden Ehepartner „mit Eifer und Gewalt" (S.244) zusammenführt. Die logische Konsequenz ist für Ottilie ist die Überwindung des Naturgesetzes. Sie versucht dies, wie im Mittelalter üblich, durch Askese, was in der völligen Selbstaufgabe, in ihrem Tod endet, wobei diese als geplanter Suizid einerseits, aber auch als Folge einer sich steigernden Abneigung gegen alles Materielle interpretiert werden kann. Die Konsequenz ist dabei in jedem Fall die gleiche: Die Überwindung des Unvereinbaren, einer grenzenlose Leidenschaft und Buße durch Entsagung. Eine moralische Reifung, die das Sittengesetz als absolut anerkennt, steht also am Ende von Ottilies Entwicklung.

1.2. Figurencharakterisierung

1.2.1. Äußeres Erscheinungsbild

Ottilie steht in Kontrastrelation sowohl zu Charlotte als auch zu Luciane, was sich auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild manifestiert. Ihre aüßere Gestalt ist nur durch einen kleinen Satz von Merkmalen definiert. Sie ist eine Naturschönheit, die trotz Zurückhaltung im Auftreten, Bescheidenheit in der Kleidung und ohne äußeren Putz eine auffallende Wirkung auf ihre Umgbung, vor allem auf die Männer ausübt: „denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war sie doch, oder so schien sie wenigstens immer den Männern die schönste" (S.155). Diese Schönheit ist nicht näher präzisiert, doch werden wiederholt Ottilies ausdrucksvollen Augen hervorgehoben: „Besonders hat sie schöne Augen (S. 14), „ja es schien ihm unmöglich, von Ottiliens Augen zu scheiden" (S. 169). Die Augen werden seit jeher im Volksmund als „Schlüssel zur Seele" bezeichnet. Ottilies Schönheit strahlt also vor allem von innen, ist der Abglanz einer schönen Seele (vgl. dazu auch 2.2.2.). Auch kommt immer wieder ihre natürliche Anmut und Grazie zum Ausdruck. Sie hat eine Ausstrahlung, die man einer Heiligen zuschreibt. So inspiriert sie den Architekten zu seinen Engelsbildern (S.138) und ist die Inkarnation seiner Vorstellung von einer Madonna: „der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben" (S. 170). Bei der Darstellung des lebenden Bildes, in der ihr eben dieser Part zugedacht ist, heißt es „Ottilies Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je ein Maler dargestellt hatte" (S. 171). Auch das läßt auf eine schöne, reine Seele schließen, ein Charisma, das sich in ihrer ganzen Erscheinung zeigt. Dennoch wird diese Schönheit erst vollkommen als sich Ottilie in modischeren Kleidern präsentiert. Sie wird den Männern zum „wahren Augentrost" (S 45 f). Die angenehme Wirkung, die diese ganzheitliche Schönheit verbreitet, wird im Smaragd-Gleichnis (S. 46 ) deutlich. Der Smaragd gilt traditionell als welterlösender Glücksstein2 Deshalb kommt Theo Elm zu dem Entschluß, in Ottilie sei der Schlüssel der Weltergründung zu suchen. Goethe hätte offensichtlich „keiner anderen Gewalt als eben der menschlichen Schönheit etwas so Schwerwiegendes und schwer Erreichbares wie die Neugründung des menschlichen Daseins zugetraut" (Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur, S. 102). In diesem Zusammenhang sei auch der Symbolgehalt der Platane zu sehen, „der Schönheits- und Wonnebaum des Altertums". Die Platanen, die in Ottilies Geburtsjahr gepflanzt wurden, seien Symbol für die Kraft ihrer Schönheit, nicht wir vielfach angenommen ein exotischer Baum als Symbol einer Ursprungssehnsucht, denn diese Bäume seinen in unseren Breiten längst „eingebürgert. (Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur,.S.102 f) Diesen Schlußkann man ziehen, doch ist dabei wichtig, Schönheit nicht als körperliche Schönheit, sondern als Schönheit der Seele zu verstehen, die in einer schönen Hülle ihre Vollendung findet.

1.2.2. Charakter und Persönlichkeitsmerkmale

Ottilies Äußeres findet also seine Entsprechung in ihrem Charakter. Ihr seelenhaftes Wesen äußert sich u. a. auch in ihrer Mäßigkeit in allem Stofflichen. So neigt sie dazu sich äußerst bescheiden zu kleiden, mußzum Tragen etwas hübscherer Gewänder erst von Charlotte überredet werden (S. 45) und rührt die kostbaren Stoffe und den Schmuck, in dem Koffer, den sie zum Geburtstag bekommt bis zu ihrer Sterbestunde nicht an (S. 105, S.117). Auffallend ist auch ihre von Anfang an große Zurückhaltung in Speis und Trank (S. 25), die sich ja dann zur völligen Nahrungs-verweigerung zuspitzt und zur medizinischen Todesursache wird (S. 254). Ein Zeichen für Ottilies Feinheit ist auch ihre Sensibilität für das Pendel (S. 213) sowie eine psychosomatische Neigung: Bei Aufregung reagiert sie mit einer Errötung der rechten Wange und Kopfschmerzen auf der linken Seite (S. 41f), also auf der Seite des Herzens. Emotionale Regungen, die sie sprachlich nicht zu äußern vermag, dringen also durch den Körper nach außen. Ottilie ist sehr still und ruhig, nach innen gekehrt, ihr Komen und Gehen kaum zu hören (S. 44), doch trotz ihrer Zurück-haltung wird ihre Anwesenheit immer wahrgenommen. Auch wenn sie nicht viel redet, so hört sie doch stets aufmerksam zu (S.44). Sie kommuniziert durch ihre bloße Anwesenheit, erweckt zumindest den Eindruck, dies zu tun. In diesem Zusammenhang fällt die Bemerkung Eduards nach dem ersten Zusammentreffen auf: „es ist ein angenehmes unterhaltendes Mädchen" (S.44) und die Erwiderung Charlottes: „sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan." Gebärden liegen ihr näher als Sprache, so z.B. der Kniefall bei der Ankunft (S.44) oder das für sie typische Zusammendrücken der flachen in die Höhe gehobenen, gegen die Brust geführten Hände (S. 243). Zum Verständnis der innersten Gefühle und Gedanken der stillen Ottilie tragen daneben auch die Tagebuchaufzeichnungen bei. So weist sie beispielsweise selbst darauf hin, daßSprache nicht unbedingt der einzige Weg der Kommunikation ist:

Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daßer etwas dazu tut, ohne daßer etwas davon empfindet, daßer sich eben bloßzu uns wie ein Bild verhält. (S. 135)

Dies zeigt sich auch daran, daßdie Liebenden wie durch einen Magnet angezogen, immer sie räumliche Nähe zueinander suchen, ohne daßdies abgesprochen wäre, wobei ihnen diese bloße Zusammensein in einem Raum schon genügt (S. 248).

Doch in der Beziehung zu Eduard tritt auch die Unterschiedlichkeit der beiden Figuren hervor, in der bestimmte Charakterzüge Ottilies faßbar werden. So wird Ottilies Leidenschaft nicht gelebt. Vielmehr verschließt sie diese in sich. Dies deutet auch das Verschlossenhalten des von Eduards geschenkten Köfferchens - ein Sexualsymbol- an. Hier zeigt sich schon früh, daßOttilies Liebe nicht auf ein Erfüllen der sinnlichen Leidenschaft angelegt ist. Erst in der Vorahnung ihres Todes hebt Ottilie dieses ihr selbst gesetzte Verbot auf (S.250).

2. Charlotte

2.1. Figurenkonzeption

Charlotte ist statisch konzipiert. Sie ist eine reife Frau, ein abgeschlossener Charakter, der relativ eindeutig definiert ist, d.h. auf den Rezipienten im allgemeinen nicht widersprüchlich wirkt. Nur einen einzigen Moment lang „schreitet sie aus ihrer Bahn" und selbst in der Art wie sie damit umgeht, bleibt sie sich treu: „Der Kuß, den der Freud gewagt, dem sie ihn beinahe zurückgegeben, brachte Charlotte wieder zu sich selbst" (S. 90). Sie handelt wie immer nach überlegener Einsicht , reflektiert das Geschehene (S. 90f) und „wiederholt den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan" (S. 91).

2.2. Figurencharakterisierung

2.2.1. Äußeres Erscheinungsbild

Die Beschreibung Charlottes beschränkt sich in der Hauptsache auf ihren Charakter. Über ihr Äußeres erfährt man lediglich, daßihre Schönheit in ihrer Jugend als Hofdame allgemeine Bewunderung erregte (S. 81 f). Ein konkreter Hinweis bezieht sich nur auf ihre schönen Füße (S. 81). Ihr Auftreten ist äußerst dizipliniert. Charlotte zeigt ihre Gefühle nicht vor anderen. Selbst als sie vom Tod ihres Kinds erfährt, wirkt sie gefaßt und behält einen klaren Kopf indem sie überlegt, was zu tun sei und nunmehr in die Scheidung einwilligt (S. 228).

2.2.2. Charakter und Persönlichkeitsmerkmale

Die oben genannte extreme Disziplin im Umgang mit ihren Gefühlen läßt Charlotte auch zuweilen etwas kalt wirken. Besonders deutlich kommt dies im Verhältnis zu ihrer Tochter Luciane zum Ausdruck, das keine Spur von Emotion zeigt. So ist nicht ein einziges persönliches Gespräch zwischen Mutter und Tochter beschrieben. In Gesprächen über Luciane erfährt man vielmehr, daßCharlotte ihre Überheblichkeit Ottilie gegenüber mißfällt (S. 13). Erst bei Lucianes Besuch, wird sie sich des Wesens ihrer Tochter richtig bewußt: „Die große Unruhe, welche Charlotte durch diesen Besuch erwuchs, ward ihr dadurch vergütet, daßsie ihre Tochter völlig begreifen lernte ... Es war nicht zum erstenmal, daßihr ein so seltsamer Charakter begegnete". Aus diesen Sätzen läßt sich schließen, daßCharlotte dennoch keinen rechten Zugang zu ihrer leiblichen Tochter findet. Sie ist sich zwar im Klaren darüber, daßauch ein solcher Charakter eine positive Reifung erfahren kann indem durch die richtige Erziehung die Selbstsucht gemildert würde und daßMenschen wie Luciane sich in der Gesellschaft bestens behaupten würden, doch schon die Bezeichnung „seltsamer Charakter" macht deutlich, wie fremd Charlotte die Tochter ist. Auf der anderen Seite entspricht Charlottes Beziehung zu Ottilie schon viel eher einem Mutter-Tochter-Verhältnis. Von ihr spricht sie als „das liebe Kind" (S. 12) und „meine liebe Nichte" (S. 13). In ihr glaubt sie den Charakter ihrer besten Freundin, der Mutter Ottilies, wiederzuerkennen (S. 13). Charlotte ist viel daran gelegen, die verborgenen Anlagen des Mädchens zu entfalten (S. 13). Sie ist Ottilie stets mild gesinnt, doch ist ihr Verhältnis keine Freundschaft zwischen zwei gleichberechtigten Freundinnen. Charlotte ist sich vielmehr ihrer Reife gegenüber dem jungen Mädchens sehr bewußt und ihre Versuche, sie zu leiten, grenzen mitunter an Besserwisserei und Bevormundung, was man freilich im historischen Kontext sehen muß. So heißt es: „Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen" (S. 45). Doch das Überlegenheitsgefühl Charlottes hat dann auch zur Folge, daßsie die ersten Anzeichen für die sich anbahnenden Gefühle zwischen Eduard und Ottilie nicht ernst nimmt, sondern belächelt (S. 60f). Als sie jedoch nach Eduards Beichte deren Ernsthaftigkeit gewahr wird, begegnet sie Ottilie nicht mit Entrüstung oder Eifersucht. Sie will zwar durch die Entfernung des Mädchens die Gefahr zunächst bannen (S. 108), was durch Eduards Drohung unmöglich (S. 109) wird. Also vermeidet Charlotte es nach Eduards Weggang diplomatisch, im Gespräch mit Ottilie auf ihn zu kommen (S. 112) und versucht doch unverbindlich „manches zwischen sich und Ottilien zur Sprache zu bringen" (S. 112). Man kann dies in zweierlei Weise interpretieren. Auf den ersten Blick und oberflächlich gesehen, könnte dies bedeuten, daßsie als die reife Frau dem naiven Mädchen keine Schuld zuweist, sich über das Sittengesetz hinweggesetzt und ihre Ehe zerstört zu haben. Man könnte meinen, Charlotte habe sogar Verständnis für die Qualen, die das Mädchen nun durchleiden müsse. Manches weist darauf hin: „Charlotte fühlte den Zustand mit und ließsie allein" heißt es (S. 111). Auch die Ablenkungsversuche Charlottes durch Beschäftigung (S. 112) passen in diesen Kontext. Man hat sogar den Eindruck, Charlotte betrachte Eduard als den einzig Schuldigen, gegen den es sich mit der Widersacherin zu verbünden gilt. So sagt sie zu Ottilie:

Laßuns freudig und munter in das eingreifen, was die Männer unvollendet zurückgelassen haben. Laßuns das, was ihr stürmendes, ungeduldiges Wesen zerstören möchte, durch unsere Mäßigung erhalten und fördern

Führt man sich aber vor Augen, wie sehr Ottilie gerade an der Ungewißheit über Eduards Entfernung und Ausbleiben leidet (S. 111), so liegt der Schlußnahe, Charlottes Freundlichkeit dem Mädchen gegenüber sei nur scheinbar und oberflächlich, die Tatsache, daßsie nicht das offene Gespräch mit ihr sucht, ihre Art der Rache. Charlotte mußsich im Klaren darüber sein, daßOttilie diese Ungewißheit quält, sie sich aber nicht zu fragen wagt. Ottilie wird mit ihren Sorgen und Fragen allein gelassen. „Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht" (S. 111) heißt es, doch die einzige, die es ihr erklären könnte, läßt sie im Ungewissen (S.111). Auch quält Ottilie der Gedanke, das Schloßebenfalls verlassen zu müssen (S. 112), doch Charlotte verliert über ihre Zukunft kein Wort. Auch im vorangehenden Gespräch mit Eduard wird man der Doppeldeutigkeit von Charlottes Verhalten gewahr. Sie schließt ihre eigenen Schuld nicht aus "Wir haben uns alle verwöhnt" (S. 106) und wirkt äußerst vernünftig: „Indessen ist es eine Epoche, die uns zur Besinnung auffordert, die uns ernstlich ermahnt, an das Beste sämtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels zu denken und auch irgendeine Aufopferung nicht zu versagen" (S. 106). Vielleicht liegt Eduard aber nicht ganz im Unrecht, wenn er „ihre liebevolle Sprache für ausgedacht, künstlich und planmäßig hält" (S. 108), denn es leuchtet nicht ganz ein, daßes Charlotte wirklich um das Beste aller Beteiligten geht. Sie ist es, die das Sittengesetz als oberste Instanz ansieht, die an der Ehe mit Eduard festhalten will. Der Hauptmann unterwirft sich zwar ihrem Willen, doch wünscht er sich nichts mehr als eine Verbindung mit ihr, auch wenn er sich nur getraut das zu gestehen, als Eduard seine Scheidungsabsicht kundtut (S. 230) Für Eduard und Ottilie wäre eine Scheidung, die ihre Verbindung möglich machte, ohnehin die Erfüllung ihrer Sehnsüchte, natürlich nur, wenn Charlotte davon abließe, Ottilies Gewissen zu beeinflussen. Sie deutet ja an. „Kann Ottilie glücklich sein, wenn sie uns entzweit! Wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen Vater entreißt". Sie kann, wenn auch Charlotte ihrer Neigung zum Hauptmann nachgeben, nicht auf einem Fortbestand der Ehe bestehen würde. So mutet Charlottes Beharren auf dem Bündnis der Ehe auch eine gewisse Portion Egoismus an. Nichtsdestotrotz kennzeichnen Besonnenheit („das ist wohl zu überlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten", S. 5) und Lebenserfahrung (S. 90). Charlottes Wesen. Sie agiert nie instinktiv, immer bewußt, auch in Extremsituationen, z.B. als Eduard das Schloßverläßt (S. 107 f) oder beim Tod des Kindes (S. 229 f). Man hat den Eindruck, sie sei allem gewachsen. Nie kommt es zu Kurzschlußreaktionen oder übereilten Handlungen, abgesehen von der oben erwähnten, angedeuteten Entgleisung mit dem Hauptmann. Nur, wenn sie allein ist, läßt sie ihren Gefühlen freien Lauf, z. B. weint sie einmal über den Schmerz, daßder Hauptmann das Schloßverlassen würde (S. 84) und doch ist sie sich selbst in diesem Moment schon voll bewußt, „daßauch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden" (S. 84). DaßCharlotte eine Frau ist, die mit beiden Beinen im Leben steht, zeigt sich auch beim Versuch mit dem Pendel, das im Gegensatz zu Ottilie bei ihr keine Regung zeigt (S. 213). Charlotte ist eine Frau der Tat, immer mit etwas beschäftigt, sei es der Anlage der Gärten (S. 2f) oder der Veränderung des Kirchhofes (S. 127). Als tätig und hilfreich (S. 29) wird sie beschrieben, wobei sie diese Vorzüge auch zugunsten der anderen einsetzt, z. B. als sie schon vor der Aufnahme des Hauptmanns im Schloßbemüht ist, ihm Förderung und einen „dankbaren Wirkungskreis" zu verschaffen (S. 5). Mit ihren bezeichnenden Eigenschaften „Ruhe, Gleichmaß, Beherrschung, Klarheit, Selbstlosigkeit, tätiges Eingehen auf den anderen" hat sie Marta Weber als die ideale „Kameradin" bezeichnet (Das Frauenbild der Dichter, S. 68 ), die den Kameraden sucht, den sie in der „zuverlässigen und sicheren Männlichkeit" des Hauptmanns findet. Über ihr Verhältnis zum labileren und emotionaleren Eduard, gibt ihr gemeinsames Musizieren Auskunft: Es wird von Charlottes Anpassungsfähigkeit getragen, die aber frei von mitgerissener Leidenschaft ist (S. 19).

3. Luciane

3.1. Figurenkonzeption

Wie Charlotte ist auch Luciane statisch und recht eindimensional und geschlossen konzipiert. Da sie in etwa Ottilies Altersklasse zuzuordnen ist, ist die Kontrastierung mit dieser am eindeutigsten. Luciane mußin direkter Opposition zu Ottilie gesehen werden. Doch auch wenn ihr Charakter noch nicht ausgereift ist, sind die wesentlichen Unterschiede zu Charlotte bereits eindeutig.

3.2. Figurenkonstellation

3.2.1. Äußeres Erscheinungsbild

Auch Luciane ist schön („ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker Hals...", S. 159), doch ist sie sich ihres angenehmen Äußeren vollends bewußt und bedient sich aller erdenklicher Mittel, es in Szene zu setzen: So gehört es zu ihrer Gewohn-heit, sich drei bis viermal täglich umzuziehen und auch mitunter ausgefallenen Kostüme zu wählen, um die Aufmerksamkeit der Umwelt aus sich zu ziehen". Ihrem Auftreten haftet zudem etwas Dramatisches und Exzentisches an (S. 144 f ). Da Lucianes Schönheit aber nur rein äußerlich ist und ihr das Charisma fehlt, das Ottilie umgibt, geben doch viele der Schönheit ihrer Cousine den Vorzug (S. 155).

3.2.2. Charakter und Persönlichkeitsmerkmale

Wie oben schon angedeutet, ist der herausragendste Zug Lucianes ihre Gefallsucht (S. 143). Diese bleibt im allgmeinen auch nicht ohne Wirkung. Sie versteht es Menschen für sich zu gewinnen, nicht nur durch ihre Optik. So forscht sie aus reiner Berechnung beispielsweise Geburts- und Namenstage bedeutender Personen aus um diese „besonders zu feiern" (S. 145). Durch „Gefälligkeit und Wohltun" (S. 152) gelingt es ihr, ihre Beliebtheit zu steigern und ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Doch ihre Wohltätigkeit steigert sich bis zur Grausamkeit, indem sie eine Kranke gegen deren Willen zwingt, an einem ihrer glanzvollen gesellschaftlichen Ereignisse teilzunehmen. Hier wird am deutlichsten klar, daßihr jegliche Feinfühligkeit fehlt. (S. 167). Ihr Drang, sich darzustellen, äußert sich auch in ihrer Vorliebe für Pantomime und Tänze (S. 146). Übertreibung, Unnmäßigkeit und Verschwendung in allen Dingen kommen hinzu: Unzählig sind die Koffer und Kisten, die sie mitbringt (S. 143), unstillbar ist ihr Durst nach Erlebnis und Amusement: „aber Luciane konnte nicht rasten (S. 144). Luciane versucht sich alle Leute dienstbar zu machen.

Sie wollte mit jedermann nach Belieben umspringen, jeder war in Gefahr, von ihr einmal angestoßen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden; niemand durfte sich aber gegen sie ein Gleiches erlauben, niemand sie nach Willkür berühren, niemand auch nur im entferntesten, eine Freiheit, die sie sich nahm, erwidern. (S. 153)

Ihre Herrschsucht wird durch ihre Erfolge in der Pension und ihre relative Beliebtheit noch unterstützt. Doch so wie sie es beherrscht, sich bei anderen Leuten einzu-schmeicheln, gehört auch der Spott zu ihrem Reportoire. (S. 154). Eigentliche Bosheit wird ihr im allgemeinen abgesprochen (S. 154), doch in ihrem Verhältnis zu Ottilie, das von Verachtung (S. 154) und Eifersucht (S. 155) gekennzeichnet ist, kommt diese deutlich zu Tage. Alles, was die Cousine tut, versucht sie zunichte zu machen (S. 155). Sie zwingt sie sogar, an ihren Unternehmungen teilzunehmen, wohlwissend, daßdies zum Schlimmsten gehört, was sie ihr antun kann (S. 155). Wie oben erwähnt, ist Lucianes Persönlichkeit Charlotte ziemlich fremd. An Gefühlstiefe mag es beiden fehlen, doch nur bei Luciane mündet dies in grenzenlosen Egoismus.

4. Resümee

So wie die Figur Charlotte ihre männliche Entsprechung im Hauptmann findet, ist Ottilies Natur der Eduards gemäß. Besonnenheit auf der einen Seite steht in Opposition zu Leidenschaft auf der anderen Seite. Doch was Ottilie von Eduard im Wesentlichen unterscheidet ist ihre Entwicklung. Die von Charlotte als oberstes Prinzip gepriesene Unverletzlichkeit der Ehe wird schließlich in ihrer Vorstellung absolut. Als einzige geht Ottilie jedoch den Schritt, sich dem Naturgesetz der Wahlverwandtschaft mit aller Konsequenz zu widersetzen, indem sie ihren Gefühlen für Eduard, ihrer Leidenschaft durch den Tod ein Ende setzt. Die Gefühle und Verhaltensweisen Ottilies werden dem Leser im Vergleich zur eher gefühlkalten Charlotte so nahe gebracht, daßman Verständnis gewinnt für ihre Situation, geneigt ist, das Naturgesetz höher zu bewerten als das Sittengesetz. Denn betrachtet man den Schluß, so erhebt sich ersteres schließlich über den Tod hinweg. Die Liebe findet letztlich jenseits sittlicher Schranken dochVerwirklichung. Daßim Leben dies nicht möglich sei, mag man nicht so recht annehmen.

5. Bibliographie

Goethe, Johann Wolfgang, Die Wahlverwandtschaften, (Stuttgart, 1956)

Kuhn, Isabella, Goethes Wahlverwandtschaften oder das sogenannte Böse, Europäische Hochschulschriften, 12 (Frankfurt am Main, 1990)

Benjamin, Walter, Goethes Wahlverwandtschaften, W.B., Gesammelte Schriften, 1 (Frankfurt am Main 1974)

Elm, Theo, Goethes Wahlverwandtschaften., Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur (Frankfurt am Main 1991)

Schelling-Schär, Esther, Die Gestalt der Ottilie. Zu Goethes Wahlverwandtschaften (Zürich 1969)

Weber, Marta, Das Frauenbild der Dichter, (Bern 1959)

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1 Marta Weber, Das Frauenbild der Dichter(Bern 1959), S. 89

2 Theo Elm, Goethes Wahlverwandtschaften. Grundlagen zum Verständnis erzählender Literatur (Frankfurt am Main 1991), S. 102f

Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Frauenfiguren in den Wahlverwandtschaften
Veranstaltung
Hauptseminar Literaturwissenschaft Goethes "Pandora" und "Die Wahlverwandtschaften"
Note
3
Autor
Jahr
1997
Seiten
9
Katalognummer
V94761
ISBN (eBook)
9783638074414
Dateigröße
426 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frauenfiguren, Wahlverwandtschaften, Hauptseminar, Literaturwissenschaft, Goethes, Pandora, Wahlverwandtschaften
Arbeit zitieren
Barbara Schauer (Autor:in), 1997, Frauenfiguren in den Wahlverwandtschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94761

Kommentare

  • Gast am 1.3.2002

    SPITZE.

    Spitze!! Hab am Samstag Schularbeit und suche schon verzweifelt nach irgendwelchen Sachen von Goethes Wahlverwandtschaften. Aber jetzt bin ich etwas glücklicher.

    UND ICH HAB HEUT GEBURTSTAG

Blick ins Buch
Titel: Frauenfiguren in den Wahlverwandtschaften



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