Zweisprachigkeit

Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis bilingualer Erziehung


Examensarbeit, 2007

72 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Theoretische Grundlagen

1 Definitionen zur Zweisprachigkeit
1.1 Zweisprachigkeit
1.2. Die Entwicklung der Zweisprachigkeit
1.3. Formen der Zweisprachigkeit
1.3.1 Zweisprachigkeit in Bezug auf die Altersstufe
1.3.2 Frühe Zweisprachigkeit
1.3.3 Dominante und ausgewogene Zweisprachigkeit
1.3.4 Kompakte und koordinierte Zweisprachigkeit
1.3.5 Bi- und monokulurelle Zweisprachigkeit
1.3.6 Additive und subtraktive Zweisprachigkeit

2 Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis bilingualer Erziehung
2.1 Die bilinguale Erziehung
2.2 Die Typen des frühen Spracherwerbs
2.2.1 Typ 1: Die Methode „Eine Person- eine Sprache“
2.2.2 Typ 2: Die Methode „Familiensprache = Nichtumgebungssprache“
2.2.3 Typ 3: Die Methode der „Nicht-dominante Familiensprache ohne Unterstützung der Umgebung“
2.2.4 Typ 4: Die Methode der „Doppelten nicht dominanten Sprache in der Familie ohne Unterstützung der Umgebung“
2.2.5 Typ 5: Die Methode „Nicht-muttersprachliche Eltern“
2.2.6 Typ 6: Die Methode des „Gemischter Sprachgebrauch“

3 Bilinguale Erscheinungen
3.1 Semilingualismus/ Halbsprachigkeit
3.2 Sprachverspätungen
3.3 Sprachmischungen und Interferenzen
3.4 Bewusstsein der Zweisprachigkeit in Abhängigkeit vom Alter

4 Zweisprachigkeit und Kognition
4.1 Zweisprachigkeit und Intelligenz
4.1.1 Die Periode der negativen Auswirkungen
4.1.2 Die Periode der neutralen Auswirkungen
4.1.3 Die Periode der positiven Auswirkungen
4.2 Zweisprachigkeit und kreatives/divergentes Denken
4.2.1 Die Interdependenz- und Schwellenhypothese
4.2.2 Zweisprachigkeit und metasprachliches Bewusstsein

Schlussbetrachtung

Einleitung

„Zweisprachigkeit besteht in der Fähigkeit, spontan eine zweite Sprache erfolgreich zu gebrauchen, wenn die Handlungssituation es empfiehlt.“[1]

Die Zahl der Kinder, die von Geburt an mit zwei Sprachen gleichzeitig aufwachsen, steigt in der heutigen Gesellschaft stetig an. Nach Angaben des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften e.V. ist bei über 22 % aller Kinder, die 2003 in Deutschland geboren wurden, wenigstens ein Elternteil ausländisch gewesen. Das bedeutet, dass frühe Zweisprachigkeit für fast ein Viertel der in Deutschland lebenden Kinder etwas Alltägliches geworden ist.[2] Aber nicht nur in Deutschland, sondern weltweit kommen sprachliche Mischehen immer häufiger vor und es tritt die Frage einer bilingualen Kindererziehung auf. Als Folge für diese weltweite Mobilität gibt es mehrere Gründe wie z.B. Urlaubs-, Studien- oder Arbeitsaufenthalte im Ausland oder der Zwang, das eigene Land aus politischen, religiösen oder ökonomischen Gründen verlassen zu müssen. Für viele Kinder ergibt sich aufgrund dieser erhöhten Mobilität die Möglichkeit des bilingualen Erstspracherwerbs.

Oftmals wird angenommen, dass Zweisprachige ihre beiden Sprachen gleich gut beherrschen, was jedoch nicht immer zutreffend ist. Einige können sich in einer Sprache besser ausdrücken als in der Anderen, oder sie benutzen eine Sprache nur in bestimmten Situationen; andere Zweisprachige hingegen verfügen in einer Sprache über bessere Lese- oder Schreibfähigkeiten als in der anderen Sprache. Ursache für diese Ungleichheit sind u.a. die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, wie z.B. die Häufigkeit und die Umstände, unter denen die eine oder mehrere Sprachen in der Familie oder außerhalb von ihr gebraucht werden. Kinder lernen dadurch die Fähigkeit, sich dem Gesprächspartner oder dem Gesprächskontext anzupassen. Auch der Grad der Sprachbeherrschung spielt dabei eine große Rolle, denn er hängt vom sprachlichen Kontext ab.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Zweisprachigkeit und den Erfahrungen und Erkenntnissen, die hinsichtlich der bilingualen Erziehung in der Praxis gemacht worden sind. Das Hauptaugenmerk liegt daher auf der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der bilingualen Spracherziehung. Das Thema Zweisprachigkeit wird als Ergebnis eines natürlichen Prozesses, d.h. als Erwerb und Gebrauch zweier Sprachen von Geburt an, im Gegensatz zu dem formalen Erwerb einer zweiten Sprache im Fremdsprachunterricht, behandeln.

Obwohl das Phänomen Zweisprachigkeit längst keine Ausnahme mehr darstellt, haben zahlreiche Sprachwissenschaftler noch bis in die 60er Jahre geglaubt, dass zweisprachige Kinder phantasielos, sprachlich verspätet und sprachlich unkreativ seien. Außerdem wurde behauptet, dass sie weder die eine noch die andere Sprache richtig lernen, keine richtige Muttersprache besäßen, durch das gleichzeitige Erlernen zweier Sprachen überfordert seien und eine gespaltene Persönlichkeit aufweisen, die sich in Form von Schizophrenie auswirke.

Aufgrund von mehreren Autoren, die über die zweisprachige Erziehung ihrer Kinder mit positiven Ergebnissen berichteten, gab es nach 1950, besonders in Kanada, Amerika und Belgien, einen positiven Wandel in der Denkweise bezüglich zweisprachig aufwachsender Kinder. Sprachwissenschaftler stellten plötzlich Thesen auf, wie z.B. dass zweisprachige Kinder eine zweite Sprache spielend leicht erlernen, während einsprachige Kinder diese später in der Schule nur mit Mühe lernen. Außerdem sind sie davon ausgegangen, dass Zweisprachige sprachinteressierter, sprachgewandter, intelligenter, toleranter und offener als einsprachige Kinder seien.[3] In der Schlussbetrachtung der vorliegenden Arbeit wird noch einmal ausführlich zu den Vor- und Nachteilen einer zweisprachigen Erziehung Stellung genommen. Es soll u.a. geprüft werden, ob die eben erwähnten Ur- und Vorurteile über Zweisprachigkeit in der Praxis wirklich wahr sind.

Die Arbeit beginnt mit einer Aufführung von Begriffserklärungen, um das Thema „Zweisprachigkeit: Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis bilingualer Erziehung“ einzuleiten und eine theoretische Basis zu liefern. In Kapitel eins wird der Begriff der Zweisprachigkeit nach unterschiedlichen Kriterien eingeteilt und beschrieben: Der Zeitpunkt des Spracherwerbs, die erreichte Kompetenz in beiden Sprachen, das Verhältnis zwischen Sprache und Denken, Sprache und Kultur sowie Sprache und soziokulturellem Milieu nehmen bei dieser Betrachtung einen wichtigen Stellenwert ein. Die Bedeutung der „bilingualen Erziehung“ wird in den Definitionen der Zweisprachigkeit ebenfalls dargelegt; in Kapitel zwei wird jedoch ausführlicher auf die unterschiedlichen Arten der bilingualen Erziehungen eingegangen. Des Weiteren wird im ersten Kapitel die historische Entwicklung der Zweisprachigkeit behandelt.

Kapitel zwei orientiert sich an den Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Praxis bilingualer Erziehung und beschreibt anhand von Fallstudien, auf welche Art und Weise ein Kind zwei oder mehrere Sprachen gleichzeitig erwerben kann.

Dabei wird zwischen sechs verschiedenen Methoden unterschieden. Jede Methode wird mit linguistischen Beispielen aus der Praxis vorgestellt, und es werden die Vor- und Nachteile jeder Methode zusammengefasst.

Im dritten Kapitel werden die Störungen in den Sprachen, die so genannten bilingualen Erscheinungen, geklärt. Besonders erwähnenswert sind diesbezüglich die Sprachverspätungen, Sprachmischungen, Interferenzen und die Halbsprachigkeit.

Das letzte Kapitel stellt den Bezug zwischen der Zweisprachigkeit und kognitiven Entwicklung dar. Zahlreiche Wissenschaftler haben anhand von Tests mit ein- und zweisprachigen Kindern unterschiedliche Tests durchgeführt, um zu erfahren, ob ein Zusammenhang zwischen Zweisprachigkeit und Intelligenz bzw. Denkvermögen bestehe.

Theoretische Grundlagen

1 Definitionen zur Zweisprachigkeit

1.1 Zweisprachigkeit

70 Prozent der Bevölkerung sprechen heutzutage mehr als eine Sprache und 50 Prozent der Kinder dieser Welt eine andere Sprache in der Schule als im Elternhaus. In Deutschland wachsen 20 Prozent der Kinder zweisprachig auf.[4] Obwohl viel Literatur zum Thema Zweisprachigkeit existiert, erweist es sich dennoch nach wie vor als schwierig, eine passende Definition zu finden. Jeder Versuch einer Definition ist subjektiv vom jeweiligen Autor geprägt, da es mehrere Maßstäbe geben kann, welche die Zweisprachigkeit definieren.

Aus diesem Grund ist umstritten, ob sich eine allgemeingültige Definition wirklich finden lässt: „Il est difficile de parler de ‘degré’ de bilingualisme lorsqu’ il n’existe pas de possibilité de mesurer un tel degré.”[5]

So wird einerseits von Zweisprachigkeit gesprochen, wenn „in minimalem Umfang eine andere Sprache als die Muttersprache verwendet wird.“[6] Dagegen bezeichnet Haugen[7] Individuen erst als zweisprachig, sobald diese in der Lage sind, sich in vollständigen und sinnvollen Sätzen (meaningful utterances) in einer fremden Sprache ausdrücken zu können. Aufgrund dieser Definition wäre allerdings die Mehrheit der Weltbevölkerung zwei- oder mehrsprachig.[8] Andere Autoren hingegen, wie etwa Bloomfield, schlagen vor, eine Person erst dann als zweisprachig zu bezeichnen, wenn sie sich in beiden Sprachen „wie in der Muttersprache“ (native-like control) ausdrücken kann.[9] Dieser Definition zufolge wäre die Zahl der zweisprachigen Menschen auf der Welt sehr gering.[10]

Montanari[11] vergleicht die Zweisprachigen mit einer Rechenaufgabe: „1 + 1 = 2“, die besagt, dass „Zweisprachige zwei Einsprachige in einer Person“ seien. Dieser Definition zufolge ist es vorstellbar, dass ein Kind zwei Sprachen gleichzeitig auf hohem bzw. gleichem Niveau erwirbt. In der Realität wird jedoch meistens eine der beiden Sprachen besser gesprochen. Jonekeit/ Kielhöfer unterteilen die beiden Sprachen einer bilingualen Person in eine starke und eine schwache Sprache, wobei die starke Sprache die allgemein besser beherrschte ist. Ihrer Meinung nach ist das Phänomen der Zweisprachigkeit individuell veränderbar und ausbaufähig, und kann ebenfalls wieder verloren gehen. Da das Niveau der Zweisprachigkeit von sozialen, kognitiven und altersabhängigen Faktoren beeinflusst wird, ist ein ständiges Praktizieren und Üben der beiden Sprachen erforderlich, um eine einmal erworbene Zweisprachigkeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.[12]

Sie stellen darüber hinaus fest, dass eine Person als zweisprachig bezeichnet werden kann, wenn diese über das „ Bewusstsein der Zweisprachigkeit, das individuelle Gefühl, in beiden Sprachen „zu Hause zu sein““, verfügt.[13]

Mackey[14] empfiehlt der Forschung, sich nicht mit der Frage zu befassen, ob jemand zweisprachig sei oder nicht, sondern zu hinterfragen, wie zweisprachig eine Person sei.[15] Dies kann sich auf verschiedene Aspekte der Sprache - wie das Verständnis, das Sprachvermögen, die Schreib- und die Lesefähigkeit - beziehen.[16] Mittels dieser Sichtweise sei eine systematische Analyse des von einem Individuum erworbenen Grades von Zweisprachigkeit möglich.[17]

Hamers/ Blanc[18] haben zum Beispiel darauf hingewiesen, dass verschiedene Formen von Zweisprachigkeit existieren, wie etwa Kindheits-, jugendliche oder erwachsene Bilingualität, additive oder subtraktive Bilingualität etc., die im weiteren Verlauf der Examensarbeit ausführlicher beschrieben werden.

Für den Begriff der ‚frühen Zweisprachigkeit‘, auf die in dieser Arbeit näher eingegangen wird, stehen in der Literatur mehrere Variationen zur Verfügung.

Demzufolge beschreibt Haugen[19] die frühe Zweisprachigkeit als “infant bilingualism”, Swain (1972) als „bilingualism as a first language“, Wode (1978) als „first language bilingualism“, Huerta (1977) als „native acquisition of two languages“ und Meisel (1986) als „simultaneous acquisition of two first languages“.[20] Eine ausführliche Erklärung darüber wird im Anschluss gegeben.

Da keine einheitliche Definition für den Begriff ‚Zweisprachigkeit’ existiert, wird für diese Arbeit die Formulierung einer für sie gültigen Arbeitsdefinition des Terminus ‚zweisprachig‘ bzw. ‚bilingual‘[21] notwendig. Beide Begriffe stellen die Anwesenheit zweier Sprachen dar. Dies kann sowohl auf eine Erziehungseinrichtung als auch auf ein Individuum oder eine Gesellschaft bezogen werden.

1.2 Die Entwicklung der Zweisprachigkeit

Seit Beginn des Jahrhunderts zeigen Psychologen, Linguisten, Neurologen und Pädagogen ein großes Interesse an der Entwicklung von Zweisprachigkeit. In den letzten zwei Jahrzehnten gab es einen regelrechten „Forschungsboom“ hinsichtlich dieser Thematik. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist von zwei bestimmten Arten von Studien geprägt worden:

1. Biographien über zweisprachig aufwachsende Kinder (wie die beiden
bekanntesten Fallstudien von Ronjat[22] und Leopold[23] ) .
2. Vergleichende psychometrische Studien zum Schulverhalten von ein- und

zweisprachigen Kindern[24].

Während die ersten Studien eine harmonische Entwicklung der zweisprachigen Kinder konstatierten, ergaben die Auswertungen der psychometrischen Studien von beispielsweise Pintner/ Keller[25] und Saer[26], dass sich die Entwicklung von zweisprachigen Kindern im Vergleich zu einsprachigen Kindern verzögert.[27]

Ronjat[28] lieferte die ersten Aufzeichnungen über die sprachliche Entwicklung seines zweisprachig aufwachsenden Sohnes Louis von Geburt bis zum Alter von vier Jahren. Die Familie Ronjat, die zu dieser Zeit in Frankreich lebte, war eine zweisprachige Familie: Die Mutter war in Deutschland aufgewachsen und der Vater in Frankreich. Die Familie hielt sich strikt an das Sprachtrennungsprinzip von Grammont[29], welches besagt, dass jedes Elternteil ausschließlich in seiner Muttersprache mit dem Kind kommunizieren soll. Demzufolge sprach der Vater mit seinem Sohn in französischer und die Mutter in deutscher Sprache. Hinsichtlich der Entwicklung seines Sohnes kam Ronjat zu folgenden Ergebnissen:

1. Die zweisprachige Erziehung hat sich in keinster Weise negativ auf die Entwicklung des Kindes ausgewirkt oder sie hinausgezögert.
2. Das Kind ist sich seiner Zweisprachigkeit sehr früh bewusst.
3. Die Entwicklung der Phonologie, Morphologie und Syntax verläuft in beiden Sprachen parallel.
4. Sprachmischungen[30] (vgl. Kapitel 3.3) treten kaum auf, und die wenigen, die vorhanden sind, verschwinden mit der Zeit.
5. Das Kind entwickelt schon sehr früh ein abstraktes Konzept der Sprache.

Auf Grund dieser positiven Beobachtungen schlussfolgerte Ronjat, dass Kindern eine zweisprachige Erziehung unter keinen Umständen schaden würde: „Ronjat concludes that in a mixed-lingual family a child develops normally and in a harmonious way.“[31]

Die detaillierteste und vollständigste Biographie stammt von Leopold. Er erzog seine Tochter Hildegard nach der gleichen Methode der Sprachtrennung wie Ronjat zuvor. Er analysierte die zweisprachige Entwicklung (Englisch-Deutsch) seiner Tochter bis zum Alter von 15 Jahren. Er gelangte - ebenso wie Ronjat - zu der Erkenntnis, dass Zweisprachigkeit weder die kognitive noch die sprachliche Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen würde. Er betonte darüber hinaus die Vorteile einer frühen zweisprachigen Entwicklung: “[...] such as a sustained attention for content rather than form and a greater capacity for dissociating the word from its referent.“[32] Obwohl diese Fallstudien von ausschließlich positiven Ergebnissen berichten, zeigen die Studien von Saer und Pintner/ Keller (vgl. Kapitel 4.1.1) die negativen Konsequenzen, die eine zweisprachige Erziehung auf das Kind habe. In Bezug auf die kognitive Entwicklung fielen die Ergebnisse bei zweisprachigen Kindern deutlich schlechter aus als bei den einsprachigen Probanden[33]: Auf die Ergebnisse der Studien wird allerdings in Kapitel 3 „Zweisprachigkeit und kognitive Entwicklung“ näher eingegangen.

In der Schweiz wurde ein Artikel von De Reynold[34] veröffentlicht, der beinhaltete, dass Zweisprachigkeit zu Sprachmischungen und Sprachstörungen führe. Daraus folgerte er, dass Zweisprachigkeit einen negativen Effekt auf das Denken und die Intelligenz habe: “[...] bilingualism leads to language mixing and language confusion which in turn results in a reduction in the ability to think and act precisely, a decrease in intelligence, an increase in mental lethargy and reduced self-discipline.“

Während des zweiten Weltkrieges wurde Zweisprachigkeit von vielen Wissenschaftlern abgewertet. Sie warnten vor den negativen Folgen einer zweisprachigen Erziehung. Weisberger[35] vertrat beispielsweise die Meinung, dass Zweisprachigkeit sich negativ auf die Intelligenz einer ethnischen Gruppe auswirken könne. Er forderte, dass die Muttersprache in ihrer „Reinheit“ bewahrt werden müsse, da das Kind sonst seine deutsche Identität verlieren könne und in der Folge zum Atheisten werde. Diese negative Haltung wurde zeitgleich von den Amerikanern geteilt; sie sahen Zweisprachigkeit als soziales Übel an und verbannten es aus dem Schulsystem.

Nach der Veröffentlichung der Biographie „Speech development of a bilingual child“[36] erfuhr die Wissenschaft einen positiven Wandel hinsichtlich der Zweisprachigkeit. Weitere Fallstudien (vgl. Kapitel 2.2.1) wurden durchgeführt und teilten die positiven Resultate von Ronjat und Leopold. Neue vergleichende Studien wie z. B. von Peal/ Lambert[37] (vgl. Kapitel 4.1.3) deckten die Fehler der vorherigen Studien auf und verdeutlichten, dass eine zweisprachige Erziehung keine negativen Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes habe.

In der heutigen Zeit wird noch immer stark über die Vor- und Nachteile einer zweisprachigen Erziehung diskutiert. Die Forschung ist allerdings zu dem Entschluss gekommen, dass ihre jeweiligen Ergebnisse nicht pauschal auf alle Zweisprachigen bezogen werden können, da jeder Zweisprachige einzigartig ist und nicht mit anderen Zweisprachigen gleichgestellt werden kann. Außerdem verläuft die zweisprachige Entwicklung bei jedem Kind unterschiedlich, und die gegebenen Rahmenbedingungen, unter denen es aufwächst, sind in jeder Familie anders gegeben: Einige Autoren sind z.B. der Meinung, dass eine erfolgreiche Zweisprachigkeitserziehung nur funktioniert, wenn die richtigen Rahmenbedingungen gegeben sind. Erhält das Kind ausreichend emotionale und sprachliche Zuwendung seitens der Eltern oder der näheren Umgebung (z.B. Geschwister oder Großeltern) und erlernt beide Sprachen mit einer ähnlichen Intensität, kann von einem positiven Ergebnis ausgegangen werden.[38]

1.3 Formen der Zweisprachigkeit

Hamers/ Blanc[39] haben die Zweisprachigkeit in verschiedene Kategorien unterteilt, die anhand der folgenden Abbildungen veranschaulicht und gegebenenfalls erläutert werden.

Oftmals werden in der Literatur die Sprachen in ‚L1‘ und ‚L2‘ unterteilt. Diese Kurzform stammt aus der englischsprachigen Fachliteratur und bedeutet First and Second Language („Erst- und Zweitsprache“). Bei der Einteilung der Sprachen in L1 und L2 ist nicht der Grad der erreichten Kompetenz ausschlaggebend, sondern der Zeitpunkt des Spracherwerbs. Werden die beiden Sprachen nicht gleichzeitig von Geburt an erworben, wird mit L1 jene Sprache bezeichnet, die als erstes erlernt, und mit L2 jene, die zu einem späteren Zeitpunkt erworben wird. Nach Graf[40] ist für den Fall des simultanen Spracherwerbs diese Unterteilung nicht mehr sinnvoll. Seiner Meinung nach sollte dagegen von bilingualen Kindern gesprochen werden.

1.3.1 Zweisprachigkeit in Bezug auf die Altersstufe

Abb. 1 Childhood-, adolescent- and adult bilinguality[41]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Alter stellt für das Erlernen von Sprachen einen wichtigen Aspekt in der neurophysiologischen, kognitiven und soziokulturellen Entwicklung eines zweisprachigen Individuums dar.[42] In dem folgenden Abschnitt wird zwischen

Kindheits- bzw. früher Zweisprachigkeit, jugendlicher Zweisprachigkeit und erwachsener Zweisprachigkeit unterschieden. Hinsichtlich des Zeitpunkts des Spracherwerbs kann das Verhältnis zwischen Erst- und Zweitspracherwerb eines Menschen sehr variabel sein. Auf der einen Seite kann der Zweitspracherwerb schon von Geburt an parallel bzw. simultan zum Erstspracherwerb stattfinden. Andererseits kann der Erwerb einer weiteren Sprache auch erst zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen. Diese beiden unterschiedlichen Spracherwerbssituationen werden am Schluss dieses Kapitels ausführlich erklärt. Skourtou[43] ist der Meinung, dass es für den Zweitspracherwerb kein optimales Alter gibt, jedoch die Art des Zweitspracherwerbs vom Alter abhängig ist.

Alltägliche Beobachtungen haben gezeigt, dass Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen bei gleichen Bedingungen spielerisch und ohne große Anstrengung eine zweite Sprache lernen können. Rehbein[44] betont in diesem Zusammenhang, dass jüngere Kinder Vorteile bezüglich der Aussprache haben, da sie eine Sprache akzentfrei erlernen können. Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene hingegen dominieren dafür beim Erwerb der Morphologie, Syntax und Semantik, da bei ihnen die erste Sprache schon weiter entwickelt ist. Die Annahme, dass der Spracherwerb jüngeren Kindern leichter fällt als Jugendlichen und Erwachsenen, wird in der Literatur mit einer kritischen Zeitlernspanne, der sogenannten Critical Period Hypothesis erklärt: “This critical period supposedly lasts until the age of puberty, after which time laguage acquisition becomes more difficult due to a loss of plasticity in the brain and the specialization of the left hemisphere for language functions.”[45] Auch Lenneberg[46] geht davon aus, dass das menschliche Gehirn in einer zeitlich begrenzten Phase auf den Erwerb von Sprache eingestellt ist und eine Plastizität aufweist, die bis zur Pubertät besteht. Er untersuchte Aphasiepatienten[47] unterschiedlichen Alters und fand heraus, dass die Mehrheit der Kinder bis zum Beginn der Pubertät im Gegensatz zu Erwachsenen ihre Aphasie bewältigen und ihre Sprache wieder vollständig herstellen konnten.[48] Diese Erkenntnisse und Lennebergs Ergebnisse zur Lateralisierung sprachlicher Funktionen im Gehirn - gemessen an der sprachlichen Entwicklung von Hemisphärektomie-Patienten[49] - ließen ihn darauf schließen, dass das Gehirn eines Kindes bis zur Pubertät über eine größere Anpassungsfähigkeit und Plastizität verfügt: Kinder im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren haben noch die Möglichkeit, eine verloren gegangene Sprache wieder aufzubauen. Nach dreizehn Jahren ist jedoch ein Wiederaufbau aufgrund der nachlassenden Plastizität des Gehirns nicht mehr möglich.[50]

Diese Beobachtungen sind allerdings nur auf den L1-Erwerb beschränkt. In Bezug auf den L2-Erwerb verdeutlicht er, dass eine zweite Sprache ebenfalls nach der Pubertät erfolgreich erlernt werden kann, da durch die L1 eine bestimmte zerebrale Struktur vorhanden sei, die als Basis für den Erwerb weiterer Sprachen dient. Diese Annahme Lennebergs ist heutzutage jedoch nicht mehr vertretbar. Krashen[51] stellte beispielsweise fest, dass die Lateralisierung des Gehirns bereits in der frühen Kindheit abgeschlossen ist. Außerdem zeige der Fall ‚Genie‘, dass natürlicher Spracherwerb ebenfalls nach der Pubertät möglich ist. Sie wurde seit ihrem 20. Lebensmonat von der Außenwelt isoliert in einem abgeschlossenen und abgedunkelten Hinterzimmer gefangen gehalten. Den einzigen sprachlichen Input, den sie erhalten hatte, war ein vom Vater imitiertes Hundeknurren. Alle anderen Lautäußerungen von Seiten Genies wurden vom Vater bestraft. Als sie 1970 im Alter von 13 Jahren in Kalifornien befreit wurde, begann sie, das Sprechen zu lernen, wenn auch nicht in jeder Hinsicht zielsprachengerecht.[52]

Obwohl Lennebergs Hypothesen nach dem heutigen Forschungsstand nicht mehr haltbar sind, ändert sich nichts an der Tatsache, dass die Pubertät eine Phase vieler Veränderungen, besonders hinsichtlich der kognitiven Entwicklung, für den Menschen bedeutet.[53] In diesem Zusammenhang soll darüber berichtet werden, wie das Gehirn von Früh- und Spätsprachenlerner aufgebaut ist. Viele Neurowissenschaftler, Linguisten und Psychologen haben in den letzten 15 Jahren das Gehirn zwei- oder mehrsprachiger Menschen mit Unterstützung von bestimmten Messmethoden beobachtet. Durch bildgebende Verfahren wie der Magnetencephalografie[54] wurde das zwei- oder mehrsprachige Gehirn untersucht: Dieses Gerät lässt die unterschiedlichen Stoffwechselvorgänge, die bei einer kognitiven Aufgabe im Gehirn ablaufen, sichtbar werden. Außerdem misst es den im Gehirn ablaufenden Blutfluss und zeigt daher besonders aktive Regionen auf. Anhand dieser Methode konnte bestätigt werden, dass bei Rechtshändern die linke Gehirnhälfte für Sprachprozesse dominierend ist: Darin wurde das Brocazentrum, welches für die Sprachmotorik, Lautbildung, -analyse, -artikulation und die Bildung abstrakter Wörter verantwortlich ist und das Wernicke Sprachzentrum, das vor allem für die logische Verarbeitung der Sprache und die auditive Sensorik zuständig ist, ausfindig gemacht. Empirische Forschungen belegen, dass bei frühen Zweisprachigen unterschiedliche Abläufe in der so genannten ‚ Broca-Areal ‘ in der linken Gehirnhälfte stattfinden als bei späten zweisprachigen Lernern: Kim[55] untersuchte mit Hilfe des Magnetencephalografie-Verahrens das Gehirn und die aktiven Broca-Areale von frühen und späten Zweisprachlern. Diese sollten in beiden Sprachen hintereinander berichten, was sie am Vortag erlebt haben. Die Untersuchungen ergaben, dass die frühen Zweisprachigen im Brocazentrum nur ein Nervenzell-Netz aktivierten, während die Spätlerner für jede Sprache ein separates Netz entwickelten.[56] Aus diesem Grund gelangen die Forscher zu der Erkenntnis, dass sich das Sprachnetz im Broca-Areal in den ersten Jahren der Kindheit ausprägt. Demzufolge werden beide Sprachen in demselben Sprachennetz gespeichert, wenn das Kind von Geburt an mit zwei Sprachen gleichzeitig aufwächst. Erlernt das Kind allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt neben seiner Muttersprache eine weitere Sprache, wird es Schwierigkeiten beim Zweitspracherwerb bekommen, da das bereits bestehende Sprachnetz existiert. Das Gehirn ist somit gezwungen, ein neues, von dem ersten getrenntes Sprachnetz anzulegen. Weitere neurobiologische Untersuchungen von Nitsch[57] können die Ergebnisse von Kim und weiteren Biologen bestätigen. Die Forscher untersuchten mittels Sprachaufgaben in der L1, L2 und L3 die Mehrsprachigkeit und ihre Konsequenzen auf das Gehirn bei mehrsprachigen Personen. Sie schlussfolgerten, dass bei einer frühen simultanen zweisprachigen Entwicklung die als dritte erlernte Sprache in das erste zweisprachige Netz im Broca-Areal eingebettet wird. Die späten Mehrsprachigen hingegen müssen für jede ihrer drei Sprachen ein gesondertes Sprachnetz aufbauen. Ein frühes errichtetes zweisprachiges Netzwerk im Broca-Areal ist daher ein günstiges Fundament für den Erwerb weiterer Sprachen. Einsprachig aufwachsende Personen können jedoch durch kognitive Fähigkeiten wie z.B. Fleiß, Motivation und Auslandsaufenthalte das Erlernen mehrerer Sprachen positiv beeinflussen und diese sogar muttersprachenniveaunah beherrschen.[58]

1.3.2 Frühe Zweisprachigkeit

Dieses Kapitel behandelt die verschiedenen Wege, die zur Zweisprachigkeit eines Kindes oder Erwachsenen führen. Innerhalb der frühen Zweisprachigkeit wird zwischen zwei Lernsituationen unterschieden: gleichzeitiger bzw. simultaner und konsekutiver bzw. sequentieller Spracherwerb.[59] Der Zeitpunkt des Spracherwerbs ist entscheidend für die Trennung dieser beiden Begriffe. Zum einen können zwei Sprachen von Anfang an simultan erlernt werden, andererseits kann der Erwerb einer weiteren Sprache aber auch erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, das heißt, wenn die Erstsprache bereits (vollständig) beherrscht wird. Nach Graf[60] „gilt der Erwerb der Erstsprache im Alter von zehn Jahren als abgeschlossen.“ Begründet wird diese Annahme mit der Aussprache, die nur mit der eines „native speakers“ verglichen werden kann, wenn eine zweite Sprache vor jenem Altersabschnitt erlernt wird.[61]

Mc Laughlin[62] schlägt folgende zeitliche Begrenzung für den simultanen und sequentiellen Erwerb vor:

“The child who is introduced to a second language before three years of age is said to be simultaneously acquiring two languages. The child who is introduced to a second language after three years is said to be successively acquiring two languages.”

Wächst das Kind von Geburt an in einem zweisprachigen Kontext auf, z. B. wenn die Eltern das Kind in zwei verschiedenen Sprachen ansprechen, ist eine Situation des simultanen Spracherwerbs vorzufinden:

„Der simultane Erwerb zweier Sprachen ist in der Regel damit verbunden, daß innerhalb des familiären Lebenskreises zwei Sprachen gesprochen werden. Entweder sind es die beiden Eltern oder aber Verwandte und andere Personen, die einen regelmäßigen Kontakt mit dem Kind pflegen und es in zwei verschiedenen Sprachen anreden.“[63]

Durch den ständigen Kontakt mit zwei Sprachen ist das Kind darauf angewiesen, beide Sprachen zu gebrauchen und zu sprechen, und sie schließlich parallel auf natürlichem Wege zu erlernen. Da der simultane Zweitspracherwerb in einer natürlichen Umgebung stattfindet, d.h. beide Sprachen ohne spezielles Wissen über Grammatik und Aufbau der Sprache erlernt werden, spricht man in der Sprachwissenschaft auch von einer natürlichen Zweisprachigkeit oder einem doppelten Erstspracherwerb. Um das Gelingen der Zweisprachigkeit zu begünstigen, müssen jedoch mehrere Prinzipien beachtet werden, damit das Kind positiv auf natürliche Weise mit zwei Sprachen aufwächst. Zu den wichtigsten Prinzipien zählen u.a. emotionale und sprachliche Zuwendung, eine positive Spracheinstellung sowie das Sprachtrennungsprinzip ‚ une personne une langue‘ [64] . Diesem Prinzip zufolge spricht jedes Elternteil das Kind konsequent in seiner Muttersprache an.

In der Regel stimmt die Erstsprache des Kindes mit jener der Mutter überein. Es gibt jedoch auch Familien, in denen nicht die Sprache der Mutter gesprochen wird.[65] Es besteht demnach ein gewisser Unterschied zwischen den Begriffen Erstsprache und Muttersprache, wobei der Begriff Erstsprache durch Graf[66] eine genauere Bezeichnung bekommt: „[...] jene Sprache nämlich, der das Kind zuerst begegnet. Sie bestimmt den familiären Handlungsraum und legt damit die Grundlage für die sprachliche Entwicklung des Kindes fest.” Wachsen Kinder in einem zweisprachigen Elternhaus auf, in dem der Vater sich ausschließlich in einer anderen Sprache als die Mutter an die Kinder wendet, gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen Erst- und Zweitsprache.

Nach Kielhöfer/ Jonekeit[67] stellt die Muttersprache jene Sprache dar, die mit der Mutter gesprochen wird, und die Vatersprache jene, die mit dem Vater gebraucht wird. Ihrer Ansicht nach wirkt sich die Trennung der beiden Sprachen in Mutter- und Vatersprache positiv auf die zweisprachige Entwicklung des Kindes aus. Am folgenden Beispiel[68] eines zweisprachigen Kindes soll der Unterschied zwischen Mutter- und Vatersprache erläutert werden:

“Thomas: Pavel spricht sehr gut Deutsch. [Pavel speaks very good German.]

Father: Ja, und auch sehr gut Tschechisch. Das ist seine Muttersprache. [Yes, and also very

good Czech. That’s his mother tongue.]

Father: Was ist deine Muttersprache? [What is your mother tongue?]

Thomas: Deutsch ... Nein, Englisch ist meine Muttersprache. Deutsch ist meine Vatersprache.

[German. No, English is my mother tongue. German is my father tongue.]”

Der natürliche Spracherwerb des Kindes wird durch eine ausreichende emotionale und sprachliche Zuwendung seitens der Eltern erleichtert: Nehmen Eltern sich ausreichend Zeit, mit ihrem Kind in ihrer jeweiligen Sprache zu kommunizieren, wird das Kind diese Sprache ebenfalls schneller lernen. Auch die Einstellung zur Sprache stellt einen entscheidenden Faktor für die Weiterentwicklung der Zweisprachigkeit dar: Eine positive Einstellung ist mit einer positiven Sprachentwicklung verbunden und demnach kann eine negative Einstellung auch eine negative Entwicklung nach sich ziehen.[69] Die simultane Zweisprachigkeit bietet äußerst günstige Lernbedingungen, da beide Sprachen von Anfang an zum Lebensumfeld des Kindes gehören und die bewusste Entscheidung der Eltern, ihr Kind zweisprachig zu erziehen, für ein reiches und vielfältiges sprachliches Angebot sorgt.[70] Es existieren zahlreiche Fallstudien (vgl. Kapitel 2.2.1) zum simultanen Erwerb zweier Sprachen in der Kindheit, bei denen sichtbar wird, dass die Anwendung des Prinzips ‚ une personne une langue‘ zu positiven Ergebnissen führt. So kann sich beispielsweise Loewenthal[71] hinsichtlich ihrer zweisprachigen Erziehung als Kind zurückerinnern, nicht gewusst zu haben, dass sie ihrem Vater in einer anderen Sprache geantwortet habe als ihrer Mutter.

Der Begriff der künstlichen Zweisprachigkeit steht im Kontrast zur natürlichen Zweisprachigkeit. Diese Art von Zweisprachigkeit bedeutet, dass in einem einsprachigen Elternhaus die Situation der ‚natürlichen Zweisprachigkeit‘ von der Mutter oder dem Vater künstlich nachgeahmt wird, indem ein Elternteil mit dem Kind in einer anderen als seiner Muttersprache spricht. Kielhöfer/ Jonekeit stellen jedoch anhand der zweisprachigen Sprachentwicklung ihrer Kinder fest, dass eine künstlich nachgeahmte Zweisprachigkeit negative Folgen auf die weitere zweisprachige Entwicklung des Kindes habe: „Uns sind nur Mißerfolge dieser Art von künstlicher Zweisprachigkeit bekannt.“[72]

Hat das Kind bereits eine einsprachige Entwicklung durchlaufen und erlernt zu einem späteren Zeitpunkt eine zweite Sprache, liegt die Lernsituation des sequentiellen bzw. konsekutiven Spracherwerbs vor. In den meisten Fällen des sequentiellen Spracherwerbs wird in der Familie eine andere Sprache als in der Umgebung gesprochen. Kinder aus Minderheitengruppen[73] - wie Kinder von Migranten - erleben in der Regel eine sequentielle zweisprachige Erziehung: Die ersten drei Jahre ihres Lebens verbringen sie zu Hause und entwickeln aufgrund dessen zunächst ein monolinguales Sprachverständnis. Erst nach jenem Altersabschnitt werden sie in ihrer sozialen Umwelt mit einer zweiten Sprache konfrontiert und realisieren, dass die Umgebungssprache[74] eine für sie noch fremde Sprache ist, die sie erst neu erlernen müssen, um mit anderen Personen außerhalb der Familie sprechen zu können. Die Eltern verwenden in der Regel mit ihrem Kind ausschließlich die ihnen geläufige Sprache, da sie zu der Umgebungssprache keinen Bezug haben und entscheiden sich daher gegen eine zweisprachige Erziehung. Das Kind ist auf seine außerfamiliäre Umwelt und gleichaltrige Interaktionspartner, die ihm helfen, die Sprache zu lernen, stark angewiesen. Entwickelt es ein Interesse für seine Umgebung und erhält es von seiner Familie ebenfalls Unterstützung hinsichtlich der neuen Sprache und Kultur, wird es die Umgebungssprache schnell erlernen.[75] Bei Kindern, die sich nur wenig für ihre neue Umgebung interessieren oder dessen Familie eine negative Haltung gegenüber der Umwelt zeigt, kann der sequentielle Spracherwerb eventuell problematisch verlaufen, da er von zahlreichen „[…] außersprachlichen Faktoren, wie z.B. das Ausmaß des Sprachkontaktes, die Sprachlernmotivation, die Bewertung der eigenen Sprache und die Haltung der Familie zur Sprache und Kultur des Einwanderungslandes“[76] beeinflusst wird. Die Wichtigkeit der Erhaltung der Familiensprache[77] soll an dieser Stelle erwähnt werden, da diese in engem Zusammenhang mit der kognitiven, psychischen und sozialen Entwicklung des Kindes steht (vgl. Kapitel 4.2.1). Die Sprache der Mutter „vermittelt nicht nur ein Sprachsystem, sondern auch Werte und Normen der Sprachgemeinschaft. Aus diesem Grund besitzt die Muttersprache eine wichtige Rolle bei der Herausbildung und Stabilisierung der Identität.“[78] Da die Eltern-Kind Kommunikation hauptsächlich in der Familiensprache stattfindet, sollte diese genauso stark gefördert werden wie die Umgebungssprache, da anderenfalls die sprachliche Verständigung innerhalb der Familie gefährdet werden kann.[79]

[...]


[1] Graf, P.: Lernen in zwei Sprachen. Konzeptuelle Grundlagen. Bildung und Erziehung, 50 (1). 1997, S. 245.

[2] Loick, A.: Mehrsprachige Familien: Vermittler zwischen den Kulturen. Cleeves Communication UnitZwei. Köln, Februar 2005. Abrufbar unter: http://www.goethe.de/wis/sub/thm/int/de362129.htm.

[3] Vgl. Wieczerkowski, W.: Frühe Zweisprachigkeit. München 1965, S. 5. Vgl. Weinreich, U.: Sprachen in Kontakt. München 1977, S. 155. In: Jonekeit, S/ Kielhöfer B.: Zweisprachige Kindererziehung. Tübingen 1983, S. 9-10.

[4] Günther, B./ Günther, H.: Erstsprache und Zweitsprache: Einführung aus pädagogischer Sicht. Weinheim und Basel 2004, S. 44.

[5] Titone, R.: Le Bilingualismus précoce. Brüssel 1974, S. 17.

[6] MacNamara, J. 1986. In: Kupfer- Schreiner, C .: Sprachdidaktik und Sprachentwicklung im Rahmen interkultureller Erziehung: das Nürnberger Modell. Weinheim 1994, S. 47.

[7] Vgl. Haugen, E.: The Norwegian Language in America. Philadelphia 1953, S .7.

[8] Vgl. Apeltauer, E.: Bilingualismus und Mehrsprachigkeit. Flensburg 1997, Heft 18, S. 7.

[9] Bloomfield, L.: Language. London 1935.

[10] Vgl. Apeltauer 1997, S. 7.

[11] Montanari, E.: Mit zwei Sprachen groß werden. München 2002, S. 16.

[12] Vgl. Jonekeit/ Kielhöfer 1983, S. 12-13.

[13] Ebd. S. 11 (fettgedruckt und Anführungszeichen im Original).

[14] Mackey, W.F.: Toward a Redefinition of Bilingualism. In: Journal of the Canadian Linguistic Association. 8. Jg., Bd. 1., 1956, S. 4-11.

[15] Fthenakis, W.E./ Sonner, A./ Thrul, R./ Walbiner, W.: Bilingual-bikulturelle Entwicklung des Kindes. Ein Handbuch für Psychologen, Pädagogen und Linguisten. München 1985, S.16. In: Andersson, T./ Boyer, M.: Bilingual schooling in the United States. Austin 1970, S. 10.

[16] Vgl. Macnamara, J.: How can One Measure the Extent of a Person´s Bilingual Proficiency? In: Kelly, L.G. (Hg.): Description et Mesure du Bilingualisme. Un Colloque International. Toronto 1969, S. 78-97.

[17] Vgl. Mackey 1956.

[18] Vgl. Hamers, J./ Blanc, M.: Bilinguality and Bilingualism. Cambridge 1989, S. 9.

[19] Vgl. Haugen, E.: Bilingualism in the Americas. Alabama, University of Alabama Press 1956, S. 72.

[20] Vgl. Saunders, G.: Bilingual Children: From Birth to Teens. Clevedon, Philadelphia: Multilingual Matters Ltd 1988, S. 33-34.

[21] Die Begriffe ‚zweisprachig‘ und ‚bilingual‘ haben in der vorliegenden Arbeit eine synonyme Bedeutung.

[22] Vgl. Ronjat, J.: Le Développement du Langage Observé chez un Enfant Bilingue. Paris: Champion 1913.

[23] Vgl. Leopold, W.: Speech Development of a Bilingual Child. Evanston, 1939-1950.

[24] Auf diese Studien wird in Kapitel 3, das den Zusammenhang zwischen der Zweisprachigkeit und der Kognition behandelt, ausführlicher eingegangen.

[25] Vgl. Pintner, R./ Keller, R.: Intelligence tests for foreign children. Journal of Educational Psychology, 13, 1922, S. 214-222.

[26] Vgl. Saer, O.J.: The effects of bilingualism on intelligence. British Journal of Psychology, 14, 1923, S. 25-8.

[27] Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Biographien und vergleichenden Studien wird in Kapitel 3.2 behandelt.

[28] Vgl. Ronjat 1923.

[29] Vgl. Grammont, M.: Observations sur le Langage des Enfants. Paris Mélanges Meillet 1902.

[30] Unter Sprachmischung wird das Wechseln mehrerer Sprachen innerhalb eines Satzes oder einer Satzfolge verstanden.

[31] Hamers/ Blanc 1989, S. 32.

[32] Ebd.

[33] Vgl. Saunders 1988, S. 15.

[34] Vgl. Reynold, De.: In Bieler Jahrbuch – Annales Biennoises II. S. 105. In: Saunders 1988, S. 14.

[35] Vgl. Weisberger, L.: Deutsches Volk und deutsche Sprache. Frankfurt/ Main 1935.

[36] Leopold, W .: Speech Development of a Bilingual Child. A Linguist´s Record. Vol. 1. Vocabulary Growth in the First Two Years. Evanston 1947.

[37] Vgl. Peal, E./ Lambert, W.E.: The relation of bilingualism to intelligence. 1962. In: Psychological Monographs, 76, S. 1-23.

[38] Vgl. Kielhöfer/ Jonekeit 1983, S. 15.

[39] Vgl. Hamers/ Blanc 1989, S. 9.

[40] Graf, P.: Frühe Zweisprachigkeit und Schule. Empirische Grundlagen zur Erziehung von Minderheitenkindern. München 1987, S. 21.

[41] Übersetzt und verändert nach Hamers/ Blanc 1989, S. 9.

[42] Vgl. Romaine, S.: Bilingualism. Oxford, Basil Blackwell Ltd 1989, S. 7.

[43] Skourtou, E.: Streitpunkte des Konzepts der bilingualen Erziehung im Rahmen einer Spracherhaltungsproblematik. Frankfurt am Main 1986, S. 164.

[44] Rehbein, J.: Sprachloyalität in der Bundesrepublik? Ausländische Kinder zwischen Sprachverlust und zweisprachiger Erziehung. Hamburg 1987, S. 7.

[45] Romaine 1989, S. 238-239.

[46] Lenneberg, E.: Foundations of Language. Bd. 2. New York 1967.

[47] Aphasie wird durch einseitige Schädigung des Gehirns hervorgerufen.

[48] Vgl. Lenneberg 1967, S. 142-150.

[49] Unter Hemisphärektomie wird die Entfernung einer Hirnhälfte bei Tumorbefund verstanden.

[50] Vgl. Ebd., S. 153.

[51] Vgl. Krashen, S.D.: Language and the left hemisphere. Ann Arbor 1975, S. 219.

[52] Vgl. Wode, H.: Lernen in der Fremdsprache. Grundzüge von Immersion und bilingualen Unterricht. Ismaning 1995, S. 22-23.

[53] Wode, H.: Psycholinguistik. Eine Einführung in die Lehr- und Lernbarkeit von Sprachen. Ismaning 1993, S. 309ff.

[54] Die Magnetencephalografie bezeichnet ein medizinisches Verfahren, mit dem Magnetfelder im Gehirn gemessen werden können.

[55] Kim, K.H.: Distinct cortical areas associated with native and second languages. 1997. In: Nature 388, S. 171-174. Abrufbar unter: http://www.fmri.org/pdfs/Kimetal.1997.pdf.

[56] Vgl. Kramer, K.: Wie werde ich ein Sprachgenie? In: Gehirn und Geist 2. 2003, S.48.

[57] Vgl. Overmann, M.: Frühes Fremdsprachenlernen lohnt sich – Neurobiologische Forschungen zur Mehrsprachigkeit. Abrufbar unter http://lernen.bildung.hessen.de/bilingual/bildungspolitik/material_bipo/neuro.doc.

Vgl. Kramer 2003, S. 48f.

[58] Vgl. Kramer 2003, S.49.

[59] Vgl. Graf 1987, S. 27.

[60] Ebd., S. 23.

[61] Dulay, H. / Burt, M.: From research to method in bilingual education. 1979, S. 45. In: Alatis, J. (Ed.): International Dimensions of Bilingual Education. Washington 1978, S. 551-575.

[62] McLaughlin, B.: Second language acquisition in childhood. Preshool children. Bd.1. Hillsdale 1984 (1978), S. 10 (kursiv im Original).

[63] Vgl. Graf 1987, S. 28.

[64] Vgl. Ebd.

[65] Vgl. Graf 1987, S. 21.

[66] Graf 1987, S. 21 (kursiv im Original).

[67] Vgl. Kielhöfer, B./ Jonekeit, S.: Zweisprachige Kindererziehung. Tübingen 1983, S. 19.

[68] Romaine, S.: Bilingualism. Oxford: Basil Blackwell Ltd 1989, S. 19-20 (Klammern und kursiv im Original).

[69] Vgl. Kielhöfer/ Jonekeit 1983, S. 16.

[70] Vgl. Graf 1987, S. 28.

[71] Vgl. Loewenthal, M.: 70 ans bilingualisme personnel. In: Cités unies 110, 1983, S. 19. In: Graf 1987, S.28.

[72] Ebd., S. 15.

[73] „Je größer die Gruppe der Sprecher einer Sprache, umso stärker ist der Sog bzw. Zwang für Sprecher einer anderen Sprache, sich bei Kontaktsituationen der Sprache der größeren Gruppe zu bedienen (...) Die dominante Gruppe wird als Majorität bezeichnet, die nichtdominante als Minorität oder Minderheit.“ (Wode 1995, S. 38).

[74] Die Umgebungssprache stellt die Sprache des Landes dar, in dem die zweisprachigen Kinder aufwachsen.

[75] Vgl. Graf 1987, S. 30.

[76] Lengyel, D.: Möglichkeiten und Grenzen eines diagnostischen Vorgehens bei zweisprachigen Kindern. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 3 Stuttgart, Kohlhammer, S. 197-203, 2001, S.198.

[77] „Die Familiensprache ist die Sprache, die im ganzen Familienkreis bei allgemeinen Gesprächen gesprochen wird.“ (Kielhöfer/ Jonekeit 1983, S. 21).

[78] Jedik, L.: Zweisprachigkeit und Migration. In: Grohnfeldt 2001, S.146.

[79] Vgl. Ebd., S. 147.

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Zweisprachigkeit
Untertitel
Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis bilingualer Erziehung
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
72
Katalognummer
V94545
ISBN (eBook)
9783640101139
Dateigröße
1163 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zweisprachigkeit
Arbeit zitieren
meike scheel (Autor:in), 2007, Zweisprachigkeit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94545

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