Aggressiv und demokratiefeindlich oder bürgernah und zukunftsweisend?

Der Vertrag von Lissabon im öffentlichen Diskurs


Seminararbeit, 2008

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Theoretischer Rahmen
2.1 Die konstruktivistische Perspektive in der Integrationsforschung
2.2 Diskurs, agenda-setting und framing
2.3 Phänomenstruktur, Deutungsmuster, Narrative Strukturen
2.4 Zeitungsartikel als Grundlage einer Diskursanalyse

3 Methodik
3.1 Auswahl des Datenmaterials für die Analyse
3.2 Theoretical Sampling / Erschließung der Phänomenstruktur
3.3 Deutungsmusteranalyse
3.4 Rekonstruktion Narrativer Strukturen

4 Phänomenstruktur und Deutungsmuster
4.1 Vom Wesen des Vertrages
4.2 Die ‚Geburtshelfer‘ des Vertrages
4.3 Der Inhalt des Vertrages
4.4 Der Ratifizierungsprozess
4.5 Die Referenda in Frankreich und den Niederlanden 2005
4.6 Besonderheiten einzelner Staaten

5 Narrative Strukturen
5.1 ‚Auf dem richtigen Weg‘
5.2 ‚Unsozial, demokratiefeindlich und aggressiv‘

6 Fazit

Literatur

Anhang

1 Einleitung

Lissabon, 13.12.2007.

Die Staats- und Regierungschefs unterzeichnen den „Vertrag von Lissabon“. Wie die überwältigende Mehrheit der europäischen Bürger war ich nicht live dabei, habe den Vertragstext (immerhin mehr als 200 Seiten!) nicht gelesen und werde das allenfalls partiell nachholen. Ich weiß daher nicht aus erster Hand, was in dem Vertragswerk für Regelungen enthalten sind, die sich - obgleich möglicherweise nur indirekt oder am Rande - beeinflussend auf mein und das Leben meiner Mitmenschen auswirken. Dass von der EU beschlossene Gesetze grundsätzlich Auswirkungen auf die Lebenswelt haben können, wird bei einem Blick in das Lebensmittelregal des örtlichen Supermarktes oder auf die Ohren heimischer Rinder und anderer landwirtschaftlich genutzter Tiere klar.

Was also bringt der neue EU-Vertrag mit sich? Eine nicht-repräsentative Spontanumfrage unter ca. 15 Studierenden, die den Vertrag nicht gelesen hatten, brachte folgendes Ergebnis: Die meisten waren der Meinung es sei ziemlich belanglos, was „da in Brüssel“ entschieden würde, einige waren überzeugt, der Vertrag bringe mehr Demokratie in die EU und wieder andere empfanden den Vertrag als „volksfern“. Eine einzelne Person vertrat die Meinung, der Vertrag brächte uns ‚auf den Weg zum Ende der Bundesrepublik Deutschland‘ (was diese Person als negativ einstufte). Die zweite Frage, die sich anschloss, zielte auf den Ursprung dieses Wissens um die Folgen des Vertrages. Die Antworten lauteten nach einigem nachdenklichen Zögern vorwiegend, dass es im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen wurde. Die schon erwähnte einzelne Person antwortete „Es ist einfach so“. Diese von sonst niemandem geteilte Meinung außer Acht gelassen, war somit festzustellen, dass hier vorwiegend Massenmedien als Wissensgenerator zu dienen scheinten. Dies mag als kleiner Baustein der Bestätigung von LUHMANNS These „was wir über [...] die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (LUHMANN 20043:9) gesehen werden. Ob sich die Selbsteinschätzung der Studierenden bestätigen lässt, versucht diese Arbeit unter anderem herauszufinden.

Wenn wir also davon ausgehen, dass unser Wissen durch Massenmedien gespeist wird und mit WERLEN, der sich hier vorwiegend auf GIDDENS bezieht, übereinstimmen, dass „vieles von dem, was Handelnde über die Welt und ihre Handlungsbereiche «wissen» [] Bestandteil des praktischen Bewusstseins“ ist und „die meisten alltäglichen Aktivitäten [] auf dem praktischen Bewusstsein“ (WERLEN 20042:315) beruhen, dann sind menschliche Handlungen, beispielsweise beim Urnengang, besser zu bestehen, wenn das von Massenmedien produzierte Wissen analysiert wird.

Auch wenn in Deutschland kein Referendum zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon abgehalten wird, sind es letztlich dennoch die Bürger, die entscheiden, ob Europa mehr ist oder sein wird, als nur ein Kontinent - als zufällig räumlich nah beieinander liegende relativ unabhängige Nationalstaaten. Mit der direkten Wahl des Deutschen Bundestages und über den Umweg der Wahl der jeweiligen Landesregierungen, aus denen sich der Bundesrat formiert, wird auch die Europapolitik von den Bürgern mitbestimmt. Daher ist es von großer Bedeutung, wie die europäische Integration vor allem in den Massenmedien sozial konstruiert wird, wie die einzelnen Schritte dieses Prozesses mit Bedeutungen aufgeladen werden. Zweifelsohne gehören dazu auch Verträge und die diesen vorangehenden Debatten.

In dieser Arbeit soll der Blick darauf gelenkt werden, wie im öffentlichen Diskurs über ein solches Vertragswerk kommuniziert wird. Als aktuelles Beispiel wird dafür der „Vertrag von Lissabon“ herangezogen. An diesem wird exemplarisch vorgestellt, wie eine Untersuchung aus sozialkonstruktivistischer, diskursanalytischer Perspektive helfen kann gesellschaftliche und politische Prozesse zu verstehen. Sozialkonstruktivismus und Diskursforschung sind eng miteinander verknüpft, denn wie BUBLITZ feststellt, weist jeder diskursanalytische Ansatz auf „eine konstruktivistische Theorie von Gesellschaft“ hin (BUBLITZ 1999:30).

2 Theoretischer Rahmen

2.1 Die konstruktivistische Perspektive in der Integrationsforschung

Verträge werden von manchen Theorien als große Übereinkünfte gesehen. Andere sehen in ihnen nur die folgerichtigen, wenn nicht gar zwingend notwendigen, politischen Abschlüsse außerhalb der Vertragsdebatten stattfindender Prozesse (WOLF 20062:67; STEINHILBER 20062:176).

Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive ist von Interesse, wie im Rahmen kommunikativer Akte bestimmte Phänomene oder Themen diskursiv konstruiert werden. Dabei findet Kommunikation über bestimmte Themen im öffentlichen Diskurs nicht neutral statt. Die Themen werden dabei mit Bedeutungsgehalten aufgeladen, aus denen sich Handlungsanleitungen und Positionierungsvorschläge ergeben. Dies wird im folgenden Kapitel 2.2 näher erläutert. Einen Weg die Kommunikationsprozesse im öffentlichen Diskurs zu analysieren hat KELLER vorgelegt. Die Analyse wird hierbei anhand der Aufdeckung von Phänomenstruktur, Deutungsmustern und narrativen Strukturen durchgeführt. Die theoretischen Hintergründe hierzu werden in Kapitel 2.3 erläutert und in Kapitel 3.2, 3.3 und 3.4 in methodisches Vorgehen übersetzt. Kapitel 2.4 erläutert, welche theoretischen Aspekte für die Auswahl des Datenmaterials für die Analyse zugrunde gelegt wurden.

2.2 Diskurs, agenda-setting und framing

Der für die konstruktivistische Perspektive zentrale Begriff des Diskurses, wird in vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet. Die Bandbreite reicht von der Sozialpsychologie über die Linguistik bis hin zur Kulturtheorie. Es sind auch Arbeiten naturwissenschaftlicher Disziplinen zu finden, die den Begriff Diskurs einsetzen. Ebenso mannigfaltig wie die Zahl der Disziplinen sind mögliche Definitionen, obschon solche in manchen Arbeiten gar nicht gegeben werden oder höchstens implizit vorhanden sind (MILLS 2007:1-17).

Mit Blick auf das dieser Arbeit zugrunde liegende Forschungsinteresse erscheint eine Anlehnung an den Diskursbegriff von Foucault zweckmäßig. MILLS (2007:66) stellt hierzu fest, dass dieser in den Arbeiten Foucaults auf zweifache Weise Verwendung findet. Zunächst wird damit die „Menge von Regeln und Prozeduren für die Produktion bestimmter Diskurse“ MILLS (2007:66) beschrieben.

Dieser umfassenden Definition steht eine zweite zur Seite, nach der laut MILLS (2007:66) ein Diskurs bzw. dann mögliche Diskurse, als „eine Menge von sanktionierten Aussagen“ zu begreifen ist, die „einen nachhaltigen Einfluss auf das Denken und Handeln von Individuen haben“. Sanktioniert bedeutet in diesem Fall, dass die Aussage einen Legitimationsprozess durchlaufen hat. Der gesamtgesellschaftliche Diskurs gestaltet dabei das Umfeld dieser Diskurse (etwa Regeln der Aussageproduktion, also wer an einem spezifischen Diskurs legitimer Weise teilnehmen darf). Ähnlich definiert auch KELLER (2004:64), wenn er von Diskursen als „nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen“ spricht.

Diskurse sind keine realen Entitäten, die direkt analysiert werden können. Der Forschende unterstellt spezifischen Aussageereignissen einen Zusammenhang bzw. eine Struktur. Dies kann die thematische Referenz sein, aber auch, dass die Aussageereignisse genau einer Institution entstammen. Dadurch sind sie an ein für diese Institution spezifisches Regelwerk gebunden. Beispielhaft können hier Veröffentlichungen genannt werden, die wissenschaftlichen Maßstäben genügen müssen (MILLS 2007:66; BUBLITZ 1999:29). Bei der Beobachtung öffentlicher Diskurse, wird der thematischen Referenz eine hohe Bedeutung beigemessen, da öffentliche Diskurse zum einen „äußerst dynamische und komplexe Prozesse“ (CHILLA 2004:7) darstellen und zum anderen eine diffuse Sprecherstruktur aufweisen. Öffentliche Diskurse sind als „argumentativ-politische Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Problemfelder“ (KELLER 2005:225) zu sehen, die durch Massenmedien vermittelt werden, wodurch sich die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit beteiligen kann.

Eine wichtige Voraussetzung für die Beobachtung öffentlicher Diskurse ist, dass genügend Beiträge für eine Analyse zusammengetragen werden können, das interessierende Thema also eine hohe Präsenz im gesamtgesellschaftlichen Diskurs aufweist, bzw. häufig in den Medien kommuniziert oder diskutiert wird. Den Prozess des ‚InDiskussion-Bringens’ bezeichnet man auch als agenda-setting.

Themen werden nicht neutral auf die ‚Tagesordnung’ gesetzt, sie werden dabei in gewisser Weise ‚aufgeladen’, d.h. mit „dem Thema nicht zwingend innewohnenden Bedeutungsinhalten, Begründungszusammenhängen usw. verknüpft“ (CHILLA 2004:7). KELLER (2003:209) schlägt hierfür den Begriff des ‚Deutungsmusters’ vor. Es ist möglich, dass ein Thema gleichzeitig mit verschiedenen ‚Ladungen’ in den Medien kommuniziert wird. KELLER (2004:67) spricht dann von ‚Subdiskursen’, die darum kämpfen mit dem Thema verschiedene Deutungsmuster zu verknüpfen. Diese DiskursSubdiskurs-Struktur ist eine (Re-)Konstruktionsleistung des Forschenden, der festlegen muss, welchen Maßstab er für die Einheit eines Diskurses wählt (hier ‚Der Vertrag von Lissabon’; eine Maßstabsebene größer wäre z.B. ‚Die aus dem Vertrag von Lissabon resultierenden Folgen für die Landwirtschaft‘) (MERTENS 2008:16-20).

2.3 Phänomenstruktur, Deutungsmuster, Narrative Strukturen

Diskurse, als „Zusammenhang von Struktur, Akteuren und Praxis“ (KELLER 2004:68), erschaffen ihr Thema in charakteristischer Weise. Dies erfolgt durch die diskursive Benennung verschiedener Elemente, wie Gegenständen, Problemkonstellationen, Zusammenhängen, Zuständigkeiten, Wertungen, etc., die damit als wirklich behauptet werden. Dadurch werden gleichzeitig andere Elemente ‚von der Wirklichkeit’ ausge- schlossen. Sprachpraktisch funktioniert dies über „Differenzbildungen und Bedeutungsbzw. Sinnverkettungen“ (KELLER 2004:68). Die Gesamtheit dieser geschaffenen Bausteine können als Phänomenstruktur bezeichnet werden.

Im Diskurs werden verschiedene Schemata angeboten, welche die Wahrnehmung und Deutung der thematisierten Phänomene anleiten. Diese Deutungsmuster sind entweder bereits in der Gesellschaft vorhanden oder werden im Diskurs neu geschaffen. Sie legen nahe, „worum es sich bei einem Phänomen handelt“ (KELLER 2005:238) oder was mit diesem verbunden ist. Deutungsmuster versuchen also das Denken des Rezipienten dahingehend anzuleiten, dass dieser ein bestimmtes thematisiertes Phänomen in spezifischer, bzw. gewünschter Weise wahrnimmt. In der Regel werden Deutungsmuster nicht direkt geäußert, sie sind implizit vorhanden. Ihre Rekonstruktion ist somit ein Interpretationsprozess (MERTENS 2008:21).

Deutungsmuster erscheinen mitsamt ihrem Bezugsphänomen nicht für sich alleine. Sie sind zusammen mit Phänomenbausteinen in narrative Strukturen bzw. Erzählungen eingebunden, wodurch sie zu einer kohärenten Äußerung verbunden werden. Diese narrativen Strukturen „setzen Gegenstände, Personen und Handlungen auf unterschiedliche Weise in Beziehung“ (SCHARVOGEL 2007:16). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass etwa Gegensatzpaare formuliert, „Positionierungsvorschläge für soziale Handlungsträger“ (KELLER 2005:260) verbreitet oder bestimmte Denkweisen bzw. politische und soziale Praktiken legitimiert und Problemlösungsangebote gemacht werden (VIEHÖVER 2001:234). Dabei wird jedoch nicht ein Text als eigenständige Erzählung begriffen. Erst durch eine textübergreifende Analyse kann eine komplexe Narration im Diskurs identifiziert werden (VIEHÖVER 2001:239).

Die in Diskursen kursierenden Erzählungen können „zur Geburtsstätte neuer Welt/Naturbezüge“ (VIEHÖVER 2001:264) werden, wodurch gerade ihnen besondere Macht innewohnt. Erzählungen können somit als „Modelle für die Welt“ (VIEHÖVER 2001:259, Herv. im Orig.) bezeichnet werden.

2.4 Zeitungsartikel als Grundlage einer Diskursanalyse

Das Medium, welches für diese Arbeit herangezogen wird, sind Tageszeitungen. In diesen sind diskursbezogene Äußerungen legitimierter Sprecher zu finden (Journalisten, Politiker, ‚Prominente‘, usw.). Dabei sind Medien nicht einfach als ein Forum zu be- greifen, welches den Meinungsaustausch zwischen Politikern, Wissenschaftlern und anderen gesellschaftlichen Akteuren ermöglicht. Massenmediale Berichterstattung ist kein Abbild der öffentlichen Meinung, sie produziert erst das, was als solche akzeptiert wird. Die Berichterstattung ist in eine diskursive Ordnung eingebunden, die selektierend und limitierend auf deren Bandbreite einwirkt (SCHARVOGEL 2007:49-50).

LUHMANN (20043:59-71) formuliert für Berichte und Nachrichten zehn Punkte, welche selektierend auf die Berichterstattung wirken. Beispielsweise muss die gebrachte Information in irgendeiner Art neu sein (etwa ‚Der Vertrag von Lissabon wurde unterschrieben‘), sich auf Konflikte beziehen, bestimmte Quantitäten beinhalten oder einen lokalen Bezug aufweisen. Durch diese Selektoren wird entschieden, ob eine Information gebracht wird oder nicht.

Um Informationen zu vermitteln, können Massenmedien bzw. die Journalisten verschiedene Darstellungsformen nutzen. Nachrichten und Berichte gehören zu den eher referierenden Formen; daneben lassen sich noch meinungs- und fantasiebetonte unterscheiden (MAST 2004:237). Die letzte Form eignet sich nicht für die hier vorgenommene Analyse. Auch ist zu beachten, dass tatsachenbetonte Formen wie Nachrichten, Meldungen oder Berichte nicht unvermittelt neben meinungsbetonte Formen wie Leitartikel, (Gast-)Kommentare oder Interviews gestellt werden können. Nachrichten beispielsweise müssen „in möglichst knapper, unparteilicher Weise“ Tatsachen vermitteln (MAST 2004:243). Meldungen haben den gleichen Zweck, unterscheiden sich allerdings in der Länge von Nachrichten. Berichte können demgegenüber auch „Stimmungen aufnehmen“, bleiben aber tatsachenbetont (MAST 2004:249).

3 Methodik

Im Folgenden sollen die theoretischen Vorüberlegungen im Hinblick auf die Zielsetzung dieser Arbeit in methodische Vorgehensweise übersetzt werden. Es wird gezeigt, wie verstreute Diskursfragmente aufgespürt und hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit für die Untersuchung geprüft werden, welcher Zeitraum für die Analyse gewählt wurde und welches Datenmaterial als Untersuchungsbasis dient. Ferner wird erläutert, welche Methoden bei der Feinanalyse der Daten zum Einsatz kamen.

3.1 Auswahl des Datenmaterials für die Analyse

Grundsätzlich gilt es bei einer Analyse des Spektrums möglicher Erzählweisen für Sinnund Ereigniszusammenhänge in öffentlichen Diskursen darauf zu achten, dass die gewählten Analysequellen dieses Spektrum - zumindest möglichst - vollständig beinhalten (KELLER 2004:88). Deshalb, und um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wird es - bezogen auf Printmedien - notwendig der Analyse mehrere Medien ähnlicher Art und Güte zugrunde zu legen. Um den Bezug der vorliegenden Arbeit zur aktuellen Situation zu gewährleisten, war es erforderlich, dass die gewählten Analysequellen relativ häufig erscheinen, damit in einem relativ kurzen Zeitraum genügend Diskursfragmente produziert werden und somit für eine Analyse zu Verfügung stehen. Von dieser Bedingung ausgehend kamen nur (werk-)täglich erscheinende Zeitungen in Frage.

Da lokale Tageszeitungen in ihrer Berichterstattung häufig den Fokus auf ihre Region beschränken, kamen nur überregionale Tageszeitungen in Frage, von denen vier „mitunter auch als Qualitätszeitungen apostrophiert“ werden (WILKE 20043:433) - die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Süddeutsche Zeitung (SZ), die Frankfurter Rundschau (FR) und Die Welt (DW). Diese Zeitungen sind in besonderem Maße für die vorliegende Analyse geeignet, denn sie „repräsentieren im Ganzen [] das politische Spektrum der bundesdeutschen Tagespresse“ (WILKE 20043:434), wodurch sie „insgesamt [] eine Meinungsvielfalt [bieten], wie sie für die politische Auseinandersetzung in der Demokratie notwendig ist“ (MEYN 2001:106). Sie sind im Bereich der „überregionalen Tageszeitungen“ diejenigen, die mit Abstand die höchsten Auflagen erzielen und somit eine relativ große Zahl von Lesern erreichen (MEYN 2001:104-106).

Die Grundlage der Analyse besteht daher aus Artikeln der FAZ, der SZ, der DW und der FR. Denn Zeitungsartikel, als massenmedial verbreitete Textdokumente mit allgemeiner Publikumsorientierung, eignen sich insbesondere für die hier angestrebte „Untersuchung öffentlicher Diskurse“ (KELLER 2004:67). Erstellt wurde der Analysekorpus mit Hilfe der Genios-Datenbank (www.genios.de). Diese listet alle Artikel der vier verwendeten und weiterer Zeitungen auf und erlaubt Recherchen über eine „Suchen“Funktion.

Eine grundlegende Annahme der Diskursforschung ist, „dass spezifischen empirischen Daten, die zunächst als singuläre, in Raum und Zeit verstreute Ereignisse (Äußerungen) existieren und dokumentiert sind, ein Zusammenhang, eine Regel oder Struktur unterliegt“ (KELLER 2004:79). Dadurch ist es möglich sich bei der Zusammenstellung des Datenkorpus zunächst an Themen oder Referenzphänomenen zu orientieren und hierbei spezifische Begriffe bzw. Suchworte als Ausgangspunkt für die Materialsuche zu nutzen.

Um dem induktiven Ansatz einer Diskursanalyse Rechnung zu tragen, darf eine Auswahl der Suchworte nicht vor Beginn der Korpuserstellung abgeschlossen werden, denn wie KELLER (2004:68) feststellt, „kann nicht einfach vom Gegenstand ausgehend ein Diskurs erschlossen werden“. Daher wurden zunächst einige relevante Artikel, welche als Ergebnis der Suche mit dem Wort ‚Lissabon‘ auftauchten einer Analyse unterzogen, bei der weitere Suchworte gesammelt wurden. Letztlich wurde folgende Liste verwendet, um den Datenkorpus zu erstellen: Lissabon, Reformvertrag, Verfassung, EU-Verfassung, EU-Vertrag, Referendum, Verfassungsvertrag, Vertrag von Lissabon.

Bei der Suche mit diesen Wörtern zeigten sich deutliche Häufungen vom 18.10.2007 bis zum 20.10.2007 und vom 13.12.2007 bis zum 15.12.2007. Dies scheint wenig verwunderlich, da sich die Staats- und Regierungschefs am 18.10.2007 und 19.10.2007 auf den Vertragstext einigten bzw. der Vertrag am 13. Dezember 2007 unterzeichnet wurde und wie LUHMANN (20043:59-71) zeigt die Neuigkeit einer Information einer der ausschlaggebenden Gründe für eine Berichterstattung ist.

Die Untersuchung wurde auf Artikel beschränkt, die zwischen dem 18. und 20.10.2007 bzw. zwischen dem 13. und 15.12.2007 erschienen sind. Zwei Überlegungen führten zu dieser Entscheidung. Einerseits muss der Analysekorpus für eine Arbeit in diesem Rahmen überschaubar bleiben und andererseits zeigt eine Analyse von Artikeln, die zeitnah am Ereignis geschrieben wurden, möglicherweise ein breiteres Spektrum an Deutungsmustern bzw. Erzählungen. Denn wie VIEHÖVER (2001:253) am Beispiel des Klimawandeldiskurses zeigt, dominiert eine Erzählung mit der Zeit und macht andere entsprechend schwerer zu entdecken. Letztlich wurden 45 Artikel für die Analyse verwandt.

3.2 Theoretical Sampling / Erschließung der Phänomenstruktur

Als Erschließung der Phänomenstruktur wird der Prozess bezeichnet, der rekonstruiert welche Elemente diskursiv einem Phänomen zugehörig gemacht werden und welche Variationen hierbei zutage treten. Die Vorgehensweise orientiert sich an Überlegungen der Grounded Theory.

Ein erster Schritt hierbei ist das Offene Kodieren. Offenes Kodieren, bzw. die Entwicklung von Kodes ist in der Grounded Theory der Begriff für „das Entdecken, Be- nennen und Kategorisieren von Phänomenen“ (STRAUSS & CORBIN 1996:153), in An- wendung auf die Diskursanalyse also das abstrahierende Festhalten diskursiv benannter Elemente oder Dimensionen (KELLER 2004:101). Das zu bearbeitende Material wird mit dem Ziel untersucht, „so viele möglicherweise relevante Kategorien wie möglich aufzudecken“ (STRAUSS & CORBIN 1996:153). Dabei wird zunächst relativ wahllos mit einem Teil des Materials begonnen, da ja nicht bekannt ist wonach man konkret suchen könnte.

Im nächsten Schritt galt es, jede der auf diese Weise gebildeten Kategorien inhaltlich so zu verdichten, dass alle Aspekte erfasst wurden - bis sich scheinbar keine neuen mehr ergaben. An diesem Punkt konnte - in der Sprache der Grounded Theory - davon ausgegangen werden, dass eine „theoretische Sättigung erreicht ist“ (STRAUSS & CORBIN 1996:159).

3.3 Deutungsmusteranalyse

Um die im Diskurs vorhandenen Deutungsmuster zu rekonstruieren, wurden alle Abschnitte denen der gleiche Kode zugeordnet wurde, einer Sequenzanalyse unterzogen. Dabei wurden Satz für Satz Hypothesen entworfen, die am besten „den Bedeutungsgehalt der betreffenden Textpassage [] bezeichnen“ (KELLER 2004:103-104). Die entworfenen Interpretationshypothesen wurden nach jedem Satz hinsichtlich ihrer Angemessenheit überprüft und gegebenenfalls verworfen oder präzisiert. Nach der Analyse aller einem Kode zugeordneten Abschnitte blieben jeweils eine oder mehrere Hypothesen als ‚passend’ übrig (z.B. ‚der Vertrag ist demokratifeindlich‘ oder ‚der Vertrag macht die EU demokratischer‘).

Bei der Sequenzanalyse wurden wiederholt einige Abschnitte, die bereits bearbeitet wurden, nochmals aufgegriffen, um auszuschließen, dass die ‚gefundene’ Hypothese zwar auf die zuletzt analysierten Sequenzen passt, aber nicht mehr auf die zu Anfang bearbeiteten.

3.4 Rekonstruktion narrativer Strukturen

Die Analyse narrativer Strukturen hat zum Ziel, typische Erzählungen zum bzw. über den Forschungsgegenstand ausfindig zu machen. Typisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass bestimmte Elemente auf immer wiederkehrende Weise miteinan- der verknüpft werden, beispielsweise charakteristische Rollenzuschreibungen (‚Angela Merkel hat während der deutschen Ratspräsidentschaft die Grundlagen für den Vertragsabschluss gelegt’) oder Ursache-Wirkungs-Gefüge (‚Der Vertrag von Lissabon macht die EU demokratischer’). Die diskursiv produzierten Erzählungen werden in verdichteter Form nacherzählt, wobei die verwendeten Deutungsmuster und angesprochenen Phänomene deutlich werden.

Zunächst gilt es dabei in Anlehnung an VIEHÖVER (2001:248-251) die einzelnen Episoden der Narrationen zu identifizieren und inhaltlich zu definieren. Die Episoden - und ihr Inhalt, bspw. in Form von benannten Objekten, Akteuren und Prozessen - ergeben sich aus den Kategorien, die bei der Erschließung der Phänomenstruktur entwickelt wurden (KELLER 2004:107). Die einzelnen inhaltlichen Elemente werden durch einen konfigurierenden plot in Beziehung gesetzt und in Raum-Zeit-Strukturen eingebunden. Er hat eine zweifache Wirkung, indem er eine Erzählung nach Außen von anderen abgrenzt und gleichzeitig das Innere der Erzählung vorstrukturiert. Das bedeutet, dass der plot vorgibt, auf welche Weise welche Elemente in einer Erzählung miteinander verbunden werden und somit Aussagen, die dies auf andere Weise tun, als nicht zu der spezifischen Erzählung zugehörig entlarven (SCHARVOGEL 2007:52). So wird der Inhalt einer Geschichte erst (nach)erzählbar (VIEHÖVER 2001:252). Über die Identifizierung der Unterschiede der vorgefundenen plots lassen sich die verschiedenen für den Diskurs typischen Erzählungen herausfiltern.

4 Phänomenstruktur und Deutungsmuster

Bei der Analyse des Datenmaterials konnte festgestellt werden, dass das, was der Vertrag ‚ist‘, aus sechs Phänomenen besteht, d.h. die soziale Konstruktion des Vertrags von Lissabon wird von sechs Bausteinen getragen. Diese sind im Laufe der Analyse mit folgenden Kodes versehen worden: Vom Wesen des Vertrages, Die ‚Geburtshelfer‘ des Vertrages, Der Inhalt des Vertrages, Der Ratifizierungsprozess, Die Referenda in Frankreich und den Niederlanden 2005,[und?] Besonderheiten einzelner Staaten.

Um die Übersichtlichkeit zu erhöhen, werden die herausgearbeiteten Phänomene zusammen mit ihren Deutungsmustern dargestellt. Dabei werden die Artikelnummern (siehe Anhang) angegeben, um ein leichteres Auffinden der Quellenabschnitten zu ermöglichen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Aggressiv und demokratiefeindlich oder bürgernah und zukunftsweisend?
Untertitel
Der Vertrag von Lissabon im öffentlichen Diskurs
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
24
Katalognummer
V94515
ISBN (eBook)
9783640103478
ISBN (Buch)
9783656626220
Dateigröße
1679 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aggressiv
Arbeit zitieren
Henning Mertens (Autor:in), 2008, Aggressiv und demokratiefeindlich oder bürgernah und zukunftsweisend?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94515

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