Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Der Begriff des „Zigeuners“ in der Kinder- und Jugendliteratur
2. „Die schwarze Bhowanéh“ von Else Lasker-Schüler
3. Else Lasker-Schüler in der Boheme des 20. Jahrhunderts
4. Fazit und Ausblick
5. Literaturverzeichnis
1. Der Begriff des „Zigeuners“ in der Kinder- und Jugendliteratur
„[...] Zigeuner sind ein gesellschaftliches Konstrukt, dem ein Grundbestand an Wissen, Bildern, Motiven, Handlungsmustern und Legenden zugrunde liegt, durch die ihnen im Reden über sie kollektive Merkmale erst zugeschrieben werden".1
Bei der Beschäftigung mit „Zigeunerbildern" in der Kinder- und Jugendliteratur gilt es zu allererst den Begriff und das Phänomen des „Zigeuners" zu definieren. Dies gestaltet sich jedoch, wie Bogdal in seinem Werk „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung." feststellt, nicht allzu problemlos. Zum einen gibt es über die „Romvölker"2, die schon im 14. und 15. Jahrhundert in Europa einwanderten, nur wenige Informationen, da sie von Beginn an keine Selbstdefinition führten. Zum anderen neigten diese nomaden-ähnlichen Gruppen eher zu einer schriftlosen, mündlichen Überlieferung ihrer Lebensweise und Gesellschaftsordnung. Durch ihr andersartiges Aussehen, ihre Vorliebe für die Natur und durch die Tatsache, dass die Einheimischen sie mit den „Wilden" außerhalb Europas assoziierten, entstanden schon im 17. Jahrhundert Geschichten und Folklore, die die Realität bezüglich der Identität der Romvölker erheblich verzerrten.3
Wie oben bereits angerissen, stellte Bogdal schließlich heraus, dass es sich bei dem meist umgangssprachlich verwendeten Begriff des „Zigeuners", um einen gesellschaftlichen Sammelbegriff handelt. „Zigeuner" sind demnach keine Ethnie, sondern bestimmte Gruppen, denen von Außerhalb bestimmte - meist stereotype - Eigenschaften oder Attribute zugeschrieben werden.4
In der älteren, so wie in der neueren Forschung ist man sich einig, dass es ein weites Spektrum an vorurteilsbelasteter Literatur über Zigeuner gibt, aber nur wenig bis gar nichts darüber, wie diese Menschen wirklich sind oder waren. Zudem besteht Einigkeit darüber, dass es sich bei der literarischen Bezeichnung des Zigeuners eher um einen Katalog von fremd-zugesprochenen Eigenschaften handelt.5
Somit kann der Begriff des Zigeuners im Weiteren ohne Anführungszeichen verwendet werden, im Hinblick darauf, dass es sich dabei um ein literarisches Phänomen und eine Fremdbezeichnung handelt. Auch in dem Gedicht „Die schwarze Bho- wanéh" von Else Lasker-Schüler, lässt sich dieses Phänomen beobachten.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit soll es also sein, die oben angesprochenen typischen Eigenschaften eines Zigeuners in der Literatur, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse Klaus-Michael Bogdals und einiger anderer Autoren, aus dem Gedicht herauszuarbeiten. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf das dargestellte Bild der Erotik gelegt werden.
2. „Die schwarze Bhowanéh" von Else Lasker-Schüler
In dem Gedicht „Die schwarze Bhowanéh" von Else Lasker-Schüler geht es um ein lyrisches Ich, dass sein starkes Fernweh und erotisches Verlangen zum Ausdruck bringt. Dabei wird ein bestimmtes Bild von der Figur des Zigeuners gezeichnet, wie es in vielen Gedichten des 20. Jahrhunderts zu finden ist. Wie oben bereits erläutert, findet sich in der Literatur, wann immer es um Zigeuner geht, ein Katalog an fremdzugesprochenen Eigenschaften oder Attributen.
Dazu gehört der Aspekt der Andersartigkeit, der in „Die schwarze Bhowanéh" besonders in der dritten Strophe seinen Platz findet. Dort heißt es:
„Auf dem dunklen Schein Meiner Haut schillern Muscheln auf Schnüre gezogen. Und Perlen, von sonnenfarb'gem Bernstein [...]" (V. 12-14).6
Dieses Erscheinungsbild entspricht nicht gerade dem eines normalen Städters des 20. Jahrhundert und konnte daher als andersartig empfunden werden. Erzse-Boiter zitiert Giesen, der die These erläutert, dass sich das Phänomen der Andersartigkeit im Zusammenhang mit Zigeunerdarstellungen in der Kinder- und Jugendliteratur (oder auch anderen Darstellungen fremder Gruppen) aus folgender Überlegung ergibt: „[...] der Kluft zwischen diesen beiden Kategorien (gemeint ist „eigen und vertraut" vs. „anders und fremd") [liegt] eine gewisse Verständigungs- beziehungsweise Vergemeinschaftungssperre zugrunde. Ohne die existierenden Verständigungshindernisse würde das Fremde dank des schnellen Wandels zum Vertrauten gar nicht mehr als solches wahrgenommen werden".7
Gerade durch diese Verständigungshindernisse, konnte das Bild der Zigeuner als andersartig bis heute aufrechterhalten werden. Bogdal stellt dabei eine Verbindung zwischen den Zigeunern des 18. und 19. Jahrhunderts und den „europäischen Kulturmenschen" her. Gerade diese Andersartigkeit war es, die den Europäern dazu diente, sich bewusst abzugrenzen. Die Europäer, welche sich zivilisatorisch und intellektuell auf der höchsten Stufe stehend sahen, konnten, anhand des „nicht-zivilisierten" Leben der Zigeuner, ihren Wohlstand und Fortschritt messen.8
Auch das aufkommende Bild der Wildheit, deckt sich mit dem Aspekt der Andersartigkeit. Das lyrische Ich spricht von „der Wildheit [s]einer Säfte" (V. 6) und dass seine „Seele bebt, wie eine Erde bebt und sich auftut" (V. 16/17), was ebenfalls dem Bild der zivilisierten Stadtbewohner dieser Zeit widerspricht. Das lyrische Ich äußert hier seine Emotionen offen und hebt sich dadurch nochmals von der zeitgemäßen Norm ab.
Zudem wird die Imagination von Körperlichkeit im Verlauf des Gedichtes immer mehr aufgeladen, obwohl das lyrische Ich keine wirkliche Handlung vollzieht. Passend dazu äußerte sich Krausnick:
„Der 'Zigeuner' als mythische Gestalt, als exotischer Gast wird gebraucht zur Spannungssteigerung, zur Emotionalisierung der Texte".9
Diese Emotionalisierung stellt Lasker-Schüler durch reine Artikulation des lyrischen Ichs her. Aber gerade dieser daraus entstehende innere Reiz ist es, den Lasker-Schüler in viele ihrer Gedichte einbaute. Das dazu passende Bild der Zigeuner war ihr hierbei von nutzen. So zitiert Weissenberger Gerhard Kaiser, der „von Else Lasker-Schülers Ich [spricht], als einer Märchenfigur und dem Reiz ihrer Lyrik, der auf dem Ineinander von Naturereignis und Märchenspiel im Ambiente der bürgerlichen Lebenskultur beruht, auch wenn [sie] mit lyrischen Versatzstücken operiert, stumme Herzensgeschichten beschwört, den romantischen Herzensgrund und die rasende Sehnsucht zitiert und die Beziehung wie Lava glühen läßt".10
Der Bezug zur Natur, etwas Märchenhaftes, etwas Romantisches und die Sehnsucht in Bezug auf das Fernweh des lyrischen Ichs, treffen sowohl auf die übliche Darstellung von Zigeunern zu, als auch auf das vorliegende Gedicht. Lasker-Schüler baut hier eine, wenn auch indirekte, sexuelle Spannung auf.
Ungewöhnlich ist zudem, dass Lasker-Schüler ihr lyrisches Ich zum einen als sexuell aktiv dargestellt und zum anderen, dass diese Sexualität nicht als Mittel zur Fortpflanzung dient. Hierbei scheint es eher um erotische Aspekte zu gehen. Bogdal stellt hierzu die Meinungen der vorherigen Jahrhunderte dar:
„Als Menschen, die sich ohne regulierende Moralvorstellungen vollständig ihren Trieben überlassen und ihre Lebensenergien bar jeglicher Vernunft verausgaben, gehören sie, [...] zu den 'Anormalen'. [...] Dass hiernach die Zigeunerfrauen, denen nach dem bürgerlichen Familienideal die Aufgabe zufällt, Moral und Ehrbarkeit zu hüten, das Gegenteil betreiben, setzt sie allgemeiner Verachtung aus".11
Zwar betraf diese Denkweise eher das 18. und 19. Jahrhundert, trotzdem wirkte diese noch bis ins 20. Jahrhundert nach. Diese, von der Norm abweichende Darstellung Lasker-Schülers, ist zudem ein Hinweis auf ihrer Zugehörigkeit zur Boheme-Bewegung, auf die weiter unten genauer eigegangen wird.
Besonders auffällig ist zudem, dass das Symbol des Granatapfels gleich zweifach eingesetzt wird. Zum einen bezieht sich das lyrische Ich auf einen Vergleich: „Granatäpfel prangen Wie die heißen Lippen der Nacht" (V. 8/9), zum anderen beschreibt es sein Fernweh nach der Stadt Granada (vgl. V. 3), welche den Granatapfel als Wappen trägt. Laut Sander steht der Granatapfel für Fruchtbarkeit, Lebendigkeit, Liebe und Schönheit, was hier also sowohl einen Bezug zur erotischen Atmosphäre des Gedichts herstellt, als auch zu einer Stadt die weit in der Ferne liegt.12
Zusätzlich kommt der Aspekt der Sehnsucht und des Fernwehs hinzu. Das lyrische Ich durchleidet die „Qual der Sehnsucht" (V. 21) und wünscht sich an einen Ort Namens Granada zu gelangen und dass das lyrische Du mitkommt (vgl. V. 4). Die zum Ausdruck gebrachte flammende Leidenschaft des lyrischen Ichs bezieht sich entweder auf das lyrische Du, welches das Objekt der sexuellen Begierde ist, oder auf das brennende Fernweh, welches dadurch zum Ausdruck gebracht wird.
„Heiße Winde stöhnen, wie der Odem der Sehnsucht" (V. 19/20) - durch solche erotischen Darstellungen, verleiht Lasker-Schüler ihrem lyrischen Ich etwas Geheimnisvolles und Mystisches, da nicht klar wird, wonach sich das lyrische Ich tatsächlich verzehrt. „Die Lockrufe der schwarzen Bhowanéh" (V. 23) verstärken das Bild des Fernwehs, aber auch das Geheimnisvolle, da nicht verraten wird, wer die schwarze Bho- wanéh ist. Es scheint so, als könne sich das lyrische Ich mit der schwarzen Bhowanéh identifizieren.
[...]
1 Bogdal, Klaus-Michael : Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin 2011, S. 15.
2 Ebd., S. 9. - Bogdal benutzt den Begriff „Romvölker“ als möglichst weiten Begriff, der alle in der Vergangenheit oder in der Gegenwart lebenden Menschen, die abwertend „Zigeuner“ genannt wurden/werden, umfasst. Dabei sind innerhalb dieser Bezeichnung auch Untergruppierungen eingeschlossen, wie die deutschen „Sinti“, die spanischen „Calé“ usw.
3 Vgl. ebd., S. 11.
4 Vgl. ebd., S. 15.
5 so bspw.: Mattenklott, Gundel: „Fantasien des Fremden. 'Zigeuner ' in Gedichten und Liedern für Kinder des 19. Jahrhunderts“. In: Josting, Petra et al. (Hg.): "Denn sie rauben sehr geschwind jedes böse Gassenkind". "Zigeuner"-Bilder in Kinder- und Jugendmedien. Göttingen 2017, S. 201f. UND Krausnick, Michail: „Das Bild der Sinti in der Kinder- und Jugendliteratur“. In: Awosusi, Anita (Hg.): Zigeunerbilder in der Kinder- und Jugendliteratur. Heidelberg 2000, S. 35-38.
6 Lasker-Schüler, Else: „Die schwarze Bhowanéh“ In: Die Gedichte. Hg. Gabriele Sander. Werkausgabe. Stuttgart 2016, S. 20. - Im Folgenden angeführte Versangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
7 Erzse-Boiter, Kinga: Das Bild des Anderen in der rumäniendeutschen Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt am Main 2009, S. 20.
8 Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner, S. 160f.
9 Krausnick: „Das Bild der Sinti in der Kinder- und Jugendliteratur“, S. 35-38.
10 Weissenberger, Klaus: „Ein Mensch der 'Liebe' kann nur auferstehen! Else Lasker-Schülers Lyrik im Kontext von Liebesthematik und deren poetischer Konkretisation“ in: Schürer, Ernst/ Hedgepeth, Sonja (Hg.): Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven. Views and Reviews. Tübingen 1999, S. 91-117.
11 Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner, S. 163.
12 Vgl. Lasker-Schüler: Die Gedichte, S. 285.
- Arbeit zitieren
- Lisa Schubert (Autor:in), 2018, Das Gedicht „Die schwarze Bhowanéh“ von Else Lasker-Schüler. Die Darstellung der "Zigeunerin", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/942983
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