Der Lissabonner Vertrag als weitere Etappe im europäischen Verfassungsprozess


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2008

16 Seiten


Leseprobe


Der Lissabonner Vertrag als weitere Etappe im europäischen Verfassungsprozess

Von Rechtsanwalt Dr. Gerald G. Sander, M.A., Mag.rer.publ., Stuttgart

I. Einleitung

Am 13. Dezember 2007 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister der EU-Mitgliedstaaten feierlich den Vertrag von Lissabon.[1] Nach Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten soll der Vertrag zum 1. Januar 2009, also noch vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009, in Kraft treten.

Der Vertrag von Lissabon übernimmt die wesentlichen inhaltlichen Fortschritte des gescheiterten Verfassungsvertrags,[2] baut als Änderungsvertrag aber auf der Struktur der beiden bestehenden Verträge – des Vertrages über die Europäische Union (EUV) und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) – auf.[3] Während der EU-Vertrag seinen Namen behält (EUV n.F.), wird der Name des EG-Vertrages in Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geändert. Auch der Begriff „Gemeinschaft“ wird im Vertragstext konsequent durch „Union“ ersetzt.

Damit beendet der Reformvertrag die tiefe Krise der EU nach den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden und macht die EU mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten handlungsfähiger und demokratischer.[4] Der Vertrag von Lissabon sieht tief greifende Reformen der EU vor, sowohl bei den Institutionen und Verfahren als auch bei Sachpolitiken.

II. Überblick über wesentliche Neuerungen im Lissabonner Vertrag

1. Institutionelle Änderungen

Der Europäische Rat wird künftig als eigenständiges Organ neben den bisherigen Organen (Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof) eingerichtet.[5] Sein Präsident, der von den Staats- und Regierungschefs gewählt wird, übernimmt den Ratsvorsitz für zweieinhalb Jahre. Er darf kein einzelstaatliches Amt innehaben (Art. 15 Abs. 6 S. 3 EUV n.F.). Seine deutlich längere Amtszeit soll mehr Kontinuität in die europäische Politik bringen. Auch der gescheiterte Verfassungsvertrag hätte diese Neuerung beinhaltet. Entgegen dem Verfassungsvertrag sieht der Vertrag von Lissabon allerdings vor, dass die turnusmäßige Ratspräsidentschaft eines Staates im Rat der EU, also dem Rat der nationalen Fachminister, weiterhin halbjährlich wechselt.

Außerdem wird ein „Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ mit eigenem diplomatischen Dienst eingesetzt. Er führt den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten und ist gleichzeitig als Vizepräsident der Kommission zuständig für die EU-Außenpolitik und vertritt diese in der Welt. Die Funktionen des EU-Außenkommissars und des EU-Außenbeauftragten werden in diesem neuen Amt gebündelt, so dass der Posten des Außenkommissars in der Kommission wegfällt. Die EU-Staaten behalten jedoch nach wie vor wichtige außenpolitische Kompetenzen.

Die Zahl der Kommissare wird ab dem Jahr 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten verringert. Die Kommissionsposten werden dann nach einem Verfahren gleichberechtigter Rotation verteilt.

Das Europäische Parlament hat künftig 751 Abgeordnete mit einer Höchstzahl von 96 und einer Mindestzahl von sechs Sitzen pro Mitgliedstaat. In letzter Minute hatte die italienische Regierung noch durchgesetzt, dass sie genau wie das Vereinigte Königreich 73 Sitze erhält. Da dies im Gegensatz zum Vorschlag des Parlaments stand, die Obergrenze bei 750 Mitgliedern zu ziehen, hatte man darauf hingewiesen, dass der Präsident des Parlaments auf sein Stimmrecht verzichten soll. Demgegenüber stellte der derzeitige Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering mittlerweile klar, dass sich die Rechte des Parlamentspräsidenten durch die getroffene Vereinbarung nicht verändern lassen, ein formaler Entzug des Abstimmungsrechts komme nicht in Betracht.[6] Die Verteilung der Sitze erfolgt nach dem Prinzip der sog. „degressiven Proportionalität“, das heißt, das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Anzahl von Sitzen jedes Mitgliedstaates muss in Abhängigkeit von seiner jeweiligen Bevölkerung variieren, so dass jeder Abgeordnete eines bevölkerungsreicheren Mitgliedstaates mehr Bürger vertritt als jeder Abgeordnete eines bevölkerungsärmeren Mitgliedstaates. Es darf aber kein bevölkerungsärmerer Mitgliedstaat über mehr Sitze verfügen als ein bevölkerungsreicherer Mitgliedstaat.

Die Europäische Zentralbank wird neben den anderen Organen nun ebenfalls ein Organ der EU. Die Zentralbank befürchtet durch diese Klausel zwar eine Beschränkung ihrer Unabhängigkeit, diese sollte aber durch die konkreten Vertragsregelungen, die ihr Regime näher bestimmen, gesichert sein.

2. Verfahrensänderungen

In Angelegenheiten der Gesetzgebung tagt der Rat der EU künftig öffentlich. Grundsätzlich beschließt der Rat dabei mit qualifizierter Mehrheit. Bis zum 31. Oktober 2014 gilt für die qualifizierten Mehrheitsentscheidungen das im Vertrag von Nizza festgelegte Stimmenverhältnis, bei dem die vier großen Staaten mit über 50 Millionen Einwohnern (Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich und Italien) über je 29 Stimmen verfügen und die nächst größeren (Spanien mit 45 Millionen Einwohner und Polen mit 38 Millionen) mit 27 Stimmen fast gleiches Stimmengewicht besitzen. Die übrigen Staaten verfügen zwischen 14 (Rumänien) und drei Stimmen (Malta). Ab dem 1. November 2014 wird für die Mehrheitsentscheidungen die sog. „doppelte Mehrheit“ eingeführt. Allerdings kann ein Mitgliedstaat bis zum 31. März 2017 beantragen, dass eine Abstimmung weiterhin nach den Regeln des Nizza-Vertrags durchgeführt wird. Ab dem genannten Zeitpunkt gilt dann nur noch das Prinzip der doppelten Mehrheit. Es berücksichtigt einerseits die Gleichheit der Mitgliedstaaten und andererseits die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger. Beschlüsse erfordern danach eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedstaaten (mindestens 15), die 65 Prozent der Bevölkerung in der EU repräsentieren.[7] Für eine Sperrminorität bedarf es in der Praxis mindestens vier Ratsmitglieder, die zusammen mehr als 35 Prozent der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten.[8]

[...]


[1] Eine allgemeiner Überblick bei Baddenhausen/Gey/von Harbou, Der Vertrag von Lissabon, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Nr. 01/08 vom 19. Dezember 2007.

[2] Zum Verfassungsvertrag siehe Sander, Der Europäische Verfassungsvertrag – Einführung in Grundordnung und Architektur der EU, in: Sander/Vlad (Hrsg.), Quo vadis, Europa? Europas Verfassung und künftige Erweiterungen, Hamburg 2006, S. 11 ff.

[3] Ausführlicher hierzu Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, in: EuZW 2008, S. 7 ff.

[4] Zur Entstehung und Geschichte des Reformvertrages siehe Hellriegel, Von der Verfassung für Europa zu einem neuen Reformvertrag?, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Nr. 019/07 vom 5. Juni 2007.

[5] Hierzu ausführlich Wessels, Das politische System der Europäischen Union. Die institutionelle Architektur des EU-Systems, Wiesbaden 2008.

[6] Bislang verzichtet der Sitzungsleiter bei Abstimmungen zumeist freiwillig auf sein Stimmrecht.

[7] Liegt kein Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik vor, erhöht sich das Staatenquorum auf 72 Prozent der Mitgliedstaaten.

[8] Für eine Sperrminorität bedarf es mindestens der Mindestzahl von Mitgliedern des Rates, die zusammen mehr als 35 Prozent der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der Lissabonner Vertrag als weitere Etappe im europäischen Verfassungsprozess
Autor
Jahr
2008
Seiten
16
Katalognummer
V94274
ISBN (eBook)
9783638069786
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lissabonner, Vertrag, Etappe, Verfassungsprozess
Arbeit zitieren
Dr. Gerald G. Sander (Autor:in), 2008, Der Lissabonner Vertrag als weitere Etappe im europäischen Verfassungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94274

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