Altern im Sozialstaat. Soziale Pflegeversicherung und Pflegeinfrastruktur in Deutschland

Status quo, Weiterentwicklung und die Rolle der Sozialen Arbeit


Bachelorarbeit, 2007

83 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sozialrechtliche Grundlagen
2.1 Ausgangssituation vor Einführung der Pflegeversicherung
2.2 Die Soziale Pflegeversicherung
2.2.1 Allgemeines
2.2.2 Leistungsvoraussetzungen
2.2.3 Leistungsgrundsätze
2.2.4 Leistungsübersicht

3. Veränderungsbedarf im Pflegeversicherungsgesetz
3.1 Notwendigkeit der Veränderungen
3.1.1 Soziale und demographische Entwicklung
3.1.2 Kostenentwicklung bei Pflegeleistungen
3.1.3 Zeitmäßigkeit des Pflegebegriffs
3.2 Umsetzung der Pflegeversicherungsreform
3.2.1 Ziele und Inhalte
3.2.2 Prognose
3.2.2.1 Positive Aspekte
3.2.2.2 Negative Aspekte
3.2.2.3 Auswirkungen auf die Soziale Arbeit
3.2.2.4 Ausblick

4. Modellhafte Ansätze pflegerischer Versorgung
am Beispiel des Persönlichen Budgets
4.1 Persönliche Budgets
4.2 Das Personenbezogene Pflegebudget
4.2.1 Zielgruppe und Ziele
4.2.2 Rolle des Case Management
4.2.3 Kritik

5. Modellkonzepte zu Betreuungsformen im Alter
5.1 Modellprojekt: „Tagesmütter für Demenzkranke“
5.1.1 Vorstellung der Projektbestandteile
5.1.2 Fazit
5.2 Wohnkonzept: „Lebensräume für Jung und Alt“
5.2.1 Idee
5.2.2 Umsetzung und Voraussetzungen
5.2.3 Funktion der GemeinwesenarbeiterInnen
5.2.4 Bewertung

6. Schluss

Literaturliste

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Leistungsgrundsätze

Abbildung 2: Stressoren für pflegende Angehörige

Abbildung 3: Aktuelle Leistungssätze nach SGB XI

Abbildung 4: Leistungsausgaben der Pflegeversicherung 1997 und 2006

Abbildung 5: Veränderte Leistungssätze nach SGB XI

Abbildung 6: Formen persönlicher Budgets

Abbildung 7: Elemente des Case Management

Abbildung 8: Die Lebensräume - Teil des Gemeinwesens

1. Einleitung

„Nichts, was dem Menschen zustößt, ist so unerwartet wie das Alter“ (Leo Trotzki)

Der stetige Wandel innerhalb des deutschen Sozialstaates stellt die in und mit ihm lebenden Menschen, egal welchen Alters, vor immer neue Herausforderungen. Längst ist die Frage, was der Sozialstaat in Zukunft noch leisten kann und wird, zentral in der gesellschaftlichen und der politischen Diskussion. Dabei spielt vor allem die Gestaltung der Versorgung im Alter eine wichtige Rolle, hier ist neben der Lage der Rentenversicherung die der Sozialen Pflegeversicherung ausschlaggebend. Und diese Lage ist äußerst prekär. Denn im Zuge der demographischen und sozialen Entwicklung machen sich neben der finanziellen Krise auch die Schwächen in der Versorgung Pflegebedürftiger und der sie pflegenden Angehörigen bemerkbar. Die Soziale Arbeit muss, wenn sie als Disziplin des Sozialstaates erfolgreich agieren will, die Notwendigkeit von Veränderungen nachvollziehen können und diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitgestalten.

Der Sozialstaat der Zukunft, das ist längst nicht mehr neu, wird begründet auf der Eigenverantwortung seiner Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von deren Alter. Doch auch Eigenverantwortung und Vorsorge brauchen Rahmenbedingungen, in denen sie gestaltet werden und gerade im Alter ist häufig schnell die Grenze erreicht, nach der die Selbstversorgung aufgrund äußerer Umstände nicht mehr möglich ist.

Wie schnell die selbständige Lebensführung einer von Abhängigkeiten gekennzeichneten Beziehung weichen muss, konnte ich vor vier Jahren bei meinen Großeltern beobachten. Nach einer schweren Erkrankung meiner Großmutter, war mein Großvater nicht mehr in der Lage seine Frau und sich ausreichend zu versorgen. Nach über 50 Jahren mussten sie das selbst gebaute Haus verlassen, um ab sofort wieder mit ihrem Sohn unter einem Dach zu leben. Mein Vater, der sich eben noch darüber freute, dass die eigenen Kinder endlich „flügge“ geworden waren, bekam mit 59 Jahren zwei „neue Mitbewohner“. Die bisherige Alltagsgestaltung, sowohl meiner Großeltern als auch unserer Familie, veränderte sich grundlegend und mein Vater wurde um eine Rollenzuschreibung reicher - die des pflegenden Angehörigen. Nach dem Tod meiner Großmutter blieb mein Großvater, inzwischen selbst schwer demenzkrank, weiterhin in der Obhut meines Vaters. Ich erhielt dadurch die Möglichkeit, ein häusliches Pflegearrangement „von innen“ zu betrachten und musste

Einleitung

feststellen, dass sich dort eine Vielzahl von Problemen ergab. Mitunter konnten zwar Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung unterstützend wirken, zu einem wesentlich größeren Teil jedoch blieb die Situation eine schwer zu bewältigende Herausforderung für meinen Vater und sein gesamtes gesellschaftliches und soziales Umfeld.

Rückblickend betrachtet gab dies den Anstoß mich näher mit der Thematik des Lebens und der Versorgung im Alter zu befassen. Das Sozialstaatsmodell (und als Bestandteil davon die Soziale Pflegeversicherung) bildet meines Erachtens immer noch das politische und soziale Fundament unserer Gesellschaft. Es ist deshalb Ziel dieser Arbeit darzustellen, welchen Belastungen die Soziale Pflegeversicherung ausgesetzt ist bzw. sein wird, wie eine zuverlässige sozialstaatliche Versorgungsstruktur im Pflegesektor auch in Zukunft gewährleistet werden kann und welche Weiterentwicklungsmöglichkeiten dabei berücksichtigt werden müssen.

Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei neben den Inhalten der anstehenden Reform der Sozialen Pflegeversicherung, die bisherige Situation im Pflegeversicherungsgesetz, die spezielle Belastungslage pflegender Angehöriger sowie die Bedeutung innovativer Leistungskonzepte.

Das Altern im Sozialstaat, dies soll anhand dieser Arbeit verdeutlicht werden, konfrontiert von Pflegebedürftigkeit betroffene Menschen und deren Umfeld mit einer Reihe von zu bewältigenden Schwierigkeiten und Konflikten. Diese sollten aber ebenso als Herausforderung begriffen werden, die mit der richtigen Unterstützung und Nutzung der Potentiale des Alters auch durchaus erfolgreich bewältigt werden können. Um dies zu ermöglichen müssen jedoch Sozialstaat und Gesellschaft für die notwendigen Veränderungen bereit und offen sein.

Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist eine literaturgestützte Auseinandersetzung mit dem System der Sozialen Pflegeversicherung als Bestandteil des deutschen Sozialstaates.

Dabei wird zunächst der aktuelle Zustand im Pflegeversicherungsgesetz näher dargestellt, wobei besonders auf die Position der pflegenden Angehörigen eingegangen werden soll. Anschließend werden die Entwicklungen aufgezeigt, in denen die Notwendigkeit einer Reform begründet ist. Anhand aktueller Veröffentlichungen und den Informationen der zuständigen Regierungsbehörden werden daraufhin die Reformbestrebungen erläutert und fachlich bewertet.

Im Weiteren werden innovative Konzepte der pflegerischen Versorgung, wie z.B. das Pflegebudget, vorgestellt. Dies soll dazu dienen, den Blick für die zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten im Pflegewesen zu öffnen und deren Vor- und Nachteile aufzuzeigen.

Im gesamten Verlauf der Arbeit wird stets Bezug genommen auf die Rolle der Sozialen Arbeit als gesellschaftsgestaltende Disziplin und die neuen Handlungsspielräume und Aufgabenfelder, die sich aus den beschriebenen Entwicklungen für sie ergeben.

2. Sozialrechtliche Grundlagen

Die Pflegeinfrastruktur in Deutschland gestaltet sich zu einem Großteil in Form der Sozialen Pflegeversicherung im SGB XI. Im folgenden Kapitel soll diese genauer betrachtet werden. Dabei wird zum einen auf die geschichtlichen und politischen Entwicklungen, die zur Einführung der Pflegeversicherung führten eingegangen. Zum anderen werden zur Verfügung stehende Leistungen, Ziele und der versicherte Personenkreis genauer betrachtet. Im Sinne der Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird im Weiteren auf die aktuelle Situation pflegender Angehöriger Bezug genommen. Durch dieses einführende Kapitel soll der Zugang zur Problematik der sozialen Pflegeversicherung erleichtert und der Blick für den aufkommenden Reformbedarf geöffnet werden.

2.1 Ausgangssituation vor Einführung der Pflegeversicherung

Einen Großteil der Gestaltung der Altenpflegepolitik lag bis zur Einführung der Pflegeversicherung in Händen der Bundesländer, die mit ihrem Engagement, gerade auch in der Zeit nach der Wiedervereinigung wichtige Wegbereiter waren und auch in der Reformdiskussion ihre Erfahrungen im Bereich der Altenpflegepolitik einbrachten. Hervorzuheben ist, dass „es keine gesetzlich eindeutige Verantwortung für die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Pflegeinfrastruktur“ (Schölkopf in Buhl u.a. 2002, 13) gab. Das Engagement der Länder war sozusagen „freiwilliger Natur“ und begründet durch den desolaten Zustand, in dem sich die ambulante und die stationäre Altenpflege zum Ende der 50er Jahre befanden. Dies galt sowohl für die Versorgung der Betroffenen als auch für die Arbeitsbedingungen des Personals. In den 1960er Jahren begannen die Bundesländer die Situation im Altenpflegesektor in Erhebungen genauer zu betrachten und in der Konsequenz finanzielle Unterstützung für Sanierungs- und Heimneubauprojekte zur Verfügung zu stellen. Zum Jahr 1962 stellte die Förderung der stationären Altenhilfe einen festen Posten im Haushaltsplan aller Bundesländer (mit Ausnahme des Saarlandes) dar. Das Engagement der Bundesländer beschränkte sich jedoch nicht nur auf den stationären Bereich. Bereits zu Beginn der 50er Jahre mussten sich die traditionell von Kirchen getragenen Gemeindekrankenpflegestationen mit einer äußerst schwierigen Personalsituation und schlechten Arbeitsbedingungen auseinandersetzen.

Auch hier reagierten die Bundesländer schnell und ohne eine gesetzliche Verpflichtung und stellten den Haus- und Gemeindekrankenpflegestationen finanzielle Mittel zur Verfügung.

Da jedoch die finanzielle Unterstützung ohne Erfolg blieb und sich die Zustände im ambulanten Sektor sogar noch verschlechterten, begannen die Bundesländer Ende der 1960er Jahre mit der zweiten Phase ihres Engagements. Sowohl die Fachwelt als auch die Träger sahen den Handlungsbedarf in der gezielteren Organisation der häuslichen Pflegedienste und der Beschäftigung von gut ausgebildetem und gut bezahltem Personal. Mit Beginn der 1970er Jahre wurden diese Forderungen mit Unterstützung der Bundesländer umgesetzt, die sich zum Großteil für die Förderung von Sozialstationen in Trägerschaft von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden entschieden. Der Plan einiger Stadtstaaten und Hessens zur Einrichtung von Sozialzentren, die Pflege und psychosoziale Beratungsdienste miteinander verbinden sollten, scheiterte (in Hessen) an enormen Kosten und dem Widerstand der freien Träger. Die flächendeckende finanzielle Unterstützung von Sozialstationen verzögerte sich u.a. darum in Hessen bis in die 1980er Jahre.

Die Ausprägungen des Engagements unterschieden sich, auch auf Grund der variierenden Finanzlagen der Länder, sehr stark. So divergierte zum Ende der 1980er Jahre das Versorgungsniveau im ambulanten Pflegebereich zwischen den Bundesländern enorm. Das Problem lag in der qualitativ und quantitativ ungenügenden Personalausstattung der Sozialstationen sowie deren mangelhafter betriebswirtschaftlicher Organisationsstruktur. Studien, die die Bundesländer in der dritten Phase ihres Engagements in Auftrag gegeben hatten belegten außerdem, dass die Pflegedienste zwar eine gute Behandlungs- und Grundpflege leisteten, jedoch Bereiche wie hauswirtschaftliche Betreuung, Beratung von Angehörigen oder sozialkommunikative Zuwendung stark vernachlässigten. Ende der 80er Jahre zeichnete sich das Länderengagement durch einen hohen Grad an Einigkeit aus, mit dem gemeinsamen Ziel die bestehenden Sozialstationen qualitativ und quantitativ besser auszustatten, wurden die Haushaltsmittel für ambulante Pflegedienste nochmals erhöht. In den letzten Jahren vor Einführung der Pflegeversicherung ergab sich mit den Mobilen Sozialen Hilfsdiensten jedoch noch ein weiterer Bereich dessen Basis es zu sicher zu stellen galt. Der großen Bedeutung die diese Dienste in der häuslichen Pflege einnahmen musste mit einer Erhöhung der Fördermittel Rechnung getragen werden. Um jedoch auch deren sinnvolle und zielgesetzte Verwendung besser zu steuern, mussten die Altenpflegedienste besser koordiniert und ihre

Zusammenarbeit effektiver organisiert werden (vgl. Schölkopf in Buhl u.a. 2002, 15-29). An dieser Stelle zeichnen sich bereits Schwierigkeiten ab, mit denen sich von Pflegebedürftigkeit betroffene Menschen, ihre Angehörigen sowie zuständige Institutionen und die Politik bis heute konfrontiert sehen.

Da in diesem Kapitel die Ausgangsvoraussetzungen der Altenpflege vor Einführung der Pflegeversicherung in der gesamten Bundesrepublik dargestellt werden sollen, muss auch die Situation in den neuen Bundesländern bzw. der DDR berücksichtigt werden. Die Bedingungen zu denen Altenhilfeleistungen vor der Wiedervereinigung erbracht wurden, waren teilweise sehr problematisch. Da die Unterbringung im Heim für Pflegebedürftige u.a. finanziell attraktiver war als die häusliche Pflege in oft schlechten Wohnverhältnissen bestand eine große Nachfrage an stationärer Unterbringung. Dieser Nachfrage konnte jedoch nicht ausreichend entsprochen werden, so lagen im Jahr 1989 noch etwa 103.000 unerledigte Anträge auf Unterbringung in Pflegeeinrichtungen vor. Neben dem quantitativ unzureichenden Angebot war auch die Qualität der Heime eher mangelhaft, dies zeigte sich zum einen an stark renovierungsbedürftigen und/oder baufälligen Einrichtungen, zum anderen an einer schlechten Personalsituation, die bis 1989 allenfalls einen Personalschlüssel von 1:5 zuließ. Eine Deckung des vorhandenen Bedarfs konnten auch die bei Polikliniken angesiedelten ambulanten Pflegedienste in der DDR nicht erreichen, obwohl auch hier, ähnlich der BRD, ab Ende der 70er Jahre ein Ausbau stattfand. Neben den bei staatlichen Arztpraxen angebundenen Gemeindeschwestern wurde die Versorgung von Senioren im hauswirtschaftlichen Bereich vom Wohlfahrtsverband „Volkssolidarität“ auf Staatskosten erbracht, was für die Nutzer kostenfrei und damit attraktiv war, jedoch ebenfalls nicht ausreichend angeboten wurde (vgl. Schölkopf nach Schulz in Buhl u.a. 2002, 30-31).

Bis zur Wiedervereinigung blieben, trotz bestehender Strukturen im stationären und ambulanten Bereich, große Lücken in der Bedarfsdeckung und Organisation, die es in den Jahren zwischen Einheit und in Kraft treten der Pflegeversicherung zu schließen galt. Im Zuge dessen wurden die westdeutschen Strukturen, z.B. im Bereich Angebot und Finanzierung, auf die ostdeutschen übertragen, was durchaus auch zu Konflikten führen konnte. Besonders problematisch erwiesen sich für die „neuen“ Landesregierungen zum einen das politische Handeln in dieser gesellschaftlichen Umbruchphase, zum anderen die Umsetzung der von westlichen Ländern vorgegebenen Maßstäbe in der Altenpflegepolitik, wie z.B. die Erstellung eines Landesaltenplanes. Bis zur Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1994 bzw. deren in Kraft treten im Jahr 1995 konnte dieser Forderung nur eines der neuen

Bundesländer nachkommen. Weiterhin bestanden vor allem im baulichen Bereich der stationären Versorgung noch erhebliche Mängel, die es schrittweise zu beheben galt. Dies wirkte sich auch auf die Situation der zahlreichen Pflegebedürftigen in Heimen sehr belastend aus. Nach und nach gelang es jedoch die hohen Belegungszahlen in den Heimen zu senken und die Ausstattung der Einrichtungen an das westdeutsche Niveau anzugleichen. Auch im ambulanten Bereich strebten die neuen Länder eine Anpassung an westdeutsche Verhältnisse an. Mit Hilfe von Bundesmitteln gelang hier die Gründung zahlreicher Sozialstationen bis zum Jahr 1992, deren weitere Erhaltung sicherten die Landesregierungen mit der Verabschiedung von Förderprogrammen. Die Sozialstationen befinden sich auch heute noch nahezu ausschließlich in Trägerschaft von Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, wobei die Rolle der kirchlichen Träger im Vergleich zu den alten Bundesländern eine stark untergeordnete ist (vgl. Schölkopf in Buhl u.a. 2002, 33-35).

Es zeigt sich, dass das Engagement der Bundesländer sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland die deutsche Pflegelandschaft stark geprägt hat. Interessant ist daran vor allem, dass die Entwicklungen, z.B. die Stärkung der häuslichen Pflege oder die Förderung neuer Sozialstationen, auch immer von der politischen Ausrichtung der jeweiligen Landesregierung beeinflusst waren. Obwohl viele programmatische Unterschiede mit Einführung der Pflegeversicherung verschwunden sind, blieben gewisse politische Prägungen in der Pflegeinfrastruktur der Länder erhalten. Dies kann sich auch förderlich bzw. hemmend auf die Entwicklung neuer und innovativer Versorgungsstrukturen, deren Bedeutung im Verlauf dieser Arbeit noch dargestellt werden soll, auswirken. Im folgenden Kapitel soll zunächst jedoch auf die Soziale Pflegeversicherung als wichtigste sozialrechtliche Grundlage für Pflegebedürftige eingegangen werden.

2.2 Die Soziale Pflegeversicherung

2.2.1 Allgemeines

1994 wurde mit dem Gesetz zur sozialen Absicherung bei Pflegebedürftigkeit eine langjährige Debatte beendet, die in Deutschland seit den 1970er Jahren geführt wurde. Als neuer beitragsfinanzierter Zweig innerhalb der Sozialversicherung stellt die Pflegeversicherung ihren Mitgliedern Leistungen bei Pflegebedürftigkeit zur Verfügung. Anders als die bisher bestehenden Bereiche der Sozialversicherung handelt es sich hier jedoch um eine Art „Teilkasko-Versicherung“, d.h. es wird seitens der Politik nicht länger eine Bedarfsdeckung angestrebt, statt dessen haben die Pflegebedürftigen die übersteigenden Beträge durch Eigenvorsorge zu finanzieren. Dies bedeutet einen Bruch mit den Traditionen des deutschen Sozialrechts, da nicht der komplette Versorgungsumfang von Versicherungsseite getragen wird. Die nur teilweise Bedarfsdeckung innerhalb der Pflegeversicherung wurde innerhalb der Bevölkerung und bei den betroffenen Trägern von Einrichtungen nicht hinreichend deutlich wahrgenommen, was viele Erwartungen, die mit der Einführung der Pflegeversicherung verknüpft waren enttäuschte. Dadurch ist die Haltung gegenüber der Pflegeversicherung noch heute geprägt. Negativ verstärkt wird dies durch den aufkommenden Reformbedarf, der auf verschiedenen Ebenen deutlich wird. Hierauf wird später noch genauer eingegangen werden. Mit Einführung der Sozialen Pflegeversicherung erfolgte nicht nur eine Bündelung der Pflegeleistungen bei einer zuständigen Versicherung und die Teilfinanzierung von Leistungen im ambulanten und stationären Bereich, auch die Finanzierung von Trägern und Einrichtungen wurde neu ausgerichtet. Diese orientiert sich nun nicht mehr am Selbstkostendeckungsprinzip, sondern am Konzept der leistungsgerechten Vergütung. In der Entwicklung ist zu beobachten, dass in den letzten Jahren besonders Anreize zur Qualitätsentwicklung und die Möglichkeiten zu Regressansprüchen von Kundenseite geschaffen und erweitert werden sollen (vgl. Schmidt und Klie in Buhl u.a. 2002, 8).

Aufgebaut wurde die Pflegeversicherung nach dem Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“, d.h. dass alle Versicherungspflichtigen der Gesetzlichen Krankenversicherung auch der Pflegeversicherung zugerechnet werden, außerdem wurden die zuständigen Pflegekassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung der Einfachheit halber den Krankenkassen angegliedert. Weiterhin gilt angelehnt an diesen Grundsatz, dass die Bevölkerungsgruppen, die nicht in einer gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind per Gesetz dazu verpflichtet werden, eine private Pflegeversicherung abzuschließen. Die Leistungen dieser privaten Pflegeversicherungen sind mit denen der Sozialen Pflegeversicherung vergleichbar, es liegt jedoch eine andere Finanzierungsmethode zugrunde. Die Beiträge werden abhängig vom Lebensalter und dem Gesundheitszustand bei Vertragsabschluss nach dem Kapitaldeckungsverfahren kalkuliert und sollen so während der gesamten Versicherungsdauer konstant gehalten werden. Da die privaten Pflegeversicherungen anteilig aus den Beiträgen Rückstellungen bilden, können sie so eine finanzielle Unabhängigkeit erreichen (vgl. Kesselheim 2005, 30-31). Die Finanzierung der Sozialen Pflegeversicherung, die ausschließlich Gegenstand dieser Arbeit ist, erfolgt im Gegensatz dazu per Umlageverfahren. Die Beiträge werden entsprechend dem Solidaritätsprinzip an der jeweiligen Einkommenshöhe der Versicherten ausgerichtet. Bezüglich der Beitragshöhe folgt die Pflegeversicherung nicht der Krankenversicherung, da diese per Gesetz bundesweit und nicht nach Satzung der jeweiligen Krankenversicherung festgelegt wird. Derzeit beträgt der Beitrag 1,7% und wird von Arbeitnehmern und Arbeitgebern je zur Hälfte getragen, seit dem 01.01.2005 müssen kinderlose Versicherte, die das 23. Lebensjahr vollendet haben, zusätzlich einen Beitrag i. H. v. 0,25 % der beitragspflichtigen Einnahmen entrichten. Mit dieser Regelung kam der Gesetzgeber der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichtes nach, die Leistungen der Kindererziehung in der Beitragsbemessung zu berücksichtigen. Für andere Versichertengruppen wie z.B. RentnerInnen oder Studierende sieht der Gesetzgeber andere Regelungen vor, auf die hier nicht genauer eingegangen werden soll. Die erhöhten Lohnnebenkosten, die sich durch die Einführung der Pflegeversicherung für die Arbeitgeber ergaben wurden mit der bundesweiten (Ausnahme: Sachsen) Abschaffung eines Feiertages ausgeglichen

(vgl. Kulaß in Kesselheim 2005, 115-126).

Mit Einführung der Pflegeversicherung haben sich zahlreiche Veränderungen für die Betroffenen ergeben, sowohl auf der Seite der Leistungserbringer, als auch auf der Seite der Leistungsempfänger. Auch aktuell unterliegt die Pflegeversicherung sich verändernden Rahmenbedingungen, die teilweise die Umgestaltung der bestehenden Ansätze notwendig machen. Es gilt die Entwicklung bis zum Ist-Zustand im Pflegeversicherungsgesetz zu beachten, hin zu einer neuen Ausrichtung entsprechend der lebensweltlichen Veränderungen und den Anforderungen einer neuen „Pflegekultur“.

Zunächst soll festgehalten werden, welche Zielsetzung hinter der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung steht. Wie bereits im vorhergegangenen Kapitel zu erkennen ist, liegt der Verabschiedung des Gesetzes zur sozialen Absicherung bei

Pflegebedürftigkeit (26.05.1994), welches die Grundlage für die Pflegeversicherung bildete, eine jahrzehntelange politische Diskussion zu Grunde. Aus dieser Diskussion resultierte schließlich die fünfte Säule des deutschen Sozialversicherungssystems - die Pflegeversicherung. Aus den Inhalten des § 2 SGB XI, der sich mit der Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen befasst, können folgende Ziele abgeleitet werden:

- Durch die Pflegeversicherung soll die menschliche Würde und die größtmögliche Selbständigkeit der Pflegebedürftigen gewährleistet werden.
- Den religiösen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen soll durch die Pflegeversicherung und ihre Leistungen entgegen gekommen werden, so sollen sie z.B. die Möglichkeit der Betreuung durch Geistliche ihres Bekenntnisses erhalten.
- Ziel ist es auch, in einem angemessenen Rahmen die Wahlfreiheit zwischen zur Verfügung stehenden Leistungen, Einrichtungen und Trägern für die Pflegebedürftigen sicher zu stellen.
- Als Hauptzweck der Pflegeversicherung kann nach diesem Paragraphen außerdem die Erhaltung und/oder Wiedergewinnung der geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte der Betroffenen bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang spielt auch die Rehabilitative Pflege eine wichtige Rolle.

(vgl. Schellhorn 2005, 58-59)

Mit den oben aufgeführten Zielen steht ein weiteres in direkter Verbindung. Da vor Einführung der Pflegeversicherung ein Großteil der Pflegebedürftigen mit den hohen Ausgaben für Pflegeleistungen häufig auch einen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem BSHG bzw. heute dem SGB XII hatte, bedeutete dies eine große finanzielle Belastung für die Kommunen. Daraus ergab sich die Folgerung, dass die Betroffenen nicht aufgrund der Tatsache, dass sie pflegebedürftig sind zu Sozialhilfeempfängern werden sollen. Durch die Absicherung des Pflegerisikos über die Solidargemeinschaft in Form der Pflegeversicherung sollte so auch dieser Belastung für die Kommunen begegnet werden. Eine Entlastung konnte jedoch nur in Teilen erreicht werden. Inzwischen entwickelt sich wieder ein höherer Kostendruck auf die Kommunen, da aufgrund einer

fehlenden Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen mit jeder

Entgelterhöhung (z.B. im Heimbereich) die Kaufkraft der Leistungen entsprechend abnimmt und damit die zu erbringenden Eigenleistungen der Pflegebedürftigen erneut ansteigen (vgl. Schmidt und Klie in Buhl u.a. 2002, 8).

2.2.2 Leistungsvoraussetzungen

Um Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen zu können, müssen die Voraussetzungen für den „Versicherungsfall: Pflegebedürftigkeit“ nach § 14 (1) SGB XI erfüllt sein. Dieser Paragraph definiert den Begriff der Pflegebedürftigkeit wie folgt:

„Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.“

(Schellhorn 2005, 64-65)

Zwar muss nach diesem Paragraphen die Pflegebedürftigkeit auf eine Behinderung oder auf eine Krankheit zurückzuführen sein, das Gesetz orientiert sich jedoch nicht an bestimmten Krankheiten bzw. deren Schwere. Die Entscheidung über Vorhandensein und Grad einer Pflegebedürftigkeit liegt beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), dieser richtet sich dabei nach dem vorliegenden Krankheitsbild, den zur Verfügung stehenden Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen und danach, wie die Verrichtungen des täglichen Lebens von den Betroffenen bewältigt werden können. Verrichtungen im Sinne des SGB XI sind Dinge, die erforderlich sind um die persönliche Lebenssituation zu bewältigen und ihren Erhalt zu sichern. Die folgenden Bereiche sind dabei maßgeblich:

- Körperpflege (Waschen, Duschen, Darm- und Blasenentleerung, Kämmen etc.)
- Ernährung (mundgerechte Zubereitung und Nahrungsaufnahme)
- Hauswirtschaftliche Versorgung (Kochen, Putzen, Wäsche, Einkaufen etc.)
- Mobilität (selbständiges Aufstehen, Gehen, Stehen, Verlassen und

Wiederaufsuchen der Wohnung etc.)

(vgl. Hübsch u. Meindl 2002, 52-53)

Leistungen der Pflegeversicherung kommen also nur dann in Frage, wenn die Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) und/oder die hauswirtschaftliche Versorgung umfassende Bereiche der Betroffenen durch ihre Krankheit oder Behinderung negativ beeinflusst bzw. eingeschränkt werden. Diese stark am körperlichen Leiden orientierte Formulierung lässt auf eine Benachteiligung der Pflegebedürftigen schließen, die unter einer psychischen Beeinträchtigung, hauptsächlich Demenz, leiden. Der tatsächliche Pflegebedarf dieser Betroffenen lässt

sich über die angeführten Leistungsvoraussetzungen nur schwer bzw. gar nicht einschätzen. Den wissenschaftlichen Beleg hierfür liefert die "Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung" (LEILA 75+). Nach den Ergebnissen dieser Studie ist ein erheblicher Teil der Demenzkranken unangemessen eingestuft. Die Ursache hierfür sieht die Studie hauptsächlich in der Begutachtungspraxis des MDK. Zum einen ist diese sehr kompliziert und für die richtige Einschätzung wäre stets ein fundiertes gerontopsychiatrisches Gutachten notwenig. Zum anderen ist der Betreuungsaufwand von Demenzkranken anhand einer Begutachtung, die sich an den Verrichtungen des täglichen Lebens orientiert nur schwer einzuschätzen. Der notwendigen Anleitung und Beaufsichtigung der Betroffenen wird hier kaum Rechnung getragen. Weiter werden nach der Studie auch die pflegenden Angehörigen stark benachteiligt, da sie in der psychisch sehr belastenden Pflege Demenzkranker nahezu rund um die Uhr zur Verfügung stehen müssen und kaum Angebote zur Unterstützung bestehen, die diese besondere Betreuungssituation berücksichtigen (vgl. Richter 2000).

Die genannten Leistungsvoraussetzungen werden von vielen Seiten längst als unzureichend, diskriminierend und überarbeitungswürdig kritisiert. Darauf wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch detailliert eingegangen werden. Ebenso hinterfragt werden müssen die Leistungsgrundsätze die als Orientierung in der Sozialen Pflegeversicherung dienen sollten, jedoch - und dies wird mit Blick auf die im dritten Kapitel dargestellten Reformbestrebungen ersichtlich werden - in gewissen Bereichen längst nicht mehr entsprechend Berücksichtigung finden. Anhand der Leistungsvoraussetzungen wurde bereits deutlich, dass häusliche Pflegearrangements häufig mit starken Belastungen verbunden sind. Im Folgenden soll am Beispiel des Grundsatzes vom Vorrang der häuslichen Pflege nun ergänzend veranschaulicht werden, wie auch die Leistungsgrundsätze belastende Entwicklungen begünstigen können und wo Verbesserungen ansetzen sollten.

2.2.3 Leistungsgrundsätze

Die aufgeführten Leistungsgrundsätze sollen innerhalb des SGB XI bei der Umsetzung der Leistungen als wichtige Richtschnur dienen, um einerseits die Erfüllung bestimmter Ansprüche der Pflegebedürftigen wie z.B. die Erhaltung vorhandener Fähigkeiten, eine qualitativ hochwertige Versorgung oder das Bedürfnis nach Kommunikation, sicherzustellen. Andererseits soll damit auch der wirtschaftliche Umgang mit den Ressourcen der Pflegeversicherung gewährleistet werden. In Zusammenhang mit den anstehenden Reformbestrebungen gilt es zu hinterfragen, inwiefern eine Orientierung an diesen Grundsätzen noch möglich ist bzw. tatsächlich umgesetzt wird. Die untenstehende Abbildung zeigt die Grundsätze, die im Pflegeversicherungsgesetz festgeschrieben wurden. Da häuslichen Pflegearrangements im Rahmen dieser Arbeit eine besondere Bedeutung zukommt, soll im Folgenden genauer auf den Grundsatz des Vorrangs der häuslichen Pflege (§ 3 SGB XI) eingegangen werden1.

Abb. 1 Leistungsgrundsätze

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Rolle der pflegenden Angehörigen in der häuslichen Pflege, ihre Situation soll detailliert dargestellt werden. Dabei finden auch die negativen Konsequenzen, die sich aus einer häuslichen Pflegesituation ergeben können, Beachtung. Im Sinne dieser Arbeit soll verdeutlicht werden, dass zukünftige Reformbestrebungen die Unterstützung von Angehörigen stärker berücksichtigen müssen, da sich aus einer häuslichen Pflegesituation häufig enorme Spannungen für die Betroffenen, also sowohl die zu Pflegenden als auch die Pflegenden und deren soziales Umfeld, ergeben. Kritisch muss dabei berücksichtigt werden, dass die häusliche Pflege (durch Angehörige) von der Politik häufig vorschnell als (kostengünstige) Ideallösung im Pflegefall propagiert wird und dabei häufig die Belastungssituation der Angehörigen und deren Auswirkung auf das Pflegeverhältnis sowie die Wahrnehmung „sozialer und wirtschaftlicher Realitäten“ (Frieling-Sonnenberg in Freese 1998, 69) vernachlässigt werden.

Leistungsgrundsatz: Vorrang der häuslichen Pflege

Belastungen innerhalb der häuslichen Pflege

Die Stressoren denen sich pflegende Angehörige ausgesetzt sehen sind sehr vielfältig. Es soll im Folgenden in einer Übersicht aufgezeigt werden, welche Faktoren die Überlastung in einer häuslichen Pflegesituation begünstigen.

Abb. 2 Stressoren für pflegende Angehörige

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: vgl. Grupe in Freese 1998, 28)

Pflegende Angehörige sind also meist einer multiplen Belastungssituation ausgesetzt. Um damit umzugehen stehen ihnen von gesetzlicher und von gesellschaftlicher Seite verschiedene Formen der Unterstützung zur Verfügung. So gewährt die Soziale Pflegeversicherung, wie unter Punkt 2.2.4 noch genauer dargestellt werden wird, im Rahmen der Pflegesachleistungen und des Pflegegeldes finanzielle Hilfen und möchte auch mit der Übernahme der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung die Pflege für Angehörige attraktiver machen und deren Einsatz würdigen. Weiter können Angehörige in Form von Nachbarschaftshilfe oder auch über die ambulanten Pflegedienste Unterstützung erfahren. Ambulante Pflegedienste sind z.B. dazu verpflichtet in Privathaushalten gesetzlich festgeschriebene Pflegeeinsätze durchzuführen und die Beratung und Qualifizierung von pflegenden Angehörigen zu übernehmen. An dieser Stelle ergeben sich jedoch aus der angestrebten Unterstützung häufig auch Konflikte. Die Kontrolle durch die Pflegedienste wird von pflegenden Angehörigen häufig als Eindringen in ihre Privatsphäre verstanden, andererseits sehen die MitarbeiterInnen ambulanter Pflegedienste durch die hohe Nachfrage nach Pflegegeldleistungen (ca. 85% der Schwerpflegebedürftigen) und das damit verbundene große Aufkommen von Pflege durch Angehörige, die Professionalität ihrer Arbeit bedroht (vgl. Groß in Freese 1998, 40). Das Unterstützungsverhältnis zwischen den ambulanten Pflegediensten und den pflegenden Angehörigen kann sich auf dieser Grundlage also als kontraproduktiv erweisen. Dabei spielen ambulante Pflegefachkräfte im Bereich der Qualitätssicherung in der häuslichen Pflege eine bedeutende Rolle, da die jeweiligen Institutionen laut § 80 SGB XI für die Qualität der Angehörigenpflege garantieren (vgl. Schellhorn 2005, 113).

Die Sicherung der Qualität ist auch Teil des Pflichtberatungseinsatzes, den Pflegedienste als Leistung des SGB XI anbieten müssen. Neben der Qualitätssicherung stellen diese Beratungen auch ein wichtiges Instrument zur Entlastung der Angehörigen dar. So kann in diesen Gesprächen das Entstehen eventueller Überforderungsmomente, zur Verfügung stehende Unterstützungsmaßnahmen wie z.B. Mobile Sozialdienste etc. oder die oft vage Zukunft der jeweiligen Pflegesituation thematisiert werden. Jedoch treffen die bereits beschriebenen Konflikte auch auf diese Form der Unterstützung zu, da sich die pflegenden Angehörigen durch die ambulanten Pflegedienste kontrolliert fühlen und so das Entstehen einer entspannten Beratungssituation erschwert wird. Die Arbeitsweise des MDK kann ebenfalls nicht zu einer Entspannung in diesem Bereich beitragen, da seine auf den körperlichen Zustand des Pflegebedürftigen reduzierte Sichtweise den Leistungen pflegender Angehöriger und ihrer Bedeutung im psychosozialen Kontext nicht gerecht wird (vgl. Groß in Freese 1998, 42).

Es kann hierzu abschließend festgehalten werden, dass ambulante Pflegedienste zwar entlastende Maßnahmen für pflegende Angehörige anbieten, jedoch die Gefahr besteht, dass die „Präsenz der Professionellen“ bei den pflegenden Angehörigen Unsicherheiten weckt und sich aus einer geplanten Entlastung eine Belastung entwickelt. Von Bedeutung ist deshalb eine offene und auf Austausch ausgerichtete Arbeitsweise der ambulanten Pflegedienste und als Grundlage dafür ein stabiles berufliches Selbstverständnis der Pflegefachkräfte.

Die Aufnahme eines/einer Pflegebedürftigen rückt die Betroffenen zwangsläufig in ein Spannungsfeld welches die Auseinandersetzung mit teilweise völlig neuen Problemlagen erfordert. Noch problematischer wird die Situation dadurch, dass nicht in jedem Fall davon ausgegangen werden kann, dass der häuslichen Pflege immer ein intaktes Familiensystem zugrunde liegt. In einer solchen Situation können sich über die Ausübung der Pflege gewisse Beziehungsneurosen manifestieren (vgl. Frieling- Sonnenberg in Freese 1998, 77). Die Pflege durch Angehörige kann sowohl für die zu Pflegenden als auch für die Pflegenden selbst gewisse Risiken bergen. Bei den Pflegenden zeigen sich diese Risiken in den oben aufgeführten Belastungen und ihren Folgen. Die Pflegebedürftigen sind der Gefahr ausgesetzt, dass sich durch unzureichende Pflege in der häuslichen Umgebung der Zustand ihrer Pflegebedürftigkeit verschlimmert. Die Anforderungen an die häusliche Pflege steigen mit Blick auf komplexe Krankheitsbilder, die nicht selten auch psychiatrische Symptome beinhalten, stetig an. Und hier liegt im Bezug auf eine Reform der Pflegeversicherung ein wichtiger Ansatz. Wenn die häusliche Pflege den hohen Ansprüchen der Pflegeversicherung (Rehabilitation, Aktivierende Pflege etc.) gerecht werden möchte, müssen die Rahmenbedingungen dafür verändert werden. Die Unterstützungsmechanismen für Angehörige müssen den enormen Belastungen, denen diese ausgesetzt sind, angepasst werden, außerdem müssen dementielle Erkrankungen oder Erkrankungen mit Verwirrtheitssymptomen im Leistungskatalog der Pflegeversicherung stärkere Berücksichtigung finden. Im Sinne der Angehörigen und der zu Pflegenden ist auch zu hinterfragen, ob die rein körperliche Betrachtungsweise nach der die Dienste im Sinne der Pflegeversicherung handeln als zukunftsfähig und aktuellen Erkenntnissen angemessen bezeichnet werden kann, während die schwer messbaren psychosozialen Bedürfnisse und deren Befriedigung zur Steigerung der Lebensqualität und häufig auch zur Verringerung der Pflegebedürftigkeit, nahezu unbeachtet bleiben (vgl. Frieling-Sonnenberg in Freese 1998, 72).

Gewalt in der häuslichen Pflegebeziehung Betrachtet man die oben aufgeführten Belastungen, denen Pflegende und damit meist auch Pflegebedürftige ausgesetzt sind, kommt die Frage nach den Folgen dieser Belastungssituation auf. Gewalt innerhalb der häuslichen Pflegebeziehung kann eine mögliche Konsequenz der andauernden Überforderung von Angehörigen sein und soll deshalb im folgenden Kapitel genauer betrachtet werden. Seit einem Bericht des MDK, der am 31.08.2007 veröffentlicht wurde, wird die Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen verstärkt in den Medien diskutiert. Der Bericht stellte u.a. fest, dass „offenbar jede dritte zu pflegende Person nicht genug Essen und Trinken [bekommt]. Mehr als 35 Prozent der bettlägerigen Menschen in Heimen und etwa 42 Prozent der Pflegebedürftigen zu Haus […] nicht häufig genug umgebettet [werden] und […] sich dadurch wund [liegen]. Besonders Demenzkranke würden zudem nicht ausreichend betreut“ (Tagesschau 2007a). Da die Politik in der häuslichen Pflege nach wie vor die erste Wahl in der Betreuung von Pflegebedürftigen sieht, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, welche Faktoren Gewalt gegenüber alten, pflegebedürftigen Menschen auslösen oder gar begünstigen und wo, auch von Seiten der Sozialen Arbeit, angesetzt werden kann, diese Umstände zu verbessern.

Gewalt in der Pflegebeziehung entsteht nicht plötzlich. Meist geht einer Gewalthandlung eine Entstehungsgeschichte voraus. Dabei spielen sowohl die Pflegenden, die z.B. beim Essenreichen Gewalt anwenden, als auch die Pflegebedürftigen, die auf diese Gewalt mit den ihnen verbliebenen Mitteln wie z.B. vermehrtem Einnässen reagieren, eine Rolle. Daraus kann sich eine Situation entwickeln, in der Gewalt alltäglicher Bestandteil der Pflege zu werden droht. Problematisch sind Entwicklungen, in denen den Angehörigen das Unrechtsbewusstsein dafür fehlt, dass sich bereits in den täglichen pflegerischen Handlungen eine Form von Gewalt verbergen kann. Die Formen, in denen sich Misshandlungen darstellen können reichen von verbaler Gewalt über vernachlässigende Pflege bis hin zur Ausübung von psychischem Druck oder dem gänzlichem Entzug sozialer Zuwendung. Jedoch beschränken sich die angeführten Ausprägungen von Gewalt nicht allein auf die Pflegenden. Häufig sind die Pflegebedürftigen Opfer und Täter zugleich. Da jedoch bei den zu Pflegenden häufig aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Intervention schwierig ist, werden nun die Ursachen und mögliche Ansatzpunkte bei pflegenden Angehörigen die zu Tätern werden dargestellt. Gewisse Faktoren und deren Zusammenwirken können Gewalt in einer Pflegebeziehung begünstigen:

- Mit einer Erhöhung der Belastung, des Pflegestress, steigt auch die Neigung der Betroffenen zu Gewalthandlungen.
- Angehörige sind oftmals schlecht auf die Pflegesituation und die damit verbundenen Probleme vorbereitet und erhalten wenig soziale Unterstützung.
- Es besteht eine unbehandelte psychische Erkrankung oder eine Suchterkrankung beim pflegenden Angehörigen.
- In der Familiengeschichte gab es bereits Gewalthandlungen, möglicherweise zwischen Eltern und (den jetzt pflegenden) Kindern.
- Die Pflegenden leiden unter bestehenden Beziehungskonflikten oder auch wirtschaftlichen Problemen.

[...]


1 Erläuterungen zu den weiteren Grundsätzen im Anhang.

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Altern im Sozialstaat. Soziale Pflegeversicherung und Pflegeinfrastruktur in Deutschland
Untertitel
Status quo, Weiterentwicklung und die Rolle der Sozialen Arbeit
Hochschule
Hochschule Esslingen
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
83
Katalognummer
V94134
ISBN (eBook)
9783638068437
ISBN (Buch)
9783638954037
Dateigröße
1147 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Altern, Sozialstaat, Soziale, Pflegeversicherung, Pflegeinfrastruktur, Deutschland
Arbeit zitieren
Staatlich anerkannte Sozialpädagogin / staatlich anerkannte Sozialarbeiterin B.A. Julia Staiger (Autor:in), 2007, Altern im Sozialstaat. Soziale Pflegeversicherung und Pflegeinfrastruktur in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94134

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